Rätsel des Alltags (3): Problemkasse

Das rätselhafte Phänomen, von dem heute zu berichten wäre, ist nicht gänzlich neu. Es handelt sich aber um ein Weltgesetz, das sich immer wieder aufs Scheußlichste entfaltet.

Sobald ein Supermarkt oder ein vergleichbarer Ort des Konsums mehr als zwei Kassen hat, steht man mit Sicherheit an der Problemkasse. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um einen Sonderfall von Murphys Gesetz.

Es gibt verschiedene Varianten. Beispiele:

Du hast dich im Schweiße deines Angesichts bis auf Platz drei vorgewartet – und prompt stellt die Dame/der Herr an der Kasse just jetzt das Schild hin, auf dem steht, dass hier leider nicht mehr bedient werde. Feierabend. Nein, keine Ausnahme. Einmal muss eben Schluss sein.

Hier ist die Kassenwelt noch in Ordnung. (Foto: Bernd Berke)

Hier ist die Kassenwelt noch in Ordnung. (Foto: Bernd Berke)

Wo du stehst, kassiert ansonsten unter Garantie das bedauernswerte Geschöpf, das heute erst den zweiten Tag hier arbeitet.

Geschieht beides ausnahmsweise nicht, so bleiben immer noch etliche Möglichkeiten, um dich zur Verzweiflung oder in dumpfe Demut zu treiben:

Die extrem kurzsichtige Oma, die umständlichst ihre Ein- oder Zwei-Cent-Stücke hinlegt, um auch nur ja passend zu bezahlen, ist tausendfach beschrieben worden, kommt aber in Reinkultur nur noch recht selten vor. Manchmal freilich darf man ein solches Exemplar aus dem Reservat der bundesdeutschen Wirtschaftswundergeschichte bestaunen. Ausgiebig, versteht sich. Nostalgie erfasst dich. Gemischt mit Unmut. Eigentümlich.

Heute aber sind es eher die nassforschen Karten-Inhaber, die schon bei Minibeträgen für ärgerliche Verzögerungen sorgen. Da geht eigentlich immer etwas schief. Entweder arbeitet das Buchungssystem elend langsam. Oder die fühllosen Herrschaften tippen unverdrossen falsche Geheimzahlen ein. Oder die Karte ist nicht mehr frisch und muss daher an diversen Stoffen gerieben werden, ehe sie (wieder nicht) funktioniert. Egal. Zweite Karte vom anderen Institut gezückt – und neues Spiel riskiert. Fruchtet auch das nichts, so wird gegebenenfalls (nach paarpsychologisch hochinteressanten Dialogen) die widerspenstige Gefährtin bemüht, die schließlich zu nesteln beginnt.

Oft und gerne haben es die Menschen in der Schlange vor dir unterlassen, Obst und Gemüse auszuwiegen. Um keinen dröhnenden Streit zu entfachen, gehen die Kassierer(innen) still seufzend zum mindestens 40 Meter entfernten Grünzeugstand und legen jedes Teil eigenhändig auf die Waage. Irgendwann kehren sie erschöpft, aber unglücklich zurück.

Spontaner Umtausch oder Rückgabe auf Kassenhöhe sind gleichfalls ein elender Zeitfraß. „Ach, das sehe ich ja jetzt erst, das dieses Joghurt einen so ungesund hohen Zuckeranteil hat…“ Hin und her, schließlich Storno, am liebsten noch mit Unterschrift vom Ladenchef, der eigens herbeigerufen werden muss.

Die jugendliche Gruppe, die ohne Ausweispapiere harten Alkohol erwerben will und auf Misstrauen stößt, steht natürlich auch an deiner Kasse. Wenn’s beim lauten Palaver bleibt, ist es noch gut ausgegangen.

Nach all dem hast du es endlich, endlich geschafft, vornan zu stehen und die Ware aufs Band zu legen. Genau da eröffnet nebenan eine bislang verwaiste Kasse. Menschen, die Äonen nach dir die Szene betreten haben, schlüpfen behende hinüber. Fiese Schnäppchen- und Gelegenheitenjäger allesamt. Typisch deutsch. Steigen gleich draußen in ihre SUVs und nieten alles um.

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Bisherige Folgen der Reihe: Stöpsel-Spuk (1), Brezelschwund (2)




TV-Nostalgie (18): Ernst Huberty – Fußball ohne Geschrei

Wenn man dieser Tage Béla Réthy, Tom Bartels, Steffen Simon, Marcel Reif und Co. über Fußball palavern hört, dann sehnt man sich manchmal zurück in die alten Zeiten eines Kurt Brumme, Rudi Michel – oder Ernst Huberty. Wie nüchtern und abgeklärt wirkte das, verglichen mit heute.

Im Vorfeld der Fußball-WM in Brasilien fällt es wieder besonders auf, welch ein Geschrei jetzt um den Fußball gemacht wird. Im Laufe eines Spiels werden alle möglichen und unmöglichen Statistiken geliefert, auch gibt’s schon mal neckische Anspielungen auf halb private Umtriebe der Kicker. Mal ganz abgesehen von der umfangreichen Vor- und Nachberichterstattung. Das alles war in den alten Zeiten undenkbar.

„Ausgerechnet Schnellinger“

Man höre sich noch einmal (leider nur in Ausschnitten möglich) Ernst Hubertys Fernsehkommentar zum sogenannten „Jahrhundertspiel“ zwischen Italien und Deutschland bei der Fußball-WM 1970 in Mexiko an. Lange wogte die legendäre Begegnung hin und her, es ging in eine Nerven zerreißende Verlängerung. Schließlich gewann Italien mit 4:3.

TV-Legende Ernst Huberty (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=VmYQEJ_Ww8E)

TV-Legende Ernst Huberty (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=VmYQEJ_Ww8E)

Man mag sich gar nicht ausmalen, wie heutige Sprecher bei einem solchen Match simulieren würden, dass sie von einer Ohnmacht in die andere fallen. Ernst Huberty, ab 4. Juni 1961 über Jahrzehnte der „Mister Sportschau“ der ARD (als noch keine private Konkurrenz drohte), blieb hingegen die Ruhe selbst. Ein leise, aber irgendwie doch intensiv dahingesagtes „Ausgerechnet Schnellinger“ markierte schon einen Gipfel der Gefühle.

Keine starken Gefühle zeigen

Tatsächlich wurde damals ja auch noch langsamer gespielt, so dass Huberty und Kollegen die Ballstaffetten sehr gemächlich mit bloßer Namensnennung abhaken konnten. Wenn überhaupt. Fiel ein Treffer, so reichte meist ein lakonisches „Und Tor.“ Oder dergleichen. Während des Spiels wurde oft einfach geschwiegen. Es gibt ja auch nicht immer was zu schwätzen.

Selbst das WM-Finale von 1966 (England – Deutschland 4:2) rang Rudi Michel nur begrenzte Emotionen ab. Jedenfalls trug er sein Herz nicht auf der Zunge, nicht einmal beim berühmten „Wembley-Tor“ (oder eben Nicht-Tor). „Das wird wieder Diskussionen geben“, sagte er, äußerlich seelenruhig, innerlich aber wohl bewegt. Männer durften damals noch immer keine allzu deutlichen Gefühle zeigen. Metallisch dröhnende Töne wie noch 1954 waren freilich auch nicht mehr erwünscht.

Wohltuend unaufgeregt oder langweilig?

Die Sprecher der 60er und 70er Jahre klingen für heutige Empfinden einerseits wohltuend unaufgeregt. Andererseits bringt man die Geduld für einen solchen Stil gar nicht mehr auf. Je nach Gemütszustand, möchte man Ernst Huberty am liebsten nachträglich schütteln: „Nun reg’ dich doch endlich mehr auf! Nun lass doch mal deinen Empfindungen freien Lauf!“

Es müsste mal einer ein Buch darüber schreiben, wie sich die Fernseh-Fußballreportage seit Hubertys Zeiten grundlegend verändert hat, mit Zwischenstationen wie Heribert Faßbender oder Gerd Rubenbauer – und wie sie alle hießen.

Ein Extra-Kapitel könnte man der Entwicklung widmen, dass gesellschaftliche Befunde anhand des Fußballs dingfest gemacht werden – und dass neuerdings auch mehr oder weniger subtiler Humor in Sachen Fußball erlaubt ist. Man vergleiche etwa den betulich ernsten „Kicker“ mit dem quicken und hellwachen Blatt „11 Freunde“…

Der Mann mit dem „Klappscheitel“

Ernst Huberty, der Mann mit dem unvergleichlichen „Klappscheitel“, hatte seine Laufbahn in den späten 50er Jahren begonnen. Als WDR-Sportchef und Moderator der Sportschau wurde er 1982 abgelöst, weil er es mit Spesenabrechnungen nicht so genau genommen haben soll. Man schob ihn ins dritte Programm ab.

1990 sprang Huberty beim noch neuen Bezahlsender Premiere ein und gab nebenher jungen Talenten wie Johannes B. Kerner oder Reinhold Beckmann Tipps. Doch da waren die alten Zeiten schon vorbei – und das unaufhörliche Geschrei über Fußball hatte begonnen.

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), „Wünsch Dir was“ (17)




Vattatach: International bekannt, in Deutschland bekanntlich besonders feucht

Zugegeben, alles zugegeben. Ich war allgemein wirklich nicht bekannt für meinen ausgeprägten Hang zur Totalabstinenz. Aber schon früher, als mir der gesellige Genuss wohlschmeckender Getränke mit prozentual messbaren alkoholischen Inhaltsstoffen noch näher stand als er es heute tut, schon damals neigte ich zum heiligen Schwur, es mir am Himmelfahrtstag zu untersagen, meine Lampe ausgiebig zu begießen. Bollerwagenumzüge waren mir schon immer zuwider.

Und wer trägt die Verantwortung für diesen durchfeuchteten Unfug, diesen Himmelfahrtstag eines jeden Jahres zum „Herrentag“, später etwas freundlicher beschrieben als „Vatertag“ zu proklamieren und in eine für Männer ansonsten anscheinend triste Welt zu setzen? Klar, die Berliner, wer sonst.

Dort, am schönen Strand der Spree, wurzelt diese Tradition, die es vorschrieb, einen Bollerwagen hinter sich her zu ziehen, der zu Beginn der festtäglichen Wanderschaft gefüllt mit Alkoholika unterschiedlicher Volumenprozente war, mit dem wachsenden Wankelgang sämtlicher Begleitpersonen immer leerer wurde (die Personen immer voller) und diese am Ende unter ebenso lautem wie misstönendem Absingen hohler Lieder heimkehrten, um wieder brave Familienväter zu sein und solide Räusche auszuschlafen.

Warum das alles ausgerechnet am Himmelfahrtstag und genau auf diese Weise zu geschehen hat, darüber gibt es keine urkundlichen Nachweise. Während der Muttertag seinen Ursprung in den USA hatte, und erst 1923, initiiert vom Verband der Blumenhändler, dem patriarchalischen Reichsdeutschland implantiert wurde, entstand die versoffene Tagestour bereits Ende des 19. Jahhrhunderts in der Reichshauptstadt, heute Bundeshauptstadt, Hauptsache Hauptstadt (weia, ich schweife ab). In Österreich (2. Sonntag im Juni) oder Italien (19. März) gibt es ihn auch, aber so wie den Muttertag an einem Sonntag, und da geht es wirklich um „Väter“. Die werden dann von der Familie beschenkt und gehen nicht saufen. In Dänemark wird er am Tag der Verfassung (5. Juni) begangen. Und in der Schweiz gibt’s gar keinen.

Seit 1909 haben auch die Amis ihren Vatertag, weil eine gewisse Sonora Smart Dodd ihrem Papa, einem Bürgerkriegsveteranen, was Gutes tun wollte. Seither versuchten Präsidenten sich gegenseitig zu übertreffen, was die Vatertagsanerkennung angeht. 1924 beförderte  Calvin Coolidge die Vatertags-Idee zur nationalen Sache. 1966 signierte Lyndon Johnson eine Proklamation, die den dritten Junisonntag zum Vatertag erklärte. Und Richard Nixon erhob 1974, mittels Public Law 92-278, den Vatertag in den Rang eines offiziellen Feiertages für den dritten Sonntag im Juni. Und natürlich musste auch der vermeidliche George W. Bush was tun: Er gab am 13. Juni 2003 eine „President’s Father’s Day Proclamation“ heraus.

Nun gut, zur Vollständigkeit sei erwähnt, dass es den Vatertag auch in Finnland, Litauen, der Slowakei und, und, und gibt. Selbst in der Türkei begeht mensch ihn, am 3. Sonntag im Juni, und er trägt den hübschen Namen „babalar günü“.

Das zur Internationalität des Tages, über die je individuellen Traditionen will ich mich nicht detailliert auslassen. Ich bin mir aber relativ sicher, dass sie entweder das Beschenken im Familienkreise oder das Saufen im Freundeskreis zum Inhalt haben.

Nur, was hat in deutschen Landen Christi Himmelfahrt mit alledem zu tun? Der Herr war der Überlieferung nach Single, und nirgendwo habe ich was von Kindern im Zusammenhang mit seiner Person gelesen. Er hat mal aus Wasser Wein gepanscht, aber dass er demselben exzessiv zugesprochen hätte, wird auch nirgendwo überliefert.

Messerscharf schließe ich: Vattatach hat mit Himmelfahrt nix zu tun. Vielleicht weil es ein Feiertag ist, vielleicht heute auch, weil man die Brücke ins Wochenende schlagen kann und folglich die Rauschreste bei der Arbeit nicht gar so hinderlich werden. Mehr fällt mir aber nicht dazu ein. Mir fällt zum deutschen Vatertag eigentlich von jeher nichts Gescheites ein.

Und nun, da er fast beendet ist und manche komatös auf der Couch liegen oder andere an der alljährlichen Verdreifachnung von Schlägereien oder Verkehrsunfällen beteiligt sind, leere ich ein köstliches Glas Rotwein und sage meinen Freunden ein fröhliches „Wohlsein“!




Die Landkarte der wechselnden Launen – „Deutschlandreisen“ von Helmut Krausser

Was erwartet man, wenn ein Schriftsteller vier Lesetourneen absolviert hat und dann ein Buch „Deutschlandreisen“ nennt? Wahrscheinlich doch Anmerkungen über den oder jenen Landstrich und seine Bewohner, womöglich auch Sticheleien oder gar vernichtende Urteile über gewisse Gemeinden.

Diese Erwartungen enttäuscht Helmut Krausser gründlich. Die Städte, in denen der Autor zwischen 2006 und 2012 zu Gast war, stiften ihn nur selten zu substanziellen Bemerkungen an. Und so wird Augsburg kurz abgefertigt, gibt es einen Ulk über Ulm, wird Stuttgart achtlos gestreift, Heidelberg en passant behandelt, Freiburg kurzerhand als belanglos abgetan. Köln ist hässlich, die Leute dort sind aber freundlich und bei Lesungen allzeit lachbereit. In Nürnberg läuft nichts Vernünftiges im Kino, Dresden findet der Autor kulissenhaft, Flensburg zauberhaft, Lübeck ist recht schön, weckt aber den Unmut über Thomas Mann. Und so weiter. Die Schönheitstrophäe trägt übrigens Potsdam davon. Und auch Wismar ist schmuck.

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Oft fällt Krausser zu den Städten lediglich ein, ob sie mit seiner eigenen Publikations- oder Aufführungsgeschichte zu tun haben. Beispiel: „Eisenach: Hier wurde nie etwas von mir aufgeführt, und es regnet. Wartburg durcheilt, Bachhaus gegrüßt, Lutherhaus links liegengelassen…“ Ein passender Titel für weite Strecken des Textes wäre gewesen: „Auf Ego-Trip durch Deutschland“. Nach der Lektüre ließe sich eine Landkarte der wechselnden Launen zeichnen. Der Klappentext erweist sich jedenfalls als Geflunker: „Krausser charakterisiert Städte aufmerksamer und sensibler als andere Autoren ihre Romanfiguren.“ Es sei denn, wir redeten von Heftchenromanen.

Doch natürlich erschöpft sich das Buch nicht darin. Krausser streut Kapitel aus seinen Münchner Poetik-Vorlesungen ein, die vom Pathos-Begriff handeln. Arg verkürzt gesagt: Angesichts grassierender Ironie solle man ruhig wieder mehr Pathos riskieren. Nicht zu viel nachdenken, keine Angst vor Kitsch haben, in allen Künsten lieber tonal, narrativ und figürlich schaffen als abstrakt. Darüber ließe sich immerhin debattieren.

Zwischendurch gibt’s häufig wohlfeile Rezensentenschelte, vor allem gegen die – so Kraussers Sicht – Dilettanten der landläufigen Opernkritik. Oder gleich ganz pauschal: „Im Journalismus sucht man gereifte Menschen leider oft vergeblich. Man gerät an böse, frustrierte, tyrannische Kinder, die glauben, ihnen gehöre die Welt.“

Vor allem nimmt es Krausser der Kulturjournaille übel, dass sie von seinem Buch über den nahezu vergessenen Komponisten und Puccini-Zeitgenossen Alberto Franchetti kaum Notiz nimmt oder es nicht als Entdeckertat würdigt. Furor auch auf diesem Felde. Über „Florian I.“ (Illies) heißt es: „Wie winzig er ist. Ich könnte auf ihn treten und sagen, es war ein Versehen.“ Und die „Zeit“ gilt ihm sowieso in Bausch und Bogen als pesudointellektuelles Revolverblatt.

Krausser selbst erlaubt sich steile Thesen und grässlich ignorante Urteile etwa über Brahms, Claude Chabrol, Bob Dylan oder Thomas Bernhard („Kaum ein Satz von diesem Homunculus, der nicht nach Scheiße schmeckt. Ein unglaublich dummer, ekelhafter Proll.“) und versteigt sich zu einem derartigen Satz ohne jede historische Rücksicht: „Irgendwann wird dieses von Schönberg und Konsorten ausgehende Intermezzo der Musikkultur von der Zukunft als gewissermaßen geisteskranke Zeit bezeichnet werden.“ Gewissermaßen. Geisteskrank. Der Ton macht die Musik.

Wir müssen uns aber wohl nicht darüber grämen, dass Ernst Jünger und Céline zu Kraussers literarischen Leitsternen zählen. Das politisch gegen ihn zu wenden, wäre sicherlich ungerecht. Auch Hemingway, Bukowski, Fallada, Friedo Lampe und Robert Gernhardt gehören ja erklärtermaßen in diese Reihe. Dass Krausser im Faschismus eine revolutionäre Idee sieht, die „nicht einfach als Biertischhybris sadistischer Idioten abgetan werden kann“, könnte allerdings schon Widerworte auslösen. Über Grass’ „Blechtrommel“ und deren Hauptfigur Oskar heißt es sodann: „Unerträglich. Heute geht dieses Gör wohl jedem auf die Nerven in seinem angemaßten Gutmenschentum.“ Dieses diffamierende Wort hat noch gefehlt. Und nach all dem fragt sich Krausser: „Warum polarisiert mein Werk?“ Ja, warum nur?

Aber hören wir auf damit, bevor Krausser auch hier gleich wieder eine Gedankenpolizei am Werk sieht, die seine schöpferischen Energien verkennt. Sein Buch enthält – neben mancherlei Ressentiments – denn auch durchaus anregende Passagen und Gedanken, die einem nachgehen. Hier eines von etlichen Beispielen, in denen Wahrheit und Weisheit walten und bei denen er sich nicht auf der Klaviatur vergreift: „…jeder macht, sofern er kann, mehr aus sich, als er ist, das ist begreiflich vor dem Nichts, das uns erwartet.“ Wo Krausser so ruhig und abgeklärt spricht, überzeugt er mehr als mit allem Geschrei.

Helmut Krausser: „Deutschlandreisen“. DuMont Verlag, 302 Seiten, 19,99 Euro.




TV-Nostalgie (17): „Wünsch Dir was“ – als Dietmar Schönherr für Skandale sorgte

Kandidat in unbequemer Haltung: Dietmar Schönherr befragt den Sohn einer Familie, Vivi Bach schaut zu. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=efKe5q0mEQU)

Kandidat in unbequemer Haltung: Dietmar Schönherr befragt den Sohn einer Familie, Vivi Bach schaut zu. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=efKe5q0mEQU)

Das waren noch Zeiten, in denen eine Show wie „Wünsch Dir was“ als „antiautoritär“ galt. Die Familienspiele mit Dietmar Schönherr und seiner Frau Vivi Bach liefen von Ende 1969 bis Ende 1972 im ZDF und produzierten damals mehrere Skandale.

Wenn man sich das heute noch einmal ansieht, staunt man über Fernsehen wie aus einer anderen Welt. Damals war es innovativ und gab sich „querdenkerisch“, heute wirkt es seltsam altbacken. Jeweils drei Familien aus Deutschland, Österreich und der Schweiz traten gegeneinander an. Wie adrett und bieder das Publikum und die Kandidaten seinerzeit noch wirkten! Und worüber man sich damals noch empören konnte!

Empörung über eine rote Nelke

Beispiel: Am 27. März 1971 (Live-Übertragung aus der Wiener Stadthalle) wagte es Dietmar Schönherr, damals mit maßvoller „Pilzkopf“-Frisur, eine rote Nelke im Knopfloch zu tragen. Etliche Zuschauer riefen an und beschwerten sich über diesen „politischen Affront“. Sichtlich verärgert, legte Schönherr mit ein paar bissigen Bemerkungen die Blume weg. Er hatte nun einmal den Ruf, „links“ zu sein und war einigen Anfeindungen ausgesetzt.

Riskantes Wettspiel im Wasserbassin

In derselben Sendung gab es allerdings einen handfesten Aufreger, der in die bundesdeutsche Fernsehgeschichte eingegangen ist. Zwei je vierköpfige Familien wurden nacheinander in ein Auto verfrachtet und so in ein drei Meter tiefes Wasserbassin versenkt. Einer Frau gelang es nicht, aus eigener Kraft ihre Tür zu öffnen. Sie musste von einem der Rettungstaucher befreit werden. Das war nun wirklich ein riskantes Wettspiel. Es passte sozusagen in eine Zeit, in der nicht einmal Sicherheitsgurte üblich waren.

Wettspiel mit versenktem Auto... (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=efKe5q0mEQU)

Wettspiel mit versenktem Auto… (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=efKe5q0mEQU)

In einer vorherigen Ausgabe der Show hatte sich im November 1970 eine 17jährige Kandidatin in durchsichtiger Bluse blicken lassen. Auch darüber erregten sich Millionen. Viele Jahre später hat Schönherr tatsächlich bekannt, dass er mit seiner Show die „heile Welt“ der Familie unterlaufen wollte. Ob er zu diesem Zweck immer die richtigen Mittel gewählt hat? In manchen Momenten (Spiel mit Riesenschlangen etc.) war „Wünsch Dir was“ fast ein früher Vorläufer der Ekelshows.

Abstimmung mit dem Lichtschalter

In der Show vom März 1971, die ich mir noch einmal ganz angeschaut habe, fällt aus heutiger Sicht auf, wie umständlich und manchmal sogar etwas ungelenk die neckischen Wettspiele (Ideen kamen u. a. von André Heller) umgesetzt wurden. Schönherr war nicht immer nur charmant, sondern würgte Kandidaten auch schon mal mitten im Satz ab.

Trotzdem überzog Dietmar Schönherr mit diesem „Straßenfeger“ (Quote bis zu 66%) meistens die Sendezeit. Für die eher niedlichen Momente war ja auch vor allem Vivi Bach zuständig, die sich ihm als Assistentin deutlich unterordnete. Geradezu putzig übrigens die Abstimmungstechnik: Zuschauer in einer bestimmten Stadt sollten daheim die Lichter an- oder ausschalten, ein Mann vom E-Werk verkündete dann am zugeschalteten Telefon, um wie viele Megawatt der Verbrauch sich verändert hatte.

Eine ganz zentrale Rolle in der Sendung, die unter Federführung des österreichischen Fernsehens (ORF) entstand, spielte das Wort „autoritär“. Immer wieder wollte Schönherr wissen, ob etwas autoritär sei oder nicht – ganz offensichtlich eine Nachwirkung des rebellischen Jahres 1968. Lang, lang ist’s her.

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16)




„Mittelalter“ als Mummenschanz für Millionen

Am Sonntag hat Familie B. ein paar Stunden auf einem so genannten „Mittelalterfest“ verbracht. Nun könnte man das unter dem bewährten Blutdrucksenkungs-Motto „Hingehen – gucken – weggehen“ abhandeln. Doch dann stünden hier nur wenige Zeilen.

Das Festival hat in Dortmund volle fünf Tage gedauert. Täglich strömten viele Tausend zum Fredenbaum, dem weitläufigen Grün in der Nordstadt. Man wüsste gern, was die Kommune den Veranstaltern abknöpft und wie dann die Umsätze und Gewinne so aussehen. Wahrscheinlich kann man beim Schätzen ziemlich hoch greifen, denn die ganze Chose ist – allem beschaulichen Retro-Anstrich zum Trotz – auf sehr heutige Weise kommerzialisiert. Nur, dass die meisten Verkaufsstände wie notdürftig gezimmert und beschriftet wirken. Aber das gehört zum Konzept.

Ritter auf dem Turnierplatz (Foto: Bernd Berke)

Ritter auf dem Turnierplatz (Foto: Bernd Berke)

Man kann hier alle möglichen Accessoires kaufen, um sich dem „Mittelalter“ gemäß auszustaffieren. Die Sparsamen behängen sich einfach mit einem Fell und/oder laufen barfuß übers Gelände. Andere betreten in schwerer Ritterrüstung, als Kreuzfahrer, Mönche, Bettler, Gaukler, Hofnarren, Piraten, Burgfräulein, Mägdelein, Marketenderinnen oder „mittelalterliche“ Handwerker die Szenerie. Auch stakst der Tod höchstpersönlich übers Areal. Dazu wummert im Hintergrund „keltisch“ inspirierte Rockmusik oder dergleichen.

Rüstungs-Geschäft (Foto: Bernd Berke)

Rüstungs-Geschäft (Foto: Bernd Berke)

Manchen steht die historisierende Kleidung ausgesprochen gut, anderen eher nicht. Man sieht lange, wallende Gewänder und rauschende Bärte sonder Zahl, auch imponierend große und umfängliche Gestalten. Überhaupt laufen nicht wenige originelle „Typen“ herum, die hier eine Ausdrucksform gefunden haben. Und ganz offenkundig haben sich zahlreiche Paare über diese spezielle Gemeinsamkeit gefunden. Glück zu!

Die passenden Kostüme (Foto: Bernd Berke)

Die passenden Kostüme (Foto: Bernd Berke)

Wir haben es natürlich nicht mit einem geschichtlich eingegrenzten Mittelalter zu tun, die Kostümierungen spielen auf etliche verflossene Jahrhunderte an, vom Wikinger bis zum Barockfürsten ist alles möglich. Überdies kann der Mummenschanz in allerlei Stilrichtungen großzügig erweitert werden, es fließen auch Zeichen aus Genres wie Fantasy, Science-Fiction, Gothic, Metal, Punk und Horror ein.

Stilistische Variante (Foto: Bernd Berke)

Stilistische Variante (Foto: Bernd Berke)

Manche Feinheiten erkennen sicherlich nur Eingeweihte. Da schiff’ ich mich auf meine älteren Tage nicht mehr ein. Da geh’ ich doch lieber hinüber zum Turnierplatz und schaue halbedlen Rittern beim Kampf Mann gegen Mann zu, ob zu Pferde oder im Staube. Im Zeitalter der ferngesteuerten Drohnen kann man sich solche direkten Duelle ja kaum noch vorstellen. Mag es also ein Einspruch gegen virtuelle Welten sein.

Ach so, ja. Auch politisch lässt sich hier nichts eindeutig „festmachen“, wenn auch manche das vielleicht gerne hätten. Eher linke oder grüne Authentizitäts-Folklore scheint ebenso kompatibel wie am anderen Rand martialische Erscheinungsbilder, Runen und Frakturschrift. Dazwischen ergeht sich das ganze Spektrum bundesdeutscher Bürgerlichkeit. Jekami heißt die Parole. Wo hat man das sonst noch?

Man muss sich also gar nicht wundern, dass praktisch an jedem Wochenende irgendwo in Deutschland ein solches Zusammentreffen stattfindet. Die vielfältige Szene, die da ansprechbar ist, scheint in die Hunderttausende zu gehen, wenn nicht in die Millionen. Migranten sind dabei übrigens eindeutig unterrepräsentiert. Ohnehin fragt man sich, ob es das Phänomen auch in anderen europäischen Ländern so ausgeprägt gibt.

Auf zur nächsten Bühne (Foto: Bernd Berke)

Auf zur nächsten Bühne (Foto: Bernd Berke)

Insgesamt ist das alles ein vorwiegend harmloses Verkleidungs- und Anverwandlungsspiel für Erwachsene, an dem aber auch Kinder ihre Freude haben. Karnevalstauglich ist offenbar der Verbrauch an alkoholischen Getränken. An jedem zweiten oder dritten Stand kann man sich gepflegt vollaufen lassen – auch schon mal mit „Met“ oder ähnlich auf Gestern getrimmten Flüssigkeiten. Im Mittelalter war Saufen halt nicht verpönt, sondern eher die Regel. Ob man aber nach ein paar Humpen noch beim allfälligen Bogenschießen oder Axtwerfen trifft? Und wenn ja: wohin?

Etwaigen historischen Besserwissern nimmt man beim „Mittelalterlich Phantasie Spectaculum“ ® den Wind gleich aus den Segeln, indem das Motto lautet: „nicht authentisch, sondern phantastisch“. Was das eingekreiste Trademark-„R“ soll? Nun. Das laut Eigenwerbung weltweit größte reisende Festival seiner Art hat seinen Namen beim Deutschen Patent- und Markenamt als eingetragene Wortmarke registieren lassen. Damit das klar ist.

Phantasie oder nicht: Etliche Teilnehmer haben als Hobby-Historiker wohl auch Wissen über längst vergangene Zeiten angesammelt. Vielfach bemüht man sich, einen irgendwie „altdeutschen“ Zungenschlag zu imitieren. Und bis sie abends zum Parkplatz zurückkehren, geben sich viele gern den Anschein, als trügen sie nicht einmal ein neumodisches „Zeiteisen“ am Handgelenk…




Die Nabelschau des Karl Lagerfeld im Essener Museum Folkwang

Gerade konnte man die Erfolgsmeldung lesen: Der 50000. Besucher in der Karl-Lagerfeld-Ausstellung im Essener Museum Folkwang wurde gezählt, und das Museum freut sich besonders, dass so viele junge Zuschauer kommen. Im doppelten Sinne kann man sagen: Lagerfeld zieht die Menschen an.

Dabei macht das Thema Anziehen nur einen kleinen Teil der Schau aus. Mit Fotografie fängt es an – großformatig und bunt, und nicht immer hat KL selbst auf den Auslöser gedrückt. Wie es sich für seine Egonummer gehört, sieht man den Meister nicht selten selbst im Bild.

Buchkunst ist das zweite Thema, und da hat Lagerfeld aus den letzten fünf Jahrzehnten so einiges vorzuweisen. Gerade in der Inszenierung literarischer Vorlagen wie Goethes Faust oder Shakespeares Romeo und Julia, umgedeutet als Mode-Erzählung, zeigt sich die Kreativität des deutsch-französischen Selbstdarstellers.

Natürlich muss Mode den dritten Teil der Ausstellung ausmachen, und dazu gehören nicht nur seine Modelle und Fotos für die großen Schauen von Chanel und Fendi in Paris und anderswo, sondern auch die dazu gehörenden Kleider im Original.

Das Museum Folkwang ist ja schon um seiner selbst willen einen Besuch wert. Ob allerdings einem eher zweitrangigen „Künstler“ wie Lagerfeld eine derart umfangreiche Nabelschau gewidmet werden sollte, bezweifle ich persönlich. Manche weibliche Besucherin mag das ja anders sehen.

Fast peinlich wird es am Ende des Rundgangs, wenn KL zusammen mit dem Museum einen Raum inszeniert, in dem die Bücher ausgestellt werden, die er gerade liest, früher einmal gelesen oder in seiner privaten Bibliothek stehen hat.

Fehlt nur noch ein kleiner Altar mit Kerzen und Heiligenbildchen.

Karl Lagerfeld – Parallele Gegensätze. Museum Folkwang Essen, bis 11. Mai, Di-So 10-18 Uhr, Fr 10-22 Uhr. Navi-Adresse: Bismarckstraße 60.
Weitere Infos: http://www.museum-folkwang.de/de/ausstellungen/aktuell/karl-lagerfeld.html




Die ARD-„Tagesschau“ im neuen Design: Sündhaft teures Breitformat

Das war sie also: die allererste ARD-„Tagesschau“ aus dem neuen Hamburger Studio, das rund 23,8 Millionen Euro Gebührengeld gekostet hat. Und wie war’s jetzt? Hat sich der Aufwand gelohnt?

Nun, die journalistische Qualität ist mit dem neuen Design erwartungsgemäß nicht explodiert. Wie denn auch? Wir sehen jetzt aber Teile der Nachrichten gleichsam im Breitformat, in Cinemascope, um einen altmodischen Kinobegriff zu verwenden.

18 Meter lange Bildwand

Zu diesem Zweck gibt’s nun eine fast 18 Meter breite (!) Bildwand an der Rückseite des Studios, die so manches sinnvolle oder auch unsinnige Panorama ermöglichen soll. Mir kommt es so vor, als protze da jemand mit seinem neuen, extrabreiten Flachbildschirm. In der Debütsendung, die von Chefsprecher Jan Hofer präsentiert wurde, kam diese Errungenschaft jedenfalls nur im pompösen Vorspann zum Einsatz.

"Tagesschau"-Chefsprecher Jan Hofer bei einer Stellprobe im neuen Studio. (© NDR/Thorsten Jander)

„Tagesschau“-Chefsprecher Jan Hofer bei einer Stellprobe im neuen Studio. (© NDR/Thorsten Jander)

Die eingeblendeten Fotos ziehen sich jetzt also über die ganze Bildschirmbreite und erhalten deutlichere Schlagzeilen. Auch wird das „Tagesschau“-Logo mehr betont als vorher. Man will schließlich ein unverwechselbares Markenzeichen bleiben.

Ein Fall von Gebührenverschwendung

Man möchte lieber nicht wissen, was die Designer für ihre immer wieder modifizierten Entwürfe und Realisierungen kassiert haben. Oder will man’s vielleicht doch wissen? Jedenfalls ist das neue Studiomobiliar in seiner keimfrei futuristischen Art recht monströs geraten. Ob’s hässlich ist, bleibt dem persönlichen Geschmack überlassen.

Man möchte erst recht nicht wissen, was die ARD für die Stimme ausgegeben hat, deren Trägerin Claudia Urbschat-Mingues heißt und die nun allabendlich sagt: „Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der ‚Tagesschau’“. Es handelt sich nämlich um die deutsche Synchronstimme des Filmstars Angelina Jolie, mit der die TV-Gewaltigen einen „Exklusivvertrag“ abgeschlossen haben. Für einen einzigen Satz…

Man möchte es nicht wissen, weil man dann eventuell ziemlich zornig werden könnte über eine solche Gebührenverschwendung. Dabei klagen sie bei den öffentlich-rechtlichen Sendern doch allenthalben über Sparzwänge. Für das Flaggschiff „Tagesschau“ und die „Tagesthemen“, die ab sofort ebenfalls aus dem neuen Studio kommen, haben diese Zwänge wohl nicht gegolten.

In den „Tagesthemen“ um 23:15 Uhr wurde die Dominanz der Bilder noch viel deutlicher. Wie verloren Thomas Roth als Ganzkörper-Moderator vor dem riesenhaft aufgeplusterten Berliner Stadtschloss stand… Noch mehr als bisher achtet man auf jede Bügelfalte in der Kleidung des Anchorman und seiner Helfer. Und ausgerechnet in dieser Ausgabe machte man sich über Verschwendung in der Hauptstadt lustig.

Emotionen, Emotionen…

Man wolle „Emotionen“ betonen, hat es im Vorfeld geheißen. Das (große) Bild soll demnach noch mehr Gewicht erhalten und den Zuschauer auch schon mal überwältigen. Man ahnt schon, welche Zwänge dabei entstehen, unter welchen Druck sich die „Tagesschau“-Macher setzen werden. Schon bisher (das haben Studien belegt) hatte man nach einer „Tagesschau“-Ausgabe mehr Bilder als Nachrichten-Inhalte im Kopf. Dieser ungute Effekt wird sich noch steigern.

Ein altes Ritual

Ob man so das angestrebte jüngere Publikum erreicht? Man darf es füglich bezweifeln. Zuschauer-Umfragen hatten übrigens ergeben, dass die Mehrheit sich gar keine großartigen Veränderungen an der „Tagesschau“ wünscht. Diese altgediente Institution ist – vor allem für ältere Menschen – vor allem ein Ritual. Und an Ritualen zurrt man nicht ständig herum. Wir wissen es, seit der legendäre Sprecher Karl-Heinz Köpcke es eines Tages wagte, vor der Kamera einen Bart zu tragen. Damals erregte sich die Nation. Doch solche Emotionen weckt die „Tagesschau“ schon längst nicht mehr; ganz egal, in welchem Studio.




TV-Nostalgie (14): „Kojak“ – ein Markenzeichen mit Charakter

Nicht zu glauben: Jetzt ist es schon fast 40 Jahre her, dass der wohl berühmteste Glatzkopf der Fernsehgeschichte auch auf deutschen Bildschirmen erschienen ist. Am 3. Oktober 1974 hatte der New Yorker Polizist „Kojak“ seine ARD-Premiere.

Immerhin 118 Folgen lang jagte der gebürtige Grieche (bekanntlich gespielt von Telly Savalas – ursprünglich sollte Marlon Brando die Rolle übernehmen) beim Einsatz in Manhattan jede Menge Schwerverbrecher. Nicht nur der kahle Schädel steigerte Kojaks Wiedererkennungswert. Auch sein Konsum von Dauerlutschern (Lollis) wurde legendär, sie dienten zunehmend als Ersatz für die Zigarillos, die er anfangs noch rauchte.

Telly Savalas als "Kojak" (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=xIzHr8Wuz5Y)

Telly Savalas als „Kojak“ (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=xIzHr8Wuz5Y)

Kahler Schädel, Dauerlutscher und anderes…

Der meist gediegen gekleidete Herr (gerne Anzug mit Weste) trug außerdem Hut, dazu ein Goldkettchen am rechten Handgelenk und hatte Lieblingssprüche wie „Entzückend, Baby“. Und schließlich war auch das rot rotierende Alarmlicht unverkennbar, das er in ungezählten Notfällen auf sein Zivilfahrzeug (Buick Century Regal) pappte. Die Figur war also geradezu eine Ansammlung von Markenzeichen. Sie alle summierten sich zu einem Gesamtbild der „Coolness“, das damals ziemlich beispiellos war. Es ist keine geringe Leistung, dass Telly Savalas bei all dem auch ein glaubhafter Charakter blieb.

Einsatz bis zur Leistungsgrenze

Savalas stellte Kojak als einen Tag und Nacht hart arbeitenden, stets sprungbereiten Kraftkerl dar, der auch sein Team ständig bis an die Leistungsgrenze forderte. Zwar fällt auch vereinzelt das Wort „Computer“, aber seine Leute müssen noch mühsam Verdachtslisten abtelefonieren und zeitraubend Orte abklappern.

Es geht immer hektisch Schlag auf Schlag. Standard-Situation: „Kojak“ sitzt in seinem Büro mit den zwei Telefonen, nicht selten lässig mit beiden Beinen auf dem Schreibtisch oder auch schon mal in scheinbar „schläfriger“ Nachdenkhaltung, die nichts anderes ist als höchste Geistesgegenwart. Derweil entern – quasi im Halbminutentakt – immer wieder Mitarbeiter das Büro, weil sie einen neuen Stand der Dinge melden wollen. Da geht es zu wie im Taubenschlag.

Keine flache Hierarchie

Von „flacher Hierarchie“ kann in dieser Krimireihe keine Rede sein. Boss Kojak gibt alle wesentlichen Anstöße. Und alle Fäden der Ermittlungen laufen wieder bei ihm zusammen, der dann zum rechten Zeitpunkt beherzt eingreift – natürlich auch mit der Pistole, die er so eigenwillig trägt, dass sich bei echten US-Polizisten die Redensart durchgesetzt hat, jemand trage seine Waffe im „Kojak-Stil“.

Trotz allem der mitfühlende Blick

Ich habe mir jetzt noch einmal zwei Folgen (je 45 Minuten) angeschaut, darunter „Das Mädchen im Fluss“. Da geht es um einen Serienmörder, dessen Opfer junge, alleinstehende Frauen sind. Die Spuren führen in die – als reichlich zwielichtig geschilderte – Welt der New Yorker Single-Bars. Dort fahndet Kojak gezielt nach Leuten, die im Vietnamkrieg waren und seither psychisch gestört sind…

Bemerkenswert übrigens, dass dieser unbestechliche Mann trotz der brutalen Verbrecherwelt, in der er sich nun mal bewegen muss, kein purer Zyniker geworden ist. Wenn es sein muss, kann Kojak sehr mitfühlend oder sogar treuherzig dreinblicken und dementsprechend handeln. Bei einem solchen Typen bedeutet das ungleich mehr als bei anderen.

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), „Stahlnetz“ (13)




Armer Thilo Sarrazin: Er leidet ganz schrecklich unter dem „Tugendterror“

Ich hatte es ja befürchtet, hegte allerdings die Hoffnung, drum herum kommen zu können. Aber diese Hoffnung trog, wie ich heute erfuhr. Er hat es wieder getan: Thilo Sarrazin hat wieder ein Buch geschrieben. Was noch schlimmer ist: Er hat einen Verlag, der es drucken lässt, bewirbt und in die Buchläden bringt.

„Der neue Tugendterror“ heißt es, vom bedauernswerten Opfer Thilo Sarrazin handelt es, die Leiden im boshaften Dschungel des bundesdeutschen „Gutmenschentums“ mit angeschlossener Medienbranche soll es erzählen. Der verlagsernannte Querdenker tobt seinen Flachsinn mal wieder „gewohnt scharfsinnig“ (Werbe-O-Ton des Verlages, DVA) aus, rechnet mit Missständen ab, geißelt alles, was nicht in der Betrachtung seines überragenden Geistes bestehen kann (und da gibt es vermutlich nur sein Spiegelbild) und belehrt jedermensch, dass er nur einem seine ungeteilte Bewunderung schenken darf – ihm, dem Thilo aller Thilos.

Was wird in den kommenden Wochen nach der Ankündigung des bevorstehenden Unheils geschehen? Ganz einfach: Es wird jede sich bietende Talkshow demnächst ganz sicher den schnaubenden Schnäuzer des über Wasser gehenden Alleswissers unter sich wissen wollen. Es wird im Minutentakt über den neuesten Thilo gesprochen werden und in langweiligen Zugabteilen wird mensch alle Nase lang Fetzen tiefgründiger Gespräche mitbekommen: „Wissen Sie, so ganz unrecht hat er ja nicht…“

100.000 Startexemplare wollen ja verkauft sein, und Herr Sarrazin hat ganz sicher Vorkasse ausgehandelt, denn er verhandelt (nach eigenem Bekunden vor laufenden Talkshow-Kameras) ausgesprochen gut.

Aufs Kurze reduziert, bejammert der nie irrende Wasserwanderer den mählichen Verlust von Meinungsfreiheit in diesem, unserem Lande. Wenn er, der Unfehlbare, mal eine Einschätzung von sich gebe, die stromaufschwimmend am Gutmenschen-Mainstream Widerspruch übe, dann sei es danach mit öffentlicher Ächtung verbunden.

Der Ärmste, ich kann mein Mitleid kaum bremsen. Aber Thilo und alle seine „Ganz unrecht hat er ja nicht“-Follower seien versichert: Zur Zeit darf noch jeder in der Republik sagen und schreiben, was er will, selbst wenn es der größte Blödsinn ist. Belege für diese Behauptung sind stündlich in Nachrichtensendungen oder Talkshows zu finden, und nicht nur durch Herrn Sarrazin geliefert.




„Porno“ in der Tiefkühltruhe

Vor einigen Tagen war im geschätzten Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein länglicher Essay zu lesen, der die pornographische Sichtweise als die prägende Perspektive unserer Tage dingfest zu machen suchte. Die Herangehensweise der harten Pornographie, so war zu lesen, bestimme längst auch weite Teile der Hochkultur. Und das nicht nur insgeheim.

"Nackt" in der Tiefkühltruhe (Foto: Bernd Berke)

„Nackt“ in der Tiefkühltruhe (Foto: Bernd Berke)

Es mag etwas Wahres daran sein: Besonders Kino und Theater, doch auch die bildenden Künste müssen sich offenbar notgedrungen irgendwie zur globalen pornographischen Dominanz verhalten, sei’s harsch ablehnend, krampfhaft ignorierend, hintersinnig konterkarierend oder gleich hingebungsvoll affirmativ.

Bevor die Debatte ausufert, werde ich lieber konkret: Heute stand ich vor einer Kühltruhe im Supermarkt und wurde abermals gewahr, dass natürlich auch die Warenwelt sich pornographische Anspielungen zu eigen macht. Nicht nur, dass allüberall Plakate prangen, die bis in die 1970er Jahre nur unter der Ladentheke gehandelt worden wären; nein, auch vermeintlich harmlose Nahrungsmittel werden einem erotisch bis pornös schmackhaft gemacht. Da geht es manchmal nur noch um Sääääxxxx.

Und was heißt hier überhaupt harmlos! Der Hummer (um niemand anderen geht es) hat ja eh schon einen gewissen Ruch als Luxusnahrung der Begüterten und als Bestandteil jenes zynischen Wortspiels „Welthummerhilfe“. Jetzt habe ich eine Packung entdeckt, die sich mit der lockenden Überschrift „Der ,nackte‘ Hummer“ schmückte. Vergesst die neckischen Gänsefüßchen. Oh, Schweinskram über Schweinskram! Man denke nur: ein nacktes Tier! Da fällt einem doch Robert Gernhardts Reimklassiker ein: „Der Wal vollzieht den Liebesakt / zumeist im Wasser. Und stets nackt.“

Aber mal halbwegs im Ernst. Wahrscheinlich sollen wir glauben, dass nach dem Genuss dieses Schalentiers lustvolles Flachlegen angesagt ist. Oder etwa nicht?

Am den Wein- und Sektregalen bin ich dann nur noch abgewendeten Blickes vorüber gewankt. Wer weiß, was sich die Ferkel dazu wieder haben einfallen lassen…




Der Flaneur braucht kein Ziel

In der Regel hat der Weg in der westlichen Leistungsgesellschaft ein Ziel. Man geht zur Arbeit oder zum Supermarkt, man muss Behördengänge erledigen, die alte Mutter besuchen, für den Halbmarathon trainieren, Schuhe kaufen oder wenigstens Brötchen holen. Auch die systematische Besichtigung historischer Innenstädte in artigen Gruppen oder mit Hilfe eines gedruckten Reiseführers ist durchaus üblich.

Der Flaneur (aus dem Französischen: flaner = umherstreifen, schlendern) braucht alle diese Gründe nicht, um stundenlang durch eine Stadt zu bummeln. Er hat keine Eile, er lässt sich treiben. Mal beobachtet er die Schwäne auf dem Stadtteich, mal lauscht er einem Straßenmusiker, mal trinkt er einen Espresso, sieht Passanten hinterher und lässt die Zeit vergehen. Ein Flaneur verfolgt keinerlei praktischen, wirtschaftlichen oder sportlichen Nutzen. Er sammelt Eindrücke.

Inspirationen suchen

Das ist für emsig arbeitende Menschen eher suspekt. Der kleine Müßiggang beim Cappuccino wird zwar mittlerweile akzeptiert, man darf mal Pause machen. Aber nicht zu lange, dann muss man wieder ins Büro. Oder wenigstens ins Sportstudio. Der Flaneur lächelt nur milde, grüßt flüchtig und schlendert weiter, um die nächste Ecke. Das ist seine liebste Beschäftigung. Für einen Faulenzer darf man diesen Charakter dennoch nicht halten, denn er registriert alles.

Flaneusen sind in der Kulturgeschichte nicht vorgesehen. Aber es soll sie geben... (Bild: Privat)

Flaneusen sind in der Kulturgeschichte nicht vorgesehen. Aber es soll sie geben… (Bild: Privat)

Viele Dichter und Journalisten verschafften sich flanierend ihre Inspirationen. Der Beschwörer des Unheimlichen zum Beispiel, Edgar Allan Poe, ließ den Ich-Erzähler seiner Novelle „Der Mann in der Menge“ (1838) nach langer Krankheit „an dem Bogenfenster des vielbesuchten Café D. in London“ Platz nehmen und das städtische Leben beobachten: „Das Gefühl der wiederkehrenden Kräfte hatte mich in jene glückliche Stimmung gebracht, die das Gegenteil von Langeweile ist, alle Sinne schärft, aufnahmefähiger macht… Alles, selbst Unbedeutendes, nötigte mir eine ruhige, forschende Teilnahme ab.“ Durch die dunstbeschlagenen Scheiben späht der Mann auf die Straße hinaus, Poe lässt ihn unermüdlich die Vorübergehenden beschreiben: die Herrschaften und Hausierer, die Bettler und Spieler, die Kuchenverkäufer und Trunkenbolde bis hin zu einem kleinen alten Mann, dessen satanisches Gesicht ihn derartig fasziniert, dass er ihm folgt – durch den Nebel der Nacht.

Kunst der Wahrnehmung

Flanieren, lernt man aus diesem Stück Literatur, hat nichts mit Dösen zu tun. Es verbessert vielmehr die Wahrnehmungsfähigkeit. „Flaneure sind Künstler, auch wenn sie nicht schreiben“, behauptet der holländische Schriftsteller Cees Nooteboom in einem Essay für die „Zeit“: „Sie sind zuständig für die Instandhaltung der Erinnerung, sie sind die Registrierer des Verschwindens, sie sehen als erste das Unheil, ihnen entgeht nicht die kleinste Kleinigkeit.“ Kein Riss im Parkhaus-Beton, keine Bausünde, keine Verwahrlosung. Und kein Vogelzwitschern im Gebüsch.

Hans Dieter Schaal, der jenseits der Szene arbeitende Architekt, Bühnenbildner, Dichter und Denker, fühlte sich von den Städten, die er besuchte, so vielfältig angeregt, dass er im Jahr 2009 seine „Stadttagebücher“ veröffentlichte. „Ich bin Erlebender und Beobachter“, schrieb Schaal im Vorwort: „Ich schaue mir die Gebäude, Straßen, Plätze, Märkte Fußgängerzonen, Malls und die Menschen an, lasse die Oberflächen auf mich wirken, spüre den Atmosphären nach. Manchmal überfällt mich die Angst, dann wieder fühle ich mich beglückt und bereichert.“ Knapp 700 eng bedruckte Seiten füllte Schaal mit Texten und selbst fotografierten Bildern.

Langsam gehen

Der Flaneur kann also auch besonders fleißig sein. Muss aber nicht. Er ist im Prinzip ein Zeitverschwender, gibt Nooteboom zu. „Wenn ich an all die Stunden – und allmählich Jahre – denke, die ich durch die Straßen der Welt geschlendert bin, dann hätte ich in dieser Zeit die gesammelten Werke von Hegel und Kant mit der Hand abschreiben können“, scherzt er. Stattdessen habe er „ein Buch gelesen, das nie zu Ende geht, ein Buch, dessen Kapitel und Buchstaben aus Gebäuden, Standbildern, Straßen, Autobussen und Menschen bestehen“.

Als „Lektüre der Stadt“ bezeichnete schon der Autor und Rowohlt-Lektor Franz Hessel (1880-1941) das Flanieren. In seinem Buch „Spazieren in Berlin“ feierte er 1929 das zweckfreie Schlendern: „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung.“ Allerdings registrierte Hessel in der geschäftigen Metropole auch misstrauische Blicke: „Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.“ In Paris, wo Hessel vor dem Ersten Weltkrieg einige glückliche Jahre verbrachte, war das anders: Das Flanieren als Lebensart wurde dort im späten 19. Jahrhundert erfunden und von Autoren wie Marcel Proust („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) gefeiert. Wie viele Bilder der Impressionisten zeigen, liebte man das zweckfreie Bummeln besonders, seit die französische Hauptstadt kein Labyrinth stinkender Gassen mehr war. Der Präfekt Georges-Eugène Baron Haussmann hatte großzügige Boulevards und lauschige Passagen angelegt – das ideale Terrain für den Flaneur, den Charles Baudelaire, Poet der „Blumen des Bösen“, als „Künstler, Mann von Welt, Mann der Menge und Kind“ beschrieb.

Melancholischer Voyeur

Nach Ansicht des deutschen Philosophen und Proust-Übersetzers Walter Benjamin (1892-1940) ist der Flaneur ein Süchtiger, ein melancholischer Voyeur, ein Detektiv und ein Verdächtiger zugleich. Benjamin widmete dem Phänomen sein unvollendetes „Passagen-Werk“, dessen Durcharbeitung allerdings nur strebsamen Geisteswissenschaftlern zu empfehlen ist. Alle anderen sollten einen leichten Mantel anziehen und einfach nach draußen gehen, in die Stadt, zum Flanieren.

Zitat:

„Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen.“
(Franz Hessel, Flaneur)

Und wo bleibt die Flaneuse?

Frauen haben offensichtlich immer was zu tun. Jedenfalls kennt die Literatur keine Flaneuse. So, wie sich die Männer bei der Arbeit entschlossen bis stur auf ein Ziel konzentrieren, sind sie auch in Sachen Müßiggang durch nichts abzulenken. Immerhin gibt es bei Marcel Proust den Begriff der „Passante“ (französisch: Spaziergängerin). Dabei handelt es sich um vorbeiziehende, flüchtige Figuren, die alle Blicke und Begehrlichkeiten flanierender Herren ignorieren. In der Gegenwart bahnt sich zum Glück eine Änderung an. In dem Flaneur-Büchlein von Stefanie Proske (siehe Buchtipps) wird zwischen vielen Männern auch die Berliner Schriftstellerin Christa Moog zitiert: „Ich spazierte zum Grab von Kleist.“

Buchtipps:

„Das Passagen-Werk“
„Man darf, ohne Einschränkung, von einem epochalen Werk sprechen“, befand die Züricher Zeitung. Alle klugen Menschen nicken verständig, wenn von Walter Benjamins „Passagen-Werk“ die Rede ist. Jeder, der über das Flanieren philosophiert, wird es zitieren. Dabei handelt es sich um eine fragmentarische, aber überaus umfangreiche Sammlung von Texten, die durchzuarbeiten nicht gerade ein Vergnügen ist. 13 Jahre lang, bis zu seinem Selbstmord im Exil 1940, arbeitete der 1892 in Berlin geborene Philosoph an seinem Hauptwerk, einem Buch über seine Lieblingsstadt Paris – und wurde niemals fertig. Der Titel leitet sich ab von einer reichlich trockenen Abhandlung über die Geschichte der im 19. Jahrhundert erbauten Passagen, jene überdachten Gassen für den flanierenden Genießer. Die zweibändige Textsammlung ist nur geeignet für Menschen mit entschiedenem Bildungswillen. (Walter Benjamin: Passagen-Werk. Edition Suhrkamp, 1354 Seiten, 29,90 Euro)

„Flaneure – Begegnungen“
Das rosarote, hübsch gestaltete Büchlein der Lektorin und Politologin Stefanie Proske ist so leicht, dass es der Flaneur ohne weiteres in die Tasche stecken kann. Und die Lektüre ist ein müheloses Vergnügen für ein Stündchen im Café, denn Proske hat einige kurze Beispiele aus der Flaneur-Literatur zusammengestellt. Das geht vom alten Pariser Charles Baudelaire, der „inmitten dieses in Kittel und Kattun gekleideten Volkes“ eine „große, hoheitsvolle Frau“ entdeckte, bis zum Wiener Karl Kraus: „Dagegen zog mich von jeher das Leben der Straße an…“ Ideale Lektüre für ein müßiges Stündchen im Straßencafé. (Stefanie Proske: Flaneure – Begegnungen auf dem Trottoir. Edition Büchergilde, 198 Seiten, 14,90 Euro)

„Stadttagebücher“
Als Bühnenbildner reiste der oberschwäbische Architekt, Zeichner und Autor Hans Dieter Schaal in viele Städte von Venedig bis Kuala Lumpur. Das Flanieren wird bei ihm auch immer zum Analysieren. Was er entdeckte und bedachte, sammelte Schaal in umfangreichen „Stadttagebüchern“, die mal historische Abhandlung, mal persönliche Anekdote sind. Man kann und muss das schwere, mit eigenen Fotos illustrierte Buch nicht komplett lesen – aber man kann dem Flaneur Schaal in die eine oder andere Stadt folgen. (Hans Dieter Schaal: Stadttagebücher. Edition Axel Menges, 647 Seiten, 79 Euro).




Flucht zum Jahreswechsel – München leuchtet

„Ich will zum Jahreswechsel raus“, sagen sich viele und verreisen, um den Wechsel ins Neue Jahr fernab mit Vorsätzen zu verbringen.

Den einen zieht es ans Meer, um über steife Brisen einen klar Kopf zu bekommen. Den anderen locken die Berge und der Schnee, um sich seiner vielen bunten Bilder zu entledigen, denen man täglich ausgesetzt ist. Viele reisen in eine Großstadt, um den Jahreswechsel als ganzheitliche Party zu erleben.  Durch einen Zufall war es bei mir München. Nicht deshalb, um dem fußballerischen Feind auf den Pelz zu rücken. Wenn man aus dem Revier kommt, gehört das Weben des Feindbildes FC Bayern zur Erziehung. Ich war schlichtweg Begleitung, also nicht nur vom eigenen Willen geleitet.

Flügelspiel in München

Flügelspiel in München

Tatsächlich stehe ich vor dem kleinen Fanshop in der Münchner City und ein post-weihnachtliches Gefühl überkommt den Gast aus Dortmund, mutet der Laden doch eher an wie die Geschäftsstelle des Weihnachtsmannes – alles in rotweiß. Und um die Ecke in einer Passage, vor einem Dirndlfachgeschäft, sitzt jemand an einem Flügel und spielt Rachmaninoff auf hohem Niveau. Es ist Silvester am Nachmittag und die Menschen eilen – schwer bewaffnet mit Plastiktüten und Koffern voller Wumm- und Bumm-Material – zu den jeweiligen Parties, um den letzten Balkankrieg akustisch nachzustellen.

Auf der Suche nach einem unspektakulärem Ort, landen wir „the night before“ in Schwabing im „Multikulti“, einem kleinen Lokal gegenüber vom „Lustspielhaus“, in dem sich Kabarettisten die Klinke in die Hand geben, wo zur Silvesternacht der urbayrische Barde Willy Michl aufspielt, von dem ich noch zwei Vinyls aus den 1970ern habe. Er ist der Begründer des bayrischen Blues und tritt heute in Indianerkleidung auf. Wollte man dabei sein, wäre man dicker bayrischer Luft ausgesetzt, umzingelt von urbayrischem Idiom, „lost in translation“. Und ausverkauft ist es sowieso.

Essen als Herausforderung

Im „Multikulti“ wird derweil das Essen serviert. Die Bedienung Olga aus Kiew sagt: “Ich komme aus dem buntesten Land Osteuropas“ und serviert uns gigantische Portionen auf ebensolchen Tellern. Mein „Krautwickel auf transsilvanische Art mit Sauerrahm, Kartoffeln und Speck“ wird von Koch Werner frisch hergestellt. Mutmaßlich hat er für diese Portion den kompletten Weißkohlkopf verwendet, ein mittelgroßes Schwein zerhackt, einen Sack Paprikapulver eingesetzt und ein paar Liter saure Sahne angehäuft. „Die letzte Herausforderung des alten Jahres“, denke ich und verputze schnaufend das zünftige Mahl.

Meine Begleiter haben es mit einem Haufen Wiener Kalbsschnitzeln und einer Lieferung Spaghetti mit allen Meeresfrüchten des Mittelmeeres zu tun, welches bekanntlich von München weniger weit entfernt ist als Dortmund. Am Nebentisch sitzt ein junges italienisches Paar mit ihrem dreijährigen Kind, das es mit einem „Kinderteller“ zu tun hat. In der Größe einer Kinderbadewanne breiten sich auf dem „Teller“ Rühreier für einen gesamten Kindergarten aus.

Steffi Graf, gemalt auf einer Rinderhaut

Hier will ich die Silvesternacht verbringen. „Ein Tisch ist noch frei, der kleine an der Tür.“ Die Einrichtung scheint aus den 70ern ins Jetzt gebeamt: Wände voll mit Gemälden, die Kunstsachverständigen Schaum vor den Mund jagen würden. Eins zeigt Steffi Graf, gemalt  auf einer Rinderhaut. Die Bestuhlung stammt durchweg von unterschiedlichen Omas.  Lampen, die vormals mal was anderes waren und Kerzenständer um Kerzenständer mit Kerzen. Im vorderen Bereich herrscht eine gediegene Wohnzimmeratmosphäre, im Raum hinten rechts laden kleinere Tische zu Tête-a-têtes, die kurze Theke ist mit ihrem Umfeld eine eigene Welt und hinten bedeckt ein buntes, wahrscheinlich handgesticktes Tuch einen Billardtisch. In der Ecke, hinter einem zusammengeknubbelten Vorhang, klemmt sich einer an einen Spielautomaten. Geradeaus geht’s zur Küche, rechts in die un-verzierten Toilettenräume. Unaufdringlich läuft das Album „A hard day‘s night“ von den Beatles.

"Multikulti" in Schwabing

„Multikulti“ in Schwabing

Für acht Uhr ist gebucht. Es soll live-Musik geben. Eine Seitenlehne des Sessels fällt aus ihrer Verankerung. Ich halte sie fest, als wäre sie ein Stück von mir. Die anderen Gäste sind schon da. Die Eingangstür vor uns wird naturgemäß auch als Ausgang benutzt. Es zieht. Diejenigen, die ich begleite, tragen ihre Mäntel auch am Tisch. Der Ausgang ist nah, falls es zu unerwarteten Tumulten kommt. Aber alles ist schön: Die Junge Münchener Generation am Nebentisch, der Vierertisch Pelzmantelschickeria, das stille Paar gegenüber. Im anderen Raum schön sortierte Vierergruppen.

Gibt es wirklich so große Forellen?

Nur an der Theke stehen ein paar abgerissene Anwohner, die schon um acht den Eindruck bestätigen, Bier sei ein Lebensmittel, und zwar von morgens bis abends. Auf dem abgedeckten Billardtisch stehen Sektflaschen, einige junge Dinger liegen oder sitzen schon querbeet. Es soll noch heiß werden in der Nacht ins kommende Jahr. Olga serviert die Forelle, die für jedes Seemannsgarn herhalten könnte. Gibt es Forellen in dieser Größe? Beim Pulpo hat man auf Fisimatenten verzichtet und ihn gar nicht erst in Einzelteile zerkleinert. Das wäre nur was für die Freunde der Häppchen-Kultur. Hier wird gegessen, auch, wenn die Teller erheblich die Größe des Tisches überschreiten. Aber man hat ja zwei Hände. Die beiden silberhaarigen Live-Musiker hocken mit ihren Gitarren vor der Theke und spielen ihre Jugend rauf und runter.

Die kaum angezogenen Mädchen und feierlich gekleideten Jungs am Nebentisch tauschen ihre Flüssigkeiten noch in Form von Getränken aus – sie spritzen Aperol on the rocks und Whisky/Cola . „Was ist Soda?“ fragt die mit dem offenen Oberteil. An der Theke plaudern sich die Einheimischen gegenseitig vom Hocker. Das Weißbier schäumt ihnen aus den Ohren. Ihre Haltung jedoch ist die von Lustknaben aus den Zeiten König Ludwigs.

Welch ein Aperol-Blick!

Die Zwei-Mann-Band spielt irgendwas von Rod Steward oder Keith Richards. Helles und Weißes an der Theke, Sekt am Billardtisch. Draußen donnern einem beim Rauchen die ersten illegalen Polenböller durch den Tinnitus. Nebel legt sich zwischen Lustspielhaus und Multikulti. Die ersten Plastiktüten werden im Lokal in Stellung gebracht – ready to be bombastic. Die junge Lady mit den schwarzen Haaren tänzelt an mir vorbei und wirft ihren Aperol-Blick in mein Gesicht. Ich lächle zurück und denke nichts. Die Tür geht auf und eine kleine Partygruppe stößt auf die andere. Drei weitere Sinnbilder jugendlicher Weiblichkeit. Wäre ich ein unzufriedener Rollatorschieber mit einer viel zu dicken Frau, würde mir die Fischsoße aus den Mundwinkeln rinnen. So aber bleibe ich cool wie ein 25-jähriger Golfspieler und starre bedenkenlos auf die Beine, die sich vor mir aufbauen, die High Heels in den Teppich gerammt.

Draußen herrschen gefühlte 5 Grad minus und vor mir sehe ich frostbeulenfreie nackte Beine mit dem Rocksaum auf meiner Augenhöhe.  „Früher war mehr Wolle“, höre ich mich denken und ziehe meine Handschuhe wieder aus.  Die Lady stöckelt weiter zu ihrer Freundesgruppe und legt sich mit einem Eimer Aperol an. „Die Uhr tickt“, fordern uns zwei der Girls auf, „gleich ist es soweit. Neujahr!“ rufen sie und erwecken uns damit aus dem Schlaf der Gesättigten. Gott sei Dank meinen sie nicht meine Lebensuhr. Nein, es sind anständige Einheimische.

Olga schiebt Biere nach und ist unerlässlich freundlich und das ist so echt, dass einem schwindelig wird. Die zwei alten Tanten in ihrer jungen Kleidung, zwei wandelnde Ü-50-Boutiquen, vergnügen sich am Vierer-Tisch mit ihren eisgrauen Männern, die aussehen, als hätten sie noch am Nachmittag einige Ausstellungen eröffnet. Silberringe, Silberhaare, Silberzähne und ein paar Meter weiter parken ihre Designer-Fahrräder. Wir werden herausgeschoben. Auf der Straße zwischen Multikulti und Lustspielhaus werden die Waffenarsenale in die endgültige Stellung gebracht. Ganze Batterien von Raketen aller Art werden in die Luft gejagt. Wer gewinnt? Und es kommen Menschen und umarmen mich, werfen mir Küsse an meine erkaltete Wange, auch die mit den Beinen greift mit frohen Grüßen in meine Souveränität ein.

„Ein Stadl is des“

Olga kommt und freut sich. Ich falle in meinen Sessel und versuche noch, ein Tanzbein zu greifen, aber es entschwindet mit Toni aus dem Nebenhaus in den Billardraum, wo sich die knapp gekleideten Sekttrinkerinnen vor der Böllerei versteckt hielten und nun Liebkosungen austauschen. Wir wechseln den Tisch. Das Lokal wurde umgeräumt, die ersten Jungen beginnen zu altern.  Die Schwarze hat dort einen Relief-Slip, wo in den 90ern noch das Geweih eingestanzt war. Das Böllerfestival draußen wird von den letzten Unentwegten aufrechterhalten. Nachdonnern mit Kollateralschäden an einzelnen Ohren und Mänteln. Die Damentoilette wird zum Lazarett umfunktioniert. Aperol wird zurückgeführt, Unverdautes bollert in die Keramik.

Die mit den Beinen kann sich auf diesen nicht mehr halten. „Sie ist das nicht gewohnt“, sagt der junge Mann mit dem Muskelshirt, der ihren Zickzackgang abfedert. An der Theke steht Andy Borg in einem langen eleganten Mantel und raunt: „Ein Stadl is des.“ Inzwischen laufen weitere Betrunkenen-Transporte per pedes. Wir verabschieden uns von Olga aus der Ukraine. An der Bahnstation treffen wir wieder auf die nackten Beine, die kreuz und quer laufen wollen. Aber der Gentleman hat alles im Griff und sagt: „Sie ist das nicht gewohnt.“

Wir verschwinden in der Dunkelheit des neuen Jahres. Hinter uns werden reihenweise Papierkörbe mit Aperol gefüllt. Am nächsten Tag schreibt die Abendzeitung, ein U-Bahnfahrer sei betrunken über ein Bein gefahren. Hoffentlich war es nicht eins der zwei nackten. Prosit Neujahr!




Tränen am liebsten in Superzeitlupe: Die verfälschten Emotionen bei RTL

Der grobe Unfug beginnt schon beim Titel der von Sonja Zietlow präsentierten Show: „Die 25 emotionalsten TV-Momente des Jahres“. In Wahrheit kann man das natürlich gar nicht so steigern: emotional, emotionaler, am emotionalsten. Doch bei RTL geht das.

Die marktschreierische Rückblickssendung, in der praktisch unentwegt „Sensation, Sensation!“ gerufen wurde, erwies sich als hemmungsloses Ausschlachten von Gefühlen. Ob Trauer oder Jubel, Scham oder Schadenfreude – hier wurde nahezu alles über einen Leisten geschlagen.

Sonja Zietlow präsentierte "Die 25 emotionalsten TV-Momente des Jahres". (© RTL/Stephan Pick)

Sonja Zietlow präsentierte „Die 25 emotionalsten TV-Momente des Jahres“. (© RTL/Stephan Pick)

Auch Sonja Zietlow zeigte sich der Materie nicht annähernd gewachsen. Sie moderierte den im Grunde zutiefst gefühllosen Hitparaden-Countdown („Platz 25 bis Platz 1“) allenfalls an der äußersten Oberfläche.

Schwachsinnige Vergleiche

Ob nun der angebliche „Pop-Titan“ Dieter Bohlen schluchzend seinen Entdecker Rainer Felsen wiedersah, ob Boris Becker sich jene peinliche Schlammschlacht mit Oliver Pocher lieferte oder krebskranke Menschen sich einen letzten Wunsch erfüllen konnten – das sollte auch nur annähernd gleichwertig sein? Schwachsinn! Dass im pakistanischen Fernsehen ein lebendiges Baby zu gewinnen war, soll auch nur irgendwie vergleichbar sein mit Waldi Hartmanns läppischem Fehler in Jauchs Millionärs-Quiz? Blödsinn!

Die durch lange Werbeunterbrechungen und dämliches Gewinnspiel gestreckten Beiträge waren indes alle nach gleichem Muster zusammengestoppelt. Stets mussten RTL-bekannte Sternchen, Juroren und Moderatoren die vorgeführten Emotionen verstärken und „erklären“, als könnten die Zuschauer selbst nicht bis drei zählen.

Was war denn nun wirklich echt?

Ansonsten wurde jede Träne vielfach und am liebsten in wiederholter Superzeitlupe gezeigt, damit man sich an jeder entgleisenden Mimik weiden konnte. Die bloße Wirklichkeit (sofern es denn eine ist) genügt in solchen Sendungen einfach nicht mehr, sie muss immer ins schier Unglaubliche gesteigert werden.

Ohne das US-Fernsehen hätte man sowieso einpacken können. Die meisten Stories stammten von dort. Was da wirklich echt war, sei einmal dahingestellt, es ist halt auf dem weltweiten Fernseh-Markt zu haben. Viele Szenen kamen einem jedenfalls gestellt vor. Mal ehrlich: Haben Sie beispielsweise ohne weiteres geglaubt, dass der niedliche Hund tatsächlich genau in dem Moment vor laufender Kamera lebend in den Tornado-Trümmern auftauchte? Oder war da etwa Regie im Spiel?

So weit haben sie’s gebracht

Ein solches Misstrauen haben besonders einige Privatsender seit Jahren mit zynisch präparierten und dilettantisch gespielten, also verlogenen „Emotionen“ selbst gesät. So weit haben sie’s gebracht. Und so entwerten sie – wie überaus traurig – auch noch die bewegendsten Momente.




„Pimmel ab“ oder: Was Vierjährige hören sollen

So manches Mal habe ich mich schon gefragt, wie die Altersangaben auf Büchern, CDs, Spielen oder Puzzles für Kinder zustande kommen.

Inzwischen glaube ich, dass dabei wohl vielfach auf gut Glück verfahren wird. Nicht selten werden babyhaft leichte Aufgaben erst ab 6 Jahre ausgeschildert. Andererseits gibt es gelegentlich auch den umgekehrten Fehlgriff.

Vor mir liegt eine Hörspiel-CD mit einer Produktion des Berliner Grips Theaters: „Bella, Boss und Bulli“ erzählt die Geschichte des Mädchens Bella, das murrend in ein anderes Stadtviertel umziehen muss, weil die allein erziehende Mutter dort Arbeit gefunden hat. Bella lernt dort zwei höchst unterschiedliche Jungen kennen: Bulli war schon mal im Erziehungsheim, Boss wird vom livrierten Chauffeur im Benz zur selben Schule gebracht. Mit solchen Kontrasten erzählt es sich natürlich besser. Also geschenkt, ob es realistisch ist, dass alle drei Kinder in derselben Gegend wohnen und in eine Schulklasse gehen.

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Im weiteren Verlauf der Geschichte kommt es zu „Erpressungen im schulischen Umfeld“, um es mal vornehm auszudrücken. Ein größerer Junge hat Bulli beim Diebstahl beobachtet und droht nun, ihn zu verpfeifen – falls er ihm nicht hier mal fünf, dort mal zehn Euro gibt.

Das alles wird gekonnt als Hörspiel aufbereitet (Text: Volker Ludwig) und mit zündenden Liedern (Musik: Birger Heymann) garniert. Gewohnte Grips-Qualität eben. Nicht nur gut gemeint, sondern auch gut gemacht. Kinder ab 7 oder 8 können hier auf unterhaltsame Weise was lernen. Beispielsweise, wie man Erpressern das Handwerk legt.

Doch darum geht es hier nicht. Der Patmos Verlag, in dem die CD erschienen ist und der übrigens traditionell vorwiegend religiöse Bücher herausbringt, nennt das Ganze ein „Hörspiel ab 4 Jahren“. Also haben wir die Platte guten Glaubens für unsere Tochter gekauft, die in einigen Tagen 4 wird. Auf dem Cover deutet nichts auf eine sonderlich ruppige Gangart hin.

Heute haben wir die CD zusammen angehört. Recht unvermittelt wird da ein Junge von einem anderen bedroht: „Geld her – oder ich schneid‘ dir den Pimmel ab!“ Und dergleichen weitere Nettigkeiten. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig in Erklärungnot geraten bin.

Wahrscheinlich gibt es Leute, die das ganz dool großstädtisch, „cool“ oder prima punkig finden und wegwerfend sagen, ein solch rauher Tonfall komme spätestens in der Grundschule ohnehin zum Zuge. Ich kann auch sagen, wie ich die Altersangabe finde: ungemein dämlich und unverantwortlich. Angesichts des sonstigen, schwer katholisch geprägten Verlagsprogramms sollten die Zuständigen sich vorsehen, dass sie nicht weitere Punkte für die Vorhölle sammeln.




Schopf und Schöpfung: Oberhausen zeigt „HAIR! Das Haar in der Kunst“

In der „flotten Schreibe“ älterer Machart hätte man formuliert, die neue Ausstellung in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen sei „eine haarige Angelegenheit.“ Und was der Redensarten mehr sind. Richtig ist, dass „HAIR! Das Haar in der Kunst“ das Titelthema rundum abhandelt. Wer da noch eine wesentliche Lücke entdeckt, ist wirklich findig.

Domenico Gnoli: "Hair Partition" (Scheitel), 1968 (© Museum Ludwig im Statlichen Russischen Museum St. Petersburg/VG Bild-Kunst, Bonn 2013)

Domenico Gnoli: „Hair Partition“ (Scheitel), 1968 (© Museum Ludwig im Statlichen Russischen Museum St. Petersburg/VG Bild-Kunst, Bonn 2013)

Gleich der erste Raum verheißt große zeitliche und ästhetische Bandbreite, die dann auch eingelöst wird: Bei Tilman Riemenschneiders „Marientod“ (um 1515) spielt die Haar- und Barttracht der Figuren eine entscheidende, charakterisierende Rolle – bis hin zur so genannten „Petrus-Locke“, die eben genau diesen Apostel kennzeichnet. Direkt gegenüber hängt eine Fotografie von Cindy Sherman, auf der die Künstlerin als steinreiche, überschminkte Dame der besseren Gesellschaft erscheint. Auch hier macht die Frisur einen Unterschied.

Cindy Sherman: "Untitled # 464", 2008 (© Hendrik Kerstens, courtesy NUNC Contemporary, Antwerp, Belgium)

Cindy Sherman: „Untitled # 464“, 2008 (© Hendrik Kerstens, courtesy NUNC Contemporary, Antwerp, Belgium)

Für viele Jahrhunderte bedeutete „ordentliches“ Haar auch geordnetes Denken oder gar Gottesnähe. Aus heutiger Sicht kuriose Dinge wie ein Echthaar-Kruzifix oder eine Maria Magdalena mit Ganzkörperbehaarung gibt es zu sehen, wobei das wallende Haupthaar selbstverständlich ihre jungfräuliche Scham bedeckt.

Spätestens nach der Hälfte des Rundgangs fragt man sich jedenfalls, wieso noch niemand zuvor auf die Idee gekommen ist, dieses Thema zwischen Schopf und Schöpfung zum zentralen Gegenstand einer Kunstausstellung zu machen. Museumsleiterin Christine Vogt und ihr Team haben insofern tatsächlich Neuland betreten.

Denn nach und nach zeigt sich, wie vielfältig der ikonographische Anspielungsreichtum des menschlichen Haares ist. Mal hat es religiöse, mal erotische Bedeutung, mal drückt es Machtverhältnisse oder soziale Zugehörigkeiten aus. Der Griff ins Haar oder die erzwungene Entfernung stehen für Demütigung und Stufen der Gewaltsamkeit. Auch kommt immer wieder der unaufhörliche Geschlechterkampf in Betracht.

Tilman Riemenschneider: "Marientod", um 1515 (© Sammlung Marks/Thomée, Aachen - Foto: Anne Gold, Aachen)

Tilman Riemenschneider: „Marientod“, um 1515 (© Sammlung Marks/Thomée, Aachen – Foto: Anne Gold, Aachen)

Haare haben überdies innig mit Tod und Vergänglichkeit zu tun, gerade weil sie das Letzte sind, was vom menschlichen Leibe nach dem Aushauchen erhalten bleibt. Im 19. Jahrhundert gedachte man der Verstorbenen deshalb nicht selten mit Lockenbildern.

Rotes Haar dient traditionell als Zeichen der Sündhaftigkeit, doch auch Blond (Warhols Monroe-Siebdruck, Roy Lichtensteins dekorativ weinendes Comic-Mädchen) und Schwarz (Otto Dix’ geradezu „dreckiges“ Hurenbild „Akt mit Zigarette“) haben ersichtlich ihre starken Reize.

Andy Warhol: "Geburt der Venus nach Bitticelli", 1984 (© The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Artists Right Society (ARS), New York - Foto: Anne Gold, Aachen)

Andy Warhol: „Geburt der Venus nach Bitticelli“, 1984 (© The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./Artists Right Society (ARS), New York – Foto: Anne Gold, Aachen)

Und so geht es wechselhaft voran, mit 134 einschlägigen Exponaten von der Antike bis heute, kreuz und quer durch Bestände der diversen Ludwig-Sammlungen, hie und da um Stücke aus anderen Kollektionen ergänzt. Es wird klar, dass die Peter und Irene Ludwig keineswegs nur Pop Art erworben haben, sondern Kostbarkeiten aus nahezu allen Epochen. Zum Umfang der Ausstellung zählt übrigens auch reichlich altes Silber aus dem Besitz von Irene Ludwig, das davon zeugt, wie im 18. Jahrhundert noch Körper- und Haarpflege sozusagen beim Frühstück betrieben wurden. Hier hat man halt den verstorbenen Stiftern gehuldigt, ansonsten wäre es nicht zwingend nötig gewesen.

So manche Legende der Kulturgeschichte wird nicht zuletzt durchs Haar definiert, so etwa durchs Medusenhaar (auf dem Bild „Die Pest“ des Franz von Stuck). Auch das wallende Haar der sexuell bedrängten Susanna im Bade wäre zu nennen. Oder Judith, die den Schädel des enthaupteten Holofernes bei den Haaren packt.

Edvard Munch: "Madonna - Liebendes Weib", 1902 (© The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Foto: Anne Gold, Aachen)

Edvard Munch: „Madonna – Liebendes Weib“, 1902 (© The Munch Museum / The Munch Ellingsen Group / VG Bild-Kunst, Bonn 2013 / Foto: Anne Gold, Aachen)

Streckenweise gerät die Schau also beinahe zur kulturgeschichtlichen Beispielsammlung, doch überwiegt insgesamt der künstlerische Impuls; vor allem, weil vornehmlich einige Gegenwartskünstlerinnen (jawohl, es ist offenbar überwiegend ein Frauenthema) frische Akzente gesetzt haben. Sie können auf alles zurückgreifen, mit Bestandteilen der ganzen Tradition jonglieren. Nicht sämtliche Arbeiten kommen über den bloßen Gag hinaus, doch einige gewinnen der Frisur neue Facetten ab.

Bedrohlich wirkt Rebecca Horns 1974/75 hergestellter Film vom simultanen Haareschneiden mit zwei Scheren, zu dem der jüngst verstorbe Otto Sander einen Text gesprochen hat. Anita Brendgens versetzt Fragmente eines ganzen Friseursalons in ein sanftes Schweben. Die vom Hardrock herkommende Patricia Murawski führt ihre langen Haare fotografisch beim selbstvergessenen „Headbanging“ vor. Und Billie Erlenkamp beweist, dass es möglich ist, die Umrisse eines weiblichen Akts in die dichte Behaarung eines Männerbeins zu kämmen.

Unbekannter Meister: "Erhebung der Maria Magdalena" (Maria Aegyptiaca), um 1480) (© Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen - Foto: Anne Gold, Aachen)

Unbekannter Meister: „Erhebung der Maria Magdalena“ (Maria Aegyptiaca), um 1480) (© Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen – Foto: Anne Gold, Aachen)

Wie bitte? Die Haarlosigkeit sei vergessen worden? Nichts da! Jim Raketes Porträtfoto des Schauspielers Jürgen Vogel und ein Selbstbildnis von Max Beckmann lassen mehr als nur lichte „Geheimratsecken“ sehen. Wuchernde wie abrasierte Intim- und Brustbehaarung kommen gleichfalls vor. Und schließlich darf auch das – aus modischen oder religiösen Gründen – bedeckte Haar nicht übergangen werden. Eine Arbeit der Iranerin Shirin Neshat erhebt hierbei subtilen Einspruch gegen den Tschador. Sieh an, sieh an, die Darstellung der Haare kann also auch gleichsam körperpolitisch gewendet werden.

„HAIR! Das Haar in der Kunst“. 22. September bis 12. Januar 2014 in de Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 6,50, ermäßigt 3,50 Euro.

Nähere Informationen: www.ludwiggalerie.de




Neues von der „Generation Farbbeutel“

Zunächst wollte ich Anfang Juli ja selbst am so genannten „Holi Festival of Colours“ im Dortmunder Fredenbaumpark teilnehmen. Warum sollte man’s nicht mal ein bisschen bunter treiben? Doch dann habe ich zwischendurch nicht mehr dran gedacht. Plötzlich war die Chose bereits ausverkauft. Und als ich erfuhr, wie hoch die Eintrittspreise waren, habe ich eh gern verzichtet.

Kurz darauf gab’s im Internet einen Film vom „Event“, von dem ich vorher gar keine rechte Vorstellung hatte. Viele Leute auf einer großen Wiese, es erschallten teils meditative, teils aber auch nervtötend technoide Klänge. Zwischendurch ließen sich die Menschen nur gar zu gern mit Farbpulver bewerfen oder besorgten dies selbst – bis alle halt über und über knallbunt waren. Vorwiegend hochsommerlich leicht bekleidet, hie und da halbwegs verzückt tanzend.

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Nun ja. Eine relativ neue Spielart des üblichen Weekend-Hedonismus eben, von dem man dann wochentags zehrt. Man hat einmal wieder seinen Körper gespürt, was im Büro ja nicht so gut geht. Noch dazu mag man sich einbilden wollen, an einer alten indischen Tradition geschnuppert zu haben. Ungemein sinnlich war es natürlich auch noch. Und irgendwie spirituell. Oder wenigstens tauglich als Fotomotiv.

Es gab Zeiten, das hätte man sich in derlei Fällen um die Reinigungskosten gestritten, aber bitte: Wer sich von Kopf bis Fuß freiwillig bepudern lassen will, soll sich eben bepudern lassen. Die Generation Farbbeutel wird schon wissen, was sie tut.

Wer das Ganze aber ziemlich infantil findet, der darf das auch. Fröhliche Fingerfarbenmalerei in der Kindertagesstätte scheint mir ungleich fruchtbringender zu sein als die hippen Farborgien der nahezu Erwachsenen. Aber ich kann da nicht so richtig mitreden. Ich habe ja auch früher nie das Bedürfnis verspürt, gemeinsam mit Hunderten in einem Schaumteppich zu versinken.

Nun lese ich, dass Weglaufen auch nicht mehr gilt. Im Gegenteil: „Jetzt wird Laufen bunt“, verspricht der Veranstalter, der erstmals die in den USA erfundenen „Color Runs“ (Trademark!) nach Deutschland bringt und damit am 25. August im Dortmunder Westfalenpark gastiert, wie denn überhaupt Dortmund zu den Hochburgen der Farbenfeste zu zählen scheint. Die Einzelläufer oder Teams, die sich dazu angemeldet haben, erhalten weiße T-Shirts samt Farbbeuteln und dürfen sich in den „Color Zones“ der 5 Kilometer langen Strecke von freiwilligen Helfern mit Farbpulver bewerfen lassen. Im Ziel wird kräftig gefeiert. Was denn auch sonst?

Ach so, ja: Viel Spaß dabei!




Viel Porto fürs Schneckentempo: Wie die Deutsche Post Bücher befördert

Immer nur auf der Deutschen Bahn herumzuhacken, das ist doch öde. Zwischendurch muss man auch mal auf die Telekom oder auf die Deutsche Post einsticheln. Wohlan denn!

Da habe ich doch vorhin eine Büchersendung zum Postamt gebracht. Aufregend, nicht wahr? Was ich freilich bisher nicht gewusst habe: Wenn man auf die Büchersendung auch „Büchersendung“ draufschreibt (Voraussetzung: Sie muss dann mit einem schnellen Griff zu öffnen sein – Gibt’s da etwa Stichproben auf den Inhalt?) und redlich sein ermäßigtes Porto bezahlt, verwirkt man damit die Aussicht auf normale Beförderung.

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Vollends abstrus wird der Vorgang, weil – wie man mir am Schalter erläuterte – der Postbote am Zielort die Sachen herausfischt, die mit ermäßigtem Porto versehen sind, um sie für den nächsten oder übernächsten Tag beiseite zu legen.

Das heißt, der Zusteller macht sich eigens Sortierarbeit, um hernach etwas n i c h t gleich weiterzubefördern. Nach dem Verständnis der Post (offiziell ein Dax-Unternehmen, im Wesenskern noch immer eine Behörde) handelt es sich bei Büchersendungen quasi um unterbezahlte Fracht. Die wird nur dann einigermaßen zügig zugestellt, wenn im Bezirk sonst nicht viel anliegt.

Aus dem Tagebuch einer Schnecke: Während sich die Post seit Jahr und Tag viel auf ihre Formel „E plus 1“ (Sendung soll einen Tag nach Einlieferung am Bestimmungsort ausgehändigt werden) zugutehält, können solche Büchersendungen in Deutschland bis zu vier (!) Werktage unterwegs sein oder genauer gesagt: vor allem herumliegen.

So ist das also, wenn die Post einem die Gnade einer Ermäßigung gewährt. Dann signalisiert sie einem: Du verschickst ja nur Bücher. Ist doch zweitrangig, wann die ankommen.

Nachtrag am 27. August 2013 / Helvetische Episode

Als ich die vorherigen Absätze geschrieben habe, wusste ich noch gar nicht, was wirklich teuer und langwierig ist.

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Heute habe ich ein Buch in die Schweiz versendet. Die Adressatin hatte per Überweisung 10 Euro fürs Porto vorgelegt, was ich überreichlich fand. Bei der Post wurde ich eines Schlechteren belehrt. Dort wollte man mir für das knapp über 1 Kilogramm schwere Päckchen 15,90 Euro (!) abknöpfen. Nach langem Hin und Her schlugen sie in ihren Bestimmungen nach und boten an, eine internationale Büchersendung für 11 Euro auf den Weg zu bringen – allerdings wiederum mit der Maßgabe, dass dies ja eigentlich „unterbezahlt“ sei und daher eventuell langsamer ausgeliefert werde.

Und jetzt ratet, wie lange eine solche Sendung ins Nachbarland Schweiz unterwegs sein kann. 3 Tage? 5 Tage? 7 Tage? 10 Tage?

Alles falsch. Bis zu 14 Tage! Und dafür wollen sie 11 Euro haben.

Halten zu Gnaden, aber: Die spinnen, die Postler!




TV-Nostalgie (3): „Einer wird gewinnen“ mit Kulenkampff – Bildung auf charmante Art

Die 1960er Jahre waren in der Bundesrepublik zweifellos die ganz große Fernsehzeit. Da saß oft noch die ganze Familie gemeinsam vor dem Gerät; ganz besonders dann, wenn große Samstagabendshows wie Hans-Joachim Kulenkampffs „Einer wird gewinnen“ (EWG) auf dem Programm standen.

EWG lautete auch die Abkürzung für Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, den frühen Vorläufer der EU. In jenen Jahren herrschte noch europäische Zuversicht, obwohl die Schlagbäume noch unten und die Währungen verschieden waren.

Für die ganze Familie

„Kulis“ Show war jedenfalls rundum so nett, elegant, lehrreich und jugendfrei, dass man nach dem samstäglichen Bad auch als Kind zuschauen durfte. Die erste, heute längst legendäre Staffel lief von 1964 (Start am 25. Januar) bis 1969. Im Internet ist eine Sendung in voller Länge greifbar, die am 12. März 1966 aus Wiesbaden übertragen wurde. Damit bin ich noch einmal in die damalige Zeit eingetaucht.

Hans-Joachim Kulenkampf flirtet mit der Kandidatin aus Österreich, der späteren Siegerin der EWG-Sendung vom 12. März 1966. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=uyBoIs9XYjc)

Hans-Joachim Kulenkampf flirtet mit der Kandidatin aus Österreich, der späteren Siegerin der EWG-Sendung vom 12. März 1966. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=uyBoIs9XYjc)

Nur mal ein paar Namen, um den Horizont abzustecken: Die Gesangseinlagen dieser Sendung kamen von Gerhard Wendland und Lisa della Casa, Willy Berking dirigierte das Orchester. Zum Inventar zählten aufwendige Bühnenbauten, schalldichte Kabinen und eine ebenso hübsche wie eifrige Assistentin (Uschi Siebert), wie denn ohnehin ständig dienstbare Geister über den Bildschirm wuselten und eilends Utensilien brachten oder fortschafften.

„Kuli“ und die Damenwelt

Wie „altfränkisch“ die Menschen seinerzeit noch ausgesehen haben, wenn man es aus der Rückschau betrachtet. So adrette Kandidatinnen und Kandidaten gibt es heute nicht mehr. Die Schwenks ins Publikum zeigen zudem, dass praktisch alle Herren Anzug mit Krawatte trugen und die Damen artige Kleidchen.

„Kuli“ selbst, der sich in den ersten Minuten stets mit einer geschliffen formulierten Solo-Conférence für die meist rund zweistündige Sendung (Überziehen gehörte unbedingt dazu) wohlig „warmplauderte“, versprühte auch hernach jede Menge Charme; zumal, wenn weibliche Kandidaten an die Reihe kamen. Wie er sich ihnen buchstäblich zuneigt, ja im Wiegeschritt gleichsam wie auf Freiersfüßen geht und dabei allzeit lächelnd kokettiert („Ich habe heute kein Glück bei den Frauen“), das ist sprachlich und körpersprachlich immer noch ein Genuss, auch wenn man sich den allermeisten Frauen heute nicht mehr so nähern sollte.

Erstaunliche Allgemeinbildung

„Einer wird gewinnen“ war im Kern eine recht anspruchsvolle Quiz-Sendung mit ziemlich kultivierten Einlagen wie etwa Opern-Auszügen. Man fasst es stellenweise nicht, was damals noch gewusst wurde und offensichtlich zur klassischen Allgemeinbildung gehörte. Wie aus der Pistole geschossen (so sagte man damals) kam etwa die Antwort auf die Frage, welche drei göttlichen Grazien der sagenhafte Paris bei seinem Apfel-Urteil vor sich hatte: Aphrodite, Hera, Athena. Nun mal ehrlich…

Und das war nur eine von etlichen kniffligen Aufgaben. Bei der Bewertung der Antworten konnte „Kuli“ übrigens auch schon mal ein bisschen streng werden. Als die Holländerin Puccinis Oper „La Bohème“ nicht erkannte, wurde sie zwar scherzend, aber doch entschieden gerüffelt.

Wie selbstverständlich konnte der Showmaster denn hie und da auch beispielsweise Goethe-Zitate einstreuen – ganz im Vertrauen darauf, dass die meisten Leute wussten, worauf er anspielte. Das traut sich heute bestenfalls noch Harald Schmidt vor einem nächtlichen Nischenpublikum.

2000 Mark Siegprämie

Nun gut, es war auch eine etwas elitäre Vorauswahl. Die pro Sendung acht Kandidaten stammten in der Regel aus ganz Europa und darüber hinaus, in besagter Ausgabe aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Holland, Jugoslawien, der damaligen Tschechoslowakei sowie aus den USA und Israel. Alle sprachen zumindest leidlich Deutsch, gleich mehrere trugen Doktortitel. Es war eben nicht zuletzt bürgerliches Bildungsfernsehen.

Für all die Mühen und das Kopfzerbrechen gab es am Ende natürlich keine Million wie heute manchmal bei Jauch, sondern für die Sieger gerade mal 2000 Mark, was damals immerhin auch ein kleiner Batzen war.

Schlussritual mit Butler Martin

Keine Kultsendung ohne Ritual. Bei „Kuli“ war es bekanntlich der Butler Martin Jente (hauptberuflich hochkarätiger TV-Produzent), der seinem „Herrn“ am Schluss immer formvollendet in den Mantel half und ihm dabei ein paar kleine Gemeinheiten unterjubelte. Da hielt – ganz nebenher – auch eine Spur des englischen Humors Einzug ins deutsche Fernsehen.

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Zeitschriften (1): „Homes & Gardens“ – Die Welt als schöne Dekoration betrachtet

Nein, ich war nie ein Freund solcher Magazine und werde mein Lebtag auch keiner mehr sein.

Doch der Reihe nach: Ich wollte hier seit langem eine Serie über Zeitschriften starten, die in ihrer immer noch überbordenden Fülle tausenderlei Interessen zu bedienen scheinen – und hatte eigentlich vor, mit der offenbar gründlich zum Boulevard-Brüller mutierten „Bravo“ anzufangen. Doch die alte Tante unter den Jugendillustrierten gehört nicht zum Sortiment des Schmalspur-Händlers ums Eck.

Also spontan umdisponieren. Mein Blick fiel nun auf eine andere Regalreihe und ich dachte bei mir, als hätte ich Verbotenes im Sinn: Warum nicht mal stilvoll in der deutschen Ausgabe von „Homes & Gardens“ blättern? Den Titel muss man gleichsam oxfordianisch aussprechen. In Ermangelung einer zierlichen Coffee Table habe ich die Lektüre allerdings schnöderweise auf dem Schreibtisch vollzogen, was im Kosmos solcher Magazine schon an sich ein Vergehen ist. Ich bekenne mich schludrig, äh schuldig.

Das pastellfarbene Idyll besudeln

Und nun haltet mich fest. Denn schon bei genauerer Durchsicht einer einzigen Zeitschrift dieser Sorte erfasst mich nicht nur ein gewisser Unmut, nein: Ich würde diese durchweg unwirklichen, pastellfarbenen Welten am liebsten hie und da besudeln. Daraus könnten Psychologen sicherlich weitreichende Schlüsse ziehen. „Wie empfinden Sie das? Was macht das mit Ihnen?“

Materialien zu einer Kritik von "Homes & Gardens" (Foto: Bernd Berke)

Materialien zu einer Kritik von „Homes & Gardens“ (Foto: Bernd Berke)

Ruhe da! Derlei Petitessen trage ich mit mir selbst aus.

Ganze Seitenstrecken sind hier in bestimmten Farbtönen und zarten Kombinationen gehalten (Blauweiß und Mint, Jade und Blau oder auch Gelb und Zartrosa), als wäre vorerst – bis zur nächsten Trendwende – nichts anderes mehr erlaubt.

Was sich allzeit als „Inspiration“ oder „Idee“ versteht, gerät so im Handumdrehen zur zwar immer mal wieder wechselnden, doch nichtsdestotrotz faden Eintönigkeit. Unentwegt wird die „Individualität“ der Vorschläge beschworen, doch kann dieses Selbstlob nicht über eine gewisse Phantasiebegrenzung hinwegtäuschen.

Ziffern und Buchstaben aufstellen

So scheint es beispielsweise in diesen Kreisen Usus zu sein, im gesamten Domizil „Akzente“ zu setzen, indem man einzelne Ziffern und Buchstaben aufstellt oder hinhängt. Da gerät eine „2“ auch schon mal so monströs, dass man glatt darüber stolpern könnte. Andererseits sind die Behausungen ausnahmslos so weitläufig und großzügig, dass es auf ein paar Quadratmeter ohnehin nicht ankommt.

In der luftig sommerlichen Ausgabe Juli/August ist „Wohnen am Meer“ das Titelthema. Von konkreten Haus- und Grundstückspreisen ist da schon gar nicht mehr die Rede, man mag sie sich ausmalen und sich fragen, wer sich das leisten kann. Da gibt es Leute, die bereits höchst gediegen in Cornwall residieren und sich kurzerhand zusätzlich ein citynahes Stadthaus im sündhaft teuren London zulegen.

Wenn Erfolgspaare erzählen

Die Erfolgspaare, die da verzückt von ihren Traumhäusern erzählen, haben allesamt ähnliche „Geschichten“ parat. Sie haben sich samt und sonders ihren immobilen Lebenstraum erfüllt und (so die besonders beliebte Saga) teils etwas marode alte Häuser in jahrelanger, liebevoller Detailarbeit schönstens aufpoliert. Bis endlich die Leute von „Homes & Gardens“ vorbeigeschaut haben. Auf solche Weise wird das Lebensglück gekrönt, das man sich vorzugsweise lässig, entspannt und relaxed vorzustellen hat. Mithin etwas redundant. Also wohl auch ein bisschen langweilig.

So sehr ähneln sich die Berichte, dass man auf den verwegenen Gedanken kommt, einmal den jeweiligen Realitätsgehalt überprüfen zu wollen. Auch wäre man gern beim einen oder anderen Fotoshooting dabei gewesen, aber auch beim vorherigen Aufräumen und den nachherigen Verschönerungen mit Bildbearbeitungs-Programmen.

Egal. Hier genießen alle den direkten, unverstellten Seeblick – ob auf den Pazifik in der Villa zu Queensland (Australien), auf die britische See in der Doppelhaushälfte aus dem 18. Jahrhundert zu Devon (England) oder auf den Lago Trasimeno (Italien). Hach ja.

Erschütternd geschmäcklerisch

Wie der Titel der Zeitschrift schon ahnen lässt, liegt ein Schwerpunkt auf englischen Deko-Anregungen. Ich vermute mal, dass manch ein Beitrag aus der englischen Ausgabe übernommen wird, das eventuell als öde eingeschätzte Deutschland kommt eher am Rande vor. Es ist nicht zu bestreiten, dass dies oder jenes Objekt recht geschmackvoll aussieht, doch in der Summe und in der allfälligen Etepetete-Perfektion ist der Heftinhalt schier erdrückend geschmäcklerisch und keimfrei.

Apropos: Die Badezimmer-Tipps haben mir den Rest gegeben. Obwohl: Die Dusche, die verschiedene Regenarten simuliert und dabei diverses Nebelwallen, Lichtspiele und feine Düfte absondert, die haben wir ja inzwischen längst alle daheim installiert, oder etwa nicht? Doch das WC für schlanke 1420 Euro mit Fernbedienung, programmierbarer Komfortdusche und Warmluftföhn nötigt einem denn doch ein Wimpernzucken ab. Kann man da gar von obszönem Luxus sprechen? Ach, nicht doch! Immer gleich diese Ideologie aus purem Neid. Aber ein wenig ungerecht wird man doch mal sein dürfen.

Zusätzliche Ausstattung-Tipps kommen übrigens in aller Regel von den Frauen, wie denn auch die Zielgruppe eindeutig weiblich ist. Bis auf einen Direktor besteht überdies die gesamte deutsche Redaktion aus Frauen. Vielleicht kann ich deswegen überhaupt nicht mitreden. Ich Ignorant habe ja auch vorher keinen Gedanken darauf verschwendet, was „Poufs“ sind (im Bedarfsfalle bitte selbst recherchieren). Vor allem aber weiß ich, dass die Liebste einigen Elementen dieser Zeitschrift etwas abgewinnen kann. Sei’s drum. Es lebe die Verschiedenheit.

Blumen pressen, Brotkörbe basteln

Dafür weiß ich jetzt, dass der „Shabby Style“ (angeblich kein Trend, sondern ein „Lebensgefühl“!) alles andere als schäbig ist. Und wenn man wenigstens die Mehrzahl der Flohmarkt-Käufe und Erbstücke weiß anpinselt, kann man – wie es hier heißt – Kitsch vermeiden. Wie schön, dass das so einfach ist.

Auch wäre ich vorher nicht auf den Einfall gekommen, dass Frauen Seife für sich selbst als Geschenk verpacken (sollen), um sich auf jedes neue Stück zu freuen wie eine Schneekönigin. Dem Heft nach zu urteilen, haben manche von ihnen offenbar ziemlich viel Zeit übrig. Wenn sie nicht gerade shoppen oder in Wohnideen schwelgen, sollen sie nicht nur emsig Blumen pressen (ausgeschildert als „Comeback“ eines Hobbys aus viktorianischer Zeit), sondern zum Exempel auch Brotkörbe aus Hanfstoff basteln. Die Schritt-für Schritt-Anleitung wird für die gleichwohl weltoffene Lady natürlich anders durchnummeriert: Step 1 – Step 2… Heiligs Hänfle!

Warnung an apulische Bauern

Dass bei all dem nie die Bezugsquellen fürs Shopping vergessen werden, dass überhaupt der Übergang zwischen redaktionellen Teilen und Anzeigen zuweilen recht fließend ist, versteht sich beinahe von selbst. Das Äußere Erscheinungsbild, sprich Layout und Typographie, scheint hier bereits die Hauptarbeit zu sein. Die Texte hingegen funktionieren offenbar nach vorgegebenem Schema. Überraschungen sind nicht zu erwarten.

So sehr gerät hier alles zur Deko und zum schicken Accessoire, dass man den Reisehinweis (Apulien mit „ursprünglichen Bauerndörfern“) mit Unbehagen liest. Bevor die Leser(innen) dort einfallen, möchte man den Bauern am liebsten zurufen: Bleibt standhaft! Gebt nur eure alten Sachen nicht her!

Ich glaube, als nächstes brauche ich etwas Brachiales. Vielleicht eine Heavy-Metal-Zeitschrift?




Schlapphüte und andere Trends: BVB-Spielerfrau Jana Kirch als neue Kolumnistin der Ruhrnachrichten

Der Dortmunder Lokalteil der Ruhrnachrichten (RN) hat jetzt eine neue Mitarbeiterin. Sie heißt Jana Kirch.

Ja, und?

Nun, Jana Kirch veröffentlicht seit gestern eine regelmäßige Kolumne mit dem herzigen Titel „Janas schöne Aussichten“. Darin – so die Ankündigung – werde sie ab sofort „von Mode, gemütlichen Cafés, ihren Lieblings-Hotels und von ihren persönlichen Erlebnissen rund um Borussia Dortmund“ berichten.

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Jana Kirch geb. Flötotto ist nicht irgendwer. Die Ehefrau des BVB-Ergänzungsspielers Oliver Kirch trägt vor allem als weit gereistes Model (New York, Paris etc.) und Boutique-Inhaberin (Bielefeld & Sylt) zum wahrscheinlich nicht allzu schmalen Familieneinkommen bei.

Nebenher betreibt „der schönste Neuzugang beim BVB“ („Bild“) auch noch ein Blog namens ohlalalovelylife, das so geschniegelt aussieht, als werde es von einer Agentur gezimmert. Der Titel dürfte jedenfalls auch für die RN-Kolumne richtungweisend sein. Zum Auftakt wird Jana Kirch vom lokalen Monopolisten auch folgerichtig so zitiert: „Ich möchte mich allen schönen Dingen widmen, die uns in der Alltagshektik manchmal unbemerkt zu entgleiten drohen.“

Genau. Bloß keine garstigen Sachen. Bei den Ruhrnachrichten ist somit künftig noch ein bisschen mehr Harmonie und Harmlosigkeit angesagt als ohnehin schon. „Trends ins Dortmund und der ganzen Welt“ will die neue Mitarbeiterin vorstellen. Zu Beginn empfiehlt sie schicke Outfits für die Sommerfestival-Saison: „Besonders große Schlapphüte à la Saint Laurent erleben dieses Jahr ein Revival.“ Gut, dass man das jetzt im Lokalteil erfährt. Sonst hätte man doch glatt wieder den stocksteifen Mini-Hut aus dem Vorjahr aufgesetzt.

Wir fragen jetzt nicht, durch welche Verquickungen, auf welchen Wegen und Umwegen ein solches Arrangement zustande kommt, warum also die Gattin eines BVB-Kickers partout eine Spalte des Lokalblatts füllen muss. Wir fragen auch nicht nach der Honorierung und danach, welchen Anteil womöglich die RN-Redaktion an den Texten hat. Erst recht wollen wir nicht wissen, was das liebliche Geplänkel im Lokalteil einer Tageszeitung zu suchen hat. Auch interessiert es uns nicht mal ansatzweise, ob die eine oder andere modische Empfehlung vielleicht auch in den Boutiquen von Frau Kirch käuflich zu erwerben ist. Oder etwa doch?




„Das Halstuch“ – Wiedersehen mit dem „Straßenfeger“ von einst

Es war der „Straßenfeger“ schlechthin: Im Januar 1962 hatte der Durbridge-Sechsteiler „Das Halstuch“ im ARD-Programm eine unfassbare Zuschauerquote von 89 Prozent – praktisch ohne konkurrierende Kanäle. Für die Älteren war das eine prägende Fernseherfahrung der Frühzeit. Jetzt hat der Kulturkanal 3Sat die Krimireihe noch einmal ausgestrahlt – an einem Stück.

Als bekennender TV-Nostalgiker lässt man für eine solche Wiederbegegnung einen zeitgleichen Leipziger „Tatort“ ohne weiteres links liegen. Die großflächige Wiederholung des Klassikers (20.15 bis 23.50 Uhr) bot reichlich Gelegenheit, in die damalige Zeit einzutauchen. Übrigens hat der produzierende WDR damals so gespart, dass man den britischen Stoff wegen zu hoher Reisekosten nicht etwa in England aufzeichnete, sondern in…Remscheid!

Gepflegte Konversation

Wie anders ist damals im gediegenen Schwarzweiß erzählt worden! Von „Action“ im heutigen Sinne keine Spur. Erst recht keine rasanten Schnitte. Auch keine wüsten Serienmorde oder Orgien der Brutalität. Ja, nicht einmal Kraftworte.

"Halstuch"-Szene mit Dieter Borsche (li.) und Heinz Drache (Bild: ©ARD/WDR)

„Halstuch“-Szene mit Dieter Borsche (li.) und Heinz Drache (Bild: ©ARD/WDR)

Vielmehr wähnt man sich in einem gepflegten Konversationsstück, in dem sich ein wohlformulierter Dialog an den anderen reiht. Überdies geht es nicht filmisch zu, sondern wie auf einer konventionellen Theaterbühne. Auftritt – Gespräch – Abgang. Allein mit den Höflichkeitsformeln (Begrüßung, Dank und Abschied) geht die eine oder andere Minute dahin.

Wenn man freilich ein solides Ensemble zur Verfügung hat, wie damals der Regisseur Hans Quest, dann entsteht dabei keine Minute Langeweile. Um nur ein paar Darsteller-Namen zu nennen: Heinz Drache, Albert Lieven, Margot Trooger, Dieter Borsche, Hellmut Lange, Horst Tappert, Eva Pflug…

Die Geschichte um den Mord an der Schauspielerin Faye Collins, die mit einem Halstuch erdrosselt worden ist, wollen wir hier nicht mehr weiter aufrollen. Legendär wurde seinerzeit die Zeitungsanzeige, mit der der Kabarettist Wolfgang Neuss vor der letzten Folge den Täter verriet – und das, als praktisch ganz Westdeutschland den Krimi fiebernd verfolgte und gleichsam mit Inspektor Yates (Heinz Drache) ermittelte. Der tritt mit seinen Fragen zwar mitunter recht fordernd auf, bleibt aber stets korrekt. Ein Gentleman eben.

Abgenutzte Formeln

Natürlich kann man manches aus heutiger Sicht komisch finden, weil es sich mit den Jahren abgenutzt hat. Wie der Inspektor viele Aussagen mit der knappen Formel „Verstehe!“ bestätigt, wie er Zeugen immer wieder fragt „Sind Sie absolut sicher?“, wie er sonor ankündigt „Der Sache geh‘ ich nach!“ – das hat etwas Schematisches. Auch das wiederkehrende Grundmuster nach dem Motto „Wer hat wen wann wie und wo gesehen?“ wirkt zuweilen arg gestanzt.

Und trotzdem ist es spannend. Auch heute noch. Die erzählerische Geduld mit der Geschichte und ihren Figuren zahlt sich immer wieder aus. Man achtet auf jedes Wort und jede Regung. Ob junge Zuschauer heute noch eine solche Konzentration aufbrächten? Ich weiß es nicht. Immerhin dauerte damals eine Folge nur rund 40 Minuten. Also hielt sich die Geistesübung denn doch in Grenzen.

Rauchen bis zum Umfallen

Was damals nicht beabsichtigt war und kaum bemerkt wurde: Die Reihe enthält – von heute aus betrachtet – jede Menge „Zeitgeist“ jener Jahre. Da wird bei jeder Gelegenheit geraucht, bis die Feuerzeuge glühen. Und die Frauen haben keine große Rollenwahl außer der biederen Hausfrau und der verruchten Sünderin.

Doch eins ist so geblieben wie zur Zeit der Erstausstrahlung. Im Dienstzimmer des Inspektors hängt ein Porträt der Queen. Es war schon damals Elizabeth II. Nur ein kleines bisschen jünger.

(Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen)




Von der Zeugung bis zum Tod – umstrittene „Körperwelten“ bald in Bochum

„Das wird auch für das Ruhrgebiet ein Knaller.“ – So volltönend zitiert die WAZ in ihrem Online-Auftritt Michael Scholz, den Sprecher der Event-Agentur „All in one“.

Worum geht es da wohl? Rock und Pop der Weltklasse? Spitzensport? Anderweitige Rekordversuche? Was soll so spektakulär sein, dass der PR-Mann es so lautstark anpreist wie ein Marktschreier?

Nüchtern gesagt: Es geht um öffentlich gegen Eintrittsgeld präsentierte Leichen. Aber natürlich nicht um ganz gewöhnliche, sondern um solche, die nach der patentierten Methode des Gunther von Hagens „plastiniert“, also derart konserviert wurden, so dass sie zu Schaustücken für „Körperwelten“-Ausstellungen taugen.

Vom 30. August 2013 bis zum 19. Januar 2014 wird der offenkundig außerordentlich populäre Wanderzirkus (insgesamt an etlichen Orten schon über 36 Millionen Besuche seit 1996) in Bochum gastieren. Die Stücke kommen direkt aus Wien, der Stadt also, der man ohnehin einen speziellen Hang zum Morbiden nachsagt.

(Nicht)-Bebilderung zu diesem Beitrag

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Was hat man Gunther von Hagens (68), der inzwischen an der Parkinson-Krankheit leidet und die Regie zeitig in andere Hände gelegt hat, nicht alles vorgeworfen – vor allem Störung der Totenruhe, Verletzung der Menschenwürde, Bedienung niederer Schaulust. Wollte man mich fragen, so würde ich nicht verhehlen, dass ich dieser Auffassung zuneige.

Gegen andere Vorwürfe hat sich von Hagens erfolgreich gerichtlich gewehrt, wir wollen sie daher nicht mehr aufgreifen. Wer will, lese es andernorts nach.

Man kann freilich schaudern, wenn man sich die Exponate vorstellt, die nun auch das Ruhrgebiet ereilen sollen. „Die Schau gibt Einblicke, die unter die Haut gehen“, gibt der idr-Nachrichtendienst des Regionalverbands Ruhr (RVR) formelhaft kund. Man kann das so und so verstehen.

Für manche mag es ein Kitzel sein, andere graust es vorm Gruselkabinett. „Die Zyklen des Lebens“ (Titel der Ausstellung) sollen den menschlichen Daseinskreislauf von der Zeugung bis zum hohen Alter und zum Tod darstellen. In unguter Erinnerung ist noch der Augsburger Streit um präparierte Leichen, die so arrangiert wurden, als hätten sie Geschlechtsverkehr. Dieses zuweilen fruchtbringende Tun an sich ist unter Lebendigen beileibe nicht obszön, im Gegenteil; aber es gibt Formen und Zusammenhänge, in denen es widerlich werden kann.

Umsonst ist der Tod? Nun, wie man’s nimmt. Der Eintritt in Bochum kostet für Erwachsene immerhin 18 Euro, für Kinder müssen auch schon 13 Euro berappt werden. Schauplatz ist übrigens eine angemietete Halle des Mercedes-Händlers Lueg an der Hermannshöhe. Nein, da möchte man lieber keine assoziativen Querverbindungen zwischen Ausstellung und Markenimage herstellen.

Infos: http://www.koerperwelten.com/de/bochum




ZDF-Dauerbrenner „Aktenzeichen XY…ungelöst“: Sie trauen unserem Mitleid nicht

Was für eine Zeitspanne: Seit 1967 gibt es die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY…ungelöst“. Der Begründer Eduard („Ede“) Zimmermann ist längst eine Legende. Vor allem anfangs, in den Jahren der Studentenbewegung, wurden nicht selten Vorwürfe erhoben: Zimmermann rufe zur „Menschenjagd“ auf, fördere das Denunziantentum und diskriminiere womöglich Minderheiten. Auch das ist sehr lange her. Und heute?

Nun, Rudi Cerne moderiert die Sendung auch schon seit geraumer Zeit, genauer: seit 2002. Der aus Herne stammende ehemalige Sportler und Sportjournalist besitzt eine durch und durch seriöse, manchmal sogar etwas stocksteife Ausstrahlung und ist somit wohl am rechten Platze, wenn es gilt, die heikle Suche nach Verbrechern im Fernsehen zu präsentieren. Auch ist ja das Anliegen grundsätzlich lobenswert. Jede Straftat, die dadurch aufgeklärt werden kann, spricht wohl für diese Sendung.

Spezialausgabe „Wo ist mein Kind?“

Jetzt leitete Cerne eine Spezialausgabe mit dem Titel „Wo ist mein Kind?“ Es ging um teilweise höchst rätselhafte Vermisstenfälle sehr verschiedenen Zuschnitts. Die damals 2jährige Katrice ist vor 31 Jahren (!) in einem Supermarkt verschwunden, seither fehlt von ihr jede Spur. Die 23jährige Kim, selbst schon Mutter und offenbar hoch verschuldet, wird seit März 2012 vermisst. Die 6jährige Milena ist von ihrem Vater nach Algerien entführt worden. Seit 28 Jahren ist ein damals 17jähriger junger Mann nicht mehr aufgetaucht. Jeder einzelne Fall ist wahrlich tragisch und betrüblich genug, jeder auf seine Art.

Nachgestellte Szene: Die kleine Katrice (Mitte) feiert ihren zweiten Geburtstag mit Mutter und Schwester. Noch am selben Tag verschwindet sie für immer... (© ZDF/Securitel)

Nachgestellte Szene: Die kleine Katrice (Mitte) feiert ihren zweiten Geburtstag mit Mutter und Schwester. Noch am selben Tag verschwindet sie für immer… (© ZDF/Securitel)

Aufrufe unter Tränen

Doch so unterschiedlich die Ausgangslagen, Hoffnungen und Handlungsoptionen sein mögen – die Fälle werden allesamt nach dem gleichen Muster vorgeführt. Ganz so, als traue man dem Einfühlungsvermögen der Zuschauer nicht, wird eine nachdrückliche Dramaturgie eingesetzt, die offenkundig unsere Emotionen steigern soll. Wir haben doch sowieso schon Mitleid, oder? Doch die wirklichen Mütter, Väter und sonstigen Angehörigen werden ins Studio gebeten und aufgefordert, unter Live-Bedingungen Aufrufe und Appelle an die Vermissten oder an etwaige Täter zu richten. Natürlich geht das kaum einmal ohne Tränen vonstatten.

Es kann einen als Zuschauer schon mal das mulmige Gefühl beschleichen, dass hier – aus Quotengründen – mit Gefühlen spekuliert wird. Vollends überflüssig erscheint es, wenn Rudi Cerne gelegentlich mit solchen Fragen nachhakt: „Wie haben Sie sich da gefühlt?“ oder „Ist da für Sie eine Welt zusammengebrochen?“ Andererseits kann er aber auch dämpfend und mäßigend wirken. Insgesamt ist es eine Gratwanderung, um die man ihn nicht beneidet.

Idylle und Zerstörung

Die Filme, mit denen die Fälle vorgestellt werden, mixen immerzu Fakten mit Fiktion, also Aussagen und Aufnahmen der tatsächlichen Personen (Fotos, Privatvideos usw.) mit nachgestellten Szenen. Es mag ja noch angehen, dass dabei meist ziemlich schlechte Schauspieler zum Zuge kommen. Schlimmer ist schon, dass man die Geschichten über Gebühr auswalzt und nach dem nur selten variierten Grundschema „Idylle und Zerstörung“ erzählt. Zu sanft perlenden Klavierklängen und manchmal geradezu kitschigen Weichzeichner-Bildern werden zunächst heile Familien dargestellt, die dann unfassbare Schicksalsschläge durchstehen müssen. Die Wirklichkeit dürfte oft vielschichtiger sein und nicht restlos in eine vorgefertigte Dramaturgie passen.

Nicht unbedingt nötig war der Prominenten-Faktor, den die Schauspielerin Christine Kaufmann einbrachte. Ihr Ex-Ehemann, der Hollywood-Star Tony Curtis, hatte einst die gemeinsamen Kinder kurzerhand bei sich behalten. Sie gestand, wie töricht sie sich damals selbst verhalten habe und wies tiefere Ähnlichkeiten mit den anderen Fällen weit von sich. Alle Achtung vor ihrer Offenheit.

(Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen).




Eklat in der Philharmonie: Krystian Zimerman unterbricht Konzert wegen eines Handy-Filmers

Der Humor war abhandengekommen: Karol Szymanowskis Schlussfuge in seinen „Variationen h-Moll über ein polnisches Thema“ op.10 will nicht hymnisch-ernst, sondern mit Augenzwinkern gespielt werden. Aber Krystian Zimerman beschloss sein Konzert beim Klavier-Festival Ruhr mit verärgertem Furor.

Krystian Zimerman in der Essener Philharmonie. Foto: KFR/Wieler

Krystian Zimerman in der Essener Philharmonie. Foto: KFR/Wieler

Nach traumhaft gespielten Debussy-Préludes und der geistig einzigartig durchdrungenen fis-Moll-Sonate des jungen Johannes Brahms war es zum Eklat gekommen: Zu Beginn der Szymanowski-Variationen hatte Zimerman offenbar aus den Augenwinkeln registriert, dass ein Zuhörer auf der Empore mit einem Smartphone filmte. Er richtete den Blick lange und durchdringend nach oben und forderte dann: „Würden Sie bitte aufhören damit“. Der als sensibel und anspruchsvoll bekannte Weltklasse-Pianist spielte noch einige Takte, brach aber dann ab und verließ den Saal.

Im Publikum: Ratlosigkeit und Betroffenheit. Kaum jemand hatte den Handy-Filmer bemerkt. Nach etwa zwei Minuten kam Zimerman zurück und wandte sich direkt an das Publikum: Er entschuldigte sich für seine Nervosität und erklärte, keines der Videos auf YouTube mit ihm sei legal. Viele Plattenprojekte seien gescheitert, weil ihm die Produzenten sagten: „Entschuldigung, das ist schon auf YouTube“. Die Vernichtung von Musik durch den Clip-Kanal sei enorm, fügte er hinzu.

Zimerman spielte dann zwar weiter, aber Konzentration und Atmosphäre waren dahin. Szymanowskis Variationen über ein Thema aus der Musik der Góralen, die in der Hohen Tatra in Südpolen um den Wintersport- und Künstlerort Zakopane leben, modellierte Zimerman tadellos aus: von der entschiedenen Grandeur der Agitato-Bewegung über ein hinreißend fließendes „dolcissimo“ bis zu dem an Mussorgskys „Bydlo“ erinnernden riesigen Crescendo-Decrescendo-Bogen der „Marcia funebre“. Demonstrativ brandete der Beifall auf, doch Zimerman zögerte, sich noch einmal sehen zu lassen, kam dann zwar noch drei Mal auf das Podium, gab aber keine Zugabe mehr und sagte auch den Empfang nach dem Konzert ab.

Der Zwischenfall hat ein Konzert gestört, das in seinem ersten Teil zu den Höhepunkten des diesjährigen Klavier-Festivals gezählt werden kann: Mit Debussy zeigte Zimerman seine hochsensible Kunst der Balance, der Nuancen, des klaren, lockeren, wie von selbst perlenden Spiels. Der Zauber seiner leisen Töne ist unübertroffen: „Pagodes“ beginnt wie ein aus dem Nichts aufkeimendes Naturgeräusch; „La Soirée dans Grenade“ versetzt den Zuhörer im Geiste in einen spanischen Abend, in dem wie von ferne Rhythmen und Melodien herüberwehen.

Zimerman bindet in Brahms‘ fis-Moll-Sonate op. 2 die disparaten Sätze zusammen, in dem er die motivischen Verbindungen enthüllt. Er kennt die schwärmerischen Arpeggien des Beginns dieser Clara Schumann gewidmeten Sonate; er balanciert den noblen Ausdruck des zweiten Satzes mit feinsten Anschlagsnuancen aus. Und wenn Zimerman im Scherzo im Bass das bestimmende Motiv aus dem ersten Satz wiederentdeckt, nimmt er den Zuhörer mit auf seinem Weg ins Innere dieser Musik.

In sechs Nummern aus dem ersten Heft von Claude Debussys „Préludes“ lässt er dann hören, was die Kritik beim Erscheinen seiner legendären Referenz-Aufnahme (1994) zu Begeisterungsstürmen hingerissen hat: ein natürlich, fast spontan wirkender locker-heller Ton, bewusst betonter Rhythmus, geistesgegenwärtige Phrasierung, die sich nicht im verliebten Verharren im klanglichen Impressionismus gefällt. Die transzendenten Piano-Schattierungen in „Des pas sur la neige“ und die dunkel glühenden Akkorde in „La Cathédrale engloutie“ beweisen wieder einmal: Zimerman gehört zu den führenden Pianisten der heutigen Zeit; seiner Anschlagskunst können nur wenige Andere auf Augenhöhe begegnen.

Dass der Abend nun auf andere Weise als durch das glanzvolle Finale der Szymanowski-Variationen unvergesslich bleibt, macht traurig. Ob gedankenlos oder aus dreistem Vorsatz: Wer auch immer da illegal mitgeschnitten hat, hätte besser daran getan, das Kunst-Ereignis auf sich wirken zu lassen als krampfhaft zu versuchen, den schönen Augenblick medial zu bannen – und damit zu zerstören.




Endlich! Ein völlig objektiver Vorbericht zum Finale der Champions League

Hier nun ein paar völlig objektive, hochkulturelle Zeilen zum Spiel der Spiele: Nein, dieses Match lässt sich – um es mit einem legendären Lapsus aus Kickermund zu sagen – wirklich nicht mehr weiter „hochsterilisieren“.

Wenn am kommenden Samstag um 20.45 Uhr MEZ im Londoner Wembley-Stadion Borussia Dortmund und der FC Bayern München das Finale der Champions League austragen, dann fiebert natürlich alle Fußballwelt mit. In Dortmund herrscht allenthalben Ausnahmezustand. Um es vorsichtig zu formulieren. Wenn (sehr frei nach Peter Handke) das Wünschen bei der Kartenvergabe noch geholfen hätte, so würden Hunderttausende in Schwarzgelb nach London kommen.

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Laube in einem Dortmunder Kleingartenverein, abgelichtet am 22. Mai 2013. (Foto: Bernd Berke)

Exaltierte Leitmedien wie „Spiegel online“ bringen seit vielen Tagen den immer mit neuen Gerüchten und Parolen gefütterten Countdown bis zum Anstoß. Jede halbgare Äußerung aus beiden Lagern, jede Blessur wird da im bebenden Tonfall vermeldet und breit ausgewalzt. Der Ausfall des verletzten Mario Götze wird vollends als Tragödie von shakespearschen Dimensionen dargestellt; wie denn überhaupt der bevorstehende Götze-Transfer von Dortmund nach München das Weltgebäude hat wanken lassen. Naja, wenigstens hat offenbar die eine oder andere Redaktion gewackelt. Schlimmer noch: Heute bemächtigt sich auch eine seltsam besetzte Talkshow des Themas.

Das Feld der Emotionen besetzt

BVB-Trainer Jürgen Klopp erklärt Borussia Dortmund gleich zum spannendsten Fußballprojekt der Welt und wirbt flammend um die Herzen aller echten Fans auf dem Globus. Der Wahlspruch des Vereins, „Echte Liebe“, besetzt – zwischen Leidenschaft und Marketing – das emotionale Feld, während der Widersacher aus dem Süden vorwiegend mit Geld, Geld und nochmals Geld assoziiert wird und darum vielfach gern „Buyern München“ genannt wird. Ja, ja, ja, auch in Dortmund werden ein paar Groschen umgesetzt – und doch besteht da ein Unterschied.

Glaubt man der wahnwitzig ausufernden Vorberichterstattung, so ist ganz Deutschland gespalten in Schwarzgelb und Rot. Es wäre interessant zu erfahren, wie die Sympathien international verteilt sind. Eins ist klar: Die meisten Polen halten schon mal zu Dortmund. Doch die frischgewagte, husarenhafte BVB-Spielweise unter Klopp hat überdies neue Anhänger auf dem ganzen Kontinent gewonnen. Die bloße Vorstellung, dass sie in Lokalen von Rio, Buenos Aires, Tokyo oder Peking ein Dortmunder Tor bejubeln, ist herzerwärmend.

Sich heraushalten? Geht kaum!

Wer sich übrigens aus all dem heraushalten will, verhülle am besten sein Haupt, lasse die Rollos herunter, schalte alle Geräte ab oder begebe sich gleich für eine Zeit ins Kloster. Doch wer weiß, was sie dort am Samstag machen?

Bei nüchterner Betrachtung der Fakten (doch wer wird denn da nüchtern bleiben?) gehen die Bayern als haushohe Favoriten ins Finale. Sie können wahrscheinlich ihre Bestbesetzung aufbieten, während bei Dortmund nicht nur Götze fehlt, sondern zwei Verteidiger, Mats Hummels und Lukasz Piszczek, angeschlagen sind. Auch haben die Bayern eine nahezu makellose Saison hingelegt, so dass man sich fragt, was der künftige Trainer Pep Guardiola dort eigentlich noch richten soll.

Aber warten wir’s ab. Es gibt – sehr frei nach William Shakespeare – Dinge zwischen beiden Strafräumen, die sich unsere Schulweisheit nicht träumen lässt.

Im Fall eines Bayern-Sieges würde man sich drunten etwas freuen und dann bald zur Tagesordnung übergehen. Es wäre sicherlich kein Vergleich zu dem, was in und um Dortmund los wäre, wenn…

Warten wir’s ab. Es gibt Dinge zwischen Auslinien, Pfosten und Eckfahnen, die sich unsere…

Aggression und Zurückhaltung

In München kassiert man Titel ein und hakt sie ab. Viele Anhänger sind schlichtweg saturiert. Das „Mia san mia“-Denken ist weit verbreitet, die entsprechende Denkungsart des (anderweitig „angeschlagenen“) Bayern-Präsidenten Uli Hoeneß kommt einem fast schon gemütlich-folkloristisch vor, wenn man sie mit der unerbittlich aggressiven Stoßrichtung des Matthias Sammer vergleicht.

Demgegenüber wirkt die Zurückhaltung des Dortmunder Präsidenten Reinhard Rauball, des Geschäftsführers Hans-Joachim Watzke und des Sportdirektors Michael Zorc geradezu nobel. In der angeblichen Proletenstadt zeigt man inzwischen deutlich mehr Stil als an der Isar. Nur Jürgen Klopp darf schon mal gepflegt ausrasten. Jawohl, Kloppo darf das.

Ich gebe zu: Sollte Sammer am Samstag aus gutem Grund zornig mit den Zähnen knirschen, so würde mich das doppelt und dreifach er-götzen!




Hoeneß, Götze und der ganze Mist

Die Nachricht kam überfallartig: Wie zuerst die „Bild“-Zeitung berichtete, wechselt Mario Götze am 1. Juli 2013 für 37 Mio. Euro von Borussia Dortmund zum FC Bayern München. Inzwischen hat der BVB den Bayern-Coup bestätigt.

Bereits als Neunjähriger hat der gebürtige Allgäuer und womöglich begabteste deutsche Fußballer beim BVB gespielt, vorher hat er in Dortmund-Hombruch gekickt. Er galt also längst (ebenso wie die in Dortmund geborenen Marco Reus und Kevin Großkreutz) als einer der „Dortmunder Jungs“, als familienverbunden und „bodenständig“; als einer, der wegen ein paar Millionen nicht gleich abhebt. Auch hat Götze in Interviews immer gern das Hohelied auf Dortmund gesungen.

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Nun müssen wir dieses idyllische, sicherlich sehr naive Bild schleunigst revidieren. Es ist natürlich wieder nichts mit den hehren Sprüchlein à la „Elf Freunde müsst ihr sein“! Zwar hatte Götze seinen Vertrag beim BVB bis 2016 verlängert, doch gab es offenbar eine Ausstiegsklausel, derzufolge er den Verein für just 37 Mio. Euro vorzeitig verlassen darf. So weit ist formal alles in Ordnung.

Aber irgendwann muss mir mal einer schlüssig erklären, wieso jemand, der bereits viele Millionen anhäuft, partout noch mehr Millionen scheffeln will – und das trotz sportlicher Perspektiven, die eventuell gar nicht schlechter sind als in München.

Wer hat der „Bild“ den Tipp gegeben?

Dass diese Transfer-Geschichte ausgerechnet mit teuflischer Pünktlichkeit zum Halbfinale der Champions League öffentlich lanciert wird, dürfte erhebliche Unruhe im Dortmunder Team stiften. Der FC Bayern hatte seit jeher ein Interesse daran, die Bundesligakonkurrenz zu schwächen, nicht nur durch Wegkauf der wichtigsten Spieler. Da hegt man denn doch den Verdacht, der diskrete Tipp an das Boulevardblatt könnte aus den Kreisen der obersten Bayern-Etage gekommen sein. Dort haben sie ja auch indirekt mit der Steueraffäre Hoeneß zu tun, von der sie liebend gern ablenken möchten.

Und jetzt mal ganz wild spekuliert: Könnte dieser heiße Tipp an die „Bild“ gar mehr oder weniger stillschweigend mit der Erwartung verknüpft sein, dass dort wohlwollender oder zumindest weniger zupackend über den Steuerfall Hoeneß berichtet wird? Es gab ja schon immer Leute, die gehofft haben, mit der „Bild“ (wieder) den Fahrstuhl nach oben zu besteigen.

Doch halt! Das sind pure Phantasiespiele. Mag sein, dass sich alles ganz anders verhält. Die offizielle Münchner Lesart schaut so aus (Zitat aus „Spiegel online“): „Aus Rücksicht auf das anstehende Spiel des BVB wollten die Bayern den Wechsel ‚erst nach dieser Begegnung gegenüber dem BVB anzeigen’, heißt es in einer Presseerklärung der Münchner.“

Wie überaus rücksichtsvoll.

Geschwafel über „spanische Verhältnisse“

Dass Bayern-Präsident Uli Hoeneß kürzlich über „spanische Verhältnisse“ in der Bundesliga gebarmt hat (will sagen: nur zwei dominierende Vereine, nämlich Bayern und BVB, alle anderen hinken nach) und angeblich großmütig gegensteuern wollte, erweist sich jetzt als Geschwafel, als heiße Luft – wie so vieles, was Hoeneß im Laufe der Jahre von sich gegeben hat. Nun ahnt man auch, warum BVB-Trainer Jürgen Klopp im Gegenzug von „schottischen Verhältnissen“ geredet hat (will sagen: nur ein dominierender Verein, nämlich Bayern). Da muss Klopp schon etwas vom Götze-Deal gewusst haben.

Wie immer das fiskalische Verfahren um Uli Hoeneß ausgehen mag, so steht für mich doch eins fest: Bis gestern war ich in der rein sportlichen Frage noch schwankend bis neutral, doch jetzt drücke ich (und gewiss nicht nur ich) heute Abend und am nächsten Mittwoch dem FC Barcelona bei den Halbfinalspielen gegen die Bayern fest die Daumen. Señor Messi, walte Er seines Amtes und netze Er mit seinen Compañeros tüchtig ein!

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Abendlicher Nachtrag: Zur Zeit führt im Nachrichten-Rennen wieder Uli Hoeneß. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet, ist Hoeneß bereits am 20. März festgenommen worden. Doch der Haftbefehl sei seinerzeit gegen Zahlung einer Kaution (5 Millionen Euro) außer Vollzug gesetzt worden. Der Vorgang sei aber vielleicht ein Hinweis darauf, dass Hoeneß‘ Selbstanzeige vom Januar möglicherweise nicht strafbefreiend wirke.

Spätabendlicher Nachtrag: Wenn ich schon mal die Daumen drücke! 4:0 für Bayern. Gewiss, nicht alle Tore waren regulär. Aber den Barça-Leuten muss jemand ein Schlafmittel in den Tee getan haben.

Zeitloser Nachtrag: sport1.de am 4. Januar 2012: „FC Bayern-Präsident Uli Hoeneß lehnt eine horrende Ablösesumme bei einem möglichen Transfer für Dortmunds Nationalspieler Mario Götze ab. „40 Millionen Euro oder mehr – das würden wir nie machen“, sagte Hoeneß der „Sport-Bild“ (…) Ohnehin glaubt Hoeneß nicht an einen bevorstehenden Götze-Transfer: „Wo sollte er denn bei uns im Moment spielen?““




Die Böden, auf denen wir leben

Reden wir mal kurz über Oberböden und Bodenbeläge. Über das, was wir täglich mit Füßen treten.

Doch was heißt hier treten? Da gibt es erhebliche Unterschiede. Je nach Befindlichkeit seiner selbst und nach Beschaffenheit des Untergrunds schreitet, schwebt oder schlurft man. Zwischen „klinisch gefliest“ und „mit schweren Orientteppichen belegt“ tun sich Welten auf. Wenn man nur genau genug nachforschte, ließen sich aus den Oberböden nicht nur finanzielle Potenzen, sondern wahrscheinlich auch politische und sonstige Präferenzen herauslesen. Zeige mir deine Bodenfliesen-Ornamente und ich sage dir, wer du bist.

Ganz früher waren wir mit schlicht gesprenkeltem Steinzeug oder Linoleum in abenteuerlichen Schmutzfarben zufrieden. Notfalls hätt es wohl auch der rauhe Estrich getan. Es scheint einem ja kaum der Erinnerung wert, worüber man damals gelaufen ist. Wir blickten nicht unter uns, sondern immer nur wirtschaftswunderlich nach vorn. Hoho.

Später machten wir es uns auf mehr oder weniger flauschigen Teppichböden schrecklich bequem. Keineswegs keimfrei. Einen Flokati zu sehen, erträgt man heute nur mühsam mit Fassung, spontan verspürt man so etwas wie angewiderte Rührung.

Wahnsinnig angesagt: Parkett mit Kratzern. (Foto: Bernd Berke)

Wahnsinnig angesagt: Parkett mit Kratzern. (Foto: Bernd Berke)

Diverse Parkettsorten vermittelten uns einen Begriff von gediegener Bürgerlichkeit. Dann kam irgendwann das Laminat. Da schwang das Wort Imitat schon reimgerecht mit. Man mag übrigens gar nicht dran denken, welche Verheerungen die Baumarkt-Ästhetik im verbliebenen Wohnungsbestand angerichtet hat. Davon vielleicht ein andermal. Und ja: Heutzutage gibt es auch ganz tolles Laminat, jaja, wirklich.

Außerdem gibt es ja die Guten, die Geschmackvollen, die sich im Vollgefühl ihrer unentwegten Korrektheit wiegen. Die so genannten Gentrifizierer, die sich in den schicken Stadtvierteln heuschreckenhaft über Altbauten mit Stuckdecken und Flügeltüren hermachen, bevorzugen in der Regel Schiffsparkett oder Dielenböden. Die knarren und knarzen so herrlich authentisch. Das Schwelgen in weiteren Klischees ersparen wir uns. Obwohl wir ganz genau wissen, welche Kinderwagen-Marke in diesen kreativen Kreisen am liebsten gekauft wird.

Andere Geldmenschen, die buchstäblich mit Luxus glänzen wollen, staksen oder schlittern über ungemein blankpolierte Steinböden mit exorbitanten Quadratmeterpreisen. Auf Marmor und Granit protzt es sich am besten. Die Redewendung „Bei mir beißt du auf Granit“ spielt untergründig mit. Ach, wie bodenlos!

Falls ich auf den schwankenden Böden der Tatsachen neuere Trends mitsamt Retro-Irrsinn verpasst haben sollte, sagt mir bitte Bescheid. Im Namen einer allgemeinen Mobilität und Bindungslosigkeit, so habe ich gestern im FAZ-Feuilleton lesen dürfen, werde auch das Wohnen immer beweglicher und schier grenzenlos wandelbar. Wer weiß: Vielleicht zieht man uns zwecks verschärfter Hipness bald den Boden unter den Füßen weg.




Nach der Mottowoche ist vor dem „Konklave“: Abi 2013 auf der Zielgeraden

SherlockHolmesundArielleWenn einem am frühen Morgen in der Küche Bonnie und Clyde begegnen und Sherlock Holmes seine Liebe zu Meerjungfrauen entdeckt, dann ist Mottowoche der Abiturientia.

Die Woche vor den Osterferien ist für die Abiturienten die letzte reguläre Schulwoche vor den Prüfungen. Grund genug zum Feiern. Das Ende der „richtigen“ Schulzeit, das Zulassungszeugnis und überhaupt – man hat es überlebt. Das Gemurkse und Gemauschel rund um G8 und G9. Jeder Tag steht unter einem anderen Motto, allseits beliebt sind die Helden der Kindheit und die Zeitreise. Durch die Stadt flattern Elfen, latschen Cowboys, dazu Micky Mäuse, Ernies und Berts, dazu erstaunlich viele Heidis.

In manchen Städten, so war zu lesen und hören, ist die Sache aus dem Ruder gelaufen. Von Bengalos war die Rede, von Verletzten und erheblichen Sachschäden an den Schulen. In Recklinghausen blieb es im Großen und Ganzen im Rahmen des Vorgegebenen. Der Schulhof des Petrinums Recklinghausen konkurriert mit der Palmkirmes, vor dem Marie-Curie-Gymnasium ruhen ermattete Pyjamaträger auf einem Matratzenlager.

Man kann die Jugendlichen auch ein bißchen verstehen. Die Erleichterung, es bis hierhin geschafft zu haben, ist deutlich spürbar. Die Verunsicherung und die Angst vor dem, was kommen wird, aber auch. Ein bißchen ist es wie ein verfrühter Tanz auf dem Vulkan. Nichts ist geregelt für den zu erwartenden Ansturm des Doppeljahrgangs, im Landtag greift die Opposition (formerly known as mit heißer Nadel schnellstrickende G8-Erfinder) die Landesregierung an, die Unis wären überlaufen, die Messlatte für die Zulassungsbeschränkung müsse noch einmal höher gelegt werden.Joker Für so manchen unter den Schülern der blanke Horror. Die Frage, wo man einen Joker herbekommt, ist nicht unberechtigt.

Statt Osterferien ist jetzt Pauken angesagt. Die Klausurtage haben begonnen – oder wie man derzeit (von römischen Wahlgängen inspiriert) gerne sagt: Man begibt sich ins Konklave. Mit der Außenwelt wolle man nur noch durch Rauchzeichen kommunizieren. Schwarzer Rauch bedeutet: Koffein-Nachschub erwünscht, weißer symbolisiert das Verlangen nach zuckriger Nervennahrung. Na denn, Glückauf den Abiturienten, gute Nerven den Müttern und Vätern.




Familienfreuden IX: Still-In

Viele Wege führen zur Sättigung - warum nicht auch ein Still-In? (Zeichnung: Nadine Albach)

Viele Wege führen zur Sättigung – warum nicht auch ein Still-In? (Zeichnung: Nadine Albach)

Es klingt nach: Ruhe, nach himmlischer. Kein Schreien, kein Nölen, einfach Ruhe. Die Rede ist vom Stillen. Da steckt ja schon im Wort, dass damit mindestens eine der beteiligten Parteien – Mutter und/oder Kind – in selige Entspannung verfällt. Zumindest ist das die Unterstellung im deutschen Wortschatze: Die Franzosen sind da deutlich pragmatischer und sprechen von „allaiter“, worin schlicht das Wort „lait“, also Milch, steckt und somit die Nahrungsaufnahme im Vordergrund steht. Die innige, auf wonnigen Werbebildern zur Genüge dargestellte, körperliche Mutter-Kind-Beziehung, idealisiert das Deutsche hingegen schon verbal.

Für das Umfeld der stillen(den) Glückseligen aber ist das Stillen nicht immer ein Geschenk. Ich meine, es war Harald Schmidt, der darüber lästerte, man könne kaum irgendwo in Ruhe seinen Kaffee trinken, ohne dass einem eine blanke Brust entgegenspringt. Dabei möchte auch ich meinen Mitmenschen nur ungern nackte Tatsachen ins Gesicht reiben – Fiona allerdings ist da weder verhandlungsbereit noch schambehaftet (wer weiß, vielleicht gründet sie später mal eine Kommune), ganz egal, wo wir gerade sind.

So bin ich inzwischen zur Hüterin der schrägen Stillorte geworden.

Ein Café oder ein Restaurant sind ja langweilig. Der Hunger überkommt Fiona gern in ungewöhnlichen Umgebungen (ob mit Absicht?). Jedenfalls hatte ich schon die zweifelhafte Ehre, eine Waschanlage zur Milchbar umzufunktionieren: Während die Waschbürsten meditativ schrubbten und außen das Wasser nur so floss, sprudelte im Autoinneren lecker Milch.

Im Laufen, im Liegen, im Sitzen, am Stadtparkteich neben den Enten oder auf 1500 Metern in der Schweiz – alles kein Ding. Eine Freundin hat mir sogar erzählt, dass sie es sich letztens in der Matratzenabteilung von Ikea gemütlich gemacht hat.

Mein Lieblingsort war allerdings – der Friedhof. Grabsteine und Gedenken hin oder her, Fiona hatte Hunger. Und das ist bei einem Baby kein Zustand, der zu großen Diskussionen anregt. Unangenehm war mir das trotzdem, ich wollte ja niemanden (von den Besuchern) stören. Also suchte ich mir die hinterletzte, zugewachsene Ecke und regte an, Fiona möge sich beeilen. Doch wo zuvor keine Menschenseele zu sehen war, tauchte plötzlich ein älterer Herr auf. Ich hatte mich ausgerechnet am Wasserspender platziert – und der arme Mann wollte einfach nur ein Grab gießen. Einen kurzen Moment lang trafen sich unsere Blicke. Ein wenig beschämt, ein wenig erschreckt, vor allem hilflos, in Gedanken an altes und neues Leben.

Schnell senkte der Mann den Blick, schob die Hände in die Manteltaschen und ging eilig davon. Fiona trank weiter, als wäre nichts geschehen. Um uns herum – Stille.




Von Mäusen und Menschen: Wolfgang Tillmans fotografisches Werk im Düsseldorfer K 21

„Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer Bewunderung: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“ Aber wie passt die vielzitierte Sentenz des Philosophen Immanuel Kant zu einem Fotokünstler der Gegenwart?

Eigentlich gar nicht, möchte man meinen, doch empfangen den Besucher gleich im ersten Raum der Ausstellung von Wolfgang Tillmans im Düsseldorfer K21 riesengroße C-Prints von sternenübersäten Nachthimmeln. An der Wand gegenüber zieht eine kleine schwarze Venus über den orangenen Ball der Sonne. „Wann habe ich zuletzt einen derart geilen Sternenhimmel gesehen“, fragt man sich unwillkürlich und denkt an den letzten Sommerurlaub am Meer. Ernüchterung ereilt einen gleich im nächsten Zimmer: „Bitte nackt duschen“, warnt ein Schild und weitere Fotos zeigen unordentliche Kleiderstapel und schlecht sortierte Socken auf dem Sofa sowie herumstehendes Geschirr. Woher weiß der Fotograf denn so genau, wie es bei uns zu Hause aussieht?

Wolfgang Tillmans, Venus Transit, Kunstsammlung NRW

Wolfgang Tillmans, Venus Transit, Kunstsammlung NRW

Vielleicht weil er unserer Generation angehört? 1968 in Remscheid geboren, feierte er noch ein paar wilde Partys in Düsseldorf oder so und machte sich dann Anfang der neunziger Jahre nach England auf. Heute lebt und arbeitet er in London und Berlin und die in der Schau versammelten Fotos wirken wie die Chronik seines Lebens – faszinierend und beiläufig zugleich. Sie zeigen die ihn umgebenden Menschen und Dinge völlig unprätentiös. Ein Mann in Unterwäsche betrachtet seine Fußsohlen, ein anderer steht im Schwimmbad herum. Zimmerpflanzen in Nahaufnahme treten nur für einen Augenblick, nämlich für dieses Foto, aus ihrem unbeachteten Dasein hervor und eine kleine Maus flüchtet in den Gulli, die Hinterbeine in die Luft geworfen.

Ebenso selbstverständlich blickt er auf die Phänomene der Subkultur und auf die nach harten Nächten Gestrandeten: Knutschende Männer, entblößte Muschis und Schwänze, die friedlich neben hübsch angerichteten Flugzeugtabletts liegen. Fast hätte man sie für das künstlich schmeckende Würstchen gehalten, das in solchen Situationen öfter gereicht wird.

Kaum ein Bild ist gerahmt, sie sind einfach so auf die Wand gepinnt und auch die fotografierten Promis kommen ganz unscheinbar daher: Fast hätte ich Kate Moss übersehen, bzw. sie für ein leidlich hübsches Mädchen mit etwas schiefen Zähnen gehalten, vor sich auf dem Tisch seltsamerweise eine Früchte-Mischung aus Erdbeeren und Kartoffeln. Manchmal kommt einem Tillmans vor, wie der Vorreiter der Facebookkultur: Ich poste mein Leben und ihr sagt mir, wer ich bin. Tatsächlich schafft es aber seine künstlerische Vermittlung, zu zeigen, wer wir alle sind.

Wolfgang Tillmans, Kunstsammlung NRW

Wolfgang Tillmans, Kunstsammlung NRW

Außerdem hat sein Werk durchaus eine gesellschaftspolitische Komponente: Eingehend hat sich Tillmanns mit dem Thema AIDS beschäftigt. Großformatig kopierte Zeitungsartikel lassen die Berichte aus Kriegsgebieten monströs erscheinen. Und das wandfüllende Foto von der blumengeschmückten Unterführung, in der ein Migrant Opfer von Neonazis geworden war, braucht keinen weiteren Kommentar. Ebenso wenig die überdimensionale Schaufel voll mit Müll aus dem Slum. So landet der Besucher nach den verschiedensten Eindrücken durch die Augen von Wolfgang Tillmans gesehen wieder beim Sternenhimmel, denn hier ist der Rundgang zu Ende. Von Moral war also auch die Rede, hätte man gar nicht gedacht. Und zum Schluss gibt es sogar noch einen Katalog geschenkt. Total nett, dieser Künstler. Kriegt ein „like“.

Bis 7. Juli im K 21 in Düsseldorf

www.kunstsammlung-nrw.de

 




Schnell her mit der nächsten Debatte!

Immer und immer wieder diese Debatten. Auch in der letzten Zeit ging es wüst her. Haben wir da etwas versäumt?

Seitdem die maßgeblichen Kulturteile überregionaler Zeitungen sich vor Jahr und Tag zu „Debatten-Feuilletons“ erklärt haben, um notfalls jeden Kram durch die kulturkritische Mühle zu drehen, müssen wir stets auf dem Posten sein. Sonst entgehen uns womöglich Meinungen, die wir uns niemals hätten träumen lassen.

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Nehmen wir nur den Kinderbuch-Streit, der jetzt so manche Redaktion – wie es so unschön heißt – „in Atem gehalten“ hat. Darf man Worte wie „Neger“ etwa in einem Buch von Astrid Lindgren stehen lassen – oder muss man sie nun endlich flugs ersetzen? Je nun, lasst sie einfach stehen, denn alles andere wäre eine idiotische Verfälschung. Aber verwendet diese Worte halt heute nicht mehr. So einfach könnte das sein. Aber damit ließen sich all die Spalten, Seiten und Sendeplätze nicht füllen. Man muss sich also öffentlich erhitzen und dabei so gekonnt provozieren, dass sich andere zur Gegenmeinung aufschwingen. Und so weiter. Erst dann wird eine richtig schöne, weil heftige Debatte daraus.

Dann hatten wir wieder Nazi, Nazi, Nazi. Hitler- und Goebbels-Vergleiche oder Antisemitismus-Vorwürfe gehen unter allen Debattenthemen immer noch am besten; erst recht, wenn man zwei prominente Publizisten gegeneinander hetzen kann – in diesem Falle bekanntlich Henryk M. Broder und Jakob Augstein. Dann ist endlich mal wieder Krawall auf der Bühne. Und jede(r) bringt sich in Stellung und feuert seine Worte ab. Ein saftiger Rufmord ist rasch geschrieben.

Und noch so ein Duell: Die Suhrkamp-Chefin, Schriftstellerin und Unseld-Witwe Ulla Berkéwicz tritt seit Monaten gegen den Verlags-Miteigentümer Hans Barlach an, den der Suhrkamp-Autor Peter Handke als den Bösen schlechthin erkannt haben will. Wieder so eine Frontstellung, wie sie für kernige Debatten zündkräftig ist. Hier steht natürlich gleich ein Gutteil der deutschen Kultur (oder wenigstens die „Suhrkamp-Kultur“) auf dem Spiel. Jedenfalls droht der Verlag in unsinnigen Scharmützeln zerrieben zu werden, was ja traurig genug ist. Unterfüttern lässt sich der juristische Dauerstreit, gegen den einst „Dallas“ und „Denver“ Kuschelgruppen waren, noch mit dem uralten Muster „Die Schöne und das Biest“.

Selbst ums unsägliche „Dschungelcamp“ kommt man heute angeblich nicht mehr herum. Beim Quotenbringer herrsche ja (höhere?) Ironie, befinden nun manche Edelschreiber. Andere halten empört dagegen. Also scheint’s legitim zu sein, sich selbst über diesen Dreck auch im Feuilleton die Köpfe heiß zu reden. Da sehnt man sich fast wieder nach Schmutz- und Schund-Kampagnen zurück. Aber nee. Nicht ernsthaft.

Wenn man schon tief ins Triviale driften darf, so muss man natürlich auch küchenpsychologisch erörtern, warum bestimmte Promi-Beziehungen (Wulff, Van der Vaart) scheitern. Und bloß die Expertenbefragung nicht vergessen!

Da war es halt nur noch ein kleiner Schritt bis zur nächsten Geschlechterdebatte, die von einer Stern-Journalistin ein Jahr nach dem offenbar schlüpfrigen Vorfall lanciert wurde und den FDP-Mann Brüderle in Bedrängnis bringen sollte. Müßig zu erwähnen, dass Sex neben Nazi stets am besten läuft. Übrigens: Nicht nur heimlicher Nazi, auch Sexist kann eigentlich jeder sein. Gut, nicht wahr? So können sich alle irgendwie betroffen fühlen. Auch fallen in derlei Fällen immer ein paar ungemein witzige Wortspiele oder Vergleiche ab, so etwa „Prüderle“ oder – nochmal zurück – die puppenlustige Einlassung, Henryk M. Broder sei der Bud Spencer des deutschen Debattenwesens.

Es ist nicht damit getan, dass Journalisten und Talkshowgäste die widerstreitenden Meinungen vorturnen. Auch wir sind gehalten, uns ständig zu positionieren und Meinungen zu haben. Wir sind doch nicht von gestern! Im fidelen Jahresend-Quiz fragen die Blätter dann gern ab, ob man auch ja jeden Hype mitbekommen hat und sich noch an kuriose Details erinnert. Macht euch ruhig schon mal Notizen für Ende 2013. Stichwort „Säue, durchs Dorf getriebene“.

Gewiss: Natürlich sind viele kluge und interessante Beiträge zu goutieren. Manche Debatten kann man wahrhaftig als Anstöße verstehen, nach denen denen sich möglichst breite Teile der Gesellschaft über ihr Wesen und Wirken verständigen könnten. Aber ach, allzu oft ist es eben nur Raunen, Rauschen und Zeitvertreib. Dann springt die Medien-Maschinerie einfach zu schnell an, damit nur ja wieder neue „Aufreger“ produziert werden. So kommt es, dass man nicht nur von Politik-, sondern auch von Medien-Verdrossenheit reden kann.

Eine Wette, die darauf setzt, dass die Deutschen auf dem Felde aufgeregter Debatten Weltmeister werden könnten, hätte gute Aussichten. Gelassenheit wohnt woanders. Und manchmal wäre man gerne Eremit. Beispielsweise dann, wenn die nächste Grass-Debatte anhebt.




Die schier unerträgliche „Spannung“ vor dem Ende der Rundschau-Redaktion

Es würde einen jetzt doch mal brennend interessieren, wie Rundschau-Chefredakteur Malte Hinz das gemeint hat, als er dem NDR-Medienmagazin „Zapp“ sagte, er erwarte die neue „Westfälische Rundschau“ nachgerade mit Spannung. Der Mann, der seinen gut dotierten Posten behält, jedoch (weil ohne eigenes Redaktionsteam) ab Februar an einem Essener Schreibtisch sitzt, ist also wahrhaftig „gespannt“ auf die künftig fremdbelieferte Zombie-Zeitung. Ist das bloß einfältig oder ist es schlimmer?

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Im selben „Zapp“-Beitrag äußert sich Christian Nienhaus, einer der mächtigen Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, beinahe schon rührend blauäugig: Er behauptet, die Tradition der WR werde weiterhin beachtet. Auch hoffe er, dass die Abonnenten von der Umstellung möglichst wenig merken…

Wie gut, dass es jetzt ein spürbares Gegengewicht zu solchen – um es überaus höflich zu sagen – verwaschenen Äußerungen gibt, nämlich eine von 216 Kolleg(inn)en der WAZ und der NRZ in Essen unterzeichnete Erklärung zur Schließung der WR-Redaktion, die u.a. hier im Wortlaut nachzulesen ist und an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Alle Achtung! Auch Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) hat inzwischen – wie berichtet – klare Worte gefunden, desgleichen der Bürgermeister von Arnsberg, Hans-Josef Vogel. Überdies haben (Stand 24. Januar, 13:00 Uhr) schon rund 5400 Menschen einen Solidaritäts-Aufruf für die WR-Redaktion online unterzeichnet.

Dennoch sieht es leider so aus, als könnte in Kürze – ungeachtet aller menschlichen Schicksale, die an der Schließung hängen – die Liegenschaftsverwaltung der WAZ-Gruppe verstärkt tätig werden. Denn mit der Entlassung der WR-Redaktion und der freien Mitarbeiter würden etliche Immobilien (bisherige Redaktionsräume) in zentralen Ortslagen frei werden; im einstigen Haupthaus am Dortmunder Brüderweg sogar mehrere Etagen mit Pförtnerloge und einigen Tiefgaragenplätzen. Da kann man also entweder Mieten sparen oder sogar Verkaufs- und Vermietungs-Einnahmen erzielen. Sag’ ich mal als Laie.

„Gespannt“ darf man auch sein, wie der Dortmunder Häuserblock Brüderweg/Ostenhellweg sich künftig darstellen wird. Falls der WR-Leserladen am Ostenhellweg bestehen bleibt (wonach es – ausweislich heute flugs geschalteter Eigenanzeigen – erst einmal aussieht), würde freilich die Seite am Brüderweg reichlich kahl wirken. Oder montiert man die alten Rundschau-Schilder etwa gar nicht ab? Vielleicht sollte man nun noch mal die Geschichte mit Potemkin nachlesen, um mental gewappnet zu sein.

Furchtbar „gespannt“ bin ich auch auf die Namen und sonstigen Angaben im künftigen Impressum der Etikettenschwindel-WR. Hierbei darf man sicherlich besondere Kreativität, wenn nicht gar avancierte Gebrauchslyrik aus dem Geist des Absurden erwarten.

Und weiter mit der schier unerträglichen „Hochspannung“: Wie wird die WAZ in ihrem Mantelteil eigentlich künftig aus Dortmund berichten? Schickt sie gelegentlich eigene Leute aus Essen hin? Oder wird die Lokalredaktion der Ruhr-Nachrichten künftig den WAZ-Videokonferenzen zugeschaltet und nimmt etwaige Themenwünsche entgegen? Wird da überhaupt koordiniert oder darf man sich schon jetzt auf prächtige „Doubletten“ und andere Pannen einstellen?

Ja, die „Spannung“ hört gar nicht mehr auf: Was ist an dem Gerücht dran, dass die Ruhr-Nachrichten – nach einer gewissen Schamfrist – ihre Bochumer Lokalredaktion schließen könnten, nachdem die WAZ-Gruppe den RN in Dortmund das Feld überlassen hat? Sollte es da etwa Gebietsabsprachen geben? Da wäre ja geradezu…

P.S.: Ich bin seit Kindertagen ein Anhänger von Borussia Dortmund und freue mich immer, wenn der Verein gewinnt. Nun aber mal in aller Freundschaft so gefragt: Hat sich eigentlich der ruhmreiche BVB, der seit vielen Jahrzehnten von der Berichterstattung (phasenweise auch von nibelungentreuer Hofberichterstattung) der WR profitiert hat, mit einer einzigen Zeile zur bevorstehenden Schließung der WR-Redaktion geäußert? Sollten wir da etwas übersehen haben? Dann sind wir für spannende Hinweise sehr dankbar. Wie bitte? Der BVB und die Ruhr-Nachrichten seien „Medienpartner“? Und BVB-Pressesprecher Sascha Fligge sei just aus dem Hause Ruhr-Nachrichten zu Borussia gekommen? Ja, was sollen wir denn jetzt denken?




Moden und Marotten im Journalismus (3): Die Welt als Quiz, das Leben als Liste

Lange keine „Moden und Marotten im Journalismus“ mehr aufgegriffen. Das macht: Die allfälligen Insolvenzen und Entlassungen sind weder dies noch das, sondern harte Wirklichkeit. Nun aber doch noch ein paar einschlägige Worte zum Jahres-, äh, nun ja, sagen wir’s ruhig unverhohlen: „Ausklang“.

1.) In deutschen Gazetten vergeht kaum ein Interview, dessen Inhalt nicht in einem Dreischritt angekündigt würde. Ich erfinde jetzt mal eine solche Zeile: „Peer Steinbrück über billigen Wein, miese Kanzlergehälter und ordentliche Rednergagen“. Verzeihung. Aber so etwa in dieser Art. Es gibt auch den Vierfach-Anreißer, doch der ist sehr viel seltener und gerät auch leichter ins Schlingern. Die Drei erweist sich abermals als magische Zahl, mit der sich etwas glückhaft zu runden scheint.

2.) Früher sind halt Artikel erschienen. Beispielsweise mit 80, 120, 150 oder 200 Zeilen. Egal. Jedenfalls als zusammenhängende Texte, allenfalls durch Absätze oder eingestreute Bildelemente gegliedert. Irgendwann kamen die Zwischenzeilen auf, die mitten im Beitrag standen und die einzelnen Lesestrecken abkürzten. Auch fette Vor- und Nachspänne (siehe auch hier oben) sorgten für optische Erholung. Heute löst man – besonders in Regionalzeitungen – halbwegs komplexe Sachverhalte gern gleich in kurzatmige Frage- und Antwort-Spielchen auf. Besonders mit den oft bewusst naiv gestrickten Fragen „holt man den Leser da ab, wo er ist“ (oh, unsägliches Diktum!), will heißen: Man setzt nur ganz niedrige Einstiegsschwellen. Der Trend beim Hörfunk geht in eine ähnliche Richtung. Immer kürzere Häppchen, immer simplere Sprache. Vom Fernsehen ganz zu schweigen. Das degeneriert vielfach zum bloßen Bildchengucken mit Krawall.

3.) Apropos Fragen und Antworten. Bei den Jahresrückblicken, die jetzt wieder zuhauf auf uns eingeprasselt sind, wurde es wieder besonders deutlich: Im Gefolge von Kerkeling, Jauch und anderen wird quasi das ganze Leben zum Quiz. Die „Süddeutsche“ hat fast ihr ganzes Magazin mit Multiple-Choice-Fragen gefüllt. Motto: Was haben Sie von diesem Jahr im Gedächtnis behalten? Damit’s bloß nicht zu langweilig wird, überwiegen schräge Fragen mit Scherzfaktor. Bei wirklichen Wissenslücken lässt sich der Leser eben nicht so gern ertappen.

4.) Hurra, es lebe die Liste! In Feuilleton der heutigen FAZ-Sonntagszeitung (FAS) erlebt man es bis zum Exzess, praktisch das gesamte Zeitungsbuch wird auf diese Weise gefüllt. Das Spektrum der munteren Auflistungen reicht von -zig Gründen für den heiteren Abschied vom Jahr über „Die zehn scheinheiligsten Aussagen des Jahres“, neun „zu häufig gesehene Personen“ (Platz 1: Peter Sloterdijk) und die 18 „Trostloseste(n) Sätze des Jahres“ bis hin zur „Liste meiner Listen“. Zum einen bedient man also das längst gängige Muster, zum anderen geht es in diesem Intelligenzblatt selbstredend hochreflexiv und potenziert selbstironisch her.

5.) Das besagte letzte SZ-Magazin und das erwähnte Feuilleton der FAZ-Sonntagszeitung deuten einen weiteren Trend an: Thematisch beinahe beliebig bunt gewürfelte, aber formal über weite Strecken durchweg gleich (nämlich möglichst kleinteilig) strukturierte Produkte sind offenbar schwerstens „hip“.

6.) Aber wer weiß, was morgen ist.

7.) Und damit endet diese kleine Liste.

In diesem Sinne ein schönes Jahr 2013 mit neuen Moden und Marotten. Oder auch mit Abstand von denselben.

P.S.: Hier wird nicht postuliert, dass Journalismus möglichst kompliziert und nutzerabweisend sein möge. Auch von Marotten angekränkelte Beiträge können auf ihre Weise gut oder gar brillant gemacht sein.




Vorfälle (1): Pietät, Jugendschutz, Amadeus

Es gilt diverse Vorfälle abzuhandeln, die zu denken geben. Oder auch nicht. Oder so ein bisschen.

Zum einen lag in der heutigen Post das Reklameschreiben eines Dortmunder Steinmetzmeisters, der jetzt endlich mal aufs Ganze geht und das bräsige, verdruckste Pietäts-Geschwurbel seiner Branche beherzt hinter sich lässt. Also lautet sein flotter Slogan:

„Sparen bei unserer stürmischen Herbst-Aktion“

Das fetzt, nicht wahr? Und wenn man dann noch den megageilen Teaser liest, der da verheißt:

„Wir schenken Ihnen eine Grablampe (gültig …bis 30. November)“,

dann zieht man sich auch noch den süffigen Rest rein, in dem die Trauer endgültig ertrinkt:

„Wenn das Laub bunt von den Bäumen und Sträuchern fällt, fallen…die Preise.“

Alles, alles fällt und fällt. Ach, wer da mitfallen könnte!

Zwanglos leite ich über zu einem Geständnis: Ich habe Beihilfe zur Umgehung des Jugendschutzes geleistet. Das kam so:

Bezahlzone im Supermarkt. Man steht mal wieder in der Problemkassen-Schlange. Vorne diskutiert die Kassiererin mit einem Jungspund, der einen Kasten Pils und eine Flasche Wodka kaufen will. Ist er nun unter oder über 18 Jahre alt? Schwer zu sagen. Er hat jedenfalls keinen Ausweis dabei. Sagt er.

Die Angestellte nimmt ihren Job ernst, ist aber alles andere als entscheidungsfreudig. Zunächst lässt sie die Wartenden in der Schlange schätzen, wie alt der Junge wohl sei. Das gibt ein großes Hallo, ein munteres Hin und Her. Aber keine Lösung. Nun ruft sie hintereinander zwei Kolleginnen zu sich, die beim Ratespielchen mitmachen und Entscheidungshilfe geben sollen. Beide wollen es hinterher nicht gewesen sein und sagen sinngemäß: „Was sollen wir dir raten? Es ist deine Kasse.“ Nun ist sie vollends verunsichert. Die Reihe der Wartenden wird derweil lang und länger.

Da fasse ich mir ein Herz und schlage einen Kompromiss vor: „Geben Sie ihm doch den Kasten Bier, aber nicht den Schnaps.“ Sei’s, dass dies tatsächlich salomonisch klingt, sei’s, dass ich mir einen Rest von Autorität bewahrt habe (Weisheit des gemessenen Alters!): Die Dame an der Kasse folgt meinem Vorschlag ohne jedes Zögern. Denke mal, die Menschen weiter hinten in der Schlange haben es zu schätzen gewusst. Ich aber habe mich mitschuldig gemacht, denn es war wohl doch ein fauler Kompromiss. Was sagen die allzeit sprungbereiten Ethiker?

Zu allem Überfluss kam mir dieser Tage eine beflissene, bestimmt klassisch gebildete Mutter entgegen, die in den Kinderwagen hinein sprach: „Möchtest du etwas trinken, Amadeus?“ Und das, obwohl der Wunderknabe schätzungsweise unter 18 war!




Der Spießer von heute sagt „ätzend“ und „geil“

Da bin ich ganz voreingenommen: Es gibt nicht allzu viele Autoren, auf deren Bücher ich mich im voraus so freue, wie auf die jeweils neuesten Hervorbringungen von Max Goldt.

Ahhhh, da ist er also endlich eingetroffen, der neue Goldt. Mal sehen. Mal anblättern. Und sogleich möchte man jubilieren: „Ja, ja, ja. So ist es.“ Wenn Goldt nämlich zu Beginn von „Die Chefin verzichtet“ den allwöchentlich republikweit exerzierten, neudeutsch strotzenden Feuerwerkswahn geißelt: „…vielmehr glauben manche mittlerweile, sie hätten ein Recht darauf, enthemmt durch Suff und Gruppenzwang, Explosionen zu verursachen.“ Über pyromanische Fußball-Randalos mäandert der Text sodann in bester goldtscher Manier bis hin zu absurden Seilbahn-Szenen mit US-Christen der dumpf fundamentalistischen Sorte. Herrlich! Wer sonst kommt so produktiv von Holz auf Stock?

Nun gut. Nicht alle Texte des Bandes sind dermaßen stark. Doch es ist zumeist eine Lust, wie dieser begnadete Kolumnist (diese Bezeichnung ist eigentlich eine Untertreibung) gängige Meinungsschemata aller Arten unterläuft, und zwar vollkommen unabhängig von etwaigen politischen Tönungen. Goldt erwischt beinahe alle, die es verdienen, so auch „die Stänkereien reaktionärer Giftknilche, die in jeder Frauenbeauftragten den Leibhaftigen sehen. Und sich bei ihrem Herumgepeste im Internet vorkommen wie Widerstandskämpfer…“ Kann man’s trefflicher sagen? Schwerlich.

Unfähige junge Hotel-Rezeptionistinnen ereilt ebenso der Bannstrahl wie das Elend der heutigen Buchgestaltung, die immergleiche Mimik eines gewissen Günter Grass („grantig und selbstgerecht“) oder die Machwerke des „spirituellen Volksverhetzers Paulo Coelho“. Sagt selbst: Hat jemand diesen Säusel-Schreiberling schon genauer charakterisiert?

Goldts Vortrag über den Wandel der Begriffe „Spießer“ und „Kleinbürger“ erspart wohl so manches sozialwissenschaftliche Seminar, auch ist er den meisten Kabarettisten im beherzten Zugriff voraus. Nur mal stichwortartig hingeworfen: „Sexy“ ist demnach das neue „spießig“. Der Kleinbürger von heute dünstet längst nicht mehr nach Rosenkohl, sondern mampft Pizza, sagt „geil“ und „ätzend“, „sexy“ und „lecker“. Richtig, diese Leute kennt man doch zur Genüge!

Doch Vorsicht: Manchmal könnte man auch selbst gemeint sein. Goldt arbeitet sich zur Hypothese vor, die von einer allgegenwärtigen Diktatur des Pop und des kommerziellen Sports ausgeht und verdammt plausibel klingt. Wir sollten uns das mal zu Herzen nehmen.

Mag sein, dass das eine oder andere verbliebene Qualitäts-Feuilleton schon in ähnliche Richtungen gezielt hat, doch Goldt setzt meist noch einen bis fünfe drauf. Seine Abhandlungen z. B. über kaum noch unterscheidbare TV-Talkshows, das unheimliche Faszinosum namens Sahra Wagenknecht, die Selbstdegradierung durch fade imitierten „Glamour“ bei heute gängigen Abi-Bällen, den fernsehüblichen Sprachmüll (auch bei Phoenix und 3Sat) oder das kennerhafte Getue beim Weintrinken sind einfach exquisit.

Am Schluss möge ein Zitat stehen, das die derzeit arg ins Stocken geratene Evolution der Spezies Mann aufgreift: „Besteht denn gar kein Wunsch, nach all den Jahren, die hinter uns liegen, mal wieder etwas anderes zu sehen als kahlrasierte, tätowierte Freizeitgrobis?“ Und jetzt alle im Chor: Doch, doch, der dringliche Wunsch besteht!

Max Goldt: „Die Chefin verzichtet“. Texte 2009-2012. Rowohlt Berlin. 159 Seiten. 17,95 Euro.




Alles mehrt sich mehr und mehr

Es nervt seit geraumer Zeit und sicherlich haben schon Leute darüber geschrieben. Doch sei’s drum. „Wiederholung schafft Verständnis“, wie es unter scherzbereiten Journalisten heißt, wenn sie drauf und dran sind, eine Doublette zu verzapfen.

In den Zeitungen grassiert seit jeher, doch selbstredend zunehmend, also immer mehr das „Immermehr“ (etwa so: „Immer mehr Blondinen unter 25 gehen zum Schönheitschirurgen“, „Immer mehr Päpste wohnen im Vatikan“ o. ä.), auch wenn es nur um erstunkene Bruchteile von Steigerungsprozentsätzen geht. Der Herr gebe ihnen ihre tägliche Trendgeschichte. Mega. Turbo. Jumbo. Hechel. Lechz.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Das erbarmungswürdig schlichte Mehr (gern auch in schenkelklopfträchtigen Wortspielen mit „Meer“ verballhornt, so wie Leere und Lehre allzeit miteinander als Flachwitze krepieren) ist also immerzu – aaargh! – „angesagt“.

Folglich benennen Hinz und Kunz ihre Projekte nach dem Muster „Kneipe und mehr“, „Haarschnitt und mehr“ oder dergleichen. An jeder zweiten Ecke begegnet einem diese Mehrerei. Es ist zum Haareraufen.

Eins bis fünf und mehr... (Foto: Bernd Berke)

Eins bis fünf und mehr... (Foto: Bernd Berke)

Gibt man die Wortfolge „und mehr“ in die Suchmaschine seines Vertrauens ein, so wird man beispielsweise vorfinden: „Leonardo – Wissenschaft und mehr“ (WDR-Sendung), „Tiergesundheit und mehr“, „Arbeit und mehr“ (Personalvermittlung), „Schilddrüse und mehr“, „Afrika und mehr“ (Reiseangebote) oder „Hefe und mehr“ (Backtipps). Die Zahl der Beispiele ließe sich nahezu beliebig steigern. Wer findet noch absurdere?

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der erste Arzt „Heilen und mehr“ offeriert, Anwaltskanzleien „Klagen und mehr“ verheißen oder ein Bordell mit „Vö**** und mehr“ lockt.

Da wird einem rundum etwas vorgegaukelt. Der so genannten Phantasie wird ein so genannter Spielraum gelassen. „Kneipe und mehr“, das heißt doch eventuell: …und Seelentrost …und Wohlfahrtsinstitut …und Drogenberatung …und Partnerbörse …und Alltagskulturstätte. Und. Und. Und. Kneipe und alles. Oder halt nix.

Stöbert man öfter in Feuilletons, so fällt einem jetzt vielleicht einer der dämlichsten aller Rezensionssätze ein, nämlich dieser hier: „Weniger wäre mehr gewesen.“ Auch malt man sich womöglich den ultimativen Titel einer Kunstschau aus: „Vermeer und mehr“.

Was denn, was denn? Sie lassen gerade den Blick nach oben links auf dieser Seite schweifen? Und Sie finden dort als Untertitel der Revierpassagen die nichtswürdige Floskel „Kultur und mehr…“?

Das kann doch wohl nicht wahr sein. Das wäre ja peinlich. Da lassen Sie sich mal schleunigst etwas Besseres einfallen!

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Nachtrag am 29. September:

Der Untertitel dieses Blogs lautet jetzt nicht mehr „Kultur & mehr…“, sondern „Kultur & weiteres…“ Auch keine Offenbarung, aber immerhin.




Sang- und klangloses Ende für Berlins Kunsthaus „Tacheles“

„Die Bank hofft auf einen zweistelligen Millionenbetrag!“ Kernaussage eines Berichtes von Radio Berlin-Brandenburg über die künstlerisch-friedliche Räumung des „Tacheles“ an der Oranienburger Straße in Berlin.

Das gleichnamige Kunsthaus wird bald nicht mehr existieren, die HSH Nordbank, die gern mal über Wertberichtigungen (das sind nichts anderes als Verluste) berichten lässt und Beteiligungen im Finanzbereich auf den Cayman Inseln pflegt, will es dringend versilbern. Und Berlin verliert an einer seiner tollsten Straßen ein gutes Stück aus seinem prallen „Kessel Buntes“.

Es lohnt nicht, sich darüber auszulassen, wie es nach zweiundzwanzigeinhalb Jahren zu diesem finalen Akt kommen konnte, wie gering die Protestwellen gegen den drohenden Verlust ausfielen, der vor geraumer Zeit noch einen Tsunami ausgelöst hätte und ganze Stadtbezirke unter Wutwasser versenkt hätte, wie relativ still Künstler und rund um sie Handelnde das Streitfeld räumten und den „freien (?) Märkten“ überließen, was sie kurz nach der Einverleibung (auch Wende genannt) für sich in Anspruch nahmen.

Allein Martin Reiter, Sprecher der Besetzer (ja, das waren mal Hausbesetzer) rumpelte vor laufenden Kameras von „Kunstraub unter Polizeischutz“ und fand daselbst heraus, dass es folgerichtig heißen müsse: „Tacheles weg, Wowereit weg!“

Demo-Plakat zur Tacheles-Räumung (© Kunsthaus Tacheles)

Demo-Plakat zur Tacheles-Räumung (© Kunsthaus Tacheles)

Wie gesagt, es lohnt nicht, in diese Richtung Tiefenbohrungen anzustellen, leicht erkennbar ist indes, dass Kulturformen keine einflussreichen Wortführer mehr finden, die sich allzu weit abseits vom Mainchic bewegen und deren Duftmarken mehr nach Brecht als nach Precht (mediengewandter Jung-Vordenker der aktuellen Republik) riechen. Seit „Tacheles“ existiert, kannte ich es und hatte stets meinen Heidenspaß daran, in einer langsam Hauptstadtflair annehmenden Oranienburger Straße dieses hinfällig-charmante Haus wiederzusehen, wenn ich Berlin besuchte. Es blieb zwischen Straßenstrich und Feinschmeckermeile konstant und erinnerte verwittert und dennoch jung daran, dass seine Straße, in der es einst als Kaufhaus wirkte, von Krieg und Nachkriegssozialismus ziemlich zerschlissen worden war.

Vom angesagten Hackeschen Markt bis zur Mündung in die Friedrichstraße – dazwischen heute die schwer bewachte neue Synagoge – bildete und bildet die Oranienburger ein herrlich buntes Bild, zu dem das „Tacheles“ stets wie eine Festinstallation gehörte. Und die ist inhaltlich bereits vertrieben und wird als Hardware auch nicht mehr lange bestehen, falls nicht Investoren das Gelände ersteigern, die Vielfältigeres im Schilde führen als pure Gewinnmaximierung (was ich zwar erhoffe aber keinesfalls erwarte). Vielleicht gibt es ja was ganz Neues, Mediamarkt garniert mit H&M und eine Prise Liebeskind (Taschen, nicht Architektur), dazu ein Schuss Bubbletea.

Die Oranienburger wird das auch noch aushalten – sie überstand Übleres als Kapitalsucht. Die nachhaltig kreative Szene Berlins findet wieder neue Quartiere und: „Die Bank hofft auf einen zweistelligen Millionenbetrag!“




Wenn der Bürgermeister das Lokalblatt lobt

Ach, es ist ein gar schönes Ding um die Wächterrolle der Presse, zumal im lokalen Bereich, wo die Redakteure ganz nah am Geschehen und an den Akteuren sind – manchmal allerdings auch allzu nah.

Oder umgekehrt. Da kann es mitunter vorkommen, dass der Bürgermeister eines Ortes sich allzu sehr der Zeitung anbequemt. Beispiel Schwerte, Beispiel heutige Lokalausgabe der Ruhr Nachrichten. Da prangt auf Seite eins oben links die Kolumne „Guten Morgen“ mit dem halbspaltig abgebildeten Kopf des Bürgermeisters Heinrich Böckelühr (von Scherzbolden auch schon mal „Hein Böck“ genannt). Er selbst kommt hier zu Wort. Aha! Da muss es sich doch vermutlich um eine gewichtige Frage des Gemeinwohls handeln.

Was also hat das Stadtoberhaupt mitzuteilen? Dies hier: „Ich freue mich sehr auf die große Radrallye XXL der Ruhr Nachrichten…“ Fast ganz Schwerte werde auf den Beinen sein, um daran teilzunehmen. Über gedrechselte Formulierungen wie „Ganz besonders toll finde ich“ und „Ich finde es einfach super“ hangelt sich CDU-Mann Böckelühr bis zum hymnischen Schlusssatz, der da lautet: „Danke, Ruhr Nachrichten, für diese Idee!“

Heftiger kann man das blaue PR-Fähnchen kaum schwenken. Mal schauen, wie das derart gepriesene Blatt in nächster Zeit mit Böckelührs politischen Entscheidungen umgeht.




Potsdamer Provinzposse: SAP-Gründer Hasso Plattner als Mäzen einer DDR-Kunstsammlung

Am Neuen Markt in Potsdam ist preußische Geschichte allgegenwärtig. In Rufweite liegt Schinkels Nikolaikirche und der Marstall, der heute ein Filmmuseum beherbergt. Der Blick schweift von hier aus zum Wiederaufbau des im Krieg arg mitgenommenen und von den Baubrigaden der DDR abgerissenen Hohenzollernschlosses. In zwei Jahren soll im rekonstruierten Preußenschloss der brandenburgische Landtag einziehen.

Ob bis dahin für die sich derzeit in Potsdam abspielende kultur- und kunstpolitische Provinzposse, die viel über die nach wie vor offenen Wunden der deutschen Vereinigung und die antikapitalistischen Vorurteile in den Neuen Bundesländern erzählt, eine vernünftige Lösung gefunden wird, bleibt abzuwarten. Eine kleine Ausstellung mit gerade einmal 28 Bildern, die jetzt im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte am Neuen Markt präsentiert wird, könnte behilflich sein, die Gemüter etwas zu beruhigen. Im ehemaligen Kutschstall, wo gerade unter dem Titel „Kunst & Kartoffel“ eine Ausstellung zu Friedrich dem Großen und die preußische „Tartuffoli“ läuft, wurde der Konferenz- zum provisorischen Ausstellungsraum umfunktioniert, um „Einblick und Ausblick“ zu geben auf die Werke aus der Sammlung von Hasso Plattner.

Werner Tübke: "Der Narr und das Mädchen", Öl auf Leinwand, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind/Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Werner Tübke: "Der Narr und das Mädchen", Öl auf Leinwand, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind/Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

In der viel zu eng und unübersichtlich gehängten Bilderschau sind vor allem Werke des realsozialistischen Spätexpressionismus zu sehen, grelle Farbballungen von Bernhard Heisig, naive Romanzen und Idyllen von Wolfgang Mattheuer, auch Plakatives von Willi Sitte, Altmeisterliches von Werner Tübke, Mythologisches von Arno Rink, also Bilder von Künstlern, die der „Leipziger Schule“ angehören und zu Repräsentanten der DDR-Kunst wurden. Dazwischen geschmuggelt ist aber auch ein erst 2004 gemaltes abstraktes Bild von Gerhard Richter, der einst von Dresden nach Düsseldorf floh und heute der bedeutendste zeitgenössische deutsche Künstler ist. Und was ein Bild von dem in Velbert am Rhein geborenen Klaus Fussmann in einer Sammlung zu suchen hat, die sich dem Ziel verschrieben hat, die Kunst der DDR zu dokumentieren, bleibt genauso ein Rätsel wie die Tatsache, dass viele der gezeigten Werke vielleicht noch den Geist des untergegangenen Sozialismus atmen, aber tatsächlich von Heisig, Sitte, Tübke und Co. erst nach der Wende geschaffen wurden. Wie kann es nur sein, fragt sich der aus dem nahen Berlin angereiste Betrachter, dass diese eher stille und gut gemeinte, aber künstlerisch noch unausgereifte Sammlung von ziemlich konventionellen Bildern einen solch lauten Streit hervorrufen kann?

Arno Rink: "Lots Töchter", Öl auf Leinwand, 2007 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Arno Rink: "Lots Töchter", Öl auf Leinwand, 2007 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Der 1944 in Berlin geborene Unternehmer Hasso Plattner wurde mit seiner in Walldorf beheimateten Software-Schmiede SAP nicht nur zum reichen Mann, sondern auch zum Stiftungsgründer und Mäzen. Der Universität Potsdam hat er ein Institut für Software-Systemtechnik finanziert, für den Wiederaufbau des Potsdamer Schlosses mehrere Millionen Euro locker gemacht. Jetzt wollte Plattner der Stadt nicht nur seine noch im Aufbau befindliche Kunst-Sammlung schenken, sondern auch noch gleich den Neubau des dazu gehörigen Museums bezahlen. In Absprache mit Potsdams Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) wollte Plattner das Museum dort errichten, wo seit einigen Jahrzehnten ein 17-stöckiger DDR-Plattenbau steht und das historische Ambiente Potsdams verhöhnt. Das architektonische Monster war früher ein „Interhotel“, in dem Gäste aus dem Westen überwacht und abgehört wurden. Doch Plattners Plan, den amerikanischen Investoren das heutige Hotel „Mercure“ abzukaufen und es auf eigene Kosten abreißen zu lassen, rief unerwarteten Widerstand hervor. Die in Brandenburg stark vertretene „Linke“ versammelte DDR-Nostalgiker um sich und machte mit Protestaktionen und Unterschriftenlisten mobil. Auf einer Gegendemonstration – unter dem Motto: „Plattner statt Platte“ – versicherten Prominente wie TV-Moderator Günther Jauch, Schauspielerin Nadja Uhl und Modeschöpfer Wolfgang Joop dem von der „Linken“ als „Kolonisator“ und „Kapitalist“ verunglimpften Sponsor ihre Sympathie. Doch es nützte nichts. Plattner zog sein Angebot öffentlichen Mäzenatentums zurück und verkündete gleichzeitig, er werde auf seinem Privatgrundstück am Potsdamer Jungfernsee eine kleine Kunsthalle bauen und dort allen Interessierten seine Sammlung zugänglich machen.

Erich Kissing: "Claudia", Tempera und Öl auf Hartfaser, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Erich Kissing: "Claudia", Tempera und Öl auf Hartfaser, 1993/94 (Foto: Galerie Schwind / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Abgesehen davon, dass der Streit um Plattners Mäzenatentum ein peinliches Licht auf Potsdam wirft, beantwortet auch die Ausstellung „Einblick und Ausblick“ (bei deren Vernissage Plattner demonstrativ fern blieb) nicht, welche Motive und Ziele die Sammlung zur DDR-Kunst eigentlich verfolgt. Wird sie auch Nonkonformisten wie Gerhard Altenbourg und Kunstrebellen wie Cornelia Schleime berücksichtigen? Und neben Gerhard Richter gibt es auch noch „Republikflüchtlinge“ wie A. R. Penck und Georg Baselitz. Fragen über Fragen.

Ausstellungsort: Kutschstall am Neuen Markt in Potsdam (Foto: Hagen Immel / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Ausstellungsort: Kutschstall am Neuen Markt in Potsdam (Foto: Hagen Immel / Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte)

Infos:

+ Hasso Plattner wird am 21.1.1944 in Berlin geboren.

+ Zusammen mit Dietmar Hopp und anderen gründet Plattner 1972 das Software-Unternehmen SAP.

+ Seit dem Rückzug aus dem Tagesgeschäft engagiert sich Plattner als Kunstmäzen und Wissenschaftsförderer.

+ 1998 gründet er das Hasso-Plattner-Institut für Software-Systemtechnik in Potsdam.

+ „Einblick und Ausblick – Werke aus der Sammlung Prof. Dr. Hasso Plattner“, bis 16. September im Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte, Am Neuen Markt 9, Potsdam (Di-Do 10-17 Uhr, Fr 10-19 Uhr, Sa-So 10-18 Uhr).