Erzählstoff überall – Judith Kuckarts „Die Welt zwischen den Nachrichten“

Jede(r) möge es für sich bedenken: Welche – mehr oder weniger vagen – Berührungspunkte hatte mein Leben mit der Sphäre der Nachrichten? Und was folgt womöglich daraus? Judith Kuckart schneidet derlei Fragen in ihrem neuen, autobiographisch grundierten Roman „Die Welt zwischen den Nachrichten“ keineswegs umweglos an, sondern vielschichtig, hintergründig, zuweilen auch irrlichternd.

Staunenswert, welche Zeitlinien bis in die westfälische Provinzstadt Schwelm reichten, in der Judith Kuckart am (west)deutschen Einheits-Feiertag (17. Juni 1959) geboren wurde. Da war etwa die Schwelmer Apothekertochter Ina, die öfter auf die kleine Judith aufgepasst hat und sich Jahre später in Berlin (im Gefolge des Attentats auf den Studentenführer Rudi Dutschke) links radikalisiert hat. Noch etwas später war sie auf Plakaten der RAF-Terrorfahndung zu sehen und dürfte sich danach in der noch real existierenden DDR versteckt haben. Womit ihre Geschichte noch nicht zu Ende war. Der „Deutsche Herbst“ ist überhaupt prägend gewesen: Als Judith Kuckart in Köln studiert, wird ganz in der Nähe der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt und bald darauf ermordet. Aber was ändern solche Koinzidenzen am täglichen Sein?

„Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“

Etliche Befunde und Annahmen über die Lebenswelt „zwischen den Nachrichten“ müssen in einem Roman erzählend überprüft und geformt werden. „Schreibe ich“, so lautet mehrfach das lakonisch innehaltende Zwischenfazit nach gewissen Erzählpassagen. Also kein blankes „So (und nicht anders) war es“, sondern „So ist es aus meiner Sicht gewesen“ oder noch skeptischer: „So könnte es gewesen sein“. Eigentlich, darauf läuft ein Hauptstrang des Buches hinaus, sind sowohl öffentliche als auch vermeintlich private Geschehnisse just Erzählstoff, der aus Buchstaben, Worten, Sätzen usw. besteht und sich hier wieder einmal zum Roman weitet. „Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“, heißt es schon auf Seite 57. Und kurz vor Schluss, auf Seite 186: „Am Ende gilt doch nur das Erzählen. Wer erzählt, kann Engel über Toronto fliegen lassen oder Möwen über den Bahnhof Zoo.“

Jegliches Menschenleben enthält exemplarische, aber auch scheinbedeutsame Vorfälle in Hülle und Fülle. Bei Lebensneugierigen wie Judith Kuckart steigern und verdichten sich die Kreuz- und Querbezüge wahrscheinlich. Jedenfalls werden sie ungleich schlüssiger erzählend verknüpft. Allerdings gilt erzählerische Distanz, denn: „(…) man weiß immer erst im Nachhinein, dass das, was man gerade erlebt, ein Stoff zum Erzählen ist. Denn wer sagt schon, Achtung, jetzt erlebe ich gerade eine Geschichte…“ Außerdem heißt es auf Seite 161, wie in Gedichtzeilen gesetzt:

„Das Seltsame an der Wirklichkeit ist
sage ich wieder und wieder –
dass jedes Ereignis auch ganz anders hätte stattfinden können.“

Eindrücke von Pina Bausch bis Pierre Brice

Nur mal ganz kursorisch aufgegriffen: Mit 15 Jahren taucht die tanzbegeisterte und dito begabte Judith ein einziges Mal inkognito beim nahe Schwelm gelegenen Wuppertaler Tanztheater der legendären Pina Bausch auf. Als Regisseurin und Tänzerin frönt die Schwelmerin später weiterhin der Tanzleidenschaft. Ihr Roman gliedert sich denn auch in eine Reihe von Theater-Kantinengesprächen. Nach dem Abi arbeitet sie vorübergehend in einer Lokalredaktion der Schwelmer Nachbarschaft und interviewt sogleich den Kino-Winnetou Pierre Brice. (Das erinnert mich, mit Verlaub, an meine Volontärzeit, die ein paar Jahre früher zeitweise in dieselbe Gegend – nach Gevelsberg – führte).

Die Eltern und sonstigen Vorfahren der Autorin kommen im Verlauf des Romans ebenso in Betracht wie eine Cousine, die mit zehn Jahren stirbt, die besonderen Frauen Ellen R. und Eva K., die Freundin „Bee“, die spiegelbildlich von ihren Vätern so benannten Judith Martina (also die Erzählerin) und Martina Judith, wodurch weitere biographische Vexierbilder entstehen. Liebhaber scheinen hingegen eher Randerscheinungen zu bleiben, zumindest treten sie nicht ins literarische Rampenlicht. Hier geht es vor allem ums Frauenleben – bis hinab zu den schauderhaften Abgründen einer erlittenen Vergewaltigung.

Heidegger und Genazino, nahezu geisterhaft

Judiths Vater Leo brachte es realiter vom Waschmaschinen-Vertreter bis zum CDU-Landtagsabgeordneten. In diesem Zusammenhang ist die kleine Judith einmal mit Franz Josef Strauß fotografiert worden. Als Kind mit ihren Eltern im Schwarzwald-Urlaub, sieht sie aus der Ferne schemen- und geisterhaft den steinalten Martin Heidegger, natürlich ohne Näheres über ihn zu wissen. Später haben u. a. der Schriftsteller Wilhelm Genazino und der Polyhistor Alexander Kluge ihre kurzen Auftritte, wobei Genazinos Part seltsam gespenstisch anmutet.

Und die große Historie, die Welt der Nachrichten? Seitdem die Autorin in Berlin lebt (wo sie anfangs Filmkritikerin beim „Tagesspiegel“ war), ergeben sich Geschichts-Ablagerungen wie von selbst, nicht zuletzt durch Erlebnisse des Zeitenwandels beim Transit in die DDR anno 1976, 1983, 1986 und dann nach der „Wende“. Damit können Schwelm oder Dortmund (wo die Autorin so manchen Kindheitssommer verbracht hat) denn doch nicht mithalten.

Schließlich finden sich solche Zitate, die man sich einfach zum Nachsinnen notieren sollte, um bald einmal darauf zurückzukommen: „Sie ist darauf gefasst, dass das Unglück so selbstverständlich ist wie der Tod und keine Sprache hat.“ – „Wir sitzen zu dritt in unserer Kindheit herum…“ – Oder jene (wiederum im lyrischen Zeilenfall aufscheinenden) aphoristischen Schlussworte:

Nicht wichtig
ist
was man aus uns gemacht hat
wichtig ist
was wir aus dem machen
was man
aus uns gemacht hat.

Judith Kuckart: „Die Welt zwischen den Nachrichten“. Roman. DuMont- Verlag, Köln. 190 Seiten, mit ca. 25 Schwarzweiß-Fotos. 24 Euro. 

 




Gruppendynamische Selbstbeschau – „Spiegelneuronen“ in Salzburg

Irritierende Spiegelungen des Publikums – Szene aus „Spiegelneuronen“ bei den Salzburger Festspielen. (Foto: SF / Bernd Uhlig)

Der Vorhang hebt sich, sofort geht ein Raunen durchs Publikum. Der Bühnenraum ist durch einen riesigen Spiegel verstellt, der jeden Zuschauer und jede seiner Bewegungen und Gefühlsausdrücke offenlegt. Wenn jemand seinem Ebenbild zuwinkt und dabei fröhlich grinst, machen bald auch (fast) alle anderen das nach. Wenn jemand mit den Armen rudert oder eine Wellenbewegung andeutet, wird schnell (fast) die ganze Menschenmenge zu einem sanft wogenden Einheitskörper.

Wenn jemand mit seinem Handy leuchtende Kreise formt, wird (fast) der ganze Saal zur sich selbst bespiegelnden Fangemeinde. Wenn jemand es nicht mehr auf den harten Holzstühlen aushält und zu den aus dem Off dröhnenden Rhythmen seinen Körper in Wallungen bringt, wird schlagartig (fast) das ganze Theater zum schweißtreibenden Dancefloor. Mitmachen ist das Motto des Moments. Empathie das oberste Gebot. Einfach mal das Gehirn ausschalten und sich den Synapsen der Abertausenden Nervenzellen überlassen, die uns zu Handlungen verführen, von denen unser Bewusstsein gar nichts weiß. Wer will, wo so viele Menschen sich ausgelassen selbst bespiegeln und zu einem ununterscheidbaren Menschenklumpen mutieren, noch abseits stehen und den Spielverderber geben?

„Dokumentarischer Tanzabend mit Publikum“

Die international gefeierte Tanz-Compagnie von Sasha Waltz und das für seine szenischen Interventionen bekannte Theater-Kollektiv Rimini Protokoll, das mit dokumentarischen Recherchen auch mehrfach in Mannheim und Heidelberg für Furore sorgte, hat sich für die Salzburger Festspiele ein ebenso faszinierendes wie befremdliches Kunst-Projekt ausgedacht: „Spiegelneuronen“ nennen sie ihren „Dokumentarischen Tanzabend mit Publikum“.

Getanzt im Sinne eines theatralisch-künstlerischen Körper-Ausdrucks wird allerdings nicht. Sasha Waltz und ihre Mitstreiter mischen sich lässig unters Publikum und animieren es zu gymnastischen Verrenkungen, kuriosen Blödeleien und absurden Imitationen. Der Mensch möchte gern ein unverwechselbares Individuum sein, ist aber doch ein Herdentier. Will geliebt sein und hat Angst, aus der Gemeinschaft  ausgestoßen zu werden. Das ist, sagt uns eine Stimme aus dem Off, genetisch bedingt: Wurde man von seinem Stamm aus der Höhle geworfen, kam das einem Todesurteil gleich.

Erklärstimmen aus Psychologie und Soziologie

Die erklärenden Stimmen von Neurologen, Psychologen und Soziologen begleiten die theatralische Versuchsanordnung, bei der das Publikum selbst zum Akteur und Gegenstand des Interesses wird. Mehr als ein paar Gemeinplätze kommen aber nicht zu Gehör. Dass der Mensch durch Nachahmung lernt und sich ständig in einem Konflikt zwischen Anpassung und Aufruhr befindet, dass unsere Gefühle oft verrückt spielen und unser Handeln nicht zu unserem Denken passt, wussten wir schon vorher. Auch dass wir gern Teil einer Gruppe sind, obwohl wir auf unsere Selbständigkeit pochen, war uns nicht unbekannt. Müssen wir, um daran erinnert zu werden und uns bei der Selbst-Bespiegelung auch ein wenig lächerlich zu machen, wirklich ins Theater gehen?

Für Rimini-Protokoll-Konzeptkünstler Stefan Kaegi, der diesmal für Regie und Konzept verantwortlich zeichnet, ist die Antwort klar. Für das Theater interessiert er sich sowie nicht: „Das eigentliche Schauspiel findet in der Diskussion danach als zentrales Element gemeinsamen Erlebens statt.“ Statt wie sonst in ihren Dokumentar-Recherchen Theater-Laien als „Experten aus der Wirklichkeit“ auf die Bühne zu bringen und alte und neue Texte aus der Sicht von „Alltags-Experten“ neu zu verhandeln, wird jetzt das Publikum selbst zum Zentrum der Aufführung.

Wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt

Selbst wenn man (wie der Verfasser dieser Zeilen), das ganze Treiben kopfschüttelnd beäugt und eher abgestoßen davon ist, wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt, entwickelt der Abend doch auch einen optischen und akustischen Reiz. Gelbe Luftballons schweben durch den Raum und befördern den kindlichen Spieltrieb. Grelle Scheinwerfer suchen sich einzelne Personen und beleuchten, wer sich wohl fühlt im Gruppengemenge oder am liebsten fliehen möchte. Gemeinsam mit den Armen wedeln und herumzuhopsen und sich dabei über sein Spiegelbild zu wundern, ist für die meisten in Ordnung. Dem Vorschlag aber, den fremden Sitznachbarn zu berühren und Körpergrenzen zu überschreiten, mag nicht jeder nachkommen.

Den unterhaltsamen und neckischen, aber auch ziemlich überflüssigen Abend beschließt der Radiohead-Song „Creep“: ein Widerling („creep“) ist in ein wunderschönes, unnahbares Mädchen verliebt. Der „Spinner“ („weirdo“) würde so gern auch einen perfekten Körper haben, fragt sich aber: „What the hell am I doing here?“ Ja, was mache und was will ich eigentlich hier in diesem Theater der Selbstbespiegelung?

„Spiegelneuronen“, Salzburger Festspiele (Deutschlandpremiere am 29. August im Radialsystem Berlin).

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Zur deutsch-schweizerischen Künstlergruppe Rimini Protokoll gehören Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel.

Rimini Protokoll entwickelt theatralische Interventionen und szenische Installationen, bei denen Laien auftreten, die keine Dramen-Texte spielen, sondern sich selbst als „Experten aus der Wirklichkeit“ und „Alltags-Spezialisten“ mit ihrer Biografie einbringen.

In der Kunsthalle Mannheim haben sie die Installation „Urban Nature“ (2022) gezeigt, im Heidelberger Kunstverein die Ausstellung „Drei Fliegen mit einer Klappe“ (2010).

Mit ihrer Version von „Wallenstein“ (2005) waren sie bei den Schillertagen in Mannheim, auch „Call Cutta in a Box“ (2008) haben sie als „Interkontinentales Telefonstück“ im Nationaltheater Mannheim inszeniert.

 

 




Ruhrtriennale will Lust auf Zukunft wecken

Szene aus „Pferd frisst Hut“ nach Eugène Labiche mit Musik von Herbert Grönemeyer. (Foto: © Thomas Aurin / Theater Basel / Ruhrtriennale)

Man muss schon sehr tief in die jeweilige kreative Materie eindringen, um solche Kombinationen und Mischformen zu realisieren, wie es auch bei der kommenden Ausgabe der Ruhrtriennale wieder geschehen soll: Unter dem neuen Dreijahres-Intendanten, dem renommierten belgischen Theatermacher Ivo Van Hove (er amtiert bis 2026 im Revier), sollen beispielsweise Lieder von Edvard Grieg inszenatorisch mit Rock-Energie aufgeladen oder Chorwerke von Anton Bruckner mit Songs der Isländerin Björk in elektrisierende Verbindung gebracht werden. Da horcht man doch jetzt schon auf und wünscht gutes Gelingen!

Ivo Van Hove, der bereits in früheren Triennale-Zyklen als Gastregisseur fünf Inszenierungen beigesteuert hat (davon drei unter der Intendanz von Johan Simons), erinnerte sich zu Beginn der heutigen Programm-Pressekonferenz an seine künstlerischen Anfänge. Damals, in seinen frühen Zwanzigern, habe er fast alles langweilig gefunden, was sich seinerzeit in (belgischen) Theatern begab. Die nachhaltige Inspiration kam dann mit Produktionen in verlassenen Hallen am Hafen von Antwerpen – ein Szenario, wie es dann eben vergleichbar die 2002 begründete Ruhrtriennale in aufgelassenen Fabrikgebäuden erschlossen hat. Insofern fühlt sich die neue Aufgabe für Van Hove wie ein Heimkommen an.

Hauptrolle für Sandra Hüller

Ivo Van Hove, der neue Intendant der Ruhrtriennale. (Foto: © Thomas Berns)

Die Industriebauten sind denn auch bereits der wesentliche Beitrag des Ruhrgebiets zur rund 17 Millionen Euro schweren Triennale, die sich (verdichtet auf die Zeit vom 16. August bis zum 15. September) 2024 auf die Städte Bochum, Duisburg und Essen konzentriert. Ansonsten spricht man liebend gern Englisch und vergibt auch die meisten Produktionstitel in dieser Weltsprache, die eben immer noch nicht allen „Ruhris“ total geläufig sein dürfte. Es beginnt schon mit der Eröffnungs-Inszenierung am 16. August, die Ivo Van Hove selbst übernimmt: „I Want Absolute Beauty“ (Ich will absolute Schönheit) handelt (nicht nur) von weiblicher Selbstverwirklichung und wird durch Songs von PJ Harvey in Bewegung gesetzt. Van Hove stellt eine neue Form von Musiktheater in Aussicht, mit der er auch neues Publikum anlocken möchte. Die Hauptrolle spielt und singt die auch international hochgelobte Sandra Hüller. Schon das ist ein Signal erster Güte.

Auch das Motto des ganzen Veranstaltungsreigens lautet Englisch: „Longing for Tomorrow“ (etwa: Sehnsucht nach Zukunft). Noch ein Beispiel für die vorherrschende Anglophilie: „The Faggots and Their Friends Between Revolutions“, ein Abend über queeres Selbstbewusstsein und die sanfte Kraft der Gewaltlosigkeit. Um etwaige Missverständnisse auszuräumen: „Faggot“ ist ein Slangwort für Schwule und hat nichts mit einem ähnlich geschriebenen Musikinstrument zu tun. Weitere Produktionen, die wir hier nicht weiter auffächern können und wollen, nennen sich „One One One“, „Pump Into the Future Ball“ oder auch – gedacht für unter sechsjährige Menschen – „Little Ears, Tiny Feet“…

Immerhin ein Titel ist französisch: „Bérénice“, 1670 uraufgeführte Tragödie von Jean Racine, kommt als Einpersonendrama zur Triennale. Es spielt ein Weltstar des Theaters und Kinos, nämlich die unvergleichliche Isabelle Huppert.

Isabelle Huppert als Racines Tragödiengestalt „Bérénice“ (Foto: © Alex Majoli)

Ganz ohne waltenden Zeitgeist geht es natürlich auch bei der Triennale nicht. Da wird vielfach schwarze Geschichte aufgerufen, zudem werden queere Identitäten „sichtbar gemacht“. Im breiten Themenspektrum finden überdies Natur und Klima ihre gebührenden Plätze. Schließlich sind einige Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine an diversen Projekten beteiligt.

„Slapstick-Operette“ mit Grönemeyers Musik

Die hauptsächlichen Schwerpunkte liegen auf allerlei Musiktheater-Mischungen mit mehr oder weniger kühnen Grenzüberschreitungen zwischen so genannter „E-Musik“ und Rock. Eine ganz spezielle Darbietung rankt sich um 16 Songs von Herbert Grönemeyer (!). Die Chose wird als „erstes deutsches Slapstick-Operetten-Musical“ angepriesen, wobei „Herbie“ gar in die Nähe eines Rossini gerückt wird. Die turbulente Handlungs-Vorlage stammt jedenfalls vom Komödien- und Farcenschreiber Eugène Labiche und heißt „Ein Florentinerhut“. Der Triennale-Titel des ziemlich schräg anmutenden Projekts lautet „Pferd frisst Hut“. Wohl bekomm’s.

Dermaßen vielfältig kommt die nächste Triennale-Ausgabe daher (u. a. auch mit  Tanzproduktionen, Bildender Kunst, Autorenauftritten und Filmen), dass man sich möglichst die Programmdetails im Internet-Auftritt anschauen oder aber gleich das Programmbuch besorgen sollte. Der Vorverkauf der rund 40.000 Tickets hat unterdessen bereits heute (15. April) begonnen. Wer zuerst kommt…

Ruhrtriennale: 16. August bis 15. September 2024 in Bochum, Essen und Duisburg.

Kartenverkauf:

Ticket-Hotline: 0221/28 02 10 (Mo-Fr 8-20, Sa 9-18, So 10-16 Uhr) www.ruhrtriennale.de/de/tickets




„Vergnügen und Verlust“ – Ruhrfestspiele präsentieren Programm 2024

Stefanie Reinsperger in der Titelrolle von Thomas Bernhards „Der Theatermacher“ (Foto: Matthias Horn/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Nun ist es da, das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele. „Vergnügen und Verlust“ ist es überschrieben, und in diesem Titel, so Intendant Olaf Kröck, spiegele sich das weltpolitische Übel unserer Zeit ebenso wie die Notwendigkeit, es mit den Mitteln des Spiels, des Schauspiels, des Theaters samt all seinen Facetten mithin anzugehen.

Die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky wird die Eröffnungsrede halten, „in ihren Texten“, wir zitieren den Pressetext, „hat sie sich der Erkundung und Überwindung der Fremde als existentielle, menschliche Erfahrung verschrieben.“

Akrobatisch, atemberaubend

Vielfalt der Menschen und Ethnien, der Stilmittel und des künstlerischen Ausdrucks prägen das Programm vor allem in den Bereichen, die mit wenig oder ganz ohne Sprache auskommen – Tanz, Musik, Zirkus. Vor allem Zirkus ist im diesjährigen Programm prominent positioniert. Mit Zirkus, im Booklet als „Neuer Zirkus“ tituliert, wird das Festival am 3. Mai, einem Freitag, starten. „The Pulse“ heißt das akrobatische, äußerst personalintensive Stück von „Gravity & Other Myths“, in dem 24 sportliche Menschenleiber nach dem Prinzip der Pyramide gleichsam lebendige Bühnengebilde formen, die, kaum daß sie entstanden sind, sich schon wieder auflösen und zu Neuem sich vereinen. Für den Soundtrack sorgt bei diesen artistischen Darbietungen der (langer Titel!) „Frauenkonzertchor der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund e.V.“. Sprachkenntnisse sind für das Verständnis des Ganzen, wie das Programmheft ausdrücklich vermerkt, nicht erforderlich.

Wolfram Koch als König Lear (Foto: Armin Smailovic/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Pommestüte

Wenn es sich nicht um eine Ausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen handelte, hätte man gewiß Probleme, den Dänen Sören Aagaard kategorisch zu verorten, der auch schon mal als überdimensionierte Pommestüte durch Berliner Freibäder tobte. „Performance“, „Aktion“ usw. würde ebenso passen wie „Kunst“. Essen und Kunst sind sein Thema. Jedenfalls verfestigt sich bei der Lektüre des Programms der Eindruck, daß hier, bei den überwiegend kleinen, eher spracharmen und meistens auch lustigen Produktionen ein Maß an Originalität zu finden ist, das anderen Programmelementen eher abgeht. So weit man das vergleichen kann.

Bewährte Produktionen

Beim Schauspiel gibt es fraglos noch Luft nach oben. Die prominentesten Produktionen in der Abteilung Schauspiel laufen bereits seit längerer Zeit an anderen Häusern – „Der Theatermacher“ von Thomas Bernhard mit der Dortmunder „Tatort“-Kommissarin Stefanie Reinsperger in der Titelrolle beim Berliner Ensemble, „König Lear“ mit Wolfram Koch im Hamburger Thalia-Theater, nicht ganz wahllos herausgepickt. Recklinghäuser Premieren wären besser; aber natürlich ist es von Vorteil, hoch gelobte Produktionen wie diese nun zu Hause sehen zu können – falls man Karten kriegt.

Late Night Hamlet: Ein Solo für Charly Hübner. (Foto: Peter Hartwig/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Eine Uraufführung, immerhin

Immerhin ist nicht alles nur eingekaufte Spielplanware. Zusammen mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg haben die Ruhrfestspiele in diesem Jahr eine Eigenproduktion auf die Schiene gestellt, die am 24. Mai in Recklinghausen ihre Uraufführung erleben wird: „Late Night Hamlet“, ein Solo mit Charly Hübner in der Regie von Kieran Joel. Wir erleben Hamlet als einen Geworfenen in der Jetztzeit, gefordert, überfordert, wie es sich für tragische Figuren gehört. Doch wird auch ein „kurzweiliges Vergnügen“ versprochen, gerade so, wie es das diesjährige Festivalmotto postuliert. Na, schau’n mer mal. Mit Charly Hübner in der Titelrolle müßte es eigentlich klappen.

Gesellschaftskritisch

Der Theaterarbeit von Kollektiven sind in etwa wohl Stücke wie „Hier spricht die Polizei“ („werkgruppe 2“ und Schauspiel Hannover) oder „DIBBUK – zwischen (zwei) Welten“ („KULA Compagnie in Kooperation mit den Ruhrfestspielen und „dasvinzenz“ München) zuzuordnen, Arbeiten mit dezidiert gesellschaftskritischem Bezug. Bei KULA arbeiten Künstler aus Israel, Afghanistan, Iran, Rußland, Deutschland, Frankreich und Italien zusammen, was eigentlich nichts Besonderes sein sollte und heutzutage leider schon ein brisantes Politikum ist.

Viele alte Bekannte

Bekannte Namen gibt es wie immer bei den Lesungen: Corinna Harfouch, Devid Striesow, Katharina Thalbach, Lars Eidinger, Peter Lohmeyer und viele mehr. Literaturkritiker Denis Scheck wird mit der Autorin Terézia Mora und dem Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah plaudern, Angela Winkler wird in der Musikabteilung zusammen mit dem „delian:quartett“ Shakespeare musikalisch-literarisch begegnen. Vier Tage lang gibt es zudem ein „Festival im Festival“: „Resonanzen – Schwarzes Interntionales Literaturfestival“. Die Eröffnungsrede hält Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo.

Der DGB will diskutieren

Die Neue Phlharmonie Westfalen bringt Mahlers Siebte zu Gehör, Konzerte, unter anderem von „SLIXS“ und „Flautando Köln“, gibt es auch in der Christuskiche, im Festspielzelt und in der Sparkasse Vest. Last but not least macht der DGB Programm. „Europa mit uns – Partei ergreifen!“ und „Reden mit…“ heißen die Veranstaltungen in der Abteilung Dialog, die noch einmal deutlich machen, daß die Ruhrfestspiele sich eben durchaus als politisches Festival begreifen. Zum Publikums-Talk haben sich unter anderem Charly Hübner, „werkgruppe 2“ und das künstlerische Team von „DIBBUK“ angemeldet.

Die Spielzeitübersicht im Programmbuch fehlt

Wer mehr wissen will, muß das Programmheft lesen oder sich im Netz schlaumachen. A propos Programm: Da hat es Olaf Kröck und seinem Team, wohl auch aus Kostengründen, wie leise angedeutet wurde, gefallen, die traditionsreiche Spielzeitübersicht von den hinteren Seiten des Programmheftes zu verbannen. Nun finden sich die Termine in tabellarischer Form auf einem separaten Leporello, „Der Festspielkalender 2024“ geheißen, den man zwar nicht mißlungen nennen kann, dem aber die Übersichtlichkeit des guten alten Überblicks gänzlich abgeht.

Gut, es gibt Schlimmeres. Freuen wir uns auf die Ruhrfestspiele 2024, im Festspielhaus und andernorts und glücklicherweise ohne Maske.




Schönheit im Tanz, Elend der Epileptiker – „Voodoo Waltz“ von Janja Rakus in Bochum

Pierre Bokma (li.), William Cooper. (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

„Ich bin ein Mann“ sagt der Mann auf der Bühne. Mühsam erhebt er sich vom Boden, mühsam zieht er Hemd und Hose an. Es ist der erste gesprochene Satz an diesem Theaterabend, verzweifelt-trotzige Selbstverortung. „Ich bin keine Frau“ setzt er nach, und haarklein wird er uns späterhin berichten, was er damit meint.

Choreographen inszenierten

Der Mann, mittleres Alter, gebeugte Körperhandlung, heißt im Stück Orfan und wird gespielt von Pierre Bokma, einer lange schon festen Größe im Bochumer Ensemble. Das Stück heißt „Voodoo Waltz“, wurde geschrieben von der jungen Slowenin Janja Rakus und von den niederländischen Tänzern Imre und Marne van Opstal, Geschwister die beiden, als hybride Hervorbringung aus Schauspiel, Tanz und viel Deklamation zu einem intensiven Bühnenprodukt verarbeitet, zu sehen nunmehr im Bochumer Schauspiel.

Chloé Albaret, Ramon John (von links). (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

Ivana, Orfan und Wilhelm sind die schauspielerischen Hauptfiguren des Stücks; Ivana (Stacyian Jackson) war Rechtsanwältin in dem Land, das sie verlassen mußte (Slowenien vielleicht?) und hat mit manchen Fällen aus dieser Vergangenheit noch nicht abgeschlossen; Wilhelm (William Cooper) zieht es zum Göttlichen, Psalmen (aus dem Off) säumen seinen Lebensweg, Orfan schließlich (sein Name aus dem Englischen übersetzt bedeutet Waisenkind) ist ein unglücklicher Sexarbeiter, zu dessen regelmäßigen Aufträgen es gehört, dem „Oldie“ mit seinen bizarren Vorlieben zu Diensten zu sein. Schließlich wird er in ihm seinen Vater erkennen, der ihn schlug und mißbrauchte und beizeiten zu eben jenem gescheiterten, unglücklichen Menschen machte, den Pierre Bokma in dieser Inszenierung sehr berührend gibt.

Boston Gallacher, Chloé Albaret, Pierre Bokma, Emilie Leriche, Ramon John, William Cooper (v.l.). (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

Rotlichtviertel

Die Menschheit zwischen hemmungslosem Trieb und Göttlichkeit, gut küchenfreud-ianisch zwischen „Es“ und „Über-Ich“, dargeboten in drei Bühnencha-rakteren, das ist doch schon was. Aber anrüchig bleibt es auf allen Ebenen, weshalb der Spielort irgendwie – Kulissen gibt es eigentlich nicht, wenn man von den leise ab und zu ihre Position verändernden Stoffbahnen absieht – im Amsterdamer Rotlichtviertel angesiedelt ist. Als eine Art Fremdenführerin hat da Puffmutter Kinga Xtravaganza ihre auftrumpfenden Monologe, die ebenso wie die Ex-Anwältin Ivana von der bühnenmächtigen, dunkelhäutigen Stacyian Jackson gespielt wird. A propos: Vorwiegende Bühnensprache ist Englisch, aber die Übersetzungen in der Projektion auf den Oberrand der Bühne kommen da gut mit, Deutsch in Englisch, Englisch in Deutsch, die Technik ist uneingeschränkt zu loben.

Androgyne, kraftvolle Wesen

Etwas ärgerlich ist nur, daß alles in allem eben recht viel Text gesprochen (und visuell übersetzt) wird. Der unüberwindliche Lesedrang hindert einen daran, den Tänzern beim Tanzen zuzugucken. Drei Paare, androgyne, kraftvolle Wesen, geben dem Schauspiel so etwas wie eine zweite, unaufdringlich-präsente, körperliche Nachzeichnung, sind schwerelos, schemenhaft manchmal gar. In gewisser Weise sind diese jungen Tanzkünstlerinnen und –künstler – „internationaler Cast“, laut Presseinformation – in ihrer Enthobenheit geradezu der idealisierte Gegenentwurf zu den armseligen Epileptikern. Wenn man es denn so sehen will.

Choreographie und Tanz finden oft nicht zueinander

Denn daß die Kombination – diese Kombination – von Opstals Choreografie und Rakus’ Geschichte künstlerischen Mehrwert schüfe, kann man auch nicht unbedingt sagen. Choreographie und Schauspiel bleiben oft für sich, nehmen nicht wirklich Beziehung zueinander auf. Dabei mag dem einen im Zuschauerraum zu viel Theater im Tanzstück sein, dem anderen zu viel Tanz in einem Plot, den man ja auch ganz naturalistisch hätte anlegen können.

Eher grau in grau als Voodoo Waltz

Nüchtern besehen sind die Geschichten, die hier erzählt werden, weder Voodoo noch Waltz, eher kümmerliches grau in grau. Unbestreitbar aber auch reihen sich zwei Stunden lang bemerkenswerte Einzelleistungen aneinander. Auch soll nicht bestritten werden, daß wir hier Helden „auf der Suche nach einer neuen Identität in einer Welt, die nicht wirklich für sie gemacht zu sein scheint“ (Presseinformation) begegnen. Nun, die trifft man im Theater relativ oft, aber oft sind sie weniger schillernd oder bedauernswert, je nachdem, als jene in „Voodoo Waltz“ am Bochumer Schauspielhaus. Das Publikum applaudierte erwartungsgemäß frenetisch, weitere Aufführungen folgen.

 




Beethoven nach dem Bombenhagel – Sasha Waltz choreographiert das Grauen des Krieges

Ensemble-Szene aus der „Beethoven 7″-Choreographie von Sasha Waltz. (Foto: © Sebastian Bolesch/Radialsystem)

Nebelschwaden empfangen das Publikum. Es wabert und wölkt, zischt und dampft aus allen Rohren. Mühsam schälen sich menschliche Silhouetten aus dem grauen Nichts: fremdartige Wesen mit riesigen Masken, die vielleicht von einem andern Stern oder aus den Abgründen unserer Fantasie kommen. Aliens des Bösen, die wie ferngesteuerte Kampfmaschinen wirken.

Manche tragen Brustpanzer, die an die Westen von Selbstmord-Attentätern erinnern. Sie verklumpen sich zu grotesken Körperskulpturen. Mit dem anschwellenden Bocks-Gesang ihrer ritualisierten Ekstase werden auch die zirpenden und zischenden Klänge immer lauter. Bässe wummern, Trommeln wirbeln, steigern sich zu einem Kakophonie der Katastrophe. Manche können den ohrenzerfetzenden Lärm und den Bombenhagel der atonalen Misstöne nicht mehr ertragen und verlassen fluchtartig den von musikalischem Krieg und tänzerischer Entgrenzung künstlerisch verminten Saal. Was tödliche Wirklichkeit für die von russischem Dauerbeschuss drangsalierten Menschen in der Ukraine ist, wird in der Choreographie von Sasha Waltz und der Musik von Diego Noguera zum ästhetischen Erlebnis, zum perfiden Schein. Muss das sein?

„Freiheit/Extasis“ nennt der in Chile geborene und seit Jahren in Berlin lebende Musiker Diego Noguera sein elektronisches Klang-Experiment, zu dem Sasha Waltz mit ihrem 13-köpfigen Ensemble vergeblich nach einem tänzerischen Ausdruck sucht: Viel Lärm und schweißtreibende Gymnastik um ein geschmackloses Nichts, das ohne Ohrenstöpsel kaum auszuhalten ist. Jetzt kann nur noch Beethoven helfen und uns aus dem Jammertal der musikalisch-tänzerischen Tränen befreien.

Für den Kultursender Arte hat Sasha Waltz 2021 in der antiken Tempelstätte von Delphi für zwei Sätze aus Beethovens 7. Sinfonie eine Choreographie entworfen, die den klanglichen Reichtum und die romantische Freiheits-Perspektive der mit rhythmischen Leitmotiven und mit hüpfenden, suggestiv-tänzelnden Elementen auftrumpfenden Komposition überzeugend einfing. Jetzt erweitert sie ihre szenische Beethoven-Weihe zu einem sinfonisch-tänzerischen Gottesdienst; zu einer Ton-Aufnahme unter Leitung von Teodor Currentzis schwebt und schreitet ihre Compagnie fröhlich und freiheitstrunken durch den vom Nebel des Krieges befreiten Raum im Berliner Radialsystem: „Beethoven 7“ feiert die Schönheit des Körpers und die Synchronität der Bewegungen. Arme werden gen Himmel gereckt, heiße Blicke ausgetauscht, Paare finden sich, Passenten schlendern vorbei, wagen ein ausgelassenes Tänzchen. Doch die zwischen französischer Revolution und europäischer Restauration eingeklemmte Welt, die den fast ertaubten Beethoven beim Komponieren 1811/12 umgab, ist fragil, der Frieden ein frommer Wunsch, die Freiheit ein schöner Schein.

In der Stille zwischen dem dritten und vierten Satz zerbricht die Idylle, verkantet sich ein einsamer Tänzer, reißt alle anderen mit sich in die Tiefe der Ungewissheit. Die harmonisch fließenden Bewegungen zerfasern, die Einigkeit der Liebenden löst sich auf. Nur schwer können die vereisten Körper ihre Erstarrung überwinden und der Fahne der Freiheit folgen, die von einer Tänzerin enthusiastisch geschwungen wird und den Weg in die Zukunft weist. Nach dem verkorksten Auftakt mit Noguera ist Beethoven die Rettung.

Sasha Waltz & Guests: „Beethoven 7“ und „Freiheit/Extasis“. Berlin, Radialsystem. Aufführungen wieder am 31. August sowie am 1., 2. und 3. September.

www.radialsystem.de




Die Natur des Menschen erkunden – Programm der Ruhrtriennale

Auch diesmal eine zentrale Spielstätte der Ruhrtriennale: die Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: © Jörg Brüggemann)

Rühmen ist eine Kunst, auf die sich nicht alle verstehen. Ganz anders heute bei der Programm-Pressekonferenz zur Ruhrtriennale, die streckenweise geradezu schwärmerisch verlief. Das überwiegend weibliche Leitungsteam um die Intendantin Barbara Frey ließ nach und nach sämtliche am Festival beteiligten Künstlerinnen und Künstler hochleben. Darüber wurden die geplanten 90 Minuten arg knapp.

Intendantin und Sparten-Leiterinnen gingen überdies einfach mal davon aus, dass die Kreativen doch sicherlich samt und sonders allseits bekannt seien. Nun, für ausgesprochene Triennale-Afficionados und dito Habitués mag das wohl zutreffen. Oder eben für die Macherinnen selbst. Ich möchte hingegen wetten, dass nicht ausnahmslos alle Medienschaffenden sofort bei allen Namensnennungen gänzlich im Bilde waren. Aber was soll’s. Manche Vorhaben klingen wirklich vielversprechend, andere beim ersten Hinhören etwas gewöhnungsbedürftig. Oder halt „interessant“; ganz nach dem offenherzigen Motto: „Dann lasst doch mal sehen!“

Vom 10. August bis zum 23. September werden an 12 Orten in den Städten Bochum, Duisburg, Essen und Dortmund (Rachmaninow-Projekt „Abendlob und Morgenglanz“, ab 16. Augustin in der Zeche Zollern) insgesamt 34 Produktionen und Projekte gezeigt, darunter fünf Uraufführungen. Vielfach handelt es sich – wie bei der Ruhrtriennale üblich – um Mischformen („Kreationen“) zwischen Schauspiel, Musiktheater, Tanz, Performance und sonstigen Künsten. Auch der Film kommt diesmal (im Bochumer „Metropolis-Kino“) deutlicher zu seinem Recht als sonst. Noch mehr Zahlen? Bitte sehr: Alles in allem wird es 113 Veranstaltungen geben, der recht ordentliche Jahresetat beträgt rund 16 Millionen Euro.

Nun aber gilt’s der Kunst, notgedrungen anhand von wenigen Beispielen:

Die Eröffnungspremiere (10. August, Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord) inszeniert Barbara Frey selbst. Als Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater, aber zuerst im Revier zu sehen, steht William Shakespeares immer noch und immer wieder wunderbar rätselvoller „Sommernachtstraum“ auf dem Spielplan. Barbara Frey sieht das im zauberischen Wald angesiedelte Stück in inniger Verknüpfung mit dem zentralen Festival-Themenkreis: Was ist die Natur des Menschen und wie behandelt dieses seltsame Wesen die Natur um sich herum? Es gehe bei Shakespeare um alles: Kunst, Natur, Macht, Eros und Traum. Kein leichtes Unterfangen also, aber wohl ein reichlich lohnendes. Übrigens habe der weltberühmte Dramendichter auch schon Angst um die Natur gekannt. Schon zu seiner Zeit seien großflächig Wälder abgeholzt worden.

Inszeniert den „Sommernachtstraum“ als Eröffnungs-Premiere: Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey. (Foto: © Daniel Sadrowski)

Die größte Musiktheater-Poduktion heißt „Aus einem Totenhaus“ (Premiere am 31. August, Jahrhunderthalle Bochum) und stammt vom Komponisten Leoš Janáček. Seine Vorlage waren Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, in denen der Schriftsteller seine Leiden im sibirischen Arbeitslager geschildert hat. Die mit rund eineinhalb Stunden Spielzeit ziemlich kurze Oper wird von Dmitri Tcherniakow in Szene gesetzt. Das Publikum soll sich dabei durch eine finstere Gefängniswelt bewegen, die Trennung zwischen Bühne und Parkett werde aufgehoben. Zuschauer würden den Mitgliedern des Ensembles beispiellos nah kommen, heißt es. Zuschauerinnen natürlich auch. Durchgängiges „Gendern“ ist im Triennale-Team versiert ausgeübte Pflicht.

Zumindest indirekte Bezüge zur industriellen Ruhrgebiets-Vergangenheit hat das Musiktheater-Vorhaben mit dem Titel „Die Erdfabrik“ (ab 11. August, Gebläsehalle, Duisburger Landschaftspark). In der Auftragsproduktion, realisiert von dem Komponisten Georges Aperghis und dem Schriftsteller Jean-Christophe Bailly, sollen sich Bergbau-Minen als metaphorische Orte erweisen. Drunten, im tiefsten Dunkel, verwirre sich die gewöhnliche Ordnung der Welt, hier müssten Ur-Ängste überwunden werden, wie Barbara Eckle ausführt, die Leitende Dramaturgin fürs Musiktheater der Triennale. Zugleich habe der Gang in die Tiefe mit unvordenklichen Zeitschichten zu tun, die Kohle lagere dort seit vielen Millionen Jahren.

Eine besondere Tanzproduktion verspricht „Skatepark“ der Dänin Mette Ingvargtsen zu werden, die sich von sozialen „Choreographien“ der Skateboard-Community herleitet und selbige künstlerisch aufbereitet (ab 12. August, Jahrhunderthalle Bochum). Bei den Konzerten ragt u. a. ein „Schlagzeug-Marathon“ (26. August, PACT Zollverein in Essen) heraus, beispielsweise mit Billy Cobham und Mohammed Reza Mortazavi. „Play Big“ (ab 21. September, Jahrhunderthalle Bochum) heißt ein groß gedachtes und in jeder Hinsicht raumgreifendes Zusammentreffen von Sinfonieorchester, Chor und Bigband, bei dem es zu gleitenden oder auch kontrastreichen Übergängen zwischen E-Musik und U-Musik kommen dürfte.

Mit dem dritten Teil dieser Ruhrtriennale endet vertragsgemäß die Intendanz der Schweizerin Barbara Frey, die vordem u. a. das Schauspielhaus in Zürich geleitet hat. Die Journalistenfrage, womit sie wohl in hiesigen Breiten in Erinnerung bleiben werde, mochte sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht beantworten. „Lassen wir es offen.“

Durchzählen unnötig: Wir haben hier selbstverständlich nur einen Bruchteil der Produktionen nennen können. Der ganze große „Rest“ steht im gedruckten Programmheft und auf der Homepage des Festivals. Der Vorverkauf hat bereits begonnen, er läuft seit heute (27. April). 34.000 Tickets sind im Angebot, bis zum 4. Juni gibt es einen „Frühbuchungs-Rabatt“ von 15 Prozent. Und nun bitte hier entlang:

www.ruhrtriennale.de

 




Dämonen, Tanz, zerbrochener Krug – Ruhrfestspiele präsentieren buntes und maskenfreies Programm

Farbenfroh: Szene aus „Der zerbrochne Krug” in der Regie von Anne Lenk (Foto: Arno Declair / Deutsches Theater Berlin / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Corona hat uns demütig gemacht. Ein Festival ganz ohne Masken und Sitzordnungen, einfach so wie früher, erscheint uns wie ein unverdientes Glück. Doch soll es so sein: Die nächsten Ruhrfestspiele, die vom 1. Mai bis 11. Juni in Recklinghausen und Umgebung stattfinden, sind konsequent postcoronal, die zweiten „normalen“ Festspiele mithin in der Amtszeit des immer noch irgendwie neuen Intendanten Olaf Kröck. „Rage und Respekt“ lautet das diesjährige Motto der Veranstaltung.

Spannende Themen

Na, dann schauen wir doch mal auf das Programm. Die ganz großen Kracher des internationalen Festivaltourneegeschehens sind hier nicht auszumachen, wahrscheinlich wird die Triennale, später im Jahr, da einiges anzubieten haben. Aber spannend ist das Programm der neuen Ruhrfestspiele schon, speziell in den Bereichen Theater und Tanz. Wir stoßen, und das Wort ist hier nicht abwertend gemeint, auf interessante Stoffe, von denen man vielleicht hier und da schon gelesen, die man aber überwiegend noch nicht in Inszenierungen gesehen hat.

Mit diesem Stück fängt das Festival an: „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead” von der Theatercompagnie „Complicité“ (Foto: Camilla Adams / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Den Anfang macht ab 3. Mai „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ von der britischen Theatertruppe „Complicité”, die ein aufmerksames Ruhrfestspiele-Publikum vor einigen Jahren bereits als „Théâtre de la complicité“ kennenlernte. Das Stück basiert auf einem Roman der Literaturnobelpreis-trägerin Olga Tokarczuk (deutscher Titel: „Gesang der Fledermäuse“) und erzählt eine nicht nur andeutungsweise schaurige Geschichte von gejagten Wildtieren, einer engagierten Naturschützerin und brutalen Jägern, die indes auf merkwürdige Art immer weniger werden. Und irgendwie verhalten sich auch die Tiere des Waldes merkwürdig. Grüßt da Daphne du Maurier herüber, winkt George Orwell? Bleibt zu hoffen, daß die Darbietung in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln der Spannung keinen Abbruch tut. In der Titelrolle sehen wir übrigens Kathryn Hunter als Janina Duszejko, die, wie Olaf Kröck versichert, in England ein Bühnenstar ist.

„Der Wij“, Regie: Kirill Serebrennikov, Thalia Theater Hamburg / Foto: Fabian Hammerl Der Wij 298b5c2274babb Fotos Fabian Hammerl

Szene aus „Der Wij“ in der Regie von Kirill Serebrennikov (Foto: Fabian Hammerl / Thalia Theater Hamburg / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Ein böser Dämon

Ein bißchen schaurig geht es auch in „Der Wij“ zu, den ab 19. Mai das Thalia-Theater aus Hamburg auf die Bühne des Recklinghäuser Festspielhauses stellt. „Der Wij“ wird im Programmheft präsentiert als Stück von Bohdan Pankrkhin und Kirill Serebrennikov, inspiriert von einer Erzählung von Nikolai Gogol. Er ist ein Klassiker der russischen Phantastik, ein Dämon aus der Unterwelt, dessen Augenlider zumeist geschlossen sind, doch dessen Blick tötet. Ach, Rußland. Ko-Autor Kirill Serebrennikov, den man als Putin-Opfer kennenlernte und der jetzt seit etwa einem Jahr in Deutschland lebt und arbeitet, führte auch Regie.

„Tempest Project”, Peter Brook und Marie-Hélène Estienne, Théâtre des Bouffes du Nord / Foto Philippe Vialatte Tempest Project Ery Nzaramba Foto Philippe Vialatte

Shakespeares „Sturm“ inspirierte Peter Brook und Marie-Hélène Estienne zu ihrem „Tempest Project“, das das Théâtre des Bouffes du Nord auf die Bühne bringt. (Foto: Philippe Vialatte / Tempest Project Ery Nzaramba / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Noch einmal Peter Brook

Für Klassiker, die man quasi aus dem Reclam-Heftchen heraus inszeniert, gibt es kaum noch Platz im Gegenwartstheater. Bestenfalls dient alter Stoff als Quelle der Inspiration, als eine Art Stichwortgeber, wiederholt haben wir es beklagt. Nun denn. Immerhin war es der mittlerweile verstorbene Altmeister der Bühnenkunst Peter Brook, der in seinem „Tempest Project“ William Shakespeares Alterswerk „Der Sturm“ im „Théâtre des Bouffes du Nord“ auf seine Verwendbarkeit überprüfte – also in jener experimentellen Spielstätte in einem weniger vorzeigbaren Pariser Vorort, wo Brook zuletzt wirkte und wo auch das Stück „The Prisoner“ entstand, das 2019 bei den Ruhrfestspielen lief. Brooks Shakespeare-Adaption (zusammen mit Marie-Hélène Estienne) soll ansehnlich geraten sein, Unerwartetes und Erkenntnis zu Tage gefördert haben. Freuen wir uns auf die Vorstellungen.

„Manifesto” ist eine Choreografie von Stephanie Lake (Foto: Roy Van Der Vegt / Stephanie Lake Company / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Phädra in Georgien

„Phädra, in Flammen“ ist ein Antikenstoff, doch nur Nino Haratischwili wird als Autor genannt. Nanouk Leopold führt Regie in dieser Koproduktion mit dem Berliner Ensemble, es geht, ist zu lesen, parabelhaft um Fragen nach Machtpolitik, Emanzipation und politischer Regression, nicht nur in Osteuropa und Georgien.

Die Hexen übernehmen

Als Regiearbeit Roger Vontobels kommt Shakespeares „Macbeth“ als Koproduktion mit den Bühnen Bern auf die Bühne. „In der Fassung der Zürcher Anglistik-Professorin und Shakespeare-Expertin Elisabeth Bronfen werden die Hexen zu prägenden Kräften des Spiels…“ teilt uns das Programmheft mit. Nun ja. Wollen wir hoffen, daß Shakespeare wirklich so unkaputtbar ist wie allenthalben behauptet.

In Robert Ickes „Die Ärztin“ – „sehr frei nach ,Professor Bernhardi’ von Arthur Schnitzler“, vermerkt das Programmheft – ist aus dem Klinikarzt, eben, die Klinikärztin geworden, die sich plötzlich mit einem nicht für möglich gehaltenen Abgrund von Antisemitismus konfrontiert sieht. „Shitstorm“, politische Korrektheit, Rituale der Reue usw.: auch dieser Stoff ist in beunruhigender Weise nicht kaputtzukriegen.

Und immer wieder „Der zerbrochne Krug“

Darf Theater Spaß machen, richtiges, großes Theater? Sehr viel Lustiges findet sich jedenfalls nicht im deutschsprachigen Repertoire. Und wenn die Theaterleute unserer Tage Klassiker wie Steinbrüche behandeln, kommt meistens auch nichts Spaßiges dabei heraus (es gibt Ausnahmen). Große Ausnahme (unter den unspaßigen Klassikern) ist Kleist „Der zerbrochne Krug“, wenngleich auch dieses Stück, weil es ein brillantes Stück ist, tragische und bedrückende Anteile hat.

Unvergeßlich der „Krug“ von Andrea Breth, Ruhrtriennale 2009, mit Sven-Eric Bechtolf als Richter Adam, der sexuelle Nötigung, eine nicht eben unwahrscheinliche Vergewaltigung gar, unmißverständlich und mit gebotenem Ernst thematisierte. Nicht immer nur die Katze, die in die Perücke gejungt hatte. Jetzt ist der „Krug“ des Deutschen Theaters Berlin im Ruhrfestspiele-Programm (ab 9. Mai), Regie führt Anne Lenk, Ulrich Matthes gibt den Dorfrichter Adam, und es wird ganz bestimmt ein schöner Theaterabend. Übrigens: Wer nicht so lange warten will, schaue ins Programm der Duisburger „Akzente“. Dort läuft der Berliner „zerbrochne Krug“ auch.

Theater aus Tibet: „Pah-Lak“ von Abhishek Majumdar (Foto: Tibet Theatre / Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Ein Blick auf Tibet

Ein Stück aus Tibet fällt auf, „Pah-Lak“ von Abhishek Majumdar, eine Koproduktion mit dem Tibet Theatre und dem Tibetan Institut of Performing Arts Dharamsala. Gespielt wird in tibetischer Sprache mit deutschen Untertiteln. Es geht um Tibet seit der Annexion 1950 durch China, um gewaltfreien Protest und, letztlich, um dessen Erfolglosigkeit. Und vielleicht gelingt mit diesem Stück, was Theater, neben vielem anderen, auch leisten kann: Empathie herzustellen mit einer anderen Kultur fernab, von der wir sonst, wenn überhaupt, nur in den Nachrichten hören.

Baukasten mit 53 Bewegungsfiguren

Es gibt der Theaterveranstaltungen einige mehr, nicht alle können genannt werden. Die Abteilung Tanz verzeichnet vier Produktionen, denen gemein ist, daß sie jeweils eine Stunde dauern; vorwiegend juvenile Themenstellungen, wie es scheint und wie es nicht zu kritisieren ist. Gerade einmal Sasha Waltz taucht noch als prominenter Name auf, einst die Nachzüglerin aus dem Berliner Radialsystem, mittlerweile so etwas wie die Grande Dame des deutschen Tanztheaters. Sie hat in einer Kooperation des Instituts für zeitgenössischen Tanz und der Folkwang Universität der Künste mit Studenten die Komposition „In C“ von Terry Riley aus dem Jahr 1964, die „gemeinhin als erstes Werk der Minimal Music“ (Programmheft) gilt, choreographiert, nicht als fertiges Bühnenstück, sondern als eine Art Baukasten mit 53 Bewegungsfiguren, die den Tänzern, wie es heißt, gewisse Freiheiten geben. Schau’n wir mal.

Viele bekannte Namen

Die Berlinlastigkeit bei der Auswahl der Theaterstücke, die wir im letzten Jahr noch beklagten, hat nachgelassen. Von Angela Winkler bis Matthias Brandt, von Nessi Tausendschön bis Paula Beer wird in Lesungen und im Kabarett viel einschlägige Prominenz aufgeboten, und in der Abteilung „Neuer Zirkus“ begegnen wir (auch) veritablen Choreographien, die eine Abgrenzung zum Tanztheater mitunter schwierig machen. Die Neue Philharmonie Westfalen spielt am 16. Mai Mahlers Fünfte, „Tod in Venedig“ – wie auch sonst – ist die Veranstaltung überschrieben. In der Kunsthalle sind Arbeiten von Angela Ferreira zu sehen, die Rede zur Eröffnung am 3. Mai hält die Schriftstellerin Anne Weber. Es gibt reichlich.

Mit allen Einzelheiten findet man das Programm, wie stets, im Programmheft oder im Internet: www.ruhrfestspiele.de




Höhepunkt zur Halbzeit – Angela Winkler und Joachim Meyerhoff begeistern das Publikum der Ruhrfestspiele

Angela Winkler und Joachim Meyerhoff in „Eurotrash“ (Foto: Fabian Schellhorn/Ruhrfstspiele)

Ja, was soll man sagen? Das Publikum im restlos ausverkauften Großen Haus war begeistert vom Stück, spendete stehend anhaltenden Applaus, und die anschließenden Publikumsgespräche im Foyer, so man ihrer in Fetzen teilhaftig werden konnte, waren gespickt mit Superlativen: großartig, grandios, einzigartig, einmalig.

Gemeint war damit in erster Linie sicherlich die Schauspielkunst dieses auf den ersten Blick so bizarren Paares, Sohn und Mutter, Joachim Meyerhoff als Ich-Erzähler Christian Kracht und Angela Winkler als seine alte, desolate Mutter, beide miteinander in Haßliebe verbunden.

Doch steht zu vermuten, daß auch dieser scheinbar so private Stoff die Sympathien des Publikums fand. Mit „Eurotrash“, einem Zweipersonenstück nach dem Roman von Christian Kracht in der Regie von Jan Bosse, haben die diesjährigen Ruhrfestspiele definitiv ihren Höhepunkt erreicht; ziemlich paßgenau zur Halbzeit übrigens, man muß dem Intendanten gutes Timing bescheinigen.

Frauenrollen

Grandios war, wie berichtet, der Auftakt mit „Sibyl“ von dem südamerikanischen Vielfachtalent William Kentridge. Bemerkenswert war auch „Bros“ von Romeo Castellucci, was zeitgleich im Kleinen Haus gegeben wurde. Eine Woche später folgte im Großen Haus nach etwas Talk und Kabarett „Annette, ein Heldinnenepos“ nach dem Roman von Anne Weber in der Regie von Lily Sykes, eine Produktion des Schauspiels Hannover.

Corinna Harfouch in „Annette, ein Heldinnenepos“ (Foto:Kerstin Schomburg/Ruhrfestspiele)

Immer im Widerstand

Was für ein Leben! Annette Beuamanoir, die es übrigens wirklich gibt und die mittlerweile 98 Jahre alt ist, tritt in ihrer Jugend der Résistance gegen die deutsche Besetzung Frankreichs bei; nach dem Krieg engagiert sie sich im Freiheitskampf der Algerier gegen die französische Kolonialmacht. Die Freiheit kommt, doch es ist die Freiheit der neuen Herren, die weiterhin das Volk terrorisieren. Desillusioniert zieht sich Anne Beaumanoir aus dem politischen Geschehen zurück, arbeitet als Ärztin in der Schweiz. Sie hat große Opfer gebracht, und nach Frankreich kann sie nicht zurück, weil sie dort polizeilich gesucht wird.

Warum spielt Frau Harfouch mit?

Die Lebensgeschichte von Annette Beaumanoir war als Buch ein großer Erfolg. Leider ist es nicht gelungen, ein kongeniales Bühnengeschehen aus dem Stoff zu machen. Als Stück muß man „Annette“ dem mittlerweile häufig vorzufindenden, irgendwie feministisch grundierten Deklamations- und Vorwurftheater zuordnen, das Schauspiel im wörtlichen Sinne weitgehend verweigert. Nun gut, Biographisches kann man ja auch vortragen. Doch leider versäumt es diese Inszenierung, zu pointieren und zu strukturieren. Alles, was Darstellerinnen und Darsteller zu berichten wissen, wirkt irgendwie gleich bedeutend, was besonders in der Algerien-Hälfte nach der Pause ärgerlich ist, weil man sich da in Deutschland nicht so gut auskennt. Ausnahmsweise mal Franzosenbashing („Kolonialherren“), sieht man ja sonst eher selten.

Die jungen Akteure zeigen, was sie können, und das ist, wenn vieles auch verpufft, nicht wenig. Wie sich allerdings Frau Harfouch in diese juvenile Darstellerriege verirren konnte, fragt man sich schon. Weder ist hier eine durchgängige Rolle für eine ältere Bühnenkraft erkennbar, noch wird das Können dieser Ausnahmekünstlerin auch nur ein einziges Mal durch die Inszenierung wirklich abgefordert. Und es reift der Verdacht, daß man sie nur des klangvollen Namens wegen auf die Besetzungsliste genommen hat.

Geld zu verteilen

„Eurotrash“, nur einmal wollen wir noch darauf zurückkommen, bezeichnet übrigens eine Geldanlage der Frau Mama (mit Betonung auf dem zweiten a), mit der sie etliche hunderttausend Franken Gewinn gemacht hat. Und dann ist sie auf die aberwitzige Idee verfallen, das Geld an die zu verteilen, die es gut gebrauchen können. Christian soll ihr dabei helfen. Und immer wieder fragt sich dieser erwachsene, vernünftige Sohn, warum er sich das antut, warum er seine Mama aushält, warum er sie zu einem gesünderen Leben verleiten will, warum er sich kränken und demütigen läßt. Jedes Mal, wenn sie sich treffen, macht ihn die Alte fertig, boshaft, hellsichtig und treffsicher. Aber irgendwie auch so, daß man ihr nicht böse sein kann, sieht man einmal von dem Groll ab, der wohl beiden Protagonisten innewohnt und stärker geworden ist in diesen Jahrzehnten wechselseitiger Mißachtung.

Bitte mehr davon

Es ist ja ein Wunder, daß sie überhaupt noch lebt, ernährt sie sich doch wesentlich von Wodka, Wein und Schmerztabletten, stürzt immer wieder schwer, hat Wunden und Narben im Gesicht. Eigentlich ist sie unmöglich – aber eben auch das Produkt eines konservativen Gesellschaftsmodells der Nachkriegszeit, das für geschiedene, gutbürgerliche Frauen mittleren Alters keine Rolle mehr vorsah – sofern sie nun nicht, wenig qualifiziert, für ihren Unterhalt arbeiten mußten. Daß Mama bei der Scheidung betrogen wurde (mit Kunst), versteht sich fast von selbst. Neben viel Biographie, Slapstick und Tragik ist „Eurotrash“ alles in allem auch ein (ausschnitthaftes) Sittenbild dieser Nachkriegszeit. Ein kluges, menschliches Stück mit glänzenden Darstellern. Man wünschte sich mehr Theater wie dieses, nicht nur in Berlin oder bei den Ruhrfestspielen.

Viel Gutes steht noch auf dem Spielplan

Schluß jetzt mit dem Nacherzählen. Mit „Tao of Glass“, der „Dreigroschenoper“ und Matthias Brandt in „Mein Name sei Gantenbein“ stehen in den nächsten Wochen noch einige Hochkaräter auf dem Theaterprogramm.

Wenn es hier vorwiegend um Sprech- oder bestenfalls Musiktheater ging, so liegt das an den persönlichen Vorlieben des Verfassers. Aus zweiter Hand – das wird jetzt ein arg krummes Sprachbild, aber egal – hörte (!) ich aber auch, daß „Colossus“ von der Stephanie Lake Company großartig gewesen sein soll. Und die Hofesh Shechter Company, die ab 27. Mai „Double Murder“ im Großen Haus spielen und tanzen wird, hat ebenfalls einen guten Ruf. In den kommenden drei Wochen bis 12. Juni, wenn die Ruhrfestspiele enden, gibt es also noch viele gute Produktionen zu sehen und zu hören. Der Blick ins Programmheft lohnt.

www.ruhrfestspiele.de




„Dortmunder U“ im Disco-Rausch: Ausstellung feiert den legendären Club „Studio 54″

Rose Hartman (American, born 1937): Zu Pferde zelebriert Bianca Jagger am 2. Mai 1977 ihren 27. Geburtstag im Studio 54. Auf dieser Aufnahme nicht zu sehen: Ein nackter Mann hielt die Zügel. (Black and white photograph. Courtesy of the artist. © Rose Hartman)

Hört sich doll an: Premiere hatte die Schau in New York, in Toronto fiel sie wegen Corona aus, jetzt ist sie in Dortmund zu sehen – und sonst nirgendwo. Es geht um die legendäre Clubdisco „Studio 54″, deren verbliebene Essenzen nun im „Dortmunder U“ wiederbelebt werden sollen.

Die seinerzeit weltberühmte Kult-Disco an der 54. Straße in Manhattan gab es nur 33 Monate lang, zur Eröffnung im April 1977 kamen Celebrities wie Frank Sinatra, Cher oder auch Donald Trump. Bis zur Schließung im Februar 1980 wogten dort schräge, schrille und rauschhafte Partys mit Stars und Sternchen sonder Zahl. Zu nennen wären beispielsweise Glamour-Gestalten wie Mick und Bianca Jagger, Andy Warhol, Liz Taylor, Michael Jackson, Grace Jones oder Liza Minnelli.

Ausstellungsansicht mit Mode-Beispielen: „Studio54: Night Magic“ (Foto: Roland Baege)

Schrille Mode zur Selbstinszenierung

Stop! Wir müssten nahezu die gesamte damalige Prominenz nennen. In der Ausstellung geben 14 Seiten maschinenschriftliche Gästelisten der Eröffnungs-Nacht eine ungefähre Vorstellung. Sinnlich weitaus eindrucksvoller sind die glitzernden, schillernden Modebeispiele, die damals der Selbstinszenierung auf die Sprünge halfen. Viele Originale aus privaten Kleiderschränken finden sich da, aber auch getreulich Nachgeschneidertes und Entwurfsskizzen. Angesichts etlicher Fotografien oder typischer Relikte und Reliquien (z. B. von Andy Warhol himself gestaltete Eintrittskarten) mag man gleichfalls schwelgen. Es geht ums (Nach)-Erleben, nicht so sehr um eine kritische Würdigung, die eh reichlich verspätet käme. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der Club 1980 wegen Steuervergehen schließen musste und die Betreiber in den Knast kamen.

Christian Piper (German, born 1941) for Fiorucci (Italian, founded 1967): Poster zur Eröffnungs-Nacht im Studio 54, 1977. (Printed color poster. Courtesy of The Estate of Antonio Lopez and Juan Ramos)

Die vom renommierten Brooklyn Museum reich bestückte, von Matthew Yokobosky kundig kuratierte Ausstellung ist natürlich keine gewöhnliche Vitrinenschau, sondern setzt einiges in Gang, um die Atmosphäre jener frühen, wilden Disco-Zeiten aufleben zu lassen – beispielsweise mit zahlreichen Lichteffekten, mit den tanzbaren Hits jener Jahre, Bühnenbildern oder einem Rundum-Erlebnis im „360-Grad-Fulldome“. Besucherinnen und Besucher sollen Tanzlust verspüren und sodann – wenn irgend möglich – in die örtliche Clubszene ausschwärmen, die sich gerade wieder aufzurappeln beginnt.

„Unglaublich divers“ muss es sein

Das „Studio 54″ bestand zwar nur recht kurz, hatte aber weit reichende Lifestyle-Auswirkungen, es stand und steht also für ein gehöriges, in gewissen Kreisen global wirksames Stück Kulturgeschichte. Damals war’s nicht leicht, an den Türstehern vorbeizukommen, für die Dortmunder Disco-Schau braucht’s nur eine (nicht ganz billige) Eintrittskarte – und schon geht es rein ins kuratierte Vergnügen, das als „Night Magic“ umschrieben wird.

Ron Galella (American, born 1931): New York City, Studio 54, „Grease“-Premieren-Party, Andy Warhol und Grace Jones, 1978. (Courtesy of the artist. © Ron Galella)

Jede nachfolgende Zeit liest aus Phänomenen wie dem „Studio 54″ ihre eigenen Schwerpunkte heraus. Die deutsche Ko-Kuratorin Christina Danick, die gemeinsam mit Yokobosky und Stefan Heitkemper (Leiter des „U“) die über 450 Exponate aufs Dortmunder Format gebracht hat, schwärmt mit einer gängigen Formel unserer Tage davon: „unglaublich divers“ sei diese Ausstellung. Alle Leute könnten ihr etwas entnehmen, die Älteren sich in ihre Disco-Jahre zurückversetzen, die Jüngeren mit eigenen Club-Erfahrungen vergleichen. Mode- und Popmusikfans würden ebenso angeregt wie Liebhaber künstlerischer Fotografie. Nicht auf einzelne Stücke komme es hierbei an, sondern auf die Gesamtheit der Atmosphäre. Yokobosky spricht schlichtweg von „Mood“. Und diese Stimmung sollte eben jede(r) selbst erfahren.

„Hedonistisches Paradies“

Tatsächlich war das „Studio 54″ Katalysator und Ausdruck einer damals zeittypischen Befreiung – mit Langzeitwirkung. Normen und Zwänge waren weitgehend aufgehoben: Wenn Leute irgendwie zu den Schönen, Schrillen und Reichen gehörten oder zu ihnen passten, spielten Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung im Club keine Rolle. Nicht zuletzt die Schwulenkultur, seinerzeit noch längst nicht so ausgeprägt wie heute, erhielt hier neue Impulse.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Dortmund setze mit dieser Schau (oder besser: Show) mal wieder alles auf eine populäre Karte – wie 2018/19 mit der in Sachen Besucherandrang und Einnahmen denn doch enttäuschenden „Pink Floyd“-Ausstellung. Doch Kulturdezernent Jörg Stüdemann (er nennt das Studio 54 ein „hedonistisches Paradies“) dämpft allzu hochfliegende Erwartungen. 10.000 Besucher(innen) wären in Ordnung, alles darüber hinaus erfreulich. Allerdings wisse man noch nicht, ob Corona mit der Delta-Mutante einen Strich durch die ganze Rechnung machen werde.

Zusätzlich zur Schau im „U“ werden einige Dortmunder Clubs vom Hartware MedienKunstVerein (HMKV) mit medienkünstlerischen Aktionen bespielt. Unter dem Titel „hello again“ steuert der HMKV auf seiner 2. Ebene im „U“ überdies Impressionen zur lokalen Clubszene bei. Zum umfangreichen Begleitprogramm gehören ferner Cocktail-Mixabende oder DJ-Workshops.

Guy Marineau (French, born 1947): Pat Cleveland on the dance floor during Halston’s disco bash at Studio 54, 1977. (Photo: Guy Marineau / WWD / Shutterstock)

Eine Bühne für den nächtlichen Exzess

Befragt, warum gerade das nicht gar so glamouröse Dortmund die Ausstellung ausrichte, sagt Matthew Yokobosky, die allermeisten Museen wollten sich nicht auf eine solche mutimediale Darbietung einlassen, die der reinen Kunst-Lehre kaum entspreche. Das Dortmunder U sei eine rühmliche Ausnahme. Yokobosky will ja auch keinen Tingeltangel anrichten, sondern eine Synthese aus musealer Würde („dignity“) und aufregenden („exciting“) Elementen. Großen Wert legt er auf zeit- und kulturgeschichtliche Authentizität.

Zwei Jahre haben allein Yokoboskys Recherchen und rund 100 Interviews mit Zeitzeugen gedauert, dabei habe er allmählich herausbekommen, wo die (nunmehr 85) Leihgeber zu finden waren. Der erfahrene Museumsmann erinnert daran, dass das „Studio 54″ in einem vormaligen Opernhaus eingerichtet wurde. Die Menschen tanzten auf der Bühne, in jeder Nacht konnte eine andere Szenerie zur Selbstdarstellung entstehen. Der exzessiven Phantasie waren in diesem Fegefeuer der Eitelkeiten kaum Grenzen gesetzt. Der Ausstellung zum Trotz: Diese Zeiten kommen nicht wieder. Es kommen andere.

„Studio 54: Night Magic“. 26. Juni bis 17. Oktober 2021 im „Dortmunder U“, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Geöffnet Di, Mi, Sa, So 11-18, Do/fr 11-20 Uhr. Montags geschlossen. Normalticket 18,90 €, ermäßigtes Feierabendticket 11,90 €.

www.studio54.dortmunder-u.de

 




Mit Zuversicht durch schwierige Zeiten: Neue Leitung fürs Dortmunder Szene-Theater „Fletch Bizzel“

Neues Leitungsduo des Theaters „Fletch Bizzel“ in Dortmund: Cindy Jänicke und Till Beckmann. (Foto: Marcel Richard)

Mutig, mutig! Wer in diesen Tagen und Wochen ein Theater übernimmt, muss schon einige Zuversicht aufbringen. Die blanke Nachricht: Die Geschicke der Dortmunder Szene-Bühne „Fletch Bizzel“, seit rund 40 Jahren von Horst Hanke-Lindemann betrieben, gehen in jüngere Hände über. Cindy Jänicke und Till Beckmann werden das Haus offiziell ab 1. Februar leiten, das angestammte Team bleibt zum Teil dabei. Und was soll sich inhaltlich ändern?

Nun, die beiden „Neuen“, die schon reichlich Bühnenerfahrungen mitbringen, können auf einem soliden Fundament aufbauen. Die Ära Hanke-Lindemann ist eine dauerhafte Erfolgsgeschichte, der scheidende Spiritus Rector hat u. a. auch populäre Formate wie den Alternativ-Karneval „Geierabend“ oder das Kabarett/Comedy-Festival „Ruhrhochdeutsch“ entwickelt. Das 1979 gegründete „Fletch“, wie es häufig abgekürzt wird, genießt weit über Dortmund hinaus einen guten Ruf.

Auf solchen Lorbeeren wollen sich Cindy Jänicke und Till Beckmann jedoch nicht ausruhen. Bei einer Online-Pressekonferenz sprühten sie heute geradezu vor Ideenfülle. Die Präsentation geriet vielfach zum Namedropping aus der freien Szene. Wer da alles nach Dortmund kommen soll! Aus vielen Ecken und Enden der Republik (und darüber hinaus) sollen offenbar immer wieder andere, meist junge Leute ans Haus geholt werden, um neue Impulse zu setzen. Durch wechselvolle Berufs-Biographien (siehe Stichworte im Anhang) ist das neue Leitungsduo bestens vernetzt. Das dürfte sich auszahlen.

Hochkarätige „Spielkinder“

Mit den bisherigen Stücken wird „Tabula rasa“ (Till Beckmann) gemacht, sie verschwinden aus den Programmen. Till Beckmann stammt aus einer ausgesprochenen Schauspiel-Familie, die daraus hervorgegangene Truppe „Die Spielkinder“ bringt er mit ans „Fletch Bizzel“. Das lässt einiges erwarten: Zu dieser familiär zentrierten Gruppe gehören nämlich u. a. die in der deutschsprachigen Theaterwelt hochrenommierten Schwestern Maja Beckmann und Lina Beckmann sowie die Brüder Nils und just Till – mitsamt weiteren „Spielkindern“.

Pläne und Projekte betreffen u. a. Texte des Schriftstellers Ralf Rothmann („Milch und Kohle“ etc.) oder eine Art Talk-Reihe unter dem Motto „Strictly local“, die aktuelle Dortmunder und Ruhrgebiets-Themen schnell aufgreifen soll. Gemeinsam mit der journalistischen Recherche-Instanz „Correctiv“ will man ein neuartiges Format entwickeln, bei dem möglichst investigativ aufgeschlüsselte Themen zur Bühnenreife gelangen – vielleicht ein Wegweiser für bislang ungeahnte journalistische Ansätze?

Vielversprechend klingt auch ein Projekt über den windigen Revier-Unternehmer und Benzin-Tycoon Erhard Goldbach (Marke „Goldin“), der vor allem in den 1950er und 60er Jahren Furore machte. Daraus könnte ein handfester Wirtschafts-Krimi mit viel Regionalkolorit werden.

Schnell auf Entwicklungen reagieren

Hinzu kommen beispielsweise digital eingeleitete „Video Walks“ durch die Gefilde der Stadt sowie zahlreiche Workshops und Produktionen in den Bereichen Tanz und Musik. Auch die bildende Kunst wird nicht ausgespart, schließlich gibt es ja eine eigene kleine Galerie. Kurzum: Eigentlich haben die Neuen dermaßen viel vor, dass man schon beinahe fragen müsste, was sie denn n i c h t machen wollen…

Till Beckmann freut sich, dass das „Fletch Bizzel“ gleichsam ein „kleines wendiges Boot“ im Kulturbetrieb sei und rasch auf Entwicklungen reagieren könne. In diesen Zeiten äußerst ratsam: Stets werde man zusätzlich „einen Plan B und einen Plan C haben“. Nur ein Beispiel: „Wenn das Wetter es zulässt, werden wir auch draußen spielen.“

Geradezu Ehrensache, dass auch neues Publikum ins Haus geholt werden soll, nämlich möglichst junge Leute und gerne Migrantinnen und Migranten. Überhaupt hat sich die neue Leitung zum Ziel gesetzt, personell und programmatisch „divers“ (also vielfältig) zu agieren – eine ähnliche Leitlinie übrigens, wie sie die junge Intendantin des städtischen Schauspiels, Julia Wissert, für ihren Wirkungsbereich vorgezeichnet hat. Till Beckmann spricht denn auch mit größtem Respekt von Frau Wissert. Sie sage so kluge Dinge, dass er am liebsten ständig mitschreiben wolle. Er mag’s halt enthusiastisch.

Horst Hanke-Lindemann ergänzt aus langjähriger Erfahrung: Früher habe es noch große Unterschiede zwischen Stadttheater und freier Szene gegeben, inzwischen wachse da manches zusammen und mische sich.

Gründlicher Umbau des Hauses

Hanke-Lindemann, der beim „Geierabend“ und bei „Ruhrhochdeutsch“ noch aktiv bleiben will, wird auch weiterhin dem Trägerverein des „Fletch Bizzel“ angehören, aber keinesfalls in künftige Programm-Planungen eingreifen. „Man muss loslassen können.“ Die neue Leitung solle in Ruhe arbeiten und Dinge entwickeln.

Auch baulich tut sich unterdessen beim „Fletch“ im Dortmunder Klinikviertel (Humboldtstraße 45) eine ganze Menge. Dank verschiedener Fördermittel und in enger Absprache mit dem Vermieter entstanden und enstehen beispielsweise neue Büros, eine neue Sound-Anlage und vor allem eine avancierte Luftfilterung, die zumal mit Aerosolen klarkommen soll. Die Theaterleute rechnen vorsichtshalber damit, dass Corona uns alle noch auf Jahre hinaus beschäftigen könnte – zumindest als Thema.  Für alle nötigen Umbauten, so Hanke-Lindemann, werde man indes auch Sponsoren brauchen. „Mit 100.000 Euro kommen wir da insgesamt nicht aus.“

Und wann geht’s wieder los mit dem Spielbetrieb? Am liebsten Mitte April mit der ersten Premiere. Doch das weiß noch niemand so genau. Sagen wir’s mal mit dem alten Spruch: „Demnächst in diesem Theater…“

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Stichworte zur beruflichen Vita des neuen Leitungsduos

Till Beckmann: Geboren 1985 in Recklinghausen, aufgewachsen in Wanne-Eickel (Herne) und Dortmund. Ab 2006 „theaterkohlenpott“ in Herne. Literaturstudium an der Ruhr-Uni Bochum. Gastspiele u. a. bei der Ruhrtriennale, den Ruhrfestspielen, den Duisburger Akzenten und am Schauspiel Essen. Drehbuchautor für Adolf Winkelmanns Kinofilm „Junges Licht“. Regisseur beim „Geierabend“. Außerdem „Pangalaktisches Theater“ (Figuren- und Maskenspiel).

Cindy Jänicke: Dramaturgin, Theaterpädagogin und Kulturmanagerin, u.a. mit Stationen an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, Schauspielhaus Wuppertal, Zürich und Stuttgart. Unter Dieter Dorn Gründung und Leitung des Jungen Schauspiels in München. Produzentin internationaler Projekte im Tanztheater. Weitere Theater-Tätigkeiten in Harare (Simbabwe), Kampala (Uganda) und Tansania. Kommt jetzt mit ihrer Familie aus Flensburg nach Dortmund.




Museum Folkwang: Auf ein Neues mit Kippenberger, Fotokunst, Tanzdynamik und Filmskizzen

Ausstellungs-Teilansicht von Martin Kippenbergers raumgreifender Installation „The Happy End of Franz Kafka’s Amerika“ (hier 2008/2009 im MOCA Grand Avenue – Courtesy of The Museum of Contemporary Art, Los Angeles / Foto: Brian Forrest)

Es hätte fürs Museum Folkwang alles so gut geraten können. Das Jahr 2020 ließ sich geradezu prächtig an. Museumsdirektor Peter Gorschlüter blickt etwas wehmütig auf diese Zeit zurück: Die publikumsträchtige Aktion des durchgehend freien Eintritts konnte verlängert werden, das Essener Haus wurde derweil zum „Museum des Jahres“ erkoren – und schließlich wuchsen die Chancen auf ein Bundesinstitut für Fotografie in der Revierstadt.

Seit Corona regiert das Prinzip Hoffnung

Doch dann kam Corona. Man musste ab 16. März schließen und konnte auch nach Wiedereröffnung im Mai bei weitem nicht an vorherige Besucherzahlen anknüpfen. Jetzt sind die Museen bekanntlich wieder zu und müssen sich ans Prinzip Hoffnung halten – oder soll man sagen: klammern? Gorschlüter betont, noch sei das Museum Folkwang in einigermaßen komfortabler Lage und er selbst guter Dinge. Er wisse aber, dass viele andere Museumsleute bereits zu kämpfen hätten.

So weit die getrübte Rückschau nebst Ausblick zwischen Hoffen und Bangen. Doch viel lieber ließen die Essener Museumsleute auf der heutigen Video-Jahrespressekonferenz wissen, was sie für 2021 vorhaben. Neben Gorschlüter stellten die Kurator(inn)en Tobias Burg (Grafische Sammlung), Anna Fricke (Zeitgenössische Kunst) und Thomas Seelig (Fotografische Sammlung) ihre Pläne vor. Tatsächlich versprechen erste Einblicke ein durchaus spannendes Programm.

Installation von der Größe eines Sportplatzes

Martin Kippenberger in seiner Kafka-Installation – im Museum Boijmans Van Beuningen, 1994 (© Cees Kuiper/Rotterdams Dagblad)

Schon der Auftakt hat es in sich: Martin Kippenberger (1953-1997), in Dortmund geborener und in Essen aufgewachsener Künstler von bleibender Bedeutung, wird in großem Stile präsentiert. Im Museum Folkwang wird seine ungeheuer raumgreifende Installation „The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika'“ zu sehen sein. Kippenbergers Werk von der Ausdehnung eines Sportplatzes bezieht sich aufs Schlusskapitel von Kafkas Roman „Der Verschollene/Amerika“. Natürlich handelt es sich nicht um bloßen Kafka-Nachvollzug, sondern um eine Adaption aus der ganz spezifischen Perspektive Kippenbergers, der in seine Installation etliche Werkelemente befreundeter Künstler(innen) sowie zahlreiche Fundstücke eingearbeitet hat. Die insgesamt 50 Ensembles aus Tischen und Stühlen dürften tatsächlich so etwas wie eine „kafkaeske“ Atmosphäre erzeugen. Imaginiert ist das Ganze als Raum für viele gleichzeitige „Einstellungsgespräche“. Es geht um die verstörende Erfahrung einzelner Menschen, die sich einer fremden Gesellschaft gegenübersehen. Aber bitte das Thema nicht bruchlos eins zu eins nehmen. Bei Kippenberger sind stets einige Doppelbödigkeiten, Denk- und Blick-Fallen zu gewärtigen.

Zeitgleich werden in der altehrwürdigen Bibliothek der Essener Villa Hügel die vor zuweilen frecher Schaffenslust geradezu sprühenden Künstlerbücher Kippenbergers gezeigt – welche Kontraste sind da zu erwarten! Im Obergeschoss, wo sich die gediegenen Wohnräume des Krupp-Palastes erstrecken, sollen ausgewählte Plakate Kippenbergers gleichfalls eine völlig gegenläufige Dimension eröffnen.

Beide Kippenberger-Präsentationen sollen am 7. Februar 2021 starten und bis 2. Mai dauern – ob und ab wann mit physisch anwesendem Publikum, steht noch dahin.

Zwei Generationen der Fotografie

Auch schon am 19. Februar wird eine Folkwang-Retrospektive zum Werk des Fotografen Timm Rautert (Jahrgang 1941) beginnen. Anhand von rund 350 Arbeiten soll das vielfältige Oeuvre des einstigen Schülers von Otto Steinert aufgeblättert werden. Ab 25. Juni schließt sich ein Überblick zum fotografischen Schaffen von Tobias Zielony (Jahrgang 1973) an, der einer ganz anderen Generation angehört und sich vor allem auf die Spuren neuerer Jugend(sub)kulturen geheftet hat.

Tobias Zielony: „Make Up“, 2017. Fotografie aus der Serie „Maskirovka“ (Pigmentdruck, 70 x 105 cm / Courtesy KOW, Berlin / © Tobias Zielony)

Grenzen der künstlerischen Disziplinen soll ab 13. August die Schau „Global Groove. Kunst, Tanz, Performance und Protest“ überschreiten. Im Fokus steht die tänzerische Bewegung als Triebkraft politischer, kultureller und lebensweltlicher Veränderungen. Zugleich wird die wechselvolle Kulturgeschichte der Kontakte zwischen fernöstlichen und westlichen Ausdrucksformen des Tanzes erzählt.

Was Fellini zu seinen Filmen zeichnete

Federico Fellini: „Die Marktfrauen auf Rädern“, um 1972 (Faserstift-Zeichnung zum Film „Amarcord“ – Sammlung Jakob und Philipp Keel / © VG Bild-Kunst, Bonn, 2020)

Bildende Kunst, Literatur (Kafka), Fotografie und Tanz hätten wir also schon beisammen. Was fehlt? Nun, zum Beispiel der Film. Auch hierzu gibt es ein interessantes, gattungsübergreifendes Projekt: „Federico Fellini. Von der Zeichnung zum Film“ (ab 12. November 2021) beleuchtet ein bislang wenig beachtetes Kapitel im Werk des ruhmreichen Regisseurs der Opulenz. Fellini hat zahllose Skizzen angefertigt, um sich Typen, Figuren, Kostümierungen und Szenarien seiner Lichtspiele besser vorstellen zu können. Gar manches diente als mehr oder weniger direkte Vorlage für die filmische Umsetzung. Etwa 150 Zeichnungen (dazu Standbilder und Filmausschnitte) aus den Jahren 1950 bis 1982 werden gezeigt, karikaturistischer Gestus und pralle Sinnlichkeit gehen dabei fruchtbare Verbindungen ein. Und was wird Fellini wohl bei seinen Frauendarstellungen besonders betont haben? Dreimal dürfen wir raten.

Museum Folkwang. Museumsplatz 1 in 45128 Essen.

www.museum-folkwang.de

 




Das Motto „Macht und Mitgefühl“ passt immer: Ruhrfestspiele 2020 holen bewährte Produktionen nach Recklinghausen

Szene aus Anne Teresa De Keersmaekers Choreographie „Rain (live)“. (Foto: Anne Van Aerschot / Ruhrfestspiele)

„Macht und Mitgefühl“ lautet das Motto der diesjährigen Ruhrfestspiele, und das kann einfach nicht falsch sein. Egal, was folgt, die Überschrift paßt immer. Doch da Festival-Chef Olaf Kröck nun sein Programm präsentierte, wissen wir es genau. In summa sind es 90 Produktionen, die in 220 Veranstaltungen vorgeführt werden, in 13 Abteilungen von Schauspiel bis Kabarett. Vieles ist naturgemäß recht klein (die Kleinkunst zum Beispiel), und deshalb richten wir den Blick weitaus lieber auf das Große im Programm, traditionell also das Theater.

Lars Eidinger als Peer Gynt (Foto: Christiane Rakebrand / Ruhrfestspiele)

Einiges aus Berlin

Fünf hochwertige Produktionen hat man allein in Berlin eingekauft: Yasmina Rezas „Drei Mal Leben“ und Peter Handkes „Selbstbezichtigung“ beim Berliner Ensemble, René Polleschs „Number Four“ und Cervantes’ „Don Quijote“ beim Deutschen Theater, Ibsens „Peer Gynt“ (oder das, was davon noch übrig blieb) bei der Schaubühne. Jenen Peer Gynt, um kurz dabei zu bleiben, gibt der Bühnen-Exzentriker Lars Eidinger in einem Einpersonen-Projekt des ebenfalls recht exzentrischen Künstlers John Bock. Das wird lustig. Und „Don Quijote“ geht in einer Fassung von Jakob Nolte als Zweipersonenstück mit Ulrich Matthes und Wolfram Koch über die Bühne.

Szene aus „Tao of Glass“ von Philip Glass und Phelim Mc Dermott. (Foto: Tristram Kenton / Ruhrfestspiele)

Philip Glass

„Deutschlandpremiere“ immerhin darf unter zwei Produktionen stehen: „Tao of Glass“ entsteht als Koproduktion mit dem Manchester International Festival und befaßt sich irgendwie mit Kreativität; Phelim McDermott und Philip Glass werden als Väter dieser Produktion genannt, und da Letzterer ein weltberühmter Schöpfer von Minimalmusik ist, sehen wir der Sache mit Interesse entgegen.

Peter Brook

Außerdem ist Peter Brook wieder mit von der Partie. Zusammen mit Marie-Hélène Estienne hat der 95-Jährige, wie im Vorjahr auch, für das Théâtre des Bouffes du Nord in Paris ein Stück verfaßt. „Why?“ heißt es, fragt nach Sinn und Grund für das Theater und wird, so viel ist sicher, von der großen Peter-Brook-Fangemeinde hymnisch gepriesen werden. Premiere schließlich, das paßt jetzt ganz gut hier hin, hat ein „Zerbrochener Krug“ vom Schauspiel Hannover. Man sieht: Das Motto „Macht und Mitgefühl“ trifft es immer.

So oder so ähnlich soll es in der Recklinghäuser Kunsthalle demnächst aussehen: „Womb Tomb (Thema Active), 2015″ von Mariechen Danz. (Foto: Paula Winkler / Courtesy: Mariechen Danz und Wentrup Galerie / Ruhrfestspiele)

Mariechen Danz

Beim Tanz fällt die Choreographie „Rain (live)“ von Anne Teresa De Keersmaeker ins Auge, die seit einiger Zeit schon in der Hamburger Kampnagel-Fabrik gesehen werden kann.

Genderneutral

Drei Produktionen des Festivals, eine davon vom Rapper Robozee, variieren Strawinskys „Le sacre du printemps“, und die Bildende Kunst in der Recklinghäuser Kunsthalle kommt von Mariechen Danz, die sehr ansprechend Körper und Räume in Beziehung setzt. Übrigens glaube ich fest, daß der Name der Künstlerin ein Künstlername ist, der sich vom karnevalistischen (und politisch ganz bestimmt höchst unkorrekten) Befehl „Marieche, danz“ (hochdeutsch: (Funken-) Mariechen, tanz!) ableitet. Ist bestimmt ironisch gemeint, sonst hätten Kröck und die Seinen diese Künstlerin nicht einladen dürfen, war ihre Programmvorstellung doch bis weit über die Grenzen der Peinlichkeit hinaus von dem Bestreben geprägt, „genderneutrale“ Sprache mit besonderer Berücksichtigung der weiblichen Wortformen zu pflegen.

Mehr Unverwechselbarkeit wäre schön

„Kinder- und Jugendtheater“, „#Jungeszene“ (mit Hashtag), „Neuer Zirkus“, „Figurentheater“ und mit Einschränkungen „Für alle“ – viele Abteilungen wenden sich dezidiert an ein junges Publikum, was für sich genommen nicht zu kritisieren ist.  Weitere künstlerische Ansprüche des Festivals sind allerdings kaum auszumachen. Hier wurde zusammengekauft, was gut und teuer, meistens aber auch nicht ganz taufrisch ist.

Eigenproduktionen gibt es nicht, die Kooperationen sind eher finanzielle Beteiligungen. Etwas mehr Unverwechselbarkeit würde den Ruhrfestspielen nicht schaden. Immerhin aber bleibt der Trost, daß man demnächst nicht immer nach Berlin (oder nach Bochum) fahren muß, um gutes Theater zu sehen.

www.ruhrfestspiele.de




Kollektiv ohne Erbarmen: Der MiR Dance Company gelingt in Gelsenkirchen ein eindrucksvoller Einstand

Die MiR Dance Company tanzt „Le Sacre du Printemps“ in der Fassung von Uri Ivgi und Johan Greben. Die Choreographen interessieren sich dabei vor allem für gruppendynamische Prozesse in einer scheinbar ausweglosen Situation (Foto: Bettina Stöß)

Von einer archaischen, vor-zivilisatorischen Gesellschaft ist zumeist die Rede, wenn es um Igor Strawinskys Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ geht. Dieses Frühlingsopfer ist ein Fest heidnischer russischer Stämme: ein barbarisches Ritual, das ein Menschenleben fordert, um die Natur gnädig zu stimmen.

Nach Vaslav Nijinsky, Choreograph der im Tumult endenden Uraufführung 1913 in Paris, inspirierte Strawinskys explosiv rhythmische Musik viele Künstler zu immer neuen, teils Maßstäbe setzenden Fassungen: Mary Wigman (1957), Maurice Béjart (1959) und Pina Bausch (1975) sind nur einige von ihnen. In der Gegenwart versuchten sich Sasha Waltz (2013) und Mario Schröder (2018) an dem nur halbstündigen, aber schwergewichtigen Ballett-Dinosaurier.

Im Gelsenkirchener Musiktheater ist das „Sacre“ jetzt im postzivilisatorischen Gewand zu sehen. Das israelisch-niederländische Choreographenduo Uri Ivgi und Johan Greben sperrt die Natur aus, die Tänzer dafür aber in einen düsteren Bunker ein. Vergitterte Luken in Bodennähe verweisen auf unterirdische Kerker. In der Rückwand klafft ein großer Riss, als habe das Gebäude unter Beschuss gestanden. Dahinter zeigt sich keine Welt, sondern nichts als ein paar lose Kabel, Rauch und Dunkelheit (Bühne: Karol Dutczak). Claude Debussys spöttisches Bonmot vom „Massacre du Printemps“ bekommt hier eine neue Bedeutung.

Die Tänzerinnen und Tänzer der MiR Dance Company demonstrieren im Sacre ekstatische Hingabe. (Foto: Bettina Stöß)

Das liegt auch an der MiR Dance Company, der mit diesem Strawinsky-Abend ein höchst eindrucksvoller Einstand gelingt. Gelsenkirchens neuer Ballettchef Giuseppe Spota hat eine Gruppe von Tänzern formiert, die starke individuelle Qualitäten haben, aber auch im Kollektiv fantastisch funktionieren. Im „Sacre“ verschmelzen sie zu einer Masse Mensch, die das Fürchten lehrt. Sie rollen zu Haufen übereinander, branden in verzweifelten Fluchtversuchen die Wände hoch wie das Meer an den Klippen.

Endzeitstimmung macht sich breit. Die Gruppe sucht Sicherheit im Ritual, ist in Wahrheit aber orientierungslos und panisch. Immer wieder sieht sich der Einzelne plötzlich einem feindseligen Kollektiv gegenüber. Da werden Schultern und Ellbogen ausgefahren, da werden Menschen am Hals gepackt, da wird dem Individuum kein Platz gegönnt.

Das Opfer ist bei Ivgi/Greben keine Frau, sondern ein Mann. Zu Tode tanzt sich in dieser Fassung niemand. Gleichwohl kommt es zu einem erbarmungslosen Showdown. Unterstützt von der Neuen Philharmonie Westfalen, die sich unter der Leitung von Giuliano Betta sehr ehrbar durch diesen Hexenkessel komplexer Rhythmen schlägt, begeistert die MiR Dance Company durch ekstatische Hingabe und eine nachgerade gewaltbereit wirkende Körpersprache, die der absichtsvollen Rohheit der Partitur in nichts nachsteht.

Streng ritualisiert sind die Hochzeitsrituale in Strawinskys „Les Noces“. Die MiR Dance Company tanzt eine Choreographie von Mario Bigonzetti. (Foto: Bettina Stöß)

Im ersten Stück des Abends hingegen halten die Rituale der Enthemmung noch Stand. Strawinsky beschreibt in „Les Noces“ abstrakte Hochzeitszeremonien, untermalt von vier Klavieren, vier Gesangssolisten, einem Chor und viel Schlagwerk. Mario Bigonzetti zeichnet in seiner Choreographie eindringlich scharfe Bilder von der Beziehung der Geschlechter. Ein langer Tisch oder Laufsteg trennt die Sphäre der Männer von der der Frauen. Metallgestelle, die wie niedrige Hocker mit hoher Rückenlehne aussehen, engen die Körper ein (Bühne: Fabrizio Montecchi). Die MiR Dance Company zeigt einerseits formelhafte Erstarrung und Unterdrückung, andererseits Verlangen und feurige Leidenschaft.

(Informationen und Termine: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2019-20/les-noces-sacre/)




Fünf gute Feen und ein Pferd: Ballettchef Van Cauwenbergh zeigt im Aalto-Theater ein Dornröschen mit viel Zuckerguss

Yanelis Rodriguez als Prinzessin Aurora in „Dornröschen“ von Ben Van Cauwenbergh (Foto: Hans Gerritsen)

Da steht sie, rosahell und lächelnd, auf der Spitze ihres rechten Fußes. Das linke Bein waagerecht weg gestreckt, die Arme über den Kopf erhoben. Vier Kavaliere reichen ihr nacheinander eine Hand, drehen sie einmal um die eigene Achse, lassen dann wieder los.

Aber eine Primaballerina wird nicht umsonst Primaballerina. Kein zitternder Muskel, nicht die leiseste Bewegung im Knöchel verrät die Anstrengung, die es Yanelis Rodriguez kosten muss, der Schwerkraft zu trotzen und das gesamte Körpergewicht auf der Zehenspitze zu halten. Am Essener Aalto-Theater tanzt die Kubanerin jetzt die Hauptrolle in Tschaikowskys Ballettklassiker „Dornröschen“, mit dem Ballettchef Ben Van Cauwenbergh in einer zweieinhalbstündigen Fassung nach Marius Petipa „sein Publikum verwöhnen“ möchte. So hatte es der Belgier bereits in der Pressekonferenz zur aktuellen Spielzeit angekündigt.

Yanelis Rodriguez (Prinzessin Aurora) und Artem Sorochan (Prinz Désiré) in „Dornröschen“ (Foto: Hans Gerritsen)

Was er darunter versteht, war bei der Premiere am letzten Samstag zu erleben: eine Flut glitzernder Tutus und prachtvoller Kostüme, eine zum Applaus einladende Nummernfolge von Tänzen, funkelnde Kronleuchter und große Vorhänge sowie Ballettmädchen, die bogenförmige Festgirlanden schwenken. Das Bühnen-Halbrund von Dorin Gal wird dominiert von Videoprojektionen (Valeria Lampadova), die surreale Landschaften des deutschen Malers Hans-Werner Sahm zitieren: Fantasy-Welten, die einem Wolkenkuckucksheim zwischen Neuschwanstein und Disneyland entsprungen scheinen.

Auch das aufgebotene Personal ist erheblich. Es tanzen sechs Feen, vier Kavaliere, zwei Liebespaare, zwei blaue Vögel, ein Frosch, ein Koch, eine Dienerin, zwei Katzen, König und Königin und die gesamte Jagdgesellschaft, die ein paar echte Vierbeiner mit sich führt (vier Hunde und ein Pferd). Dazu die Schülerinnen des Gymnasiums Essen-Werden, von denen Laura Kubicko als junges Dornröschen sogar mit einem kleinen Solo glänzt.

Yuki Kishimoto und Davit Jeyranyan im Pas de deux „Blauer Vogel“ (Foto: Hans Gerritsen)

Auf das tänzerische Können seiner Compagnie, vor allem der Solistinnen und Solisten, kann Essens Ballettchef sich selbstredend verlassen. Im berühmten Pas de deux „Blauer Vogel“ faszinieren Davit Jeyranyan durch athletische Sprungkraft und Yuki Kishimoto durch virtuose Anmut. Adeline Pastor entwickelt als böse Fee Carabosse eine ausdrucksstarke Körpersprache. Flankiert von den fünf guten Feen, den vier Kavalieren und den tierischen Märchenfiguren, brillieren Yanelis Rodriguez in der Hauptrolle und Artem Sorochan als Prinz Désiré.

Von einer psychologischen Tiefendimension, wie sie fast allen Märchen eigen ist, will diese Produktion indes nichts wissen. Statt einen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele zu riskieren, statt von den Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens und dem damit verbundenen Hereinbrechen der Sexualität zu erzählen, konzentriert sich Cauwenberghs hochglänzender Bilderreigen auf den Oberflächenlack. Indessen ist der Orchesterklang der Essener Philharmoniker schwärmerisch bis imperial, aber erholsam schmalzfrei. Nach der musikalisch großartig gelungenen „Pique Dame“ punkten die Musikerinnen und Musiker, hier unter der Leitung von Andrea Sanguineti, erneut mit noblen Tschaikowsky-Qualitäten.

Da dauert es nicht lange, bis eine Sitznachbarin die Melodie des berühmten Dornröschen-Walzers mitsummt. Auf dem mit Zuckerfee-Süße übergossenen Gipfel der Gefälligkeiten verfällt das Premierenpublikum in ein Entzücken, das sich beim Auftritt der vier Hunde und des Pferdes seufzend Bahn bricht. Haaaaaach, ist das schön.

Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.

Informationen: https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/dornroeschen/

Tickets Tel. 0201/ 81 22 200.




Neue Ballettchefin Marguerite Donlon spürt in Hagen dem Mythos Frida Kahlo nach

Frida Kahlo gilt als Ikone der Frauenbewegung: stark, unabhängig, politisch aktiv, sexuell selbstbestimmt. Selbstbewusst bewegt sie sich als Künstlerin zwischen volkstümlich inspirierter Malerei, indigener Symbolik, wagemutigem Surrealismus und reflektierter Selbstinszenierung: eine moderne Figur, die sich selbst erschafft.

Luis Gonzalez und Sara Pena als Diego Rivera und Frida Kahlo. Foto: Oliver Look

Luis Gonzalez und Sara Pena als Diego Rivera und Frida Kahlo. Foto: Oliver Look

Aber sie war auch eine Frau, die unendlich gelitten hat, an Kinderlähmung, an den Folgen eines grauenvollen Unfalls, an beinahe 30 Operationen und an schmerzhaft eingeschränkter Körperlichkeit. Ihren Liebesaffären mit Menschen gleich welchen Geschlechts tat das keinen Abbruch – auch diese von Moral und Gesellschaft unbeeinträchtigte erotische Freiheit lässt sie für uns so zeitgenössisch erscheinen. Zu den Büchern, Theaterstücken und Filmen über Frida Kahlo tritt nun im Theater Hagen der Tanz: Marguerite Donlon gibt mit dem 75-Minuten-Abend „Casa Azul“ ihren Einstand als neue Ballettdirektorin.

Die neue Ballettdirektorin am Theater Hagen, Marguerite Donlon. Foto: Werner Häußner

Die neue Ballettdirektorin am Theater Hagen, Marguerite Donlon. Foto: Werner Häußner

Es ist eine Choreografie, die 2009 bereits am Saarländischen Staatstheater Saarbrücken Premiere hatte und anschließend bis 2012 auf Gastspielen in Europa und Asien höchst erfolgreich gezeigt wurde. Ein rundweg gelungenes Werk, denn die gebürtige Irin erliegt nicht der Versuchung, Kahlos Leben in hübschen Bildern nachzuerzählen. Sie versucht zu überwinden, wo die oberflächliche Rezeption hängenbleibt: bei der Pop-Künstlerin und dem feministischen Abziehbild.

Donlons Interesse richtet sich auf die multiple Persönlichkeit der mexikanischen Künstlerin: Drei Tänzerinnen – Noemi Emanuela Martone, Filipa Amorim, Sara Peña – stellen sie, immer wieder auch gleichzeitig, dar. Das Seelenleben zeigt sich in der ausgefeilten Bewegungschoreografie der Körper, das imaginäre, selbstgeschaffenes Gegenüber der Kahlo, aber auch ihre lebensbejahende Fröhlichkeit und ihre äußerlichen Rollen: Frida in der Badewanne, Frida als femme fatale, Frida voll Sehnsucht nach Liebe, Frida als verträumte Künstlerin und als bräutliche Hoheit, Frida mit blutig verletztem Schoß und zum Schluss Frida mit einer Maske, hinter der nur noch der Tod erscheint.

In diesem Spiel mit Camouflage und Entblößung, voll kraftvoller Symbolik, kommt die kreative Aneignung der Gemälde nicht zu kurz. „Die zwei Fridas“ von 1939 werden wörtlich zitiert, das „fliegende Bett“ (1932) hinterlässt seine Spuren, die bunte, ikonenhafte Umkränzung von „Der Rahmen“ (1938) oder auch „Diego und Frida“ (1944) dürften Pate für das Innere der imaginierten „Casa Azul“ gestanden haben. Faszinierend, wie Filipa Amorim im Kleid aus dem Gemälde „Die gebrochene Säule“ (1944) die versehrte, von ihrem Unfall gezeichneten Frau mit ihrem eigenen Körper repräsentiert. Die finale Szene erinnert an „Das Mädchen mit der Totenmaske“ von 1938. Aber die Gemälde sind nicht einfach nur zitiert, sondern in Zusammenhänge verwoben, die von Szene und Tanz entwickelt werden.

Drei Erscheinungsformen derselben Person: Noemi Emanuela Martone, Filipa Amorim und Sara Peña verkörpern Aspekte der Persönlichkeit Frida Kahlos. Foto: Oliver Look

Drei Erscheinungsformen derselben Person: Noemi Emanuela Martone, Filipa Amorim und Sara Peña verkörpern Aspekte der Persönlichkeit Frida Kahlos. Foto: Oliver Look

Das Bühnenbild von Ingo Bracke lässt die Hagener Compagnie in einem strengen, kühlen Raum agieren, den er beziehungsreich auch mit intensiven Farben fluten kann oder als Projektionsfläche für Videos und für Zitate aus den Tagebüchern nutzt. Im Vordergrund rieseln leise Kristalle über ein sanft glühendes Häuschen – die „Casa Azul“, das blaue Haus, in dem Frida Kahlo 1907 geboren wurde und 1954 starb. Das Haus, damals eine Oase des Rückzugs, heute als Museum ein Wallfahrtsort, steht noch einmal größer im Hintergrund der Bühne. Von Kahlos zweifachem Ehemann Diego Rivera aufgeklappt, offenbart es sich als Lebensschrein: Umrahmt von Symbolen aus ihren Gemälden, farbenfrohen Blumen, Bildern, Skulpturen, indigenen Symbolen, sitzt Frida vor einem Spiegel, in weißem, rot geblümtem Kleid und mit ihren von Selbstbildnissen bekannten hoch geflochtenen Haaren.

Hinter der Maske erscheint der Tod: Filippa Amorim ujd Darion Rigaglia in "Casa Azul" in Hagen. Foto: Oliver Look

Hinter der Maske erscheint der Tod: Filippa Amorim ujd Darion Rigaglia in „Casa Azul“ in Hagen. Foto: Oliver Look

Auf diese Weise verknüpfen Ingo Bracke und der Kostümbildner Markus Maas die Bildwelt der Künstlerin mit den Szenen auf der Bühne und mit autobiographischen Assoziationen aus den Gemälden. So vertiefen und deuten sie die psychischen Situationen, die sich im Tanz entfalten. Denn bei aller Bildverliebtheit bleibt Donlons primäres Ausdrucksmittel der Tanz, den sie mit ihren Tänzerinnen und Tänzern eindringlich, ohne akrobatisches Selbstzweck-Gehabe und in expressiver Körperlichkeit ausbreitet, vielfältig gespeist aus Elementen klassischen Balletts und spannungsreichen Ausdruckstanzes bis hin zu pantomimischen Ansätzen und naturalistischen Schauspiel-Skizzen.

Für die fröhlichen Rhythmen von Folklore, verbreiteten mexikanischen Tanzformen und populären Schlagern aus der Zeit Kahlos – teils in historischen Aufnahmen in die Arrangements von Claas Willeke eingearbeitet, teils aus dem Soundtrack des Films „Frida“ von 2002 – entwickelt Donlon auch einmal ein Ensemble ungestüm trivialer Tanzlust; aber die elektronischen Klangwelten, die schwermütigen Tangos und Canciones setzt sie oft in ruhige Gedanken-Figuren der Körper um. Ein Glücksgriff ist Luis Gonzalez, der nicht nur Kahlos zweifachen Ehemann, den Maler Diego Rivera darstellt, sondern live Gesang und Gitarrenmusik beiträgt, zum Teil unterstützt von Alexandre Démont, dessen Cajónes das rhythmische Spektrum reizvoll öffnen. Das Leben als Kunstwerk, Kampf und Lust spiegelt sich in dieser Musik, und Hagen hat einen Ballettabend, der den Besuch lohnt und wohl auch diejenigen überzeugen dürfte, die früheren Tanzhöhepunkten nachtrauern.

Weitere Vorstellungen: 17.11. (18 Uhr); 21.11. (19.30 Uhr); 27.12.2019 (19.30 Uhr); 18.1.2020 (19.30 Uhr); 29.1. (19.30 Uhr); 22.2. (19.30 Uhr); 29.3. (18 Uhr); 18.4. (19.30 Uhr). Karten: (02331) 207 32 18. www.theaterhagen.de




Finsteres Kolonialabenteuer: Ruhrtriennale zeigt szenische Umsetzung von Éric Vuillards Erzählung „Congo“

Faustin Linyekula, Pasco Losanganya und Daddy Moanda Kamono (v.l.) in „Congo“ (Foto: Agathe Poupeney)

An altehrwürdige, unantastbare historische Gegebenheiten glaubt der französische Autor Éric Vuillard nicht. In seinen Romanen und Erzählungen versucht der Schriftsteller, der 2017 den Prix Goncourt erhielt, an starren Bildern zu rütteln, schreibend „die Girlanden vom Baum der Geschichte zu schütteln“, wie er es nennt. Gerne begibt er sich dabei auf die Spuren des Bösen: eigenwillig, bildreich, große historische Momente neu erzählend.

Die jüngste Deutsche Erstaufführung bei der Ruhrtriennale basiert auf Vuillards Erzählung „Congo“. Die Schilderung der blutigen Kolonialvergangenheit des Landes im Herzen Afrikas faszinierte den kongolesischen Tänzer, Choreographen und Regisseur Faustin Linyekula so stark, dass er ein gleichnamiges Stück schuf. Weitgehend im Halbdunkel, zerrissen von gelegentlichen Stroboskopblitzen, setzt er den Text auf der Bühne in der Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord in Szene.

Als Mischform zwischen Schauspiel, Tanz und Performance kündigt die Triennale diese Produktion an. Sie entpuppt sich indes als inszenierte Lesung. Der aus Kinshasa stammende Schauspieler Daddy Moanda Kamono spricht fast drei Viertel des Textes, der eins zu eins aus dem Buch übernommen ist. Insgesamt gibt es drei Darsteller, zwischen denen eine merkliche Asymmetrie entsteht. Linyekulas eigener tänzerischer Anteil und der Gesangspart von Pasco Losanganya wirken gegenüber dem emotionsgeladenen Monolog wie eine Arabeske, wie eine bloße Dekoration des Textes, von dessen Eindringlichkeit sich Linyekula offenbar schwer lösen kann.

Geschichten im Halbdunkel: Pasco Losanganya, Faustin Linyekula und Daddy Moanda Kamono (v.l., Foto: Agathe Poupeney)

Das ist verständlich, bedenkt man die nachgerade filmische Detailbesessenheit, mit welcher der Autor die Berliner Kongo-Konferenz von 1884/85 wiederaufleben lässt. Wie 13 Staatschefs das afrikanische Kolonialgebiet unter sich aufteilen, wie das, was sie zwischen Häppchen und Champagner beschließen, zu einem blutigen Kolonialabenteuer mit bizarren Auswüchsen führt, erzählt Daddy Moanda Kamono mit scharfer Lust an der Ironie, aber auch mit wachsender Wut und resignierter Trauer.

Faustin Linyekula, Pasco Losanganya und Daddy Moanda Kamono (v.l.) erinnern an Gewaltexzesse im Dschungel (Foto: Agathe Poupeney)

Zu sehen gibt es in „Congo“ nicht viel. Ein paar Jutesäcke, einige weiße Tücher und ein niedriger Tisch sind die einzigen Requisiten im leeren Bühnenraum, in dem Beleuchtung, Gesang und die auf Kautschukplantagen aufgenommenen Klänge viel Atmosphäre schaffen. Zu lesen gibt es umso mehr, denn wer Französisch nicht mühelos versteht, klebt zwei Stunden mit den Augen an der Übertitelungsanlage.

Vor ausführlich geschilderten Gewaltexzessen muss sich indes niemand fürchten. Zwar verschweigt Vuillard nicht die im Dschungel begangenen Grausamkeiten, aber oft sind es die scharf nachgezeichneten, bis heute wirksamen Mechanismen von Macht und Gier, die fassungslos machen. Wie konnte es dem belgischen König Leopold II gelingen, ein Territorium als Privatbesitz an sich zu reißen, das achtmal größer war als sein eigenes Land? Wie konnten Staatsmänner und Diplomaten Freihandel und Politik nennen, was in Wahrheit skrupellose Ausbeutung und finsterste Unterdrückung war?

Die Stärke des Abends liegt darin, dass er sich keinesfalls in einer zwei Stunden währenden Anklage erschöpft. „Congo“ zeigt die persönlichen Motivationen, Ängste und Schwächen der Konferenzteilnehmer und Befehlsausführer des Kolonialabenteuers. Vor allem aber kündet das Stück von einer tiefen Liebe zu einem Land, das einst Kongo-Léopoldville und später Zaïre hieß, das von Wald und Fluss ebenso geprägt ist wie von der langen Kette von Heimsuchungen, die aktuell bis zum Bürgerkrieg und dem Ebola-Virus reicht.




Mörderischer Goldschmied, getarnter Zar: Theater Hagen stellt Programm für die Spielzeit 2019/20 vor

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

192 Seiten, vollgepackt mit Programm: Ironisch signalisiert das Theater Hagen mit dem Reclam-Heft-Format seiner Spielzeit-Übersicht 2019/20 wieder Sparsamkeit. Inhaltlich allerdings fächert es den ganzen Reichtum auf, den das in den letzten Jahren arg gebeutelte Haus mit dem Team um Intendant Francis Hüsers aus seinem 18-Millionen-Etat zaubert. Eine bunte Vielfalt tut sich auf, die gleichwohl einige durchgehende Linien sichtbar werden lässt, die sich in den nächsten Jahren in den Spielplänen abzeichnen sollen.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das "Datenheft" des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Ein bisschen Ironie muss sein: Das „Datenheft“ des Theaters Hagen für die Spielzeit 2019/20.

Im Musiktheater schreitet Hüsers vom Schwerpunkt der Romantik in der laufenden Spielzeit weiter in Richtung des Beginns der Moderne: Die Spielzeit eröffnet am 21. September 2019 Paul Hindemiths „Cardillac“, basierend auf dem romantischen Stoff des „Fräuleins von Scuderi“ E.T.A. Hoffmanns, komponiert aber in bewusster Abkehr von romantischer Einfühlung, in einem betont objektivierenden, „neusachlichen“ Stil. Der Stil der Oper, auch als „Bauhausbarock“ bezeichnet, passt zum 100-Jahre-Jubiläum des Bauhauses, das auch in Hagen gefeiert wird.

Den zweiten Schritt in die Moderne signalisiert Richard Strauss‘ „Salome“ ab 4. April 2020, inszeniert von Magdalena Fuchsberger, die in dieser Spielzeit mit Verdis „Simon Boccanegra“ als ambitioniertes Kopftheater für kontroverse Kritiken sorgte. Die Hindemith-Oper ist Jochen Biganzoli anvertraut, der momentan mit seiner Inszenierung von „Tristan und Isolde“ dem Theater Hagen überregionale Aufmerksamkeit sichert.

Mit dem Beginn der Moderne könnte man auch Franz Lehárs „Der Graf von Luxemburg“ verbinden – eine Operette, die wie die „Lustige Witwe“ ironisch mit der Auflösung scheinbar althergebrachter gesellschaftlicher Strukturen und Werte spielt. Roland Hüve inszeniert den Erfolg von 1909, der am 26. Oktober Premiere hat. Als Kontrapunkt zur Operette „Pariser Leben“ in dieser Spielzeit und als Abschluss des Offenbach-Jahres kommt „Hoffmanns Erzählungen“ auf die Hagener Bühne. Susanne Knapp inszeniert die Reminiszenz an die Romantik, die in der Zerrissenheit ihres Helden auch in die Moderne vorausweist; Premiere ist am 30. November. Auch das Ende der Spielzeit im Sommer 2020 hat mit der Moderne zu tun: In Jerry Bocks „Anatevka“ geht auch eine alte Welt unter, die viel mit nostalgischen Träumen zu tun hat, und muss der neuzeitlichen Brutalität organisierter Pogrome weichen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Auf dem Foto (v.l.n.r.): Antje Haury (Orchesterdirektorin), Dr. Thomas Brauers (Geschäftsführer), Marguerite Donlon (Ballettdirektorin), Margarita Kaufmann (Kulturdezernentin), Sven Söhnchen (Aufsichtsratsvorsitzender), Anja Schöne (Leiterin Lutz Hagen), Francis Hüsers (Intendant). Foto: Theater Hagen.

Eine andere Linie, die in dieser Spielzeit mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ (Premiere am 18. Mai) bedient wird, führt Christoph Willibald Glucks „Orfeo ed Euridice“ am 29. Februar 2020 weiter. Kerstin Steeb übernimmt die Aufgabe, in ihrer Inszenierung die Inhalte freizulegen, die eine Oper an der Schwelle der Aufklärung mit unserer Zeit verbindet. Um einen aufgeklärten Herrscher geht es auch in „Zar und Zimmermann“, mit dem am 1. Februar 2020 endlich wieder einmal eine Oper Albert Lortzings in der Rhein-Ruhr-Region zu sehen ist. Denn Zar Peter der Große schleicht sich inkognito in eine niederländische Hafenstadt ein und mischt die kleinbürgerliche Gesellschaft ordentlich auf – alles natürlich versteckt unter harmlosem Gedöns, um die damalige Zensur nicht aufmerksam zu machen.

Neue Ballettdirektorin choreografiert zwei Abende

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Marguerite Donlon, neue Ballettdirektorin am Theater Hagen. Foto: Werner Häußner

Mit Marguerite Donlon tritt in Hagen eine neue Ballettdirektorin ihre Aufgabe an und stellt sich am 5. Oktober mit einem Abend um eine starke Frau vor: „Casa Azul“ nennt die gebürtige Irin Donlon ihren Einstand den sie der mexikanischen Malerin mit deutschen Wurzeln Frida Kahlo widmet – einer Künstlerin, die lange als „exotische Blume am Knopfloch des großen Meisters Diego Rivera“ galt und erst in den Siebziger Jahren im Zuge der Frauenbewegung in ihrer wirklichen Bedeutung erfasst wurde.

Eine weitere Choreografie, die Donlon bereits 2009 in ihrer Zeit als Ballettdirektorin in Saarbrücken entwickelt hatte, bildet den Abschluss der Hagener Ballettabend-Trias: „Schwanensee – Aufgetaucht“ in einer Kombination der Musik Tschaikowskys mit elektronischen Sounds von Sam Auinger und Claas Willeke (Premiere am 9. Mai 2020). Dazwischen, am 13. Februar, zeigen die Tänzer*innen (das Heft ist konsequent mit Sternchen durchgegendert) der Compagnie in kurzen Szenen einer „kreativen Werkstatt“ ihr choreografisches Können. „Substanz“ heißt dieser Abend.

Rock-Shows und sinfonische Neugier

Im Schauspiel setzt das Haus neben einer eigenen Produktion – Shakespeares „Sommernachtstraum“ in der Regie von Francis Hüsers – auf Gastspiele. Im Programm finden sich auch die bewährten Kabrett-Abende sowie als Wiederaufnahme die erfolgreiche Rock-Show „Take a Walk on the Wild Side“, fortgesetzt durch die Neuproduktion „Wenn die Nacht am tiefsten (… ist der Tag am nächsten)“ am 14. März 2020, eine Bühnen-Party, in der nach den amerikanischen Titeln nun deutscher Rock und Punk zu seinem Recht kommt – von den Toten Hosen bis Nena.

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Alexander Krichel spielt Clara Schumanns Klavierkonzert. Foto: Uwe Arens, Sony Classical

Der Blick ins orangefarbene Heft zeigt auch, dass GMD Joseph Trafton mit dem Orchester Hagen ein Programm auflegt, das so gar nichts von verstaubter Abonnenten-Bedienung an sich hat, sondern pfiffig und vielseitig Neugier weckt: Ob eine von Bauhaus-Künstler Wassily Kandinskys Bühnenentwürfen inspirierte Video-Show von Arthur Spirk zu Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“, ein russisches Programm mit dem von Steven Isserlis gespielten Cellokonzert Nr. 2 von Dmitri Kabalewsky oder Robert Schumanns „Das Paradies und die Peri“, ergänzt von „Blue Cathedral“, einem von bisher über 400 Orchestern gespielten Klangpoem der Amerikanerin Jennifer Higdon aus dem Jahr 2000. Orchesterdirektorin Antje Haury bestätigt die Beobachtung: Im sinfonischen Repertoire stehen diesmal viel mehr Werke von Frauen als sonst üblich: Neben dem Klavierkonzert der Jahres-Jubilarin Clara Schumann, gespielt am 19. Mai 2020 von Alexander Krichel, enthalten die Programme Werke von Lili Boulanger, Fanny Hensel-Mendelssohn und Kaija Saariaho.

Das abwechslungsreiche Programm des Kinder- und Jugendtheaters im Lutz, zwei große Vermittlungsprojekte gemeinsam mit dem Orchester, die Gründung einer neuen Jugendtanzgruppe und einer Orchesterakademie zeigen: Das Theater Hagen geht gut aufgestellt in die neue Spielzeit und wirkt mit seinen großen, ambitionierten Produktionen, aber auch mit seinen kleinen ehrgeizigen Projekten hinein in die Stadtgesellschaft.

Info: www.theaterhagen.de




Erinnerungen an die Kohle und ein sehr männliches Tanzprogramm zum Auftakt der Ruhrfestspiele

Gesundes Grünzeug für Künstler und Publikum: Im libanesischen Tanztheaterstück „Beytna“ gab es auch etwas zu essen. (Foto: D. Matvejev/Ruhrfestspiele)

Eine Frau sitzt am Tisch und schneidet Gemüse. Endlos lange tut sie das, und nach einiger Zeit fragt sich wohl jeder im Publikum, warum. Gewiss, der Stücktitel „Beytna“ gibt einen ersten Hinweis: Beytna heißt im Libanon die Einladung in das eigene Heim. Zu essen gibt es dann vielleicht Fatouch, ein traditionelles libanesisches Gericht, für das offensichtlich viel geschnippelt werden muss.

Deshalb die Frau am Küchentisch, welcher, wie man sehen wird, wenn er gedreht wurde, fast so lang ist wie die Bühne breit. Nach gehöriger Wartezeit werden Männer auftreten, einzeln, zu zweit, zu dritt, die in kraftvollen Tanzbewegungen geradezu explodieren, bevor sie wieder von der Bildfläche verschwinden. Dazu spielen vier Musiker auf Oud und Schlagzeug. Mit „Beytna“ startete das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele, gegeben im Großen Haus nach obligatorischer Eröffnungszeremonie und Dichterlesung.

Der neue Intendant der Ruhrfestspiele Olaf Kröck (Foto: Knotan/Ruhrfestspiele)

Judith Schalansky spricht

Gefolgt von flockig vorgetragenen Gruß- und Begrüßungsworten von Bürgermeister und Gewerkschaftsvertreter, einer klugen Rede des Ministerpräsidenten Armin Laschet über die nicht kleinzuredende Bedeutung der Kultur in unserer Zeit samt Ankündigung, die Landesmittel für die Ruhrfestspiele in den nächsten Jahren zu erhöhen, sowie einem etwas zu langen Vortrag des neuen Intendanten Olaf Kröck – kam schließlich die Schriftstellerin Judith Schalansky zu Wort. Ihr letztes Buch heißt „Verzeichnis einiger Verluste“, und methodisch folgerichtig reihte sie in ihrer Eröffnungsrede in diese Liste der Verluste nun den endgültigen Verlust des Kohlebergbaus im Ruhrgebiet ein.

Mythologie und Realität

Auch der Kunst-für-Kohle-Gründungsmythos der Ruhrfestspiele, es ging wohl nicht anders, fand Eingang in ihre Rede. Doch hatte sich, da wurde Fleiß erkennbar, Schalansky auch in der vorindustriellen Geschichte des Reviers umgesehen, Legenden und Spökenkiekerei aufgetan, Geschichten von hellsichtigen Menschen, die Dampflokomotiven ähnliche Drachenmonster schon erschrocken vorahnten lange bevor die erste Schiene lag. Es war dies keine Materialsammlung um ihrer selbst willen, sondern der kluge Versuch, aus Beziehungen zwischen Mythologie und Realität in der Vergangenheit Bestimmungen für das Hier und Jetzt und für eine Zukunft zu erkennen, in der die ungeheuren Umwälzungen durch Kohle und Stahl nurmehr Vergangenheit und mit wechselnden Gewichtsanteilen eben auch Mythologie sein werden.

Ein Schnaps namens „Kumpeltod“

Intelligent, differenziert, streckenweise auch überaus scharfsichtig war diese Rede, der man höchstens den Vorwurf machen könnte, die Schufterei in der Industrie allzu schnell zur heiligen Handlung zu verklären. Immerhin jedoch tauchten auch ernüchternde Kindheitserinnerungen in der Rede der 1980 in Greifswald geborenen Dichterin auf, so die an das Erholungsheim „Glück auf“ auf Usedom, wo die Bergleute der Urangrube „Wismut“ im Erzgebirge Urlaub machten. Schnaps, Bergleute wissen das, schafft etwas Erleichterung bei Silikose; der Deputatschnaps von der Wismut hieß unter den Bergleuten auf Usedom „Kumpeltod“.

Besser stünde hier natürlich das Tanzfoto, das sich wegen eines „HTTP-Fehlers“ aber nicht hochladen ließ. Deshalb kommt jetzt das erwartungsfrohe Publikum ganz groß raus. (Foto: Ruhrfestspiele)

Auch im Tanztheaterstück „Beytna“ – nach der Pause, die ärgerlicherweise um mehr als eine halbe Stunde überzogen wurde – nehmen sie irgendwann einen Schnaps. Dies ist ja ein geselliges Zusammentreffen von Individualisten, auf der Bühne wie auch, wenn man so sagen will, im richtigen Leben. Die Herren aus verschiedenen Ländern, die Omar Rajeh in diesem Stück des „Maqamat Dance Theatre Lebanon“ neben sich versammelt, sind ihrerseits (auch) Choreographen: Koen Augustijnen, Anani Sanouvi, Moonsuk Choi.

Größte Körperbeherrschung

Einige wenige Hinweise für das Verständnis des Bühnengeschehens kommen von außen – ein wiederholungsschleifiges, englisch aus dem Off vorgetragenes Bekenntnis zur chinesischen Küche etwa, die viel besser als die japanische sei; die unvermittelte Projektion des Wortes „Blender“; ein dunkler Filmausschnitt mit nicht lesbaren Untertiteln. Die Bewegungen dazu sind perfekt und mit größter Körperbeherrschung getanzt und scheinen trotzdem kaum mehr zu sein als hochmobiles eitles Posing. Da huldigt einer dem Bewegungskanon des asiatischen Kampfsports, ein Zweiter (mit Sakko) kämpft sich immer wieder in männlich-aggressive statische Haltungen hinein, ein Dritter gibt (im Schlabberpulli) das Gummimännchen und ein Vierter irrlichtert mit ausholenden Bewegungen von Händen und Füßen wie ein Gespenst über die Bühne. Von solcher Art sind die Momentaufnahmen, alles ist sehr schön anzuschauen, geizt jedoch mit weiterreichenden Botschaften.

Wir vermissen Tänzerinnen

Schließlich ist vom Regisseur zu erfahren, dass das zubereitete Gericht in seiner Buntheit quasi Land und Volk des Libanons abbilde und die Essenseinladung dieses Abends nicht nur an die Herren Tänzer gehe, sondern an alle im Saal. Auch an die Frauen, möchte man hinzufügen, die man im Tänzerquartett auf der Bühne bedauernd vermisste. Das Motiv der großherzigen Einladung an die Völker dieser Welt rundet sich deshalb nicht völlig, zumal es wenig sensationell ist, dass die Tänzer „aus ganz verschiedenen Kulturen und Tanztraditionen stammen“, wie der Programmzettel verkündet. Im kosmopolitisch aufgestellten Tanztheater ist das nichts Besonderes.

Politik war vor der Pause

Essen, trinken, Völkerverständigung, gutes Leben – Olaf Kröcks Entscheidung, dieses Stück an den Beginn seiner Regentschaft auf Recklinghausens Grünem Hügel zu stellen, ist nachvollziehbar, auch wenn sein Beitrag zum Motto der Festspiele „Poesie und Politik“ eher allgemein bleibt. Aber dem Motto hatte man ja im ersten Teil des Abends schon hinlänglich gehuldigt.

www.ruhrfestspiele.de




Es geht noch viel: TuP-Festtage in Essen mit Aribert Reimanns „Medea“ und einer spartenübergreifenden Uraufführung

Freuen sich auf die TUP-Festtage 2019: Schauspielintendant Christian Tombeil, TUP-Geschäftsführer Berger Bergmann, der stellvertretende Ballettintendant und Ballettmanager Marek Tuma, Musiktheater- und Philharmonieintendant Hein Mulders sowie Oliver Bohnenkamp, Vorstandsmitglied der Sparkasse Essen. Foto: TuP

Freuen sich auf die TUP-Festtage 2019 (v. li.): Schauspielintendant Christian Tombeil, TUP-Geschäftsführer Berger Bergmann, der stellvertretende Ballettintendant Marek Tuma, Musiktheater- und Philharmonieintendant Hein Mulders sowie Oliver Bohnenkamp, Vorstandsmitglied der Sparkasse Essen. Foto: TuP

Rien ne va plus – das ist ein aus dem Casino geläufiger Satz, wenn im laufenden Spiel nichts mehr geht. Ein etwas gekünstelter Titel für die TuP-Festtage Kunst in Essen. Denn zum Glück geht in der Zeit vom 22. bis 31. März eine Menge: Premiere der Reimann-Oper „Medea“ am Aalto, drei beliebte Ballettproduktionen, die deutsche Erstaufführung von Robert Menasses Europa-Stück „Die Hauptstadt“ im Grillo-Theater. Und erstmals ein spartenübergreifendes Projekt.

Musiktheater, Ballett und Schauspiel realisieren in der Casa im Grillo eine gemeinsam erarbeitete Inszenierung: „Schließ deine Augen – Rien ne va plus“ heißt das Stück, in dem Tänzer, Sänger und Schauspieler gemeinsam agieren und ihre Spartengrenzen ein wenig überschreiten. Für die Uraufführung am Mittwoch, 27. März, 19 Uhr, dürfte es ratsam sein, sich rasch Karten zu sichern: Die Casa hat ein begrenztes Platzangebot. Weitere Vorstellungen: 30. März und 5. Mai.

Fünf Sparten sind am Programm beteiligt

Verdis "Luisa Miller" wird zum letzten Mal wiederaufgenommen: Szene aus der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs. Foto: Matthias Jung

Verdis „Luisa Miller“ wird zum letzten Mal wiederaufgenommen: Szene aus der Inszenierung Dietrich Hilsdorfs. Foto: Matthias Jung

Für alle anderen Vorstellungen sind noch ausreichend Tickets zu bekommen. Bei manchen heißt es nach den TuP-Festtagen tatsächlich „rien ne va plus“: Dietrich Hilsdorfs Inszenierung der Verdi-Oper „Luisa Miller“ (Wiederaufnahme am 30. März) verabschiedet sich nach dieser letzten Vorstellungsserie aus dem Repertoire des Aalto-Theaters; dafür kündigt Intendant Hein Mulders die Rückkehr des einstigen Essener Stamm-Regisseurs in der Spielzeit 2019/20 an. Abschied nehmen müssen die Ballett-Fans auch von Stijn Celis‘ Choreografie von „Cinderella“. Sie steht am 31.März letztmals auf dem Spielplan des Aalto-Theaters.

Mit Spannung erwarten dürften Opern-Liebhaber die Neuinszenierung von Aribert Reimanns „Medea“, uraufgeführt 2010 an der Wiener Staatsoper und dort – wie bei der Übernahme in Frankfurt und bei einer zweiten Inszenierung an der Komischen Oper Berlin, geleitet vom Bochumer GMD Steven Sloane – vom Publikum gefeiert.

Aribert Reimann. Foto: Schott Promotion, Peter Andersen

Der 83jährige Komponist hat sein Kommen angekündigt. Premiere ist am Samstag, 23. März, 19 Uhr. Am Tag zuvor, 22. März, eröffnen um 16.30 Uhr die Intendanten der fünf TuP-Sparten die Festtage; anschließend gibt es eine „Teatime“ im Aalto-Foyer mit einer Einführung in die auf Franz Grillparzers „Das goldene Vlies“ fußende Oper Reimanns.

Zerstörte Existenzen, Schicksal und Schuld als Themenkomplexe

Zerstörte Existenzen, Schicksal und Schuld, aber auch glückliche Fügungen: Um diese Themenkomplexe kreisen die Vorstellungen der TuP-Festtage. In der Uraufführung „Schließ deine Augen – Rien ne va plus“ nehmen die Regisseure Marijke Malitius und Sascha Krohn gemeinsam mit dem ehemaligen Aalto-Tänzer und Choreografen Igor Volkovskyy die Frage auf, wie es wohl wäre, ewig Kind zu bleiben, die Träume der Kindheit zu leben und die von Macht strukturierte Welt der Erwachsenen zu meiden. Die Sicht der Kinder Medeas, die Weigerung, erwachsen zu werden in „Peter Pan“ und die geheimnisvolle Marionettenwelt in Maurice Maeterlincks „Der Tod des Tintagiles“ sind die stofflichen Kreise, um die sich die von Gesa Gröning ausgestattete Produktion drehen soll.

Star-Sopran Maria Agresta singt Verdi. Foto: Alessandro Moggi.

Star-Sopran Maria Agresta singt Verdi. Foto: Alessandro Moggi.

Musikalisch bietet die Philharmonie Essen ein Jugendkonzert mit Filmmusik am 22. März mit der Neuen Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann, am 23. März eine „Hommage á Bach“ mit dem Organisten Christian Schmitt und am 24. März, 11 Uhr, das Debüt der Geigerin und Stipendiatin von Anne-Sophie Mutter, Noa Wildschut. Die 18jährige Niederländerin bringt als Klavierpartnerin Elisabeth Brauß mit, ein Klaviertalent der jungen Generation. Am Abend ist eine Geigerin mit internationaler Karriere zu erleben: Isabelle Faust spielt das Brahms-Violinkonzert, am Pult agiert Philippe Herreweghe.

Geballte Musik-Highlights gibt es auch am Sonntag, 31. März: Um 11 Uhr spielt der Trompeter Gábor Boldoczki mit der Philharmonia Prag reizvolle Konzerte aus dem böhmischen Raum, u. a. von Johann Baptist Georg Neruda, Johann Nepomuk Hummel und Johann Baptist Vanhal. Und am Abend ab 19 Uhr verzaubern Star-Sopran Maria Agresta und die Essener Philharmoniker mit Ouvertüren und Arien von Giuseppe Verdi, darunter nicht nur die üblichen Schlager, sondern etwa die Ballettmusik aus „Macbeth“ und einer Szene aus Verdis erster Oper „Oberto, Conte di San Bonifacio“.

Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de

 




Geld, Produktionen und Zeit – von allem etwas weniger: Intendant Olaf Kröck stellt Programm der Ruhrfestspiele vor

Am 4. Mai wird in Recklinghausen ein Laufsteg für die Bürger aufgebaut. „What is the City but the People?“ heißt die Aktion. Vorbild ist der Laufsteg, den Regisseur Richard Gregory am 29. Juni 2017 für das MIF Manchester International Festival schuf. Dort entstand auch das Foto. (Bild: John Super/Ruhrfestspiele)

Jetzt wissen wir, was gespielt wird – bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen unter neuer Intendanz. Olaf Kröck, so heißt der Neue, hat sein Programm vorgestellt, es steht auch schon im Internet. Erster Eindruck: Halbwegs solide, aber auch etwas dünn.

Kröck muß mit deutlich weniger Geld auskommen als Amtsvorgänger Frank Hoffmann. Die Grundstruktur hat er nicht verändert, der Schwerpunkt liegt eindeutig im Bereich Schauspiel. Und das soll auch so sein, unterstreicht der neue Intendant. Die Ruhrfestspiele seien eben ein Theaterfestival, in deutlicher Unterscheidung zu anderen Festivals im Land.

Virginia Woolf

Die attraktivste Produktion auf dem Spielplan dürfte wohl „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ sein, inszeniert von Karin Beier am Deutschen Schauspielhaus Hamburg mit Maria Schrader und Devid Striesow und von der überregionalen Kritik heftig, wenn auch nicht gefeiert, so doch wahrgenommen.

Weitere Glanzpunkte sind „Hochdeutschland“ nach dem Roman von Alexander Schimmelbusch, von Regisseur Christopher Rüpling auf die Bühne der Münchner Kammerspiele gestellt und bei den Ruhrfestspielen nun als „Gastspiel der Uraufführung“ angekündigt. Es geht im Stück um Victor, einen frustrierten Investmentbanker, der (stark verkürzt) kaum vierzigjährig und millionenschwer in deutschem Populismus macht. Bei diesem Stück ahnt man ein Streben nach Aktualität, was sich bei „Virginia Woolf“ kaum erkennen läßt.

Max und Moritz

Ebenfalls aus der ersten Liga der deutschen Schauspielhäuser kommen Max und Moritz nach Recklinghausen. „Eine Bösebubengeschichte für Erwachsene“ wird als Koproduktion mit dem Berliner Ensemble angekündigt, ist eine Regiearbeit des Spaniers Antú Romero Nunes. Lustig wird es werden und irgendwie auch gesellschaftskritisch, weil die Inszenierung auf die braven Bürger im Lausbubenumfeld fokussiert.

Szene aus der Tanztheaterproduktion „Grand Finale“ (Bild: Rahi Rezvani/Ruhrfestspiele)

Alte Bekannte

Vieles aber, was auf dem Programmzettel steht, weiß keineswegs in gleicher Weise zu begeistern. Da gelangt unter dem Titel „Istanbul“ eine Produktion zur Aufführung, die wesentlich von Liedern der türkischen Sängerin Sezen Aksu getragen wird und die das Licht der Bühnenwelt vor nicht all zu langer Zeit im Bochumer Schauspielhaus erblickte, als der dortige Interims-Intendant Olaf Kröck hieß.

Roberto Ciulli, seit ewigen Zeiten Mülheimer Theaterdirektor mit unbestreitbaren Verdiensten, ehrt man in einer „Werkschau“ mit der Aufführung von gleich drei Regiearbeiten: „Immer noch Sturm“, „Clowns 2 ½“, „Othello“. Das alles konnte und könnte man auch in Mülheim sehen, vielleicht auch auf dem NRW-Theatertreffen. Aber für die Ruhrfestspiele, die (jedenfalls früher) so viel Wert auf ihre Internationalität legen, ist dieser Programmschwerpunkt doch arg regional.

Szene aus „Ein wenig Leben“ (Bild: Jan Versweyveld/Ruhrfestspiele)

Müller und Wuttke

Vom Berliner Ensemble kommt als „Heiner Müllers letzte Regiearbeit“ Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“. Premiere war 1995, aber immerhin spielt Martin Wuttke die Titelrolle.

Zwei Einpersonenstücke hat man ins Schauspielprogramm gehoben: Zum einen Patrick Süskinds „Der Kontrabaß“ mit dem Schauspieler Roland Riebeling, den man als bürokratischen Sidekick Jütte aus dem Kölner „Tatort“ kennt, zum anderen eine Hofmannsthal-Adaption mit dem Titel „Jedermann Reloaded“, die Philipp Hochmair ganz alleine spielt, unterstützt allerdings von einer Kapelle mit dem Namen „Die Elektrohand Gottes“.

Szene aus „The Prisoner“ (Bild: Simon Annand/Ruhrfestspiele)

Peter Brook, unverwüstlich

Als „Koproduktion mit dem International Theater Amsterdam“ ist „Ein wenig Leben“ nach dem Roman von Hanya Yanagihara zu sehen. Ivo van Hove inszenierte die Viermännerromanze in Niederländisch, was die Befürchtung nährt, daß dieser „Deutschlandpremiere“ nicht sehr viele Aufführungen hierzulande folgen werden.

Peter Brook schließlich, 94jährige und immer noch sehr lebendige internationale Theaterikone, bringt ein Stück mit dem Titel „The Prisoner“ zur Aufführung, das er selbst auch, zusammen mit Marie-Hélène Estienne, geschrieben hat. Es geht um einen Gefangenen, der nicht ins Gefängnis darf und nun vor dessen Toren leidet, es spielt das Théâtre des Bouffes du Nord Paris, in Englisch. Ahnt man hier Migrantisches, so ist es in Jean Raspails „Das Heerlager der Heiligen“ handfest vorhanden. Schon in seinem 1973 veröffentlichten Roman ging Raspail der Frage nach, was es mit einer Gesellschaft macht, wenn plötzlich viele tausend Elendsflüchtlinge mit ihren Booten anlanden. Hermann Schmidt-Rahmer, den man als Gastregisseur von etlichen NRW-Bühnen gut kennt, hat den Stoff am Schauspiel Frankfurt dramatisiert. In Recklinghausen ist jetzt Uraufführung.

Ein Laufsteg für Recklinghäuser Bürger

Nicht zu vergessen: Auch das Eröffnungsspektakel am 4. Mai ist unter Schauspiel einsortiert. An diesem Tag sollen 100 handverlesene Recklinghäuser über einen Laufsteg in der Stadtmitte schreiten, quasi ein Querschnitt der Stadtgesellschaft. „What is the City but the People?“ heißt die Aktion, mit „Wer ist die Stadt, wenn es nicht die Menschen sind?“ könnte man das Motto übersetzen. Regisseur Richard Gregory hatte seinen Laufsteg erstmalig auf dem Manchester International Festival aufgebaut, und es soll eine sehr vergnügliche Angelegenheit gewesen sein. Also sind wir gespannt.

Tanztheater, wie von Rembrandt gemalt. Szene aus „The Great Tamer“ (Bild: Julian Mommert/Ruhrfestspiele)

Kulturgeschichte

Fünf Tanzproduktionen sind angekündigt, von denen zwei besonders ins Auge stechen. Zum einen „Grand Finale“ der Hofesh Shechter Company aus London, ein Stück, das die endzeitliche Menschengemeinschaft in der Krise thematisiert, zum anderen „The Great Tamer“ von Dimitris Papaiannou, wo nichts weniger als 2000 Jahre Kulturgeschichte zur Aufführung gelangen. Ein bildmächtiges, manchmal akrobatisches, manchmal komisches Programm wird angekündigt, und das Foto im Programmheft, das die Compagnie wie in einem Rembrandt-Bild mit großen Dunkelzonen zeigt, läßt Unterhaltsames erhoffen. Choreograph Papaiannou war in jüngster Zeit auch im Wuppertaler Tanztheater Pina Bausch aktiv, wo er seine überwiegend nicht gelobte Tanztheater-Produktion „Seit Sie“ inszenierte. Um die 13 Festivals (die nicht konstante Interpunktion macht das genaue Zählen schwierig) und Institutionen listet das Programmheft als Produzenten auf, erster in der Liste ist das Onassis Cultural Centre, Athen. Wörtlich übersetzt heißt die Produktion übrigens „Der große Zähmer“, was sich zumindest nicht spontan erschließt.

Die Zukunft der Arbeit

Musik, Kabarett, Literatur, Diskussionen, Kindertheater und Bildende Kunst gibt es nach wie vor im Programm, auch „Fringe“ hat – abgespeckt – überlebt und heißt jetzt „Neuer Zirkus“. Aber alles ist etwas weniger geworden, eine Woche weniger, ein Zelt weniger, und vom Programm war ja schon die Rede. Hinzugekommen jedoch ist unter dem fetzigen Titel „#jungeszene“ ein Projekt in Recklinghausen und Windhoek, Namibia, in dem unter künstlerischer Leitung von „Kaleni Kollectiv“ die „Zukunft unserer Arbeit“ untersucht werden soll. Was genau dabei herauskommt weiß man natürlich noch nicht, zur Vorführung jedoch gelangt es Mitte Mai in Recklinghausen und Anfang Juni in Windhoek. Den Deutschen Gewerkschaftsbund als Gesellschafter der Ruhrfestspiele wird es freuen.

 




Die Kunst kämpft am Limit: Theater Hagen stellt trotz harter Kürzungen einen ehrgeizigen Spielplan für 2018/19 vor

Hier wird, so kommt es einem vor, mit einem Mut gekämpft, der sich bewusst ist, dass er nichts mehr verlieren kann. Die verordneten Kürzungen treffen das Theater Hagen in der kommenden Spielzeit in vollem Umfang und müssen bis 2022 realisiert sein. 1,5 Millionen sind für einen Etat von rund 14,25 Millionen Euro eine gravierende Summe. Und dennoch kündigt Intendant Francis Hüsers für 2018/19 die gleiche Zahl von Vorstellungen und sogar mehr Produktionen an.

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Blick aufs Hagener Theater. (Foto: Werner Häußner)

Wie soll das funktionieren angesichts des notwendigen Abbaus von künstlerischem Personal, etwa in Orchester und Ballett? Hüsers, Intendant seit der Spielzeit 2017/18, will die Ressourcen des „sehr gut aufgestellten Theaters“ ausschöpfen, will Doppelfunktionen des Personals „noch exzessiver“ nutzen. Das Publikum soll nicht merken, was Geschäftsführer Michael Fuchs bei der Vorstellung der kommenden Spielzeit sehr realistisch beschrieb: „Das Hemd ist dünner geworden, die Risiken steigen“. Sagen wir es deutlicher: Das Hemd ist nur noch ein Spinnfädchen, und ob die Risiken einer solchen Null-Reserve-Politik noch zu bewältigen sind, wird das kühne Führungsteam des Theaters Hagen ab Herbst zu beweisen haben.

Selbstausbeutung

Was das alles für die Menschen am Haus bedeutet, muss ungeschminkt ausgesprochen werden. Es ist ja nicht so, dass der künstlerisch erfolgreiche frühere Intendant Norbert Hilchenbach hätte aus dem Vollen schöpfen können. Ein Chronist könnte die Sparwellen aufzählen, die bereits über das Theater hinweggerollt sind. Jetzt geht es wohl nur noch um Selbstausbeutung am Limit. Und die Künstlerinnen und Künstler an diesem Haus verdienen allein dafür Anerkennung, dass sie sich – um der Kunst oder der eigenen Existenz willen – diesen Zumutungen unterwerfen.

Dennoch wäre simple Politikerschelte wohlfeil – und man könnte ihr leicht entgegenhalten, dass Hagen froh sein darf, überhaupt noch ein Theater mit eigenem Ensemble halten zu können. Die Ursachen dieser Krise liegen tief in einer seit langem defizitären Kulturpolitik. Hoffnungen ruhen auf der Landesregierung: Theoretisch könnte sie mit den Baukosten von 300 Metern Autobahn die Finanzierung des Hagener Theaters mit einem Schlag sanieren und den Abbau von hoch kreativen Arbeitsplätzen in dieser nicht gerade von Kultur strotzenden Stadt rückgängig machen.

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. Foto: Theater Hagen

Das Leitungsteam des Theaters Hagen stellt das Spielzeitheft 2018/19 vor. Das kleine Format und die gelbe Farbe erinnern nicht ohne Hintersinn an ein bekanntes Produkt, mit dem große Literatur für kleines Geld möglichst vielen Menschen zugänglich gemacht werden soll. (Foto: Theater Hagen)

Doch zurück zur Kunst. Hüsers kündigt einen Spielplan mit Schwerpunkt auf „romantischer“ Oper an – was man eben so landläufig darunter versteht. Darunter fallen sicherlich Antonín Dvořáks „Rusalka“ (ab 1. Dezember 2018) und Richard Wagners „Tristan und Isolde“, ab 7. April 2019 fünf Mal sonntags auf dem Spielplan, mit GMD Joseph Trafton am Pult und Jochen Biganzoli als Regisseur.

Besonderes Profil zeigt Hüsers damit nicht, aber es ist ihm zugute zu halten, dass er bei der Top-Riege der Komponisten nicht zu den populärsten Titeln greift: Von Giuseppe Verdi etwa setzt er „Simon Boccanegra“ an (ab 29. September, Regie Magdalena Fuchsberger), von Gioachino Rossini „Il Turco in Italia“ (ab 2. Februar 2019), für den er Christian von Götz als Regisseur gewonnen hat. Cole Porters „Kiss me, Kate“, „Pariser Leben“ zum Offenbach-Jahr, Richard O`Briens „The Rocky Horror Show“ und Duncan Sheiks „Spring Awakening“ nach Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ in Zusammenarbeit mit der Hochschule Osnabrück markieren einen Schwerpunkt auf dem unterhaltenden Musiktheater – was Sinn und sicher auch Spaß macht und in der Region eine eigene Farbe setzt. Der beliebte „Zauberer von Oz“ als weihnachtliches Fantasiestück dürfte bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen Beifall finden.

Spannendes Projekt mit dem Osthaus Museum

Ein spannendes Projekt realisiert das Theater gemeinsam mit dem Osthaus Museum. Zu Ostern 2019 kombiniert es auf der Bühne Claudio Monteverdis berührendes dramatisches Madrigal „Combattimento di Tancredi e Clorinda“ mit einer Präsentation von Skulpturen aus dem Museum und will mit dieser Verbindung der Künste die existenziellen Motive von Liebe, Tod und Auferstehung umkreisen.

Ab 18. Mai 2019 arbeiten Ballett und Oper zusammen in einem Doppelabend mit Henry Purcells „Dido und Aeneas“ und Georg Friedrich Händels „Wassermusik“. Alfonso Palencia übernimmt die Inszenierungs-Choreografie und wird mit Sängern und Tänzern einen dialogischen Abend erarbeiten, der mit Mut zum Risiko die Schranken zwischen den Sparten einzureißen verspricht. Das Ballett eröffnet Alfonso Palencia zu Beginn der Spielzeit am 15. September mit der Wiederaufnahme eines Klassikers: „Cinderella“ mit der Musik Sergej Prokofjews (Premiere war am 14. April).

„Trotz aller Unkenrufe – es gibt das Schauspiel in Hagen und es wird es weiter geben“, verkündete Hüsers bei der Pressekonferenz. Im Programm stehen Shakespeares „Wie es euch gefällt“ mit der bremer shakespeare company und eine Adaption des Romans „Menschen im Hotel“ von Vicki Baum vom Rheinischen Landestheater Neuss, aber auch ein Solo-Abend mit Marilyn Bennett, der einer Figur aus James Joyces „Ulysses“, Molly Bloom, gewidmet ist. Als Eigenproduktion kündigt Hagen Friedrich Schillers „Die Räuber“ ab 12. Januar 2019 an – und zwar mit Kristine Larissa Funkhauser aus dem Sängerensemble als Amalia.

In den Sinfoniekonzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. Foto: Fritz J. Schwarzenberger

Generalmusikdirektor in Hagen ist Joseph Trafton. (Foto: Fritz J. Schwarzenberger)

Ein Blick ins Programm der zehn Sinfoniekonzerte lohnt sich: Beim ersten Konzert der Saison am 11. September dirigiert Joseph Trafton Gustav Mahlers Erste und das Mandolinenkonzert von Avner Dorman, der 2017 mit der Oper „Wahnfried“ in Karlsruhe einen grandiosen Erfolg feiern konnte. Im dritten Konzert am 13. November spielt ein „rising star“ der Klavierszene, Adam Laloum, das B-Dur-Konzert von Johannes Brahms; zuvor erklingen John Adams‘ „The Chairman Dances“ – ein Echo auf die künstlerisch so ergiebige Reihe amerikanischer Opern der letzten Jahre am Hagener Theater. Am 28. Mai 2019 kombiniert Trafton Adams‘ „Harmonielehre“ mit Richard Strauss „Ein Heldenleben“.

Auch in den anderen Konzerten ist Ungewöhnliches zu entdecken, ob Sinfonien von Luigi Boccherini, die Uraufführung eines Konzerts für Horn und Trompete von Wolf Kerschek am 9. Oktober, verbunden mit Dvořáks Sechster Symphonie, Werke von Ralph Vaughan Williams oder am 18. Juni 2019 ein Abend mit HK Gruber und dem Pianisten Frank Dupree mit amerikanischer Musik von Gershwin und Weill bis Duke Ellington. Und wer sich für regionale (Musik-)Geschichte interessiert, dem sei das Gedenkkonzert an den ersten Großangriff auf Hagen 1943 am 1. November 2018 ans Herz gelegt. Darin erklingt die „Trauermusik“ des damaligen Hagener GMD Hans Herwig.

Info: www.theaterhagen.de




Großes Theater und peinliches Scheitern – das zweite Wochenende bei den Ruhrfestspielen fiel durchwachsen aus

Warum er das getan hat, ist restlos nicht klar geworden. Ewald Palmetshofer, österreichischer Dramatiker der jüngeren Generation, hat sich Gerhart Hauptmanns Stück „Vor Sonnenaufgang“ vorgenommen und mit Aktualitäten angereichert. Kann man machen, ist auch nicht mißlungen, bringt aber auch keinen nennenswerten Erkenntnis-Zugewinn.

Szene aus „Barbarische Nächte“ (Foto: Nathalie_Sternalski / Ruhrfestspiele)

Thematisch geklammert wird der Gang der Handlung durch eine Schwangerschaft, die im Stück entlarvend wirkt und (natürlich, ist man fast geneigt zu sagen) mit einer Fehlgeburt endet, linke und rechte Positionen geraten gegeneinander, der Arzt bringt eine existentielle Dimension ins Spiel, zulässige und weniger zulässige Liebesbeziehungen entstehen, und auch die Klagen über die vertanen Chancen fehlen nicht. Dies kurz in Stichworten.

Begeisterndes Theater wie seit Jahren nicht

Die „deutsche Erstaufführung“ nach jenen in Basel (Uraufführung) und Österreich fand nun bei den Ruhrfestspielen statt, eine Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin, Regie: Jette Steckel. Und diese Produktion, warum lange drumherumreden, ist grandios!

Zweieinhalb Stunden fesselndes Schauspielertheater mit minimalen inszenatorischen Zutaten, sieht man einmal von der (auf der Bühne stehenden, nicht in ihr, wie sonst üblich, versenkten) Drehbühne ab, die sich während der gesamten zweieinhalb Stunden ohne Unterlaß langsam dreht (Bühne: Florian Lösche). Vorwiegend auf ihr (manchmal am Rand neben ihr) agieren die Darsteller, moderat, von der Regie gut geführt. Die permanenten Positionsveränderungen durch die sich drehende Bühne sind sinnhaft, ein paar Stühle reichen als Requisiten aus. Manchmal ein bißchen Musik, so viel Licht wie nötig, ansonsten aber, im besten Sinne: Schauspiel. Ein so begeisterndes Theater hat man seit Jahren nicht mehr gesehen.

Übrigens war die Baseler Inszenierung jetzt beim Mülheimer „Stücke“-Wettbewerb zu sehen. Völlig zu Recht fragt der geschätzte Kollege P. in der WAZ, mit welcher Berechtigung dies eigentlich geschah, ist doch die Substanz von „Vor Sonnenaufgang“ ganz unbestreitbar 100 Jahre alter Gerhart Hauptmann.

Wurzeln im Breakdance

Abgesehen vom Sonnenaufgang war das zweite Wochenende bei den Ruhrfestspielen allerdings eher durchwachsen. Die Compagnie Hervé Koubi, die im Marler Theater ihr Stück „Barbarische Nächte oder der erste Morgen der Welt“ (Les nuits barbares) zur Aufführung brachte, überzeugte athletisch weitaus mehr als mit der recht einfallslosen Choreographie. Tolle Sprünge, Heber, Kopfstände; die Ursprünge im Breakdance erkennt man noch, doch haben die jungen Männer auf der Bühne diese Anfänge schon weit hinter sich gelassen.

Bunt bemalte Witzfiguren

Absoluter Tiefpunkt dieses Wochenendes aber war „Die Präsidentin“, eine Produktion des Theaters Magdeburg mit Corinna Harfouch in der Titelrolle. Das Stück spielt mit der Vorstellung, die Kandidatin des Front National wäre französische Präsidentin geworden. Ein französisches Comic-Buch habe als Vorlage gedient. Was also folgt? Scharfe Analysen, emotionslos-kühles Weiterdenken nach Art des Herrn Houellebecq?

Was man tatsächlich zu sehen bekommt, ist das trashige Herumgemache bunt bemalter Witzfiguren, die sich um Posten streiten, Ausländer hassen, den Staatsbankrott herbeiführen und was nicht sonst noch alles. Einfallslos ist diese Darbietung bis über die Schmerzgrenze hinaus, ironiefrei und dumpf. Kindertheater, hätte man früher vielleicht gesagt, aber Kinder würden sich so etwas nicht bieten lassen, jedenfalls nicht zweieinhalb Stunden lang. Nur der Vollständigkeit halber sei es erwähnt: natürlich wird ausgiebig mit der Videokamera gefilmt, werden die Szenen mit den unerquicklich bunt angemalten Mimen überlebensgroß auf eine Leinwand über der Bühne oder auch auf die Bühne selbst projiziert – Theater mit ganz, ganz langem Castorf-Bart.

Corinna Harfouch als Präsidentin mit Krone und Entourage (Foto: Marcel Keller / Ruhrfestspiele)

Wie konnte die Harfouch nur!

Bald schon, hallo Königsdrama, ist auch die Präsidentin dran und wird abgelöst, doch das Stück ist dann noch lange nicht am Ende. Identitäre und Reichsbürger kommen nun (thematisch) zum Zuge, Antifeminismus und, wenn ich jetzt nicht irre, auch noch das eine oder andere Umweltthema und irgend etwas mit Finanzmärkten. Außerdem Putin und seine 5. Kolonne und die hohen Reproduktionsraten der Nordafrikaner, die die Angst vor „Umvolkung“ schüren.

In ihrer Besessenheit, nun aber auch wirklich jedes Bedrohungsthema noch unterzubringen, gehen dieser Produktion (Regie: Cornelia Crombholz) zum Ende hin auch die Positionen verloren, klingen manche Sätze wie der AfD-Werbung entlehnt, was aber sicherlich eher Ausdruck inszenatorischer Inkompetenz ist.

„Die Präsidentin“ – ein Ärgernis. Unverständlich bleibt, warum Corinna Harfouch, die längst bewiesen hat, daß sie eine grandiose Schauspielerin ist, sich für so etwas hergibt. Unvergeßlich ist sie mir noch immer als Martha in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ am Deutschen Theater. Und jetzt das.

Im Uhrzeigersinn von oben links: Nils, Till, Maja und Lina Beckmann – „die Spielkinder“ (Foto: Die Spielkinder / Ruhrfestspiele)

Die erfrischenden Beckmanns

Für einen versöhnlichen Ausgang dieser kleinen Wochenendbetrachtung sorgten schließlich „Die Spielkinder“, die vier Geschwister Beckmann auf der Sonntagsmatinee im ausverkauften großen Haus. Die Mädels Maja und Lina, sind wohl etwas fernseh- und bühnenbekannter als die Jungs Nils und Till, alle vier haben mit dem Theater zu tun. Als Gäste waren Charly Hübner, Jennifer Ewert und Sebastian Maier mit dabei.

In der gekonnt unperfekt dargebotenen szenischen Lesung kamen neben ein paar Albernheiten Texte von Ralf Rothmann zum Vortrag, Schule, Ohrfeigen, Pubertät, Schlaghosen – aber auch intensive Passagen über Sterben und Tod der Mutter. Erstaunlicherweise paßten sie in diese Veranstaltung recht gut hinein; das muß etwas mit dem familiären Zusammenhalt zu tun haben, mit jener Vertrautheit, die auch den Tod nicht ausblendet.

Wenn man ziemlich genau so alt ist wie Rothmann, ist es übrigens gleichsam ein V-Effekt, daß die Stories, die die Beckmannkinder vortragen und vorspielen, einem in der Grundierung bekannt vorkommen, die jungen Leute das aber auf keinen Fall erlebt haben können. Wenn sie sich die Geschichten trotzdem zu eigen machen und auf ihre Art erzählen, kann man sicher sein, keiner Nostalgieveranstaltung beizuwohnen. Bei den Beckmanns entsteht da Neues, das ist überaus vergnüglich.

So. Nächste große Produktion im Großen Haus ist „König Lear“ in der Regie von Claus Peymann.

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Überall auf der Welt ist Heimat – Zum Programm der letzten Ruhrfestspiele von Frank Hoffmann

Nein, Frank Hoffmann sieht aus wie immer. Erkennbar ist es nicht dem Alter geschuldet, daß diese Ruhrfestspiele seine letzten sein sollen. Aber nach 14 Jahren Intendanz ist es vielleicht an der Zeit, das Festival anderen, Jüngeren zu überlassen. Frank Hoffmann, 63 Jahre ist er jetzt alt, klebt erkennbar nicht am Intendantenstuhl, und das ehrt ihn.

„Barbarische Nächte oder der erste Morgen der Welt“ („Les Nuits Barbares“), eine Choreographie von Hervé Koubi (Foto: Nathalie Sternalski/Ruhrfestspiele)

Zudem ist 2018 das Jahr, in dem mit Prosper-Haniel in Bottrop die letzte Zeche des Reviers schließt, eine Epoche mithin zu Ende geht, die für das Ruhrgebiet und die Ruhrfestspiele von kaum überbietbarer Bedeutung war und ist. Ein guter Zeitpunkt, um abzutreten. Und ganz feierlich geschieht dies am 17. Juni im Festspielhaus, in der letzten Veranstaltung dieses Jahres mit dem Titel „Frank Hoffmann sagt Adieu“.

Nachfolger Olaf Kröck

Hoffmanns Nachfolger heißt übrigens Olaf Kröck, ist 45 Jahre alt und in dieser Spielzeit Interimsintendant des Bochumer Schauspielhauses, bevor dort in der nächsten Spielzeit Johan Simons das Zepter übernimmt. Der ist zwar schon über 70, aber wohl immer noch recht rebellisch. Wo fürderhin das jugendlichere, frischere Theater stattfindet, in Bochum oder in Recklinghausen, ist also keineswegs ausgemacht.

Es hätte auch Kohle heißen können

Zurück zu den Ruhrfestspielen, die in diesem Jahr, top aktuell wieder einmal, „Heimat“ betitelt sind. Es könnte einem schon der Gedanke kommen, daß der Arbeitstitel vielleicht doch eher „Kohle“ oder „Bergbau“ oder irgend etwas anderes in diesem Kontext gewesen sein könnte und man erst später auf Heimat umschaltete, als dieser Begriff durch die politische Diskussion (samt Gründung diverser „Heimatministerien“) plötzlich eine neue Aktualität bekam. Ist ja auch egal; Heimat eignet sich jedenfalls sehr gut als Überzeile, so lange nicht die Definition von Thomas Bernhard gilt „Heimat ist, wo man sich aufhängt“. Frank Hoffmann zitierte den großen, zornigen, zu früh und durch eigene Hand aus dem Leben gerissenen österreichischen Dramatiker nicht ohne Ernst, wenn auch mit der ihm eigenen Leichtigkeit.

Burghart Klaußner spielt in „Der Besuch der alten Dame“ (Foto: Ruhrfestspiele)

Ein Klassiker von Dürrenmatt

Von Thomas Bernhard, um jetzt endlich mal die Kurve zum Programm zu kriegen, ist leider nichts in demselben. Das Festival startet mit Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“, den Frank Hoffmann selbst in einer Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater für die Ruhrtriennale inszeniert hat. Um Kohle geht es hier wohl eher nicht, wenn man das Vermögen der alten Dame Claire Zachanassian nicht Kohle nennen will; um Heimat geht es allerdings sehr wohl, um eine grausame, verstoßende Heimat, um Heimatverlust.

Nicht wenige Zuschauer werden dem „Besuch der alten Dame“ im Gymnasium begegnet sein, ein unbedingt respektables, sinnhaftes Stück, aber vielleicht auch etwas angestaubt. Man darf gespannt sein, was Hoffmann daraus macht. Auf jeden Fall stehen gute Leute auf der Bühne, beispielsweise Maria Happel und Burghart Klaußner in den Hauptrollen.

Hauptmann, Brecht und Shakespeare

Das zweite „große“ Stück im Großen Haus ist ebenfalls eine Koproduktion (mit dem Deutschen Theater Berlin). Im Kino wäre diese Produktion von „Vor Sonnenaufgang“ so etwas wie eine Neuverfilmung, für das Theater fehlt der entsprechende Begriff. Ewald Palmetshofer also, ein immer noch recht junger österreichischer (was sonst? Kommen ja alle aus Österreich, die jungen Dramatiker!) Dramatiker, hat Gerhart Hauptmanns gleichnamiges Stück über den abrupten Niedergang einer durch Bergbau reich gewordenen Bauernfamilie aktualisiert, Jette Steckel führt Regie. Ein bißchen geschraubt wirkt die Formulierung im Programmheft „Premiere der deutschen Erstaufführung bei den Ruhrfestspielen“, auch wenn sie letztlich zutrifft. Doch zu sehen war Palmetshofers Stück bereits in Basel (Regie: Nora Schlocker) und in Wien (Regie: Dušan David Pařízek). Die Kritiken fielen durchwachsen aus.

Weitere Theaterproduktionen auf der großen Bühne sind „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht in der Regie von Albert Ostermaier und ein „König Lear“ von Shakespeare in der Regie des Altmeisters Claus Peymann, der lange Zeit Intendant des Berliner Ensembles war. Diese Produktion allerdings entstand am Schauspiel Stuttgart, und den greisen König, der sich so grausam in seinen Töchtern irrt, spielt Peymanns alter Weggefährte (seit Bochumer Zeiten) Martin Schwab.

„Ruhrepos“ von Albert Ostermaier

Originell ist schließlich die letzte Produktion im Festspielhaus zu nennen. „Die verlorene Oper. Ruhrepos“ von Albert Ostermaier, eine Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Hannover, wandelt sozusagen auf den Spuren von Bert Brecht und Kurt Weill. Die wollten ein solches Epos schaffen, machten über und unter Tage fleißig Recherchen, 1927 sollte in Essen Premiere sein. Wegen „antisemitischer Hetze“ so das Programmheft, wurde das Projekt jedoch fallengelassen, und zwei Jahre später entstand in Berlin die „Dreigroschenoper“. Ich gebe das mal ohne weitere Überprüfung so wider, wohl wissend, daß Fragen bleiben. Nun also ein Epos von Albert Ostermaier. Regie führt Thorleifur Örn Arnarsson (what a name!).

Ganz familiär: „Home“ (Foto: Maria Baranova/Ruhrfestspiele)

„La Catastròfa“

Zwei bemerkenswerte, düster grundierte Liederabende harren der Erwähnung. „La Catastròfa“ erinnert, dargeboten von Etta Scollo und Joachim Król, an ein schweres Bergunglück in Belgien, 1956. 262 sizilianische „Gastarbeiter“ kamen bei einem Grubenbrand ums Leben. Sie wurden Opfer skandalöser, unmenschlicher Arbeitsbedingungen, die in bestem zwischenstaatlichen Einvernehmen (zwischen Belgien und Italien) auf Ausbeutung der billigen Arbeitskräfte ausgerichtet waren.

Den anderen Liederabend singt und gestaltet Ute Lemper. Ihre „Lieder für die Ewigkeit“ entstanden im Konzentrationslager Theresienstadt, das der NS-Propaganda als „Vorzeigelager“ diente und in dem etliche Künstler interniert wurden. Anrührende Musik im Angesicht des Todes – Victor Ullmann, Ilse Weber, Willy Rosen nennt das Programmheft namentlich.

Mitbewohner auf der Bühne

Etwas heiterer geht es in „Home“ von Geoff Sobelle zu, einer (wiederum zitieren wir etwas irritiert das Programmheft) „Kooperation mit BAM, Arizona State University – Gammage, New Zealand Festival und Edinburgh International Festival“, wo es um ein mehrgeschossiges Holzbauwerk auf der Bühne geht, in dem etliche Mitbewohner (wortlos) das Mitbewohnen in seinen zahlreichen mehr oder minder komischen Facetten proben.

Die Neue Philharmonie Westfalen spielt Smetana („Mein Vaterland“), man diskutiert („Forum Arbeit – Lied – Bewegung; Forum zum Thema Heimat und Lieder der deutschen Arbeiterbewegung“), und Konstantin Wecker führt samt Trio vor, was damit gemeint sein könnte („Konzert im Rahmen des Forums Arbeit – Lied – Bewegung“).

John Malkovich regt sich auf in „The Music Critic“ („Der Musikkritiker“) (Foto: Sandro Miller/Ruhrfestspiele)

Hollywood-Stars Malkovich und Murray

Ach ja, Hollywood! Es gibt ein Wiedersehen mit John Malkovich, der mit ihm eigener Verve Musikkritiken vortragen wird, sämtliche Verrisse. „The Music Critic“ verspricht höchst unterhaltsam zu werden (Idee und Konzeption: Aleksey Igudesman, Swiss Gart). Und Bill Murray kommt auch. Er, den einst täglich das Murmeltier grüßte und der sich „Lost in Translation“ wähnen mußte, führt bei diesen Ruhrfestspielen ein anregendes Bühnengespräch in englischer Sprache mit dem Cellisten Jan Vogler über klassische Musik und amerikanische Literatur. Mira Wang (Violine) und Vanessa Perez (Klavier) ergänzen die illustre Begegnung, und einige Male singt Bill Murray sogar – Klassiker des Great American Songbooks.

Mehrere afrikanisch grundierte Projekte springen ins Auge, die ihre Energie oft aus dem Zusammentreffen mit europäischen Sichtweisen schöpfen. „Barbarische Nächte oder Der erste Morgen der Welt“ („Les nuits barbares“) des Choreographen Hervé Koubi gehört dazu, eine Produktion mit Tänzerinnen und Tänzern aus Nordafrika, die sich mit der Faszination und den Ängsten befaßt, die der „schwarze Kontinent“ über Jahrhunderte bei den Europäern weckte. Gleichzeitig forscht Koubi, Kind algerischer Eltern, nach Spuren verschwundener Kulturen, sucht Mythen, Masken, Rituale und bindet sie in seine Arbeit ein.

Afrikanisches Tanztheater

„Ein Spiel namens Mut“ von Michael Ojake, koproduziert mit UFA Fabrik Berlin, vereint Spiel und Tanz und erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der beschließt, Nigeria zu verlassen und nach Europa zu gehen. Seine Pläne lösen im Dorf eine heftige Diskussion aus. Ähnliches geschieht in „A Man of Good Hope“, dargeboten im Theater Marl. Das Stück nach einem Roman von Jonny Steinberg dreht sich um den jungen Asad, der es von Somalia nach Südafrika schafft, wo das Leben auch kein Zuckerschlecken ist. Mittelalterliche Clan-Strukturen, staatliche Repression, Menschenhandel, Gewalt, Korruption und latenter Rassismus in den Townships sind stets gegenwärtig in dieser Produktion des Isango Ensembles Südafrika in Zusammenarbeit mit dem Young Vic London, Royal Opera, Repons Foundation, BAM und Les Théâtres de la Ville de Luxembourg.

Unterschiedliche Blickwinkel

Unbedingt zu erwähnen ist schließlich das Tanzprojekt, das aus den Teilen „The Choreonauts“ und „In Between/Digging in the Night“ besteht. Teil 1 verantwortet Afro-European Navigations in Dance, Teil 2, das wird jetzt lang, in einer Koproduktion mit den Ruhrfestspielen Phumlani Nyanga und Helge Letonja, steptext dance project Bremen, Tanz! Heilbronn, Theater Bremen und Festival AFRICTIONS. Extravagante Black Dandys und Hipster in Johannesburg, obdachlose Müllsammler und Zuwanderer…  Es geht um sozialen Wandel, Veränderungsdruck, Reflexionen gesellschaftlicher Zustände, wahrgenommen aus den Blickwinkeln des Europäers Letonja und des Afrikaners Nyanga. Definitiv ein spannendes Projekt.

Beckmanns, Die Spielkinder (Foto: Die Spielkinder/Ruhrfestspiele)

Die Harfouch spielt Marine Le Pen

Weil es originell ist, ohne lustig zu sein, sei noch auf eine Produktion im Kleinen Haus hingewiesen: Dort spielt die grandiose Corinna Harfouch in einer Koproduktion mit dem Theater Magdeburg „Die Präsidentin“. Das Stück basiert auf der Annahme, Marine Le Pen hätte es in den Elisée-Palast geschafft. Wie wäre es dann weitergegangen, wie stringent griffen in einem solchen Fall die Mechanismen der Macht? Vorlage für diese gar nicht so bizarre Geschichte ist ein französischer Strip von François Durpaire und Farid Boudjellal, Regie führt Cornelia Crombholz.

Und natürlich wäre es reizvoll, dies mit Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ zu vergleichen, dem Stück, in dem das bürgerliche Lager Frankreichs im Bestreben, den Front National zu verhindern, Islamisten den Weg an die Spitze des Staates ebnet. Von Houellebecqs Protagonist François – in Hamburg hinreißend dargeboten vom großartigen Edgar Selge – weiß man, daß das Leben auch in solchen Fällen weitergeht, manchmal sogar ausgesprochen behaglich.

Wir sind die Beckmanns

So. Wir müssen zum Ende kommen. Letzte Erwähnungen sollen den Beckmann-Kids gelten, den Schauspiel-Sprößlingen Nils, Till, Maja und Lina, die alle ihr Ding machen, sich ab und zu jedoch zu überaus ergötzlichen gemeinsamen Bühnenlesungen aus dem Alltag treffen. „Die Spielkinder und Gäste“ heißt ihr (leider nur einmaliger) Auftritt bei den Ruhrfestspielen, und die Gäste sind Jennifer Ewert, Charly Hübner und Sebastian Maier.

Die Kunstausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen schließlich kommt in diesem Jahr von dem Künstler-Zwillingspaar Gert&Uwe Tobias, ist „ein multimediales Ausstellungsprojekt zur Kohle“ und geht über drei Etagen. Die Heilige Barbara fehlt hier ebenso wenig wie der Kanarienvogel und der große Naive Erich Bödeker, der wohl bekannteste Künstler der Stadt.

Das Festspielhaus wartet auf seine Gäste (Foto: Ruhrfestspiele)

Fringe vor dem Aus?

Wiederum bleibt vieles unerwähnt, vor allem viele Lesungen und Kabarett-Auftritte bekannter Künstler. Im Fringe-Festival (eigenes gelbes Programmbuch) wird wieder eine Menge originelle „Kleinkunst“ für alle Altersklassen geboten, und sollte Hoffmann-Nachfolger Kröck, wie in einem Zeitungsinterview angekündigt, Fringe tatsächlich abschaffen, wäre das sehr, sehr schade. Wie immer kann auch diese Programmankündigung nur mit der Empfehlung enden, sich nach Lektüre noch etwas schlauer zu machen.

Und was macht Hoffmann, wenn er in Recklinghausen nichts mehr macht? Nun, nach wie vor ist er ja auch noch Intendant des Luxemburger Nationaltheaters. Dort möchte er zukünftig häufiger Regie führen, mehr Stücke in französischer Sprache inszenieren.

Das reicht gewiß für den Moment. Für einen Nachruf wäre es noch etwas früh.

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Nominierungen zum Theaterpreis „Der Faust“: Auszeichnungen für Oberhausen, Essen, Dortmund und Düsseldorf

DER FAUST - so sieht die Auszeichnung aus. Foto: Natalie Bothur

„Der Faust“ – so sieht die Auszeichnung aus. Foto: Natalie Bothur

Alle Achtung! Da kommt soeben die Pressemeldung des Deutschen Bühnenvereins zum Theaterpreis „Der Faust“ 2017 herein – und wir entdecken gleich mehrfach Nominierungen für Bühnen in Nordrhein-Westfalen.

Waren die Theater in NRW nicht sonst eher so ein Geschwader hässlicher Entlein, die schüchtern im Kielwasser der glanzvollen Schwäne aus Berlin, Hamburg etcetera mitpaddeln durften? Diesmal könnte es anders sein. Und dass ein nicht gerade auf Rosen gebettetes Theater wie Oberhausen in der Kategorie „Regie Schauspiel“ nach 2014 erneut für einen Preis infrage kommt, darf durchaus mit Stolz zur Kenntnis genommen werden. Neben Oberhausen stehen Düsseldorf, Essen und Dortmund in der Liste der „Faust“-Nominierungen.

„Látszatélet / Imitation of Life“ des unbequemen ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó soll einen „Faust“ für die beste Schauspiel-Regie erhalten. „Dieser Abend wühlt auf und wühlt im Zuschauer“, schreibt der Kritiker Sascha Krieger über die Oberhausener Premiere im Juni 2016. In der Kooperation des ungarischen Proton Theaters – eines der kritischen Ensembles, die keine staatliche Unterstützung mehr bekommen –, der Wiener Festwochen und weiterer Partner geht es um Alltagsrassismus und Ausgrenzung am Beispiel einer Roma-Familie. Krieger: „Es ist der Kreislauf von Hass und Ausgrenzung, den Mundruczó an diesem Abend zeichnet. Ein intensiver, stiller Abend, an dem man zuweilen kaum hinsehen will.“

Einen Regie-Faust hat für NRW auch Johanna Pramls „Sommernachtstraum“ am Schauspielhaus Düsseldorf in Aussicht. Auf der neu gegründeten Bürgerbühne entwickelte die 1980 in Offenbach geborene, mehrfach ausgezeichnete Regisseurin ihr Projekt gemeinsam mit Laien und Schauspielern. Am Freitag, 6., und Sonntag, 8. Oktober ist das Ergebnis noch einmal zu sehen. Der Kritiker Stefan Keim sagt dazu, das Verwirrspiel frei nach Shakespeare sei „wunderbar sympathisch, selbstironisch und auch mutig, denn die Darsteller erzählen von ihren eigenen Träumen, von ihren Ängsten und dann wird es auch richtig magisch.“

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Szene aus Tatjana Gürbacas „Lohengrin“-Inszenierung in Essen, nominiert für den Theaterpreis „Der Faust“: der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Im Musiktheater steht neben Paul-Georg Dittrichs Berlioz-Deutung in „La Damnation de Faust“ am Theater Bremen und Christoph Marthalers „Lulu“ in Hamburg die Essener „Lohengrin“-Inszenierung Tatjana Gürbacas auf der „Faust“-Liste. In einem beziehungsreichen Bühnenbild Marc Weegers hat Gürbaca im Aalto-Theater Wagners häufig interpretiertes Werk in einer klugen, komplexen Regie an die Gegenwart angenähert, ohne die Deutungswege der letzten Jahre weiter auszutreten, aber auch ohne in die Extreme verstiegenen Überbaus zu flüchten oder das Heil in der Rückkehr zu Opulenz und Konvention zu suchen. Sie inszenierte weder ein „Künstlerdrama“ noch eine bloß politische Parabel, sondern gab der Offenheit des Dramas, dem „Wunder“ einen sinnlich und sinnhaft ausgedeuteten Raum. Ab 18. April 2018 ist Gürbacas Inszenierung in der Wiederaufnahme in Essen wieder zu erleben.

Im Bereich Bühne/Kostüm konnte sich Dortmund – nach Pia Maria Mackerts Bühne zu „Das goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ 2014 – wieder eine „Faust“-Nominierung sichern: Michael Sieberock-Serafimowitsch (Bühne) und Mona Ulrich (Kostüm) erhielten sie für ihre Ausstattung von „Die Borderline Prozession“ am Schauspiel Dortmund. Im Megastore erarbeiteten Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin ein aufwendiges Gesamtkunstwerk: eine detailreich ausgestattete Villa, bewohnt von Schauspielern und umzogen von einer Prozession. Eine „verstörende Lebens-Geisterbahn“ nennt Rezensentin Dorothea Marcus die Produktion; eine „philosophische Welt-Installation über das Draußen und das Drinnen, Arm und Reich, Grenzen und Übergänge. Darüber, wie Bilder und Worte den Blick auf das Echte verstellen können.“ Die „Borderline Prozession“ war zum Berliner Theatertreffen 2017 eingeladen und wird bis 14. Oktober noch fünf Mal im Dortmunder Megastore gezeigt.

Einen „Faust“ für Choreografie kann Dewey Dells „Sleep Technique – Eine Antwort an die Höhle“ erhalten; eine Performance, die in der Berliner Tanzfabrik und im März 2017 in PACT Zollverein ihre Uraufführung feierte. Die 2007 gegründete Kompanie Dewey Dell hat als Team – als Choreographin wird Teodora Castellucci genannt – eine „poetische Reise zu den Tiefen des Ursprungs europäischer Kultur“ entwickelt. Auch diese Arbeit versteht sich als ein Gesamtkunstwerk aus Choreographie, Musik, Bühnenbild und Licht.

Der Deutsche Theaterpreis „Der Faust“ wird am Freitag, 3. November 2017 im Schauspiel Leipzig zum zwölften Mal verliehen. Der undotierte Preis umfasst Auszeichnungen in acht Kategorien sowie den Preis für das Lebenswerk, den in diesem Jahr die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek erhält. In der Begründung heißt es: „Als eine der prominentesten Mitgestalterinnen der Umbrüche im deutschsprachigen Theater nach 1968 hat sie mit ihrer Absage an traditionelle dramatische Strukturen und mit ihren wortgewaltigen, sprachlich verdichteten Textflächen eine neue Richtung vorgegeben.“ – Zum ersten Mal wurde der Theaterpreis 2006 im Aalto-Theater Essen vergeben. Damals ging je eine „Faust“-Nominierung nach Düsseldorf, Essen und Moers.




Fünf Sparten des Dortmunder Theaters präsentieren für 2017/18 ein üppiges Programm – Personalkarussell dreht sich

Das Programm ist üppig, das Programmbuch ein Schwergewicht. Wenn das Theater Dortmund seine Pläne für die neue Spielzeit vorstellt, mangelt es an Masse nicht. Trotzdem aber wohnt der munteren Zusammenkunft im Opernfoyer, wo die fünf Sparten Oper, Ballett, Philharmoniker, Schauspiel sowie Kinder- und Jugendtheater ihre Pläne dartun, etwas Passageres, Flüchtiges inne. Das ist auch kein Wunder, denn das Personalkarussell dreht sich.

Wie berichtet, wechselt Opernchef Jens Daniel Herzog nach der kommenden Spielzeit 2017/18 als Intendant an das Nürnberger Staatstheater, und wenige Stunden vor der Konferenz wurde bekannt, daß die langjährige Dortmunder Verwaltungschefin Bettina Pesch bereits zur kommenden Spielzeit nach Magdeburg geht. Verwaltungsdirektorin und stellvertretende Generalintendantin ist sie dann dort. Ihre Nachfolge ist noch nicht geregelt, während der Nachfolger Herzogs feststeht. Heribert Germeshausen, bislang noch Heidelberger Operndirektor, soll ihm – wie berichtet – nachfolgen.

Pesch dankte Herzog, Herzog dankte Pesch, wie sich das gehört.

Megastore ist bald Vergangenheit

Schauspielchef Kay Voges ist zwar nach wie vor im Dortmunder Boot, war aber durch die Bauarbeiten im Schauspielhaus für längere Zeit auch mehr oder weniger abwesend. Gänzlich schuldlos, wohlgemerkt, war sein Schauspiel doch gezwungen, in einer unfreundlichen Industriehalle mit dem sinnreichen Namen „Megastore“ zu spielen, wo manches gar nicht und vieles nur mit Abstrichen lief. Am 16. Dezember aber soll es jetzt wirklich wieder im Schauspielhaus losgehen, ein „Doppelabend“ aus Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ und Ray Bradburys „Fahrenheit 451“ macht den Anfang, erstaunlicherweise nicht in der Regie von Voges.

Musentempel in Schwarz-Gelb: Die Ausweichspielstätte „Megastore“ im Hörder Gewerbegebiet (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kay Voges ist, gleichermaßen erstaunlich, auch nur ein einziges Mal für Regie eingetragen, Thomas Bernhards „Theatermacher“ hat er sich vorgenommen, Premiere am 30. Dezember. Grund für diese Abstinenz, so Voges, seien alte Verträge mit Gastregisseuren, die man abgeschlossen habe – lange bevor man um die sich endlos hinziehenden Bauarbeiten wußte. Jetzt sollen die engagierten Kräfte auch das Vereinbarte liefern, sonst werden Vertragsstrafen fällig, muß ja nicht sein.

Voges hat aber noch so einiges im Sack, deutet er an, will aber noch nicht darüber sprechen. Auf jeden Fall steht zu hoffen, daß das Schauspiel Ende des Jahres wieder unter zumutbaren Bedingungen in ein ruhiges, produktives, kreatives Fahrwasser zurückfindet. Angekündigt werden unter anderem „Übergewicht, unwichtig: Unform – Ein europäisches Abendmahl“ von Werner Schwab im Studio (Premiere 17.12.), ein Tschechowscher „Kirschgarten“ als opulentes Ensemblestück ebenfalls im Studio (29.12.), „Orlando“ nach Virginia Woolf (ab 11.2.2018) und leider auch wieder „Die Kassierer“.

Die Kassierer mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland (vorn) kommen wieder. Ihr neues Stück heißt „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Drei von der Punkstelle“

Die Punk-Rentnerband um Wolfgang „Wölfi“ Wendland droht die „Punk-Operette“ „Die Drei von der Punkstelle“ an (ab 26.5.2018). Und wo wir schon dabei sind: Unter den Extras und noch ohne festes Datum kündigt sich in der „Gesprächsreihe für wahre Freunde der Trashkultur“ Jörg Buttgereits Beitrag „Nackt und zerfleischt“ an. Freut euch drauf!

Auf dem Opernzettel stehen „Arabella“ von Richard Strauss (ab 24.9.), „Eugen Onegin“ von Peter Tschaikowski (ab 2.12.), „Nabucco“ von Verdi (ab 10.3.2018) und schließlich „Die Schneekönigin“ von Felix Lange als „Familienoper“ (ab 8.4.2017). Die Abteilung Leichte Muse wird von Paul Lincke, dem Erfinder des Lincke-Ufers, mit der Revue-Operette „Frau Luna“ beschickt (ab 13.1.2018), und als obligate Musicalproduktion erwartet ein geneigtes Publikum „Hairspray“ von Marc Shaiman (ab 21.10.). Kammersänger Hannes Brock, Dortmunder (Verzeihung) „Opern-Urgestein“, Homeboy, Publikumsliebling und was nicht sonst noch alles wird sich mit dieser Produktion in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden. Eine festliche Gala mit Philharmonikern und Band ist zudem am 17. Februar 2018 für Hannes Brocks Verabschiedung geplant, der Titel ist, wenn ich nicht irre, ein Satz des letzten österreichischen Kaisers Franz-Josef I.: „Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut“ sprach er einstmals in einen Edison-Phonographen, die Aufnahme ist erhalten.

Xin Peng Wangs Ballett „Faust II – Erlösung!“ bleibt im Programm (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Abstraktes Ballett

Drei Klavierkonzerte von Rachmaninow, 6 Symphonien von Tschaikowski liefern das musikalische Material, mit dem Dortmunds Ballettchef Xin Peng Wang ein neues, abstraktes Ballett gestalten will, das die Namen dieser beiden Komponisten zum Titel hat. Außerdem kommt „Alice“, ein Ballett von Mauro Bigonzetti nach Lewis Carrolls „Alice’s Adventure in Wonderland“, zu dem die italienische Frauenband Assurd die Musik machen wird (ab 10.2.2018). Wiederaufnahmen sind „Der Nußknacker“, ein Ballett von Benjamin Millepied, sowie „Faust II – Erlösung!“ von Xin Peng Wang. Und die traditionsreiche Internationale Ballettgala trägt mittlerweile hohe Ordnungsziffern, XXVI und XXVII (30.9. u. 1.10.2017, 30.6. u. 1.7.2018).

Mahlers Vierte und Achte

Den meisten Platz in den gedruckten Programmankündigungen, so jedenfalls scheint es, beansprucht jedes Jahr Generalmusikdirektor Gabriel Feltz. Das liegt aber einfach daran, daß die Philharmoniker schon lange vor Spielzeitbeginn festlegen, was sie spielen werden, Reihe für Reihe, Konzert für Konzert. Und das schreiben sie dann eben auch schon auf, daher der Umfang.

Zweimal ist in der Konzertreihe nun Mahler im Angebot (die Vierte im Oktober 2017, die Achte im Juli 2018). An Mahler habe er sich in seinen ersten Dortmunder Jahren nicht herangetraut, erklärt Feltz, erst wollte er den Klangkörper besser kennenlernen. Nun aber traut er sich; auch an die Achte, die gern die „Sinfonie der Tausend“ genannt wird. Gut, tausend Mitwirkende wie bei der Uraufführung bringt Dortmund nicht auf die Bühne, aber 330 sind es schon, vor allem wegen der machtvollen Chöre. Neben dem Knabenchor der Chorakademie Dortmund werden der Tschechische Philharmonische Chor Brno und der Slowakische Philharmonische Chor Bratislava zu hören sein.

Blick in das Dortmunder Konzerthaus (Foto: Anneliese Schuerer/Theater Dortmund)

90 Prozent Auslastung im Blick

Um die 80 Prozent Auslastung können die Philharmoniker derzeit vorweisen, das ist nicht schlecht. Wäre es da nicht an der Zeit, den Montagstermin wieder aufleben zu lassen? Feltz’ Vorgänger Jac van Steen hatte den dritten monatlichen philharmonischen Aufführungstermin wegen mangelnder Nachfrage abgeschafft, was die Dortmunder nicht begeisterte. Feltz sagt, er sei in dieser Frage unentschieden, im Orchester werde die Frage kontrovers diskutiert. Unter einer Auslastung von 90 Prozent allerdings sei ein weiterer regelmäßiger philharmonischer Termin schwer vorstellbar. Aber bei Mahlers 8. Sinfonie mit ihrem aberwitzigen Aufwand sollte man vielleicht mal eine Ausnahme vom Zweierzyklus machen – zumal nicht so viele Menschen ins Konzerthaus paßten wie sonst, der großen Chöre wegen.

Die Violinistin Mirijam Contzen (Foto: Mirijam Contzen/Tom Specht)

Übrigens: Die beiden Mai-Konzerte der Dortmunder Sinfoniker waren restlos ausverkauft, zweimal 1260 Plätze. Grund war, wie wir vermuten wollen, der Auftritt der Violinsolistin Mirijam Contzen, die familiäre Wurzeln in Asien, Lünen und Münster hat. Ein „Home-Girl“, wenn der Ausdruck erlaubt ist. Sie spielte Tschaikowskis Violinkonzert d-Dur op. 35.

Meinung aus zweiter Hand

Schließlich das Kinder- und Jugendtheater unter Leitung von Andreas Gruhn, das mit sorgfältiger Alterszuordnung eine erstaunliche Vielzahl von Stücken stemmt. Kafkas „Verwandlung“ bringen sie für Menschen ab 14 heraus (ab 22.9.), den „Gestiefelten Kater“ (ab 10.11.) finden wir – als Weihnachtsmärchen – auf der Liste der Premieren ebenso wie etliche pädagogisch unterfütterte Projekt-Stücke, Stück-Projekte, die sich um Themen wie Leistungsdruck, Selbstoptimierung und Existenzangst drehen, um Schwierigkeiten und Chancen und manchmal auch um dumme Rollenbilder. Von Omas und Opas in meinem Alter, die dort mit den Enkeln hingehen, höre ich immer wieder begeisterte Berichte über die Qualität des Kinder- und Jugendtheaters. Ich gebe das mal so weiter, Meinungen aus zugegeben zweiter Hand, trotzdem recht seriös in meinen Augen.

So viel erstmal in groben Zügen. Natürlich wird in allen Sparten noch viel mehr gemacht, als in diesem Aufsatz erwähnt werden konnte. Das dicke Programmbuch, das man mit seiner Orange-Dominanz und seinen 60er-Jahre-Schriften gestalterisch nicht unbedingt gelungen nennen muß, liefert eine Menge Informationen zur kommenden Spielzeit, die Lektüre ist ausdrücklich anempfohlen. Dem Schauspiel schließlich sei gewünscht, daß dessen karge Megastore-Zeit nun recht bald enden möge und sich der Vorhang wieder im angestammten Theater hebt.

 




Was der Mensch so alles glauben kann: Die neue Spielzeit im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen

Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. Foto: Georg Lange

Das Musiktheater im Revier Gelsenkirchen. (Foto: Georg Lange)

Von einem mutigen Spielplan sprach Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski bei der Vorstellung der Saison 2017/18 am Musiktheater im Revier. In der Tat: Zwei Schlüsselwerke der Oper des 20. Jahrhunderts in einer Spielzeit zu inszenieren und dazu eine bissig-heitere Farce von Dmitri Schostakowitsch zu platzieren, dazu gehört Vertrauen in die eigenen Kräfte und auf ein gewogenes Publikum. Generalintendant Michael Schulz kann sich auf beides verlassen – das hat die weit über das Ruhrgebiet hinaus beachtete Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ in der laufenden Spielzeit gezeigt.

OB Frank Baranowski (links) und Generalintendant Michael Schulz bei der Vorstellung des Spielplans 2017/18. Foto: Werner Häußner

OB Frank Baranowski (links) und Generalintendant Michael Schulz bei der Vorstellung des Spielplans 2017/18. (Foto: Werner Häußner)

An solche Erfolgsgeschichten knüpft das Team des Musiktheaters im Revier an: Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ und Francis Poulencs „Dialogues des Carmélites“ sind die prominenten Opern-Titel der neuen Spielzeit. Beide stehen für programmatische Schwerpunkte: Einmal will das MiR in den vielfältigen Chor derer einstimmen, die in diesem Jahr der Reformation gedenken – als einem der wichtigen Impulse auf dem Weg in das Denken der Neuzeit.

Zum anderen geht es dem Musiktheater im Revier um das – in letzter Zeit an verschiedenen Theatern aufgegriffene – Thema Religion und Glaube. Dazu sieht die Spielzeit auch Andrew Lloyd Webbers populäre Rock-Oper „Jesus Christ Superstar“ vor (Premiere am 22. Dezember). Und „Nabucco“ thematisiert das Scheitern eines Herrschers, der sich selbst zum Gott hochstilisiert. Giuseppe Verdis Oper hat sich in den letzten 30 Jahren einen Platz im Repertoire zurückerobert – nicht zuletzt wohl wegen des melodisch inbrünstigen „Gefangenenchors“. Sonja Trebes, die in dieser Spielzeit Nino Rotas „Florentiner Hut“ inszeniert hat, setzt sich mit Verdis erstem internationalem Erfolg auseinander (Premiere am 16. Juni 2018).

Ben Bauer inszeniert die „Gespräche der Karmeliterinnen“

Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ erzählt am Beispiel des bis heute geheimnisumwitterten Schöpfers des Isenheimer Altars ein Künstlerdrama über die Verantwortung des Individuums in der Gesellschaft. Ein Thema, das auch den Komponisten in seinem Leben einholte: Die geplante Uraufführung des „Mathis“ an der Berliner Krolloper wurde von den Nazis untersagt, Hindemith mit einem Aufführungsverbot belegt. „Mathis der Maler“ konnte erst 1938 in Zürich uraufgeführt werden. In Gelsenkirchen inszeniert Schulz selbst in einem Bühnenbild von Heike Scheele, die Premiere ist am 28.Oktober.

Ballettchefin Bridget Breiner und Generalmusikdirektor Rasmus Baumann. Foto: Werner Häußner

Ballettchefin Bridget Breiner und Generalmusikdirektor Rasmus Baumann. (Foto: Werner Häußner)

Auch „Gespräche der Karmeliterinnen“, 1957 uraufgeführt, ist in den letzten Jahren erfolgreich auf die Bühne zurückgekehrt, unter anderem in Essen, Düsseldorf, Köln, Münster. Am MiR stellt sich der Bühnenbildner Ben Bauer, einer der „rising stars“ der Regie-Szene, nach dem aktuellen „Don Giovanni“ der komplexen Thematik von Poulencs Oper nach Vorlagen von Georges Bernanos und Gertrud von Le Fort: Es geht um die Lebensangst einer jungen Frau, um den Terror der Französischen Revolution, um die Bereitschaft zum Martyrium und um die Frage, wohin ein standhafter Glaube führt, wenn eine Entscheidung gefordert ist. Ab 27. Januar 2018 ist Ben Bauers Ergebnis – und Poulencs farbig-vielfältige Musik – auf der Gelsenkirchener Bühne zu erleben.

Wenn man so will, geht es auch in anderen Stücken der kommenden Spielzeit um Glauben, freilich nicht im religiösen Sinn: In Gaetano Donizettis „L’Elisir d’amore“ glaubt ein junger Mann an die magische Wirkung eines Liebestranks – natürlich mit entzückendem Ergebnis. Die Koproduktion mit der Dresdner Semperoper hat am 5. Mai 2018 Premiere. In Eduard Künnekes „Der Vetter aus Dingsda“ glaubt eine verliebte junge Frau an die beständige Liebe, die selbst den Abstand ins ferne Batavia überbrücken kann – ebenfalls mit wundervoll überraschendem Ergebnis. Thomas Rimes gibt dem Operettenklassiker für das Kleine Haus ein neues, am jazzigen Klang des Originals orientiertes Klanggewand (9. Februar 2018).

Nach der Koch-Oper gibt’s echte Suppe

Die Satire Dmitri Schostakowitschs mit dem Titel „Moskau, Tscherjomuschki“ thematisiert den nachhaltig erschütterten Glauben an die Bürokratie und andere höchst irdische Einrichtungen. Dominique Horwitz wird das Stück von 1959 auf den Irrsinn heutiger Tage beziehen (31. März 2018). Horwitz ist auch der Schöpfer einer Revue, die ab 5. November unter dem Titel „Reformhaus Lutter“ nicht nur mit gesunder Ernährung, sondern wohl auch mit kränkelnden Erscheinungen des Glaubens, Unglaubens und Irrglaubens zu tun haben wird. Dazu passt, was Moritz Eggert ab 19. November in „Teufels Küche“ anrichten wird: Die Kinderoper kocht nämlich nicht nur alle möglichen musikalische Zutaten zu einer kulinarischen Sinfonie. Es soll am Ende auch eine richtige, essbare Suppe auf dem Tisch stehen!

Szene aus dem Ballett „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ am Musiktheater im Revier. Foto: Costin Radu

Szene aus dem Ballett „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ am Musiktheater im Revier. (Foto: Costin Radu)

Bridget Breiner kündigt einen (zu) viel gespielten Klassiker an: Mit „Romeo und Julia“ zur Musik Sergej Prokofjews setzt die Gelsenkirchener Ballettchefin ihre Beschäftigung mit Shakespeare-Stoffen fort (Premiere am 17. Februar 2018). Eröffnet wird die Serie der Novitäten im Ballett am 25. November mit „Old, New, Borrowed, Blue“ – drei Arbeiten von Meistern des zeitgenössischen Tanzes, ergänzt durch Breiners „In Honour of“, entstanden 2014 für Riga. David Dawson („A sweet spell of oblivion“, 2016 schon zu sehen), Jiři Kylián (“Indigo Rose”) und Uwe Scholz (“Jeunehomme-Klavierkonzert, 2. Satz“) sind die Choreografen, von Breiner ausgewählt, weil sie von allen dreien in ihrer eigenen Arbeit inspiriert worden ist. Die dritte Premiere am 28. April 2018 ist das Debut des belgischen Choreografen Jeroen Verbruggen, der das Kleine Haus mit seiner Performance mit einem neuen Raumkonzept (Bühne: Ines Alda) in eine Lounge verwandeln wird.

Wieder aufnehmen will die Ballettcompagnie „Charlotte Salomon: Der Tod und die Malerin“ anlässlich des 100. Geburtstags der 1943 in Auschwitz ermordeten Künstlerin. Der 2015 mit dem Theaterpreis „Der Faust“ ausgezeichnete Ballettabend wird ab 29 September noch vier Mal gezeigt. Ab 5. September ist im Zeiss-Planetarium Bochum eine multimedial aufbereitete Ausstellung zur Inszenierung zu sehen: Filmähnlich montierte Serienbilder, sogenannte Sequentials, des Fotokünstlers Heinrich Brinkmöller-Becker werden auf die Kuppel des Planetariums projiziert. Passend zum Shakespeare-Projekt Breiners kehrt am 15. Oktober Cathy Marstons „Hamlet“-Ballett auf die Bühne des Musiktheaters im Revier zurück.

Info: www.musiktheater-im-revier.de, Karten-Telefon: (0209) 4097 200




„Drehwurm“: Schwindelerregende Premiere im Dortmunder Tanztheater Cordula Nolte

Ein riesiger rosafarbener Wurm kriecht gemächlich von links nach rechts, zieht sich zusammen und auseinander. Ein Fremdkörper auf der weißen Bühne, auf der nichts zu sehen ist als zwei Schaukeln im Vordergrund. Dieser Wurm wird das Langsamste sein, das die Zuschauer an diesem Abend auf der Studiobühne des Tanztheaters Cordula Nolte an der Rheinischen Straße in Dortmund zu sehen bekommen. Das neue Stück „Drehwurm“ erzählt von der verbreiteten Rast- und Ratlosigkeit der Gesellschaft. Alles dreht sich, immer schneller – aber warum machen wir eigentlich alle dabei mit?

Pas de trois mit dem Bürostuhl. (Foto: Jochen Riese)

Antworten darauf bekommt das Publikum nicht direkt – aber die Frage bleibt haften, lange nachdem die letzten Takte der rhythmisch-treibenden, nie an Tempo verlierenden Musik (Olaf Nowodworski) verklungen sind. Anstrengend ist das Zuschauen, aber mindestens ebenso anregend. Das Thema trifft einen wunden Punkt im Publikum.

Stress als Lebensstil

Das Getriebensein ist offenbar eine Gesellschaftskrankheit, diagnostizieren die Tänzerinnen und Tänzer. Ihr uniformes Outfit – Dutt und schwarze Hipster-Brille – legt nahe, dass die Krankheit möglicherweise sogar Mode ist – Stress als Lebensstil. Die Schaukeln, die von der hohen Decke hängen – sie werden nicht etwa dazu genutzt, entspannt hin und her zu schweben. Stattdessen drehen sich zwei Tänzer darin ein und lassen los, erzeugen einen schwindelerregenden Drehwurm. Zwei auf Spitzenschuhen trippelnde Frauen drehen schnatternd eine Runde, sich ebenso hektisch wie unverständlich über dieses und jenes aufregend. Paare queren drehend die Bühne – die einen wie die Kinder, die sich überkreuz an Händen halten und immer schneller herum wirbeln, die anderen in Ballett-Drehungen, wieder andere im Springen. Zu den eindringlichen Bildern im ersten Teil gehört der Pas de trois mit einem Büro-Drehstuhl – auch im Sitzen, bei der Arbeit, dreht sich alles immer schneller.

Die Frage nach dem Warum stellt sich erstmals, als die Tänzer einander Eimer im Akkord weiterreichen, wechselnden Reihen und in wechselnde Richtungen. Die immer gleiche Tätigkeit variiert nur leicht, es gibt erkennbar weder Anfang noch Ende oder Ziel und Zweck. Immer von vorn, immer das Gleiche.

Stets in rastloser Bewegung. (Foto: Jochen Riese)

Wenn die Leistung ausbleibt

Dass es „die anderen“ sind, die uns zu unserer Rastlosigkeit treiben, deutet eine Szene an, in der sich ein Paar gegenseitig zu Höchstleistungen antreibt. Man zieht einander auf wie einen Kreisel und reagiert scherzhaft-höhnisch, wenn die erwartete Drehleistung ausbleibt: „Kannst wohl nicht mehr? Wie alt bist du eigentlich?“ In dem Stil geht es weiter: Nun werden im Affentempo Architekturen aus Pappkartons gebaut, höher und höher, ein Gemeinschaftswerk – doch sobald jemand ausschert und ein neues Bau-Projekt an anderer Stelle beginnt, folgen die anderen hektisch, bauen ab und neu auf. Nicht der Weg, sondern das In-Bewegung-Bleiben ist hier das einzig erkennbare Ziel: Schaffe, schaffe, baue.

„Mein Name ist Hase“, heißt es in der nächsten Szene – eine Gruppen-Choreografie der Ahnungslosen aus kollektiven Gesten der Verständnislosigkeit: Hände fassen sich an die Stirn, halten sich die Augen zu, packen nachdenklich ans Kinn, wehren mit geöffneten Handflächen jegliche Verantwortung ab. Familie Hase scheint stolz darauf, jegliche Verantwortung für ihr atemloses Mitlaufen abgeben zu können – es machen schließlich alle so. Der erste Teil endet, indem die Tänzer gemeinsam im Kreis laufen und dabei immer wieder die Richtung vorgeben: weiter vornan, immer weiter.

Choreografie der Verständnislosigkeit. (Foto: Jochen Riese)

Nach der Pause folgen paarweise Bewegungsstudien: Die Tänzer geben dem jeweils anderen Impulse, die Reaktionen hervorrufen. Aufs Anschaukeln folgt Schaukeln, Druck erzeugt Bewegung, Bremsen Stillstand. Das provoziert eine wichtige Frage: Was wäre, wenn der Impuls fehlte? Wie und wohin bewegen wir uns aus eigenem Antrieb?

Einen Versuch, das herauszufinden, unternimmt eine Tänzerin. In einer Szene der gescheiterten Anläufe versucht sie, über den eigenen Schatten zu springen, ganz von sich aus etwas zu bewegen – und zwar erst einmal sich selbst. Immer wieder sammelt sie Mut, konzentriert sich auf ihr Ziel, nimmt Anlauf – und dreht kurz vorher doch wieder ab.

Endlich den Ausstieg schaffen

Wohl keine Szene transportiert die kollektive Rat- und Rastlosigkeit besser als die Stuhl-Choreografie mit dem ganzen Ensemble, bei der es den Tänzern nicht gelingen mag, Platz zu nehmen. Sie ruckeln und rutschen, verändern erst ihre Position, dann die des Stuhls, wischen unruhig über die Sitzfläche, unentschieden, abwägend: Es könnte ja noch besser werden!

Im Optimierungswahn. (Foto: Jochen Riese)

Die Wende bringt erst eine Tänzerin, die gegen den Strom läuft, den getakteten Ablauf stört und den anderen den Boden unter den Füßen wegzieht. „No… go… slow“ heißt es in der Musik, alles friert ein, und auf den Schaukeln schaukeln entspannt zwei Tänzerinnen ganz aus eigenem Antrieb. Sie haben den Ausstieg geschafft. Im Publikum sind so manche, die wild entschlossen scheinen, es ihnen nachzutun.

Nächste Termine im Tanztheater Cordula Nolte, Dortmund, Paulinenstraße 2:
29.04.2017, 20:00 Uhr
20.05.2017, 20:00 Uhr
14.05.2017, 18:30 Uhr
http://www.tanztheater-cordula-nolte.de




„Kopf über Welt unter“: Ruhrfestspiele 2017 blicken auf den Menschen in seiner krisenhaften Verunsicherung

The Park Avenue Armory presents FLEXN WORLD PREMIERE A Collaboration of Reggie (Regg Roc ) Gray, Peter Sellars , and Members of the Flex Community in the Drill Hall, Park Avenue Armory on March 24, 2015. Light Sculpture & Lighting Design: BEN ZAMORA Sound Design: GARTH MACALEAVEY MUSIC: EPIC B THE COMPANY: ACE: Franklin Dawes Android : Martina Lauture Banks : James Davis Brixx : Sean Douglas Cal: Calvin Hunt Deidra : Deirdra Braz Dre Don: Andre Redman Droid: Rafael Burgos Droopz: Jerrod Ulysse Karnage: Quamaine Daniels Klassic: Joseph Carella Nicc Fatal: Nicholas Barbot Nyte: Ayinde Hart Pumpkin: Sabrina Rivera Regg Roc: Reggie Gray Sam I Am: Sam Estavien Scorp: Dwight Waugh Shellz: Shelby Felton Slicc: Derick Murreld Tyme: Glendon Charles Vypa: Khio Duncan YG: Richared Hudson Commissioned and produced by Park Avenue Armory Credit: Stephanie Berger

Park Avenue Armory kommt mit „Flexn“ zu den Ruhrfestspielen (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/ Stephanie Berger)

Donald Trump ante portas, der harte Brexit in brutalem Anmarsch, außerdem Putin, Erdogan, Islamisten und Populisten auf der tagespolitischen Besetzungsliste. Es ist alles ganz schrecklich. Und wenn die Welt so schrecklich ist, kann das Theater nicht abseits stehen, wenngleich es immer schwerer fällt, die Krisenhaftigkeit der Welt mit den Mitteln der Bühne, moralischen Gewinn erstrebend, zu bearbeiten.

Aufgeklärt im Sinne der stets zu preisenden Aufklärung sind wir nämlich allemal, und trotzdem fällt uns zu den Aktualitäten kaum noch etwas ein. Und den Theaterleuten möglicherweise auch nicht.

Folgerichtig wähnt Ruhrfestspiele-Intendant Frank Hoffmann „das Theater in der Themenkrise“. Und macht natürlich trotzdem weiter. Nur ist das Motto des anstehenden Festivals anders als in den Vorjahren keine europäisch-regionale Verortung des Veranstaltungsschwerpunktes à la „Frankreich“ oder „Mittelmeer“, sondern, wenn man so will, ein Seeelenzustand: „Kopf über Welt unter“ sind die Ruhrfestspiele 2017 übertitelt, und unter diese Zeile paßt Tieftrauriges ebenso wie Krachkomisches. Entsprechend ist das Programm ein bunter Strauß aus Themen und Produktionen geworden, recht europäisch alles in allem, mit einigen amerikanischen, arabischen oder auch chinesischen Einsprengseln.

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„Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann eröffnet die Ruhrfestspiele (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Annick Lavallee Benny)

Robert Wilson

Wie jedes Jahr gibt es viele prominent besetzte Lesungen, Kabarettisten und Comedians in reicher Fülle, Spaßacts im jugendlichen Fringe-Festival; doch am interessantesten sind sicherlich die großen Veranstaltungen im Festspielhaus, in der Halle König Ludwig 1/2 oder im Theater Marl.

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Horror mit Musik: Matthias Brandt (links) und Jens Thomas in „Angst“ (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Mathias Bothor)

Auf der großen Bühne geht es am 2. Mai los mit E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ in der Regie (plus Bühne und Licht) vom „Theaterzauberer“ Robert Wilson, eine Koproduktion von Ruhrfestspielen und Düsseldorfer Schauspielhaus – das wohl fulminanteste Projekt in diesem Jahr.

Ein dramatisches Schwergesicht ist ohne Frage auch August Strindbergs „Rausch“ als Koproduktion von Recklinghausen, Luxemburger Nationaltheater, Schauspiel Hannover und Deutschem Theater Berlin, bei der Hausherr Frank Hoffmann Regie führt. Bekannte Namen – Robert Stadtlober, Wolfram Koch, Jacqueline Macaulay und andere schmücken die Besetzungsliste des Stücks – das Strindberg „dreist“ (Hoffmann) eine Komödie nannte und das gnadenlos mit den Gefühlen und der Angst seiner Protagonisten spielt. „Die Ungewißheit des Menschen in einer sich radikal verändernden Welt“ sieht der Regisseur in „Rausch“ exemplarisch fokussiert: „Lassen Sie sich berauschen!“ (O-Ton Programmheft).

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Robert Stadlober in „Rausch“ von August Strindberg. Intendant Frank Hoffmann führt Regie (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Stephan Pabst)

Nur zwei Personen

Manchmal aber, und das ist eher ernüchternd, ist es reichlich leer auf der Bühne des großen Hauses. So wird am 7. Mai Matthias Brand zusammen mit dem Musiker Jens Thomas gleich zweimal nacheinander einen je anderthalbstündigen „gruselig-spannenden literarisch-musikalischen Abend“ mit dem Titel „Angst“ vorführen, die Intendanz garantiert dem Publikum „einen wohligen Schauer“.

Eher leer ist es auf der Bühne auch, wenn Sebastian Koch und Kerstin Avemo zusammen mit dem Orchester Wiener Akademie Mitte Mai ihr „Egmont/Prometheus“-Projekt zur Aufführung bringen. Der englische Autor Christopher Hampton hat für seinen Blick auf die dunklen Seiten der Romantik Material von Goethe, Shelley, Lord Byron und Beethoven verarbeitet, Regie führt Alexander Wiegold.

Zweimal wird „Berlin Alexanderplatz“ nach dem Roman von Alfred Döblin in der Regie von Sebastian Hartmann gegeben, eine Produktion des Deutschen Theaters Berlin. Langjährige Freunde der Ruhrfestspiele werden sich mit gemischten Gefühlen an Hartmanns Einrichtung von Sean O’Caseys „Purpurstaub“ vor einigen Jahren erinnern, einen Bühnenkoloß von etlichen Stunden ohne Pause, bei dem das Publikum ausdrücklich dazu ermuntert wurde, den Zuschauerraum nach Belieben zu verlassen und wieder zu betreten. „Berlin Alexanderplatz“ nun wird mit „4 Stunden, 30 Minuten, zwei Pausen“ angekündigt, was vor diesem Hintergrund eindeutig ein Fortschritt ist.

Katharina Lorenz (Emily), Fabian Krüger (Amir), Nicholas Ofczarek (Isaac), Isabelle Redfern (Jory)

„Geächtet“ von Ayad Akhtar in der Inszenierung des Wiener Burgtheaters; Szene mit Katharina Lorenz (Emily), Fabian Krüger (Amir), Nicholas Ofczarek (Isaac), Isabelle Redfern (Jory) (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Georg Soulek)

Häßliche Dinge

Erwähnt sei im Bereich des Schauspiels noch „Geächtet“, das vielgespielte, aktuelle Stück von Ayad Akhtar, das davon erzählt, wie Antisemitismus, Islamismus oder auch opportunistische Überangepaßtheit scheinbar plötzlich die Beziehungen fortschrittlicher amerikanischer Großstädter bestimmen, die so sicher waren, über all diesen häßlichen Dingen zu stehen. Das Stück kam in einer recht eigenwilligen Ausstattung (die Handelnden waren als Albinos geschminkt, somit frei von Hautfarbe oder „Rasse“) auch in Dortmund auf die Bühne der Ausweichspielstätte „Megastore“; bei den Ruhrfestspielen ist die Einrichtung des Wiener Burgtheaters in der Regie von Tina Lanik zu sehen.

Street Dance

Abschließend seien drei Gastspiele erwähnt: Dreimal wird das Deutsche Theater Berlin Elias Canettis „Hochzeit“ in der Regie von Andreas Kriegenburg zur Aufführung bringen. „Park Avenue Armory, New York“ zeigt in der Regie von Reggie (Regg Roc) Gray und Peter Sellars „Flexn“, ein Stück mit viel extremem Street Dance, neben dem Altbekanntes gleichen Namens wie gesitteter Gesellschaftstanz wirken soll. Behauptet jedenfalls die Ankündigung.

Schließlich haben wir noch „Wut“ von Elfriede Jelinek, in einer Produktion des Thalia Theaters Hamburg. Und damit soll es jetzt genug sein, obwohl natürlich noch sehr viel mehr zu berichten wäre. Im Internet ist das Programm vollständig abrufbar, an vielen Orten liegen Programmhefte zum Mitnehmen aus.

Ach ja, die Kunsthalle: 1947 gründete sich in Recklinghausen die Künstlergruppe „Junger Westen“, 70 Jahre ist das her. Unter dem Titel „Zwischen Krieg und Frieden – der schwierige Weg zur Avantgarde“ wird jetzt darauf Rückschau gehalten.

Der Kartenvorverkauf beginnt am Donnerstag, 19. Januar, ab 9 Uhr, Näheres dazu hier: https://www.ruhrfestspiele.de/de/tickets/bestellmoeglichkeiten.php




Mahler und Migranten – Alain Platels Stück „nicht schlafen“ bei der Ruhrtriennale

Alain Platel, Steven Prengels, Berlinde De Bruyckere, les ballets C de la B: nicht schlafen/ Ruhrtriennale 2016

Sie gehen sich an die Wäsche. Szene aus „nicht schlafen“ von Alain Platel, Steven Prengels und Berlinde De Bruyckere. (Foto: Chris van de Burght/Ruhrtriennale)

An die Belle Époque erinnern sie eher nicht, die Tänzer und die Tänzerin auf der Bühne. Eher wirken sie migrantisch. Fallschirmseide, Trainingsanzüge. Nach einer langen Phase statuarischen Wartens werden sie gewalttätig, kämpfen miteinander, reißen sich die Kleider vom Leib. Körperliche Jungmännerrituale, ist man geneigt zu denken.

Doch was haben diese Personen, vorwiegend womöglich arabischer und afrikanischer Herkunft, mit dem Komponisten Gustav Mahler zu tun, der von 1860 bis 1911 lebte und dem das Projekt den Arbeitstitel „Mahler Projekt“ verdankt? Und was hat der Altar auf der Bühne zu bedeuten, auf dem zwei Pferdekadaver (nicht echt) liegen? Alain Platels Tanzabend in der Bochumer Jahrhunderthalle, dargeboten im Rahmen der Ruhrtriennale, verlangt nach Interpretation.

Seele auf Achterbahnfahrt

Nun, zunächst einmal ist „nicht schlafen“ eine Choreographie auf Mahlers Musik, auf sein dramatisches Seelenleben, das sich in ihr ausdrückt. Wiederholt, beispielhaft in seiner 5. Symphonie, wechseln manische Aufwallungen sich mit trostlos depressiver Trübnis ab, entwickeln die gegenläufigen Stimmungen in ihrem Kontrast geradezu eine eigene Dynamik.

Um solche Achternbahnfahrten durch die eigene Seelenlandschaft verstehen zu können, muß man sich (fast ganz) nackt machen, ungeschützt und angreifbar, womit sich die ersten Szenen der Choreographie erklären ließen. Im Tanz der jungen Männer zum dritten Satz der Fünften spiegelt sich des Komponisten Seelenpein geradezu mustergültig, mal kraftvoll und athletisch, mal verzweifelt und erschöpft.

Die Musikliste dieses Abends übrigens – dem 3. Satz aus der Fünften folgt ein 4. Satz der Dritten, hernach intensives Tieratmen unter dem Titel „Breathing – Mahler“, und so fort – listet neben den Mahler-Zitaten auch afrikanische Klänge sowie etliche zum Teil recht freie Bearbeitungen und Arrangements von Steven Prengels auf, der die musikalische Leitung hat.

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„nicht schlafen“ – Probenfoto (Foto: Chris van der Burght/Ruhrtriennale)

Vor dem Ersten Weltkrieg

Alain Platel, ist im Programmheft zu lesen, will Mahler auch verstanden wissen als eine Art Seismograph seiner Zeit, in der es, meint der Regisseur, ziemlich drunter und drüber ging, drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Technischer Fortschritt, Bevölkerungsexplosion und Psychoanalyse, um nur mal drei Schlagworte zu nennen, revolutionierten Gesellschaften und Staaten mit vielfach veralteten, autoritären, reformunwilligen Machtstrukturen. Das männliche Selbstbild wankte, und das alles konnte nicht gutgehen, da baute sich zu viel Druck im Kessel auf.

Feinnervige Künstler wie eben Mahler, so die These, gaben diesen atmosphärischen Veränderungen in ihrem Schaffen Ausdruck. Die Choreographie wäre somit ein getanztes Sitten- oder Gesellschaftsbild, das Gefühle von Verunsicherung, Gefahr, diffuser Gewalt oder Verlustangst (von Männern) aufnimmt. Das tut sie in engen Grenzen gewiß, doch bietet sie kaum zusätzlichen Erkenntnisgewinn.

Alain Platel, Steven Prengels, Berlinde De Bruyckere, les ballets C de la B: nicht schlafen/ Ruhrtriennale 2016

Herren von „Les ballets C de la B“ in „nicht schlafen“ (Foto: Chris van de Burght/Ruhrtriennale)

Wer sind die Opfer?

Eher schon drängt die migrantische Anmutung dieses Auftritts von „Les ballets C de la B“ aus Gent in Belgien ins Blickfeld. Leben wir wieder in Zeiten des Umbruchs? Welche Opfer müssen gebracht werden, wer sind die Opfer? Eine größere Sequenz des Getanzten bearbeitet dieses Thema, zeigt die Ausgrenzung eines Mannes, der sich auffällig juvenil und tuntig gibt und wohl deshalb ausgeguckt wird, zeigt seine Isolierung von der Gruppe, sein Leiden und Sterben. Schließlich liegt er neben den Tieropfern auf dem Opferaltar. Und den anderen geht es wieder gut; so ein Opfer besänftigt die Seele und gibt den Menschen neue Kraft. Oder? Wenn der Opfergang auf seinem Höhepunkt angelangt ist, vermeint man im dichten Klangrausch auch die hämmernden Klänge aus Stravinskys „Frühlingsopfer“ zu vernehmen, doch nennt die Musikliste diesen Komponisten nicht.

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„nicht schlafen“ – Probenfoto (Foto: Chris van de Burght/Ruhrtriennale)

Immer wachsam sein

Der Titel des Tanzabends, das entnehmen wir einem Aufsatz von Hildegard de Vuyst im Programmheft, ist durchaus appellativ gemeint („Wir sind dazu verurteilt, immer auf der Hut zu sein“) und rekurriert seinerseits auf Zeilen des Philosophen Friedrich Nietzsche, die Mahler für Zarathustras Nachtwandlerlied verwendete („O Mensch! Gib acht!…). Von Nietzsche wiederum wissen wir, daß er dem Wahnsinn anheimfiel, nachdem er auf der Straße ein Pferd geherzt hatte. Taugt dies für eine assoziative Kaskade bis zu den (künstlichen) Pferden auf dem Opferaltar im Tanzstück? Oder setzt man damit auf das falsche Pferd?

In Wiederholungsschleifen

Die umfangreiche theoretisch-historisch-philosophische Grundierung findet im Tanz der Männer leider nur zum Teil ihre Entsprechung. Da ist ein selten unterbrochenes, in seiner Gleichförmigkeit ermüdendes Agieren aller auf der Bühne, Bilder im Sinne einer dramatischen Strukturierung bleibt diese Einrichtung schuldig. Nach etwa der Hälfte der Zeit wirkt der gestische Vorrat endgültig verbraucht, man wähnt sich in Wiederholungsschleifen.

Eindrucksvoll aber bleibt, wie die jungen Männer (und die eine Frau) mit großem Körpereinsatz in stickig-heißer Jahrhunderthallenluft rund zwei Stunden fast permanenter, bewegter Bühnenpräsenz ohne Erschöpfungszeichen meisterten. Ein bißchen mehr Präzision im Tanz hätte hie und da gutgetan, aber bei einer solchen frei konstruierten Choreographie soll man nicht zu streng sein.

Manche applaudierten heftig, manche gingen etwas früher – wie das eben so ist.

Weitere Termine: 3., 8., 9., 10. September
www.ruhrtriennale.de




Vieles von allem: Das Theater Dortmund präsentiert sein Programm für 2016/2017

Schauspielhaus Dortmund

Hier wird derzeit renoviert – und alle hoffen, daß es pünktlich sein Ende hat: Das Theater Dortmund (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Die längste Theaterveranstaltung in der kommenden Spielzeit ist ein „54 Stunden Night Club“ im Megastore. Beginnend Freitag, 21. Oktober, und endend am Sonntag, 23. Oktober, will das Dortmunder Schauspiel – hoffentlich! hoffentlich! – Abschied nehmen von seiner provisorischen Spielstätte im Gewerbegebiet an der Nortkirchenstraße.

Das setzt natürlich voraus, daß dann die Renovierungsarbeiten im Großen Haus beendet sind. Dort, im Großen Haus, soll sich erstmalig wieder am 10. Dezember der Vorhang für Bert Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ heben, Regie führt der 1967 geborene Sascha Hawemann, von dem in Dortmund bereits als Regiearbeit das Familiendrama „Eine Familie (August: Osage County)“ zu sehen war.

Fünf Sparten machen Betrieb

Das Theater Dortmund, mit seinen fünf Sparten Ballett, Philharmoniker, Oper, Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater doch ein recht machtvoller Kulturbetrieb, hat seine Pläne für 2016/2017 vorgestellt. Ein aufwendig gestaltetes Spielzeitheft (eigentlich eher ein Buch) faßt all die Pläne und Termine faktenreich zusammen, und Bettina Pesch, die Geschäftsführende Direktorin, weist nicht ohne Stolz darauf hin, daß dieses Buch den Etat nicht belastet hat, sondern ausschließlich aus Mitteln von Kulturstiftern bezahlt werden konnte. Das ändert allerdings, kleiner Schmäh am Rande, nichts daran, daß der optische Auftritt des Theaters Dortmund, seine, wie man heute gern sagt, „Corporate Identity“, dringend einer Auffrischung, besser noch einer ziemlich grundlegende Modernisierung bedarf.

Der optische Auftritt ist reichlich angestaubt

Die Grundfarbe Orange war in den 80er Jahren modern (zusammen mit Braun und Olivgrün, in wild wogenden Tapetenmustern), erbaut heutzutage aber bestenfalls noch patriotisch gestimmte Holländer; die fette Schrift von Typ Helvetica sowie die vor allem im Konzertbereich immer noch gepflegte Kleinschreibung von Hauptwörtern sind Moden der 60er Jahre, die andernorts längst überwunden wurden und keine Nostalgiegefühle hervorrufen. Für ein fortschrittliches Haus ist dieser Auftritt schlicht kontraproduktiv.

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Im Schauspielhaus. (Foto: Sascha Rutzen/Theater Dortmund)

Revolutionär und globalisierungskritisch

Wenden wir unseren Blick nun auf das Schauspiel, das sich, je nach dem, mal revolutionär, mal doch zumindest globalisierungskritisch gibt. Revolutionär startet es in die Spielzeit, wenn man den Stücktitel wörtlich nimmt. Doch auch wenn Joël Pommerats „La Révolution #1 – Wir schaffen das schon“ mit der französischen Revolution mehr zu tun hat als vor einigen Jahren sein Erfolgsstück „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ mit Korea, bleibt noch Platz für Menschliches, Privates, was diesen Abend in der Regie von Ed Hauswirth hoffentlich vor der Tristesse des freudlosen Historiendramas bewahren wird. Um die französische Revolution geht es aber wirklich: „Schloß Versailles, 1787. König Louis XVI hat die wichtigsten Adeligen seines Landes zusammengerufen…“ beginnt der Ankündigungstext. Also schau’n wir mal – auch, was die Ereignisse von einst den Heutigen noch sagen können. Übrigens ist auch „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ im Programm, Premiere am 8. April 2017 im Schauspielhaus, Regie Paolo Magelli.

Der lange Schatten Michael Gruners

An Horváth, sagt Schauspielchef Kay Voges, habe man sich in seiner Intendanz für Jahre nicht herangewagt, weil die Horváth-Kompetenz seines Vorgängers Michael Gruner so übermächtig gewesen wäre. Oder zumindest diesen Ruf hatte. Nun aber gibt es doch einen: „Kasimir und Karoline“, ab 18. September im Megastore und in der Regie von Gordon Kämmerer.

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Markant: Das Opernhaus (Foto: Philip Lethen/Theater Dortmund)

Zu Gast bei den Ruhrfestspielen

„Die Simulanten“, die Philippe Heule erstmalig ab dem 23. September im Megstore auftreten läßt, können vorher schon bei den Ruhrfestspielen besichtigt werden, nämlich am 7., 8. und 9. Juni. Nach gefühlten 150 Jahren gibt es tatsächlich eine Kooperation von Recklinghausens Grünem Hügel und dem Theater Dortmund, was trotz der räumlichen Nähe doch eine Win-Win-Situation zu sein scheint. Die Dortmunder können sich einem anderen Publikum präsentieren, das Festival sichert sich eine Produktion von größter Aktualität. Denn Philippe Heudes Simulanten sind mit ihren Fernbeziehungsneurosen, ihrer Therapiegläubigkeit und ihrer Angst vor dem Konkreten wohl recht typisch für die Jetztzeit. Auch ihr Unbehagen in der Welt ist es, also am besten schnell einen UN-Weltklimagipfel abhalten. Nur als Simulation natürlich.

Rimini Protokoll kurvt durch das Ruhrgebiet

Was haben wir noch? Das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll verlegt seine Truck Track Ruhr Nummer 4 ins Dortmunder Stadtgebiet („Album Dortmund“) und tüftelt zusammen mit Dortmunder Theaterleuten aus, wo genau es langgehen soll. Übrigens begegnet man den Truck Tracks Ruhr auch bei den Ruhrfestspielen und bei der Ruhrtriennale, sie kommen halt viel rum und sind, wie man sieht, überaus kontaktfreudig. Was dort konkret passiert? Den Beschreibungen nach – ich war noch nicht dabei – werden maximal 49 Zuschauer auf einem überdachten Lkw zu markanten Punkten gefahren, die sie mit Musik und künstlerischer Intervention intensiv erleben. Gute Reise!

Häßliche Internationalisierung

Interessant in des Wortes höchst ursprünglicher & positiver Bedeutung klingt, was uns in „Die schwarze Flotte“ erwartet. Dieser „große Monolog“ (Voges) „von Mike Daisey nach einer Recherche von Correct!v“ blickt sozusagen in die Abgründe der internationalen Seeschiffahrt, die mit beängstigendem Gleichmut Rohstoffe, Öl und Handelswaren, Waffen, Drogen, Flüchtlinge und Arbeitsmigranten über den Globus transportiert. Zu wessen Nutzen? Das Stück verspricht Antworten, Regie führt Hausherr Kay Voges.

Von Franz Xaver Kroetz gibt es „Furcht und Hoffnung in Deutschland: Ich bin das Volk“, entstanden in den 80er und 90er Jahren (Regie: Wiebke Rüter), von Kay Voges einen Film zum Flüchtlingselend dieser Welt und Europas Abwehrhaltung dazu („Furcht und Ekel in Europa“, Premiere im Dezember 2016).

Wolfgang Wendland Ekkehard Freye Julia Schubert

Manchmal kommen sie wieder: „Die Kassierer“ mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland, hier noch bei „Häuptling Abendwind“ zu sehen, sind demnächst „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Kassierer“ kommen wieder

Bevor die Punk-Greise „Die Kassierer“ (wieder im Unten-ohne-Look?) mit der Punkoperette „Die Drei von der Punkstelle“ der Spielzeit 2016/2017 ihren krönend-krachenden Abschluß verleihen werden, wartet das Programm noch mit einer besonderen „Faust“-Adaption auf („Faust At The Crossroads“, Regie Kay Voges), einem neuen Stück der Theaterpartisanen („Übt das Unerwartete“), einem Stück über die islamistische Radikalisierung junger Männer („Flammende Köpfe“ von Arne Vogelsang) und einem „Live-Animationsfilm von sputnic nach dem gleichnamigen Roman von Paul Auster“: „Mr. Vertigo“. Und was der Hausherr in der Oper veranstaltet, wird ein paar Absätze später erzählt.

Internetreinigung

Zuvor jedoch einige Worte über „Nach Manila – Ein Passionsspiel nach Ermittlungen auf den Philippinen von Laokoon“. Hier bekommt Globalisierungskritik ein Gesicht, genauer ihrer viele, Millionen, täglich. Es geht um die 350 Millionen Fotos, die täglich auf Facebook hochgeladen werden, die 80 Millionen auf Instagram, die 400.000 täglichen Videostunden bei Youtube. Auf den Philippinen ist es der Job vieler vorwiegend junge Menschen, diese Material auf unzumutbare Pornographie, Brutalität, Grausamkeit und so fort zu sichten und alles zu löschen, was der Kundschaft im reichen Norden des Planeten nicht zuzumuten ist.

Warum Philippinos? Weil sie, so wird behauptet, überwiegend katholisch sind und nordwestliche Moralvorstellungen sich weitgehend mit den ihren decken. Vielleicht aber auch nur, weil ihre Arbeit spottbillig ist. Jedenfalls interessiert es die weltweit agierenden Internetkonzerne nicht sonderlich, wie die Menschen in derart belastenden Jobs zurechtkommen. Schlecht, behauptet das Stück in der Regie von Moritz Riesewieck. Ich bin gespannt.

Kay Voges inszeniert Wilson-Oper

Ein kurzer Blick nun auf das Programm der Oper, wo wiederum Schauspielchef Kay Voges gesichtet wird. Er führt Regie in „Einstein on the Beach“ von Robert Wilson und dem weltberühmten Musikminimalisten Philip Glass. Es ist die erste Bühnenfassung, die nicht Großmeister Wilson selbst gestaltet. „Nein“, bestätigt Opernintendant Jens-Daniel Herzog, es gibt keine Inszenierungsvorschriften, keine Auflagen, das Stück à la Robert Wilson auf die Bühne zu stellen. Florian Helgath hat die musikalische Leitung, das Chorwerk Ruhr wirkt mit und man hat den Eindruck, daß dies ein schöner Abend werden kann (erstmalig am 23. April 2017).

Der Opernball fällt aus, dafür gibt es am 9. Januar eine konzertante „Fledermaus“. Nicht fehlt „Die Zauberflöte“, nicht „Otello“ doch sind auch Andrew Lloyd Webber und Paul Abraham zugegen, mit dem Musical „Sunset Boulevard“ der eine, mit der Jazz-Operette „Die Blume von Hawaii“ der andere. Und jetzt höre ich auf, Opern-Facts zu reihen und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß mein geschätzter Kollege S. sich dieser Aufgabe hingebungsvoll hingibt.

Lüner Solistin Mirijam Contzen im philharmonischen Konzert

Gleiches gilt für die Konzertreihen, an denen stark beeindruckt, daß sie alle schon bei der ersten Präsentation des Programms bis zur Zugabe (Scherz!) durchgeplant sind. Träume und Phantasien, so Generalmusikdirektor Gabriel Feltz, seien so etwas wie das Leitmotiv der kommenden Saison, die seine vierte in Dortmund sein wird. Übrigens wird beim 8. Konzert am 9.und 10. Mai 2017 die Geigerin Mirijam Contzen zu hören sein, die in Lünen aufwuchs und seit etlichen Jahren das Musikfestival auf Schloß Cappenberg leitet (das in diesem Jahr wegen Renovierung des Schlosses ausfällt). Mittlerweile zählt sie zu den Großen der internationalen Solistenszene. In Dortmund wird sie in Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur op. 35 zu hören sein.

Open Air auf dem Friedensplatz

Und endlich gibt es Open Air Klassik auf dem Dortmunder Friedensplatz! Der Cityring macht’s möglich (und verkauft die Eintrittskarten). Am Freitag, 26. August, startet die vierteilige Reihe mit einer Sommernacht der Oper, mit La Traviata und Zigeunerchor (heißt nun mal so). Am darauffolgenden Samstag ist unter dem Titel „Groove Symphony“ „ein perfekter Mix aus Soul, Elektro, Klassik und Hip Hop“ zu hören, die Gruppe Moonbootica und Philharmoniker spielen gemeinsam auf.

Sonntag ist dann um 11 Uhr Familienkonzert unter dem Titel „Orchesterolympiade“ Musiker im Trainingsanzug treten an zum Höher, Schneller, Weiter der Instrumente, und am Pult steht Gabriel Feltz höchstselbst. Na, das wird was werden. Abends dann schließlich die Musicalgala „A Night full of Stars“. Es dirigiert Philipp Armbruster, es singen Alexander Klaws, Patricia Meeden und Morgan Moody.

NRW Theatertreffen Juni 2014

Schauspielhaus (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Schwanensee ist wieder da

Und jetzt gucken wir noch kurz, was Ballettdirektor Xin Peng Wang anzubieten hat. Bei seinen Premieren gibt es einen „Faust II – Erlösung“, und bei den Wiederaufnahmen „Faust I – Gewissen!“. „Schwanensee“ kommt wieder, und von besonderer Delikatesse ist sicherlich die Präsentation dreier Choreographien von Johan Inger, Richard Siegal und Edward Clug unter dem Titel „Kontraste“. An zwei Wochenenden (24./25.9.2016, 24./25.6.2017) spenden die Ballettgalas XXIV und XXV (also 24 und 25) Glanz. Und wie immer gilt besonders für das Ballett der Rat: Man mühe rechtzeitig sich um Karten, denn allzu schnell sind sie vergriffen.

Weihnachten wird es eng im Kinder- und Jugendtheater

Zu guter Letzt das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das sich tapfer und mit Erfolg bemüht, alle Kinder zu erreichen, auch die benachteiligten, und dessen Produktionen sich immer auch um Solidarität, Fairneß und Gerechtigkeit drehen. In „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel gehen „ein Hoch- und ein Tiefbegabter“ (KJT-Chef Andreas Gruhn) auf erfolgreiche Verbrecherjagd, ein bißchen so wie weiland Kästners „Emil und die Detektive“. Jörg Menke-Peitzmeyers „Strafraumszenen“ drehen sich um Fußball und Rassismus, es gibt ein Flüchtlingsprojekt („Say it loud II – Stories from the brave new world“) und im Sckelly etwas für Kinder ab 4 Jahren („Dreier steht Kopf“ von Carsten Brandau).

Das Weihnachtsstück heißt „Der falsche Prinz“, Andreas Gruhn schrieb es nach der Vorlage von Wilhelm Hauff. Uraufführung ist am 11. November, und dann wird gespielt und gespielt und gespielt. Leider aber nicht im Großen Haus, denn das wird ja renoviert. An der Sckellstraße aber sind die Plätze knapp, nur zwei Drittel der sonstigen Menge stehen zur Verfügung.

Auslastung lag bei 73,1 Prozent

Viel Theater. Viel Oper, viel Ballett und viel Konzert. Und in Essen, Bochum, Gelsenkirchen, Hagen, um nur die nächstliegenden städtischen Bühnen der Umgebung zu nennen, gibt es auch attraktive Angebote. Da muß man sich strecken, wenn man mithalten will. 73,1 Prozent durchschnittliche Auslastung aller Veranstaltungen hat Bettina Pesch ausgerechnet, Gabriel Feltz hält eine Zielmarke von 80 Prozent für realistisch. Und dann wäre statistisch gesehen ja immer noch Luft nach oben. Jedenfalls lasten im Moment keine lähmenden Sparzwänge auf dem Dortmunder Theater. Und das ist auch gut so.

Wer jetzt noch mehr wissen möchte, sei auf die Internetseite des Dortmunder Theaters verwiesen: www.theaterdo.de

Die neuen Programmbücher, in denen alles steht, liegen an der Theaterkasse im Opernhaus aus und können kostenlos mitgenommen werden.

 




Bewegender Abend der Bewegung: Das Gehen im Tanztheater Cordula Nolte

„Gehweg“ heißt die jüngste Produktion aus dem Dortmunder Tanztheater Cordula Nolte – das inzwischen neunte Stück der freien Bühne im Unionviertel, die Jahr für Jahr gesellschaftliche Entwicklungen tanz-theatralisch verarbeitet und kommentiert. Diesmal geht’s ums Gehen – eine nur scheinbar profane Angelegenheit, wie die gefeierte Premiere am Samstagabend bewies.

Alles Leben – also auch alle Bewegung – kommt aus dem Wasser.  Zu Beginn liegt das Ensemble auf dem Boden, schwimmt, windet sich. Nach und nach streben die Körper aufwärts, entdecken ihre Beine, rollen langsam ihre Füße ab, ertasten den Boden und erproben die Höhe – die Evolution in wenigen Minuten. Und kaum stehen sie auf eigenen Beinen, beginnt der Stress: Die Menschheit hastet vorwärts, immer weiter, an- und voreinander vorbei, dem Zusammenprall oft nur haarscharf entgehend. Ist der Fort-Schritt wirklich ein Fortschritt?

Foto: Jochen Riese

Foto: Jochen Riese

Die Musik dazu und für das ganze Stück stammt von Ensemble-Mitglied Olaf Nowodworski, der die Stimmungen und Rhythmen der Szenen in seinen Synthie-Klängen aufnimmt, sie unterstützt und verstärkt – ein Glücksfall. Zum Beispiel in der folgenden kleinen, feinen Studie der Gangarten. Von links nach rechts, von rechts nach links laufen die Tänzerinnen und Tänzer zu treibenden Klängen über die Bühne und zeigen dabei ein skurriles Panoptikum der Laufstile von Zweibeinern.

Da gibt es den eilig Hastenden, das Telefon in der einen Hand, mit der anderen gestikulierend und wahllos in der Hosentasche wühlend. Den Kleinen, der sich mit seinem Gang umso breiter und wichtiger macht. Den Vorsichtigen, der dem Boden nicht zu trauen scheint. Es gibt jene, die das Becken beim Gehen weit vorschieben – und jene, bei denen der Kopf immer zuerst anzukommen scheint. Es gibt den Gang, der nach oben strebt und den, der sich nach unten orientiert.

Bartisch

Foto: Jochen Riese

Was es dagegen bedeutet, über-gangen zu werden, erfährt das Publikum fast schmerzvoll, als eine Tänzerin (Sabine Siegmund) lustvoll über einen menschlichen Steg stolziert: Wie selbstverständlich balanciert sie über die Rücken der Tänzer, die den Weg immer wieder nach vorn verlängern und bei jedem Übergangen-Werden qualvoll aufstöhnen.

Doch nicht nur als Fußabtreter werden Menschen mitunter missbraucht, sondern auch, um sich mal „auszukotzen“, zu entleeren – überdeutlich in der Darstellung eines Toilettengangs mit vier menschlichen Klosetts, die sich für diverse körperliche Vorgänge öffnen. Ein reinigender Akt, der andere beschmutzt zurücklässt.

Der erste Teil, komplett barfuß getanzt, endet mit einem riesigen Schuh-Berg: Die Ensemble-Mitglieder schleudern nach und nach Dutzende Schuhe in die Bühnenmitte, auf den sich ein Tänzer gierig stürzt. Im zweiten Teil geht es dann auch um das Laufen auf Schuhen, und es folgt eine zweite Bewegungsstudie: Wie unterschiedlich läuft es sich auf Gummistiefeln, auf Turnschuhen, auf Spitzenschuhen, auf Garten-Clogs, auf Pumps.

Foto: Jochen Riese

Foto: Jochen Riese

Es gibt kaum je Stillstand auf der Bühne. Beeindruckend die Szene, in der ein Tänzer (Pao Nowodworski) über ein imaginäres Seil stolpert und dann, geschmeidig und behend wie ein Tier auf der Flucht, auf allen Vieren kriechend, rollend und springend, einen Ausweg aus der Gefahrenzone sucht.

Wunderbar, wenn eine Tänzerin (Birgit Sirocic) wie ein tollender Hund von vier auf Stehtischen stehenden Tänzern hin- und hergelockt und geärgert wird – und sie die nervenden Menschen einfach wegpustet, erst die einzelnen Glieder mit ihrem Atem in Bewegung versetzt, dann die ganzen Menschen. „Gehweg“, nur wenig anders geschrieben, heißt „geh weg“ – ein typisches Beispiel dafür, wie das Tanztheater Cordula Nolte hintersinnig nicht nur mit Bewegung, sondern auch mit Worten experimentiert.

Witzig und nachdenklich machend, wenn die Tänzer wie ferngesteuert und blind für die Umgebung ihre Schritte setzen, einen Plan vor der Nase, offenbar vollständig abhängig davon, was die Navigation ihnen vorgibt. Einfach schön anzusehen, wie beim Tanz im Dunkeln Taschenlampen-Spots einzelne Körperpartien und Schritt-Kombinationen erhellen.

In Erinnerung bleibt: ein bewegter und bewegender Abend.

Nächste Termine im Tanztheater Cordula Nolte: samstags 30.04., 21.05., 11.06. und 25.06., jeweils 20 Uhr.




Von leichter Kost bis zur Flüchtlingsnot – das Pogramm der Ruhrfestspiele 2016

Das letzte maritime Motto der Ruhrfestspiele lautete 2014 „Inselreiche: Land in Sicht – Entdeckungen“ und bot, wenn ich mich recht erinnere, vor allem gute Gelegenheiten, das eine oder andere Shakespeare-Stück auf die Festspielhausbühne zu stellen. Nun, nach dem französischen „Tête-à-tête“-Intermezzo 2015, ist wieder ein Meer das Thema, das Mittelmeer, das „Mare Nostrum“.

(Auch) wir im kalten Deutschland dürfen es „unser Meer“ nennen, weil (unsere) abendländische Kultur ebenso wie die monotheistische Religionen dort, im Mittelmeerraum, entstanden. Das soll nicht vergessen werden, auch nicht in Zeiten, in denen dieses Meer zum Symbol für massenhafte Flucht und für massenhaftes Sterben auf dieser Flucht geworden ist.

Burgtheater macht den Anfang

Wie bei den Ruhrfestspielen der Vergangenheit ist die Betitelung recht unverbindlich, und sicherlich hätte auch ein anderes Banner gehißt werden können, schaut man auf die Auswahl der Stücke. Die ersten Produktionen im Großen Haus verbindet mit dem Mittelmeer kaum mehr als der Ort des Entstehens beziehungsweise der Ort des Handelns.

Den Anfang macht die 1747 erschienene und überaus süffige Komödie „Der Diener zweier Herren“ von Carlo Goldoni, eine Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater mit Peter Simonischek in der Titelrolle, Spielort ist Venedig.

Es folgt, als Regiearbeit des Hausherrn Frank Hoffmann, „Das Leben ein Traum. Caldéron“. Die Inszenierung des Luxemburger Nationaltheaters und des Schauspiels Hannover steht sozusagen auf zwei Füßen, verwendet die Originalvorlage Pedro Calderón de la Barcas ebenso wie Pier Paolo Pasolinis Filmadaption, die Calderóns bedrohlichen Königssohn durch eine Protagonistin ersetzt, in deren Schicksal der vermeintlichen Befreiung sich die gesellschaftliche Benachteiligung von Frauen spiegelt. Das verspricht im beste Sinne interessant zu werden und ist zudem mit Dominique Horwitz, Jacqueline Macaulay, Hannelore Elsner, Wolfram Koch und anderen hervorragend besetzt.

Der experimentierfreudige Romeo Castellucci

Nach so viel Theaterwucht ist für Mitte des Monats, den 16. und 17. Mai, im großen Haus ein wenig tänzerische Leichtigkeit sicherlich hoch willkommen. Romeo und Julia, deren berühmter Balkon bekanntlich in Verona hängt, kommen aus Biarritz nach Recklinghausen und tanzen zur Musik von Hector Berlioz eine Choreographie von Thierry Malandain, denn man hier aus dem letzten Jahr noch in guter Erinnerung hat.

Doch dann naht Romeo Castellucci mit einer „Orestie“ – in der Bearbeitung von Romeo Castellucci und in der Regie von Romeo Castellucci. „Castelluccis Inszenierung arbeitet mit Bildern, die wie ein Schock wirken“, verkündet das Programmheft.

Bei der vorletzten Ruhrtriennale, noch unter der Ägide von Heiner Goebbels, der eine oder andere wird sich erinnern, gab es schon einmal eine Begegnung mit Romeo Castellucci. Da brachte er Igor Strawinskys Ballett „Le sacre du printemps“ ohne menschliche Mitwirkung mit einer Maschinerie zur Aufführung, die rhythmisch Knochenmehl von der Decke herabrieseln ließ. Das Knochenmehl stammte aus industrieller Produktion und von geschlachteten Tieren, sollte in dieser szenischen Installation aber auch Zusammenhänge insinuieren zwischen Tieropfer und Fleischverzehr und Schuld und was nicht sonst noch allem. Wenigstens war das Publikum durch eine Folie vor dem Bühnenstaub geschützt. Diesmal gibt es, wird verheißen, lebende Tiere auf der Bühne. Was ist davon zu halten, wenn im Programmheft „Empfohlen ab 16 Jahren“ steht?

Asylsuchende aus der Antike

Sodann betritt Elfriede Jelinek die Bühne – sinngemäß jedenfalls, persönlich gilt sie ja eher als scheu. „Die Schutzflehenden/Die Schutzbefohlenen“ von Aischylos stehen auf dem Programm, aus dem Griechischen übersetzt von Dietrich Ebener/Elfriede Jelinek. Die Töchter des Danaos sind, um Versklavung und Zwangsheirat zu entkommen, über das Mittelmeer geflohen; Argos gewährt Asyl, Ägypten droht. Der Plot wirkt aktuell, mal sehen, was das Schauspiel Leipzig daraus gemacht hat. Immerhin reisen sie mit „46 Leipzigerinnen und Leipzigern im Chor“ an. Regie führt Enrico Lübbe.

Houellebecq mit Edgar Selge

Von Namedropping halte ich generell nicht viel, aber hier reizt es einen schon: Michel Houellebecq, Karin Beier, Edgar Selge, Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Bedeutet: Karin Beier hat Michel Houellebecqs immer noch aktuelles Buch „Unterwerfung“ in Hamburg zu einem Einpersonenstück mit Edgar Selge in der Hauptrolle verarbeitet. Der Plot, man erinnere sich, war der, daß bürgerliche und sozialistische Politiker nach erschütternden Wahlerfolgen des populistischen „Front national“, um diesen zu verhindern, Islamisten den Weg in die Regierung ebneten und Frankreich zu einem Land der Scharia machten. Durch den islamistischen Mordanschlag auf die Redaktion der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ kurz nach Erscheinen von Houellebecqs Buch erhielt dieses eine gespenstische Aktualität. Nun also, wie auch immer, Edgar Selge. Ich bin sehr gespannt!

Es gibt einen „Nathan“ vom Deutschen Theater Berlin, bei dem Andreas Kriegenburg Regie führt und der, wie Intendant Frank Hoffmann versichert, durchaus auch humorvoll sein soll. „Rocco und seine Brüder“ ist eine Bühnenadaption des Visconti-Films durch das Schauspiel Hannover und paßt thematisch fraglos gut zum Thema Mittelmeer-Migration. Übrigens spielt Cosma Shiva Hagen mit.

Symposium zum 70. Geburtstag

„Don Giovanni. Letzte Party“, eine Produktion des Hamburger Thalia-Theaters, wird angekündigt als „ziemlich stückgetreue, ziemlich durchgeknallte Okkupation der Oper aller Opern“. Schauspieler spielen und singen, als Autoren werden Wolfgang Amadeus Mozart und Lorenzo da Ponte genannt, Antú Romero Nunes gar sei ein wahrer „Regiewunderknabe“. Alles klar? Jedenfalls verheißt die Ankündigung Kurzweil.

Mitte Juni, so ist es Brauch, neigt sich das Festival dem Ende zu. Das ist seit 70 Jahren so und somit Grund genug, ein Symposium darüber abzuhalten. Am 14. und 15. Juni also feiert man den Siebzigsten, und Klaus Peymann, der Unermüdliche, hält einen großen Vortrag.

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Cosma Shiva Hagen spielt in „Rocco und seine Brüder“ mit. (Foto: Ruhrfestspiele)

Aus Berlin kommt die Volksbühne

Was haben wir noch? Zweimal Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, immerhin, einmal sogar mit einem Stück, bei dem deren Chef Frank Castorf Regie führt. Castorf, Ältere werden sich erinnern, war für ein Jahr selbst einmal Intendant der Ruhrfestspiele, Nachfolger von Hansgünther Heyme, und in diesem Jahr bescherte er dem Festival mit seinen – nennen wir sie: unorthodoxen – Ideen einen Einbruch beim Kartenverkauf um rund ein Viertel. Klar war, daß Castorf und Ruhrfestspiele nicht zueinander paßten, nach etwas Krisenmanagement übernahm Frank Hoffmann 2004 das Zepter, und er schwingt es erfolgreich bis heute.

Wenn Frank Castorf jetzt trotzdem mit „Die Kabale der Scheinheiligkeiten. Das Leben des Herrn Molière“ auf Recklinghausens grünem Hügel gastiert, so hat das Stil und wir verneigen uns. Das Stück – laut Programmheft nicht „von“, sondern „nach“ Michail Bulgakow, umfiebert eine Episode, die es angeblich wirklich gegeben hat: Nachdem Bulgakow Stalin, dem schrecklichen, allmächtigen, doch auch geliebten Stalin einen Brand- und Klagebrief geschrieben hatte mit der Bitte, ihn von Angst und Terror zu erlösen und aus der noch jungen Sowjetunion ausreisen zu lassen, rief dieser ihn persönlich an. Und danach nie wieder.

Der Künstler und sein Überleben

Doch wenigstens überlebte Bulgakow, Verfasser des weltberühmten Romans „Der Meister und Margarita“, schrieb, und die Beinahebegegnung mit Stalin verpflanzte er dramatisch an den Hof den Sonnenkönigs Ludwig XIV, wo ein Hofdichter Molière ganz ähnlich zu empfinden scheint wie weiland Bulgakow unter Stalin. Es geht, man sieht’s, um Künstler, Staat und Zensur und um das nackte Überleben. Und da Frank Castorf mit seinem 64 Jahren mittlerweile zu den „Altmeistern“ gezählt werden kann und da er sich viele Jahre lang sehr intensiv an Dostojewkij-Stoffen abgearbeitet hat und als Russenversteher gilt, möchte man nun wissen, was er ganz altmeisterlich aus der Geschichte macht. Premiere war übrigens letztes Jahr schon in Berlin.

Das zweite Berliner Volksbühnenstück ist eine „Apokalypse“ nach dem Johannesevangelium in der Regie von Herbert Fritsch. Grell und slapstickhaft, so Intendant Frank Hoffmann, soll es hier (auch) zugehen, es spielen Wolfram Koch und Ingo Günther, und am Ende ist klar, daß die Apokalypse ein treuer Begleiter und ein zeitloses Phänomen ist.

Zwei aktuelle Stücke zum Thema Migration

So, damit wäre das Programm im Großen Haus durchgearbeitet. Die weiteren Spielstätten Kleines Theater, Halle König Ludwig 1/2, Theater Marl und Theaterzelt in gleicher Intensität durchzuarbeiten, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, er ist ja jetzt schon viel zu lang. Deshalb nur einige mehr oder weniger subjektive Hinweise. Zwei Produktion beschäftigen sich ganz aktuell mit dem Thema Migration, „Zawaya. Zeugnisse der Revolution“ von der Compagnie El Warsha Kairo und „Am Rand“ von Sedef Ecer, das Hansgünther Heyme, der alte Kämpe, im Hamburg als Koproduktion mit den Ruhrfestspielen inszeniert hat, beide im Kleinen Theater.

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Anklagebank? Symbolhaftes Bühnenbilddetail aus „Zawaya. Zeugnisse der Revolution“. (Foto: Tamer Eissa/Ruhrfestspiele)

In „Zawaya“ läßt Regisseur Hassan El Geretly fünf Personen sich an den „arabischen Frühling“ erinnern, an die ägyptische Revolution: einen Kleinkriminellen und Spitzel, einen Offizier, die Mutter eines toten Rebellen, einen arbeitslosen Fußballfan und eine Krankenschwester. Was ist die Wahrheit, was ist die Zukunft? Arbeitsprinzip der Compagnie El Warsha ist es laut Programmheft, zu den einfachen Menschen auf der Straße zu gehen, sie reden zu lassen und sie zu authentischen Chronisten des Geschehenen zu machen. Das Stück läuft in arabischer Sprache mit deutschen Untertiteln.

„Am Rand“, die Geschichte der türkischen Autorin Sedef Ecer, dreht sich um Menschen aus Afrika, die anderswo das Paradies suchen und im Vorstadtslum landen, eben am Rand. Paris ist nicht das Paradies (ein wohlfeiles Wortspiel), sondern die Banlieue. Und statt Paris könnte es Istanbul, Kairo oder Tripolis sein. Auch wenn man nur gedämpfte Erwartungen an den Inszenierungsstil Heymes hegt, scheint diese Produktion doch gut geeignet zu sein, das Publikum jenseits der üblichen Tagesthemen-Stanzen etwas klüger zu machen über das, was junge Menschen aus Afrika in die Migration treibt.

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Der Chor ist in Aufruhr. Szene aus „Die Schutzflehenden/die Schutzbefohlenen“ von Aischylos, Dietrich Ebener und Elfriede Jelinek. (Foto: Bettina Stöß/Ruhrfestspiele)

Der Intendant versteckt sich

In der Halle König Ludwig 1/2 versteckt, so muß man fast sagen, Frank Hoffmann eine weitere eigene Regiearbeit. In Luxemburg brachte er Sergio Blancos Zweipersonendrama „Theben-Park“ heraus, die Reinszenierung eines Vatermords auf der Theaterbühne, ein Stück im Stück mithin. Wie erzählt man eine solche Geschichte, wie verändert sie sich, wenn man sie erzählt? Ödipus, Dostojewski und Siegmund Freud grüßen von der Empore, wir dürfen auf eine spannende psychologische Studie hoffen. Maik Solbach und Nicolai Despot spielen, und da Luxemburg nicht Deutschland ist, ist dies jetzt sogar eine deutsche Erstaufführung.

Winkelmanns neuer Film

Am 12. Mai läuft Adolf Winkelmanns neuer Film „Junges Licht“ in der Essener Lichtburg. Vorlage war Ralf Rothmanns Nachkriegskindheitsroman gleichen Titels, es spielen unter anderem Charly Hübner, Lina Beckmann, Peter Lohmeyer und Stephan Kampwirt. Und sicherlich wird er Film auch andernorts zu sehen sein.

Erstmalig gibt es Kooperationen mit dem Gelsenkirchener Ballett im Revier („Prosperos Insel“ nach Motiven von William Shakespeare) und dem Dortmunder Theater („Die Simulanten“ von Philippe Heule) und auch Rimini Protokoll fehlen nicht. In ihrer Aktion „Truck Tracks Ruhr # 2 Album Recklinghausen“ bitten sie das geneigte Publikum auf die Ladefläche eines Lastkraftwagens, wo es – sichtgeschützt – zu markanten und fest versprochen so noch nie wahrgenommenen Besichtigungspunkten des Reviers gefahren wird, die man dann klangvoll präsentiert. Klingt gut, schaun mer mal.

Bemerkenswert ist, was diesmal fehlt: Es fehlt der glamouröse Gast (jeglichen Geschlechts) aus dem Filmgeschäft, in einer glamourösen Produktion. Keine Ute Lemper, keine Heike Makatsch und erst recht kein Philip Seymour Hoffman seligen Angedenkens. Werden wir die internationalen Stars vermissen? Einst standen sie für die Weltläufigkeit der Ruhrfestspiele, doch seit Jahren schon wirkten sie etwas verloren in einem Programm, das doch ganz unübersehbar seinen Schwerpunkt beim deutschsprachigen Theater setzt. Schlimm wäre es, wen aktuelle Themen und Diskussionen nicht mehr Eingang in das Programm fänden. Doch diesen Vorwurf kann man den Ruhrfestspielen 2016 nicht machen.

Glück auf!

Weitere Informationen: www.ruhrfestspiele.de




Dem weißen Kaninchen folgen: Gelsenkirchens Ballett zeigt „Alice in Wonderland“

Zu dritt und doch jeder für sich: Alice und ihre Eltern am Esstisch (v.l. Junior Demitre, Francesca Berruto, Ayako Kikuchi. Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Alice und ihre Eltern am Esstisch (v.l. Junior Demitre, Francesca Berruto, Ayako Kikuchi. Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Irgendwann einmal müssen sie sich geliebt haben. Jetzt aber sitzen sie am Esstisch und streiten. Zwischen den Eheleuten tobt ein stummer Machtkampf, der sich in drohenden Gebärden und verletzenden Gesten äußert. Aus Partnern sind Kontrahenten geworden, die vor lauter Anspannung vergessen, dass da noch ein Kind mit ihnen am Tisch sitzt, ein junges Mädchen namens Alice.

Mit dieser Szene schickt sich der brasilianische Choreograph Luiz Fernando Bongiovanni an, Lewis Carrolls Kinderbuchklassiker „Alice in Wonderland“ in ein Ballett umzusetzen. Er zeigt uns Alice als unsicheren Teenager, hilflos angesichts des häuslichen Unfriedens, von den Erwachsenen beiseite geschoben und sich selbst überlassen. Wer weiß, ob nicht ein kleines buntes Ecstasy-Pillchen im Spiel ist, als Alice in der Disco dem weißen Kaninchen begegnet. Hinter dem Langohr taucht eine Wand voller Türen und Schubladen auf, hinter denen sich die erstaunlichsten Welten verbergen (Bühne: Britta Tönne).

Weite Teile dieses Ballettabends gleichen einer temporeichen Tanzrevue. Was Bongiovanni zu Musik von Eduardo Contrera, Alfred Schnittke und anderen choreographiert, ist unterhaltsam, driftet zuweilen aber auch in die Gefahrenzone des allzu Hübschen, ja Gefälligen. Die Phantasiegeschöpfe des menschenscheuen Mathematik-Dozenten Lewis Carroll wirbeln aus den Kulissen herein und heraus, dass einem schier schwindelig wird. Das wirkt zumeist eher vergnüglich als surreal oder gar bedrohlich.

Die verrückte Tee-Gesellschaft (Foto: Costin Radu, Musiktheater im Revier)

Die verrückte Tee-Gesellschaft (Foto: Costin Radu, Musiktheater im Revier)

Wir sehen ein Kaleidoskop von Tanzstilen und Kostümen. Ein wenig mit den Figuren des Buchs vertraut zu sein, ist übrigens hilfreich für das Wiedererkennen. Die blaue Raupe gleicht in Gelsenkirchen einem Reggae-Star in blauen Samthosen, und die Grinsekatze gibt sich mehr durch ihr Bewegungsvokabular zu erkennen als durch ihr Kostüm.

Wie Alice in dieser verwirrenden Traumwelt allmählich eine eigene Identität entwickelt, zeigt die aus Turin stammende Tänzerin Francesca Berruto in der Titelpartie. Obgleich sie als Alice zunächst oft nicht mehr sein darf als eine erstaunte Beobachterin, gelingt es ihr durch Tanzkunst und durch eine ausgesprochen lebhafte Mimik, den Reifeprozess glaubhaft zu machen, der Alice schließlich innere Stärke geben wird.

Valentin Juteau ist ihr als weißes Kaninchen ein verlässlicher Begleiter und starker Tanzpartner. Bridget Breiners Compagnie zeigt sich vielseitig und wandelbar, und wenn bei der verrückten Tea-Party die Tassen und Teller nur so durch die Luft fliegen, wird der fast anarchische Spaß spürbar, mit dem diese Tänzer sich auf der Bühne verausgaben.

Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner als blutbefleckte Herzkönigin (Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner als grausame Herzkönigin (Foto: Costin Radu/Musiktheater im Revier)

Als blutbefleckte Zombie-Herzkönigin hat Gelsenkirchens Ballettchefin bei der Premiere am Halloween-Abend ihren großen Auftritt. Umgeben von einem Quartett „böser Blumen“ tanzt sie ein Menuett, das harmlos-höfisch beginnt, aber durch Deformationen und Disharmonien allmählich monströse Züge entwickelt (Musik: Alfred Schnittke, „(K)ein Sommernachtstraum“). Der Spitzentanz gebiert einen Albtraum, aus dem man nach Möglichkeit rasch wieder erwachen möchte. Es ist vor allem dieser Abschnitt, der den Abend dann doch über einen reinen Unterhaltungswert hinaus hebt.

(Termine und weitere Informationen unter http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Ballett/AliceInWonderland/)




44.000 Tickets – Intendant Johan Simons zieht positive Bilanz seiner ersten Ruhrtriennale

Pressekonferenz anlässlich der Programmvorstellung der diesjährigen Ruhrtriennale durch die Kultur Ruhr GmbH Intendant Johan Simons Bild: Stephan Glagla | pottMEDIA

Triennale-Intendant Johan Simons hat Bilanz gezogen. (Foto: Stephan Glagla/pottMEDIA/Ruhrtriennale)

Die Ruhrtriennale nähert sich ihrem Ende. Deshalb zog Intendant Johan Simons jetzt eine erste Bilanz. Wie nicht anders zu erwarten, war das Festival sehr erfolgreich, alles in allem wurden 44.000 Eintrittskarten verkauft.

Es gibt der Zahlen etliche mehr; genannt sein sollen noch die Verkäufe für Simons’ großformatige eigene Regiearbeiten „Accattone“ (6500 Karten) und „Das Rheingold“ (6020 Karten). Bemerkenswert ist die kurzfristige Vermehrung der Zeit-„Slots“ bei „Orfeo“ in der Kokerei Zollverein von 400 auf 460. Zur Erläuterung: Pro Zeitslot wandern in Viertelstundenabstand acht Zuschauer durch eine fein installierte Alltagshölle, in welcher (Haus-) Frauen mit ausdruckslosen Gummimasken ein freudloses Dasein fristen. Der Durchgang dauert rund eine Stunde, an zentraler Stelle spielt ein Orchester ebenfalls mit Gummimasken Monteverdi-Musik, und diese Installation von Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot ist für die einen banal und für die anderen ein geniales Kunstwerk. Auf jeden Fall ist es ein Kunstwerk mit arg begrenzter Kapazität.

Portale der Maschinenhalle nach der Restaurierung: Portal im Südgiebel

Spielt hier im nächsten Jahr die Ruhrtriennale? Portal der Jugendstil-Maschinenhalle auf Zeche Zollern. (Foto: Martin Holtappels/LWL)

Dortmund darf hoffen

Die nächste Triennale findet vom 12. August bis zum 25. September 2016 statt. Was Johan Simons schon in der Pipeline hat, verrät er natürlich nicht. Ein bißchen hat er aber doch gesagt, beispielsweise zu der Frage, ob es im nächsten Jahr neue Spielorte geben wird: „Ich hoffe, es wird Dortmund!“

An der Jugendstilhalle auf Zeche Zollern hatte die Triennale ja beizeiten Interesse gezeigt, letztlich wurde es 2015 aber nichts mit diesem Spielort. Jetzt scheint die Halle als markanter Dortmunder Ort wieder in der Diskussion zu sein, zusammen mit der Phoenix-Halle am Phoenixsee, die ihrer Bestimmung als Eventstandpunkt entgegendämmert.

Kein Dinslaken, kein Wagner

Zeche Lohberg in Dinslaken, das Hallenmonstrum, in dem „Accattone“ lief, hat 2016 Pause. Da derzeit aber wieder fraglich ist, was dauerhaft aus dem gigantischen Schuppen werden soll, will Simons für 2017 noch keine Prognosen wagen.

Und was macht der Triennale-Ring? Nach „Rheingold“ ließe sich doch trefflich weiter an im bosseln. Doch eine Wagner-Inszenierung sei für 2016 definitiv nicht auf dem Plan, so der Intendant.

Musikalische Lesereise durch die Theater des Ruhrgebiets

Bis zur nächsten Triennale ist jetzt bald Pause – aber doch nicht ganz. Mit einer kleinen Tournee durch die Theater des Reviers möchte Johan Simons dem Publikum in Erinnerung bleiben. Deshalb gibt es – die Termine stehen unten – musikgeschichtliche Lesungen aus dem dicken Sachbuch-Bestseller „The Rest is Noise“ des Musikkritikers Alex Ross. Lesen werden Mitglieder der jeweiligen Ensembles unter Simons’ Regie; zudem spielen Musiker der Bochumer Symphoniker unter Leitung von Carl Oesterhelt bei dieser „literarisch-musikalischen Etappenreise“. Ein Abend soll um die drei Stunden dauern, eine Pause haben und 15 Euro Eintritt kosten. Und entspannt soll es zugehen, sagt Simons, gerne mit Getränken und ein paar Tischchen im Zuschauerraum.

Wir sind gespannt. Und die Kontaktaufnahme zu den Theatern der Region, die in der Planung früherer Triennale-Intendanten schlichtweg nicht vorkamen und sich deshalb übergangen fühlten, ist eine ausgezeichnete Idee, aus der mehr werden könnte.

Hier noch die Termine von „The Rest is Noise“:

  • Schauspiel Essen 5.11.2015
  • Schloßtheater Moers 3.12.2015
  • Schauspiel Dortmund 21.01.2016
  • Theater Oberhausen 04.02.2016
  • Theater a.d. Ruhr Mülheim 17.03.2016
  • Schauspielhaus Bochum 07.04.2016

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Nachtstücke und falscher Jubel – Martin Schläpfer choreographiert Mahlers 7. Sinfonie

"Die Reise nach Jerusalem" als beklemmende Raserei zu Mahlers wilder Musik. Foto: Gert Weigelt

„Die Reise nach Jerusalem“ als beklemmende Raserei zu Mahlers wilder Musik des Finales. Foto: Gert Weigelt

Paukengedröhn, Fanfarengetön: Im Orchestergraben bricht sich ein protzender, prunkender Jubel Bahn, als wären dort Streicher und Bläser und Schlagwerker ganz kirre geworden. Die Musik überschlägt sich, kommt kaum zu Atem, knallt plakativ die Freudenausbrüche aneinander. Und oben, auf der Bühne? Da stehen einige Tänzer im Halbdunkel, wohlgeordnet in Reih’ und Glied, und machen – erstmal nichts.

Jetzt ahnen wir zumindest, im Duisburger Haus der Rheinoper sitzend, vom letzten Satz aus Gustav Mahlers 7. Sinfonie klanglich überwältigt, dass diese ganze Happy-end-Stimmung offensichtlich eine Farce ist, falsches Getöse, um den Jubel an sich zu denunzieren. Zwar lichtet sich alsbald die Szenerie, das vortreffliche Corps de ballet weiß so elegant wie sprungmächtig, so dynamisch wie anmutig, bisweilen in ganz klassischer Manier, den Überschwang zu zelebrieren.

Doch mit dem Einbruch des düsteren Trauermarschthemas aus dem ersten Satz der Sinfonie kippt die Stimmung: eine blonde Ballerina (Anne Marchand) ringt mit einem Hocker, unter dem sie bisweilen wie gefangen liegt. Nichts mehr von gleißender Glückseligkeit. Dann setzt Mahlers Finale zur letzten Raserei an. Auf der Bühne hetzt sich eine Menge bei der „Reise nach Jerusalem“ fast zu Tode. Hinten plötzlich Menschen in langen Mänteln, wie Aufseher in einem Lager, die Musik zieht noch einmal Luft, ein Schlag, Licht aus.

Es ist durchaus logisch, dass Martin Schläpfers Choreographie „7“, die tänzerische Deutung von eben Mahlers 7. Sinfonie, dieses Pseudo-Jubelfinale in Düsternis und Verzweiflungsraserei enden lässt. Geben doch die vier Sätze zuvor allen Anlass, die dunkle, groteske Seite des Daseins auf die Bühne zu bringen. Der Komponist selbst spricht ja in zwei Fällen von Nachtmusiken, das derbe Scherzo nennt er schattenhaft, und der dumpfe Trauermarsch des Beginns, mit der traurigen Tenorhornmelodie, ist eine klare Vorgabe.

Derber Tanz in Stiefeln zum schattenhaften Mahler-Scherzo mit Yuko Kato, Wun Sze Chan, Camille Andriot (v.l.). Foto: Gert Weigelt

Derber Tanz in klobigen Stiefeln zum schattenhaften Mahler-Scherzo mit Yuko Kato, Wun Sze Chan, Camille Andriot (v.l.). Foto: Gert Weigelt

Schläpfer lässt zur schaurigen Einleitung Tänzer auf die Bühne kriechen, ungelenke gekrümmte Wesen, schmerzbeladene und zerbrochene Gestalten. Nach und nach erst finden sie gewissermaßen zum aufrechten Gang. Später, im skurrilen Scherzo, stürzt ein Trio herbei, von Ausstatter Florian Etti in Stiefel gesteckt, die Füße auf den Boden knallend, teils in gebückter Haltung, als führten sie einen derben Bauerntanz auf.

Wenn Mahler nun seine wilde Welt mit ihren Banalitäten und ihrem Schmerz verlassen will, driftet er ab ins Sphärische. Streicherklang, Harfenglissando, Kuhglocken, über allem Trompetenseligkeit in höchsten Höhen. Dann führt Schläpfer Paare zusammen, zeigt glückliche Menschen. Doch ach: Mitunter entpuppen sich die Partner als die falschen, durchzieht Rivalität und Eifersucht, bis hin zur Machismo-Brutalität, die Szenerie.

Selbst die 2. Nachtmusik, eigentlich eine hübsche Serenade mit Mandoline und Gitarre, entwickelt ihre Schattenseiten. Zwei Paare necken sich wie im idyllischen Schäferspiel, und doch gibt es, wenn die Musik sich dunkel färbt, sanfte Zweifel.

Schläpfers Mahler-Deutung ist eine, die den Pessimismus, das Leid aus der Musik herausliest. Nur ab und an gibt es Hoffnungsschimmer, als winzige Inseln von Glückseligkeit. Diese Interpretation verdeutlicht zudem, dass die 7. des Komponisten weit mehr im Schatten der „Tragischen“ (Nr. 6) steht als im Faustischen der Nummer acht.

Entsprechend derb naturalistisch, teils brachial in den Klangballungen, oder mit herbem Serenadenton spielen die Duisburger Philharmoniker unter Wen-Pin Chien das Stück. Ziemlich analytisch geht der Dirigent dabei zu Werke, die Strukturen betonend, alles Skurrile, Groteske, Dunkle, Schmerzbehaftete teils überdeutlich herauskehrend. Manchmal leiden darunter die dynamischen Proportionen, andererseits bleibt noch im dichtesten polyphonen Geflecht alles transparent.

Mögen auch hier und da die Trompeten Mühe haben, Mahlers höchste Höhen sicher zu erreichen, bleibt doch der Gesamteindruck einer hochspannenden, in sich geschlossenen Interpretation. Bildmacht und orchestrale Kraft fügen sich zum aufregenden Ganzen. Großer Applaus.

Weitere Infos: http://operamrhein.de/de_DE/repertoire/b-17.1045217

Video-Ausschnitt aus der Produktion: https://www.youtube.com/watch?v=O72cLnIWxKE




Wenn die Männer mit der Motorsense kommen… – ein bebildertes Panopticon

Also eigentlich läuft das immer gleich: ich guck raus und denk, ah, endlich wieder ein paar Blümchen auf dem Scheißrasen hier und ein, zwei Tage später ist dann der Gartennazi mit seinen Hanseln da und fräst alles bis 1mm über der Wurzel runter. Seine Geräte setzen 65% der eingesetzten Energie in Krach um, 47% in Gestank, 15 in Wärme und mit den restlichen 2 zertritt er ach die goldne Flur.
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Diesmal hat das perfide Schwein als Vorhut (Obacht: verleserträchtig!) einen Knilch abgeworfen, der die Motorsense bedient, wie andere das Morsegerät. Möchte er mir etwas mitteilen oder mich nur quälen? Ich bekomme keine Antwort oder wenn, dann kann ich sie nicht deuten, da ich des Motorsensenalphabets nicht kundig bin. Derweil senst er fröhlich dahin, kilometerweit, daß die Pflanzenleichen nur so spritzen (ich notiere kurz den Plot eines Zombiefilms), weder zeigt er Gnade, noch Ermattung, noch Unrechtsbewußtsein. Der HErr möge ihn strafen bis ins n+x->∞-te Glied. Das ist sehr viel.

Nachdem er dieses erste seiner Werke vollendet (und ich schreibe hier bewußt nicht »hat«, um meinem Bericht ein Eckchen mehr Pathos zu verleihen), holt er ein lustickes (sic!) Handmäherlein herbei und zieht damit beständig seine Bahn. The Loneliness of the Long Distance Mäher, nichts hält ihn auf, er ist das Pendel, die Maschine die Unruh, in meinen Ohren das Geläut. (Man muß dazu wissen, daß der Rasen zwei Hochhäuser umgibt, die gesamte Fläche dürfte eineinhalb Fußballfelder messen. Das mit dem Handmäher.)
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Oft hält er besorgt inne, zum Beispiel wenn das Motörchen ein wenig stottert oder spotzt, dann tätschelt er es leis, blickt in diese Öffnung und in jene, schraubt hier und da und zuletzt den Tankdeckel ab, aha: das Werkzeug braucht Treibstoff, er latscht, kehrt mit Kanister wieder, befüllt, bringt weg, kehrt wieder – ein modernes Arbeiterballett, das mir hier dargeboten wird.

Aber… Moment!: Wo ist der Aufsitzmäher?? Der wird doch sonst da immer in Stellung gebracht? Ist er kaputt und in Reparatur? Oder kaputt und nicht in Reparatur? Gestohlen? Gepfändet? Zu teuer? Nicht mehr abzugsfähig? Verkauft, um Nutten, Suff und die andren Drogen des Capos zu finanzieren, die sein bißchen Bewußtsein erweitern sollen? Mißgönnt derselbe, dieses Scheißkapitalistenscheusal, dem armen ihm Untergebnen die kurze Zeit der Erholung, in der er sich den Arsch auf dem Teil plattsitzen kann? Oder ist’s, um mich einfach noch länger entnerven zu können? (Rhet. Frage, ich bin mir dessen sicher.)

schorschInzwischen bemäht der Geknechtete die ca 20 Hektar unter unserem Balkon und sogar mein Schutzbefohlener, der Senior-Kater Schorsch, gibt seinen Beobachtungsposten auf und flieht vor dem argen Getös in die Wohnung. Ich fliehe mit und fasse zusammen: eine nachmittags stark befahrene Straße, ein Bahnübergang, Züge im Zehnminutentakt, zahlreiche Touribomber und Frachtflugzeuge, ein Handmäher. Was fehlt? Richtig. Da kommt er auch schon: Auftritt des o.g. Capos, im Kleinlaster, auf der Ladefläche eine Schubkarre, ein Sackerl Erde, ein Netz darübergeschmissen und: der Laubbläser.

Mir fällt der Kirchenbesuch von neulich ein: HErr, erbarme Dich unser.

[https://de.wikipedia.org/wiki/Panopticon]




Die Erkundung der Elemente: Tanztheater Cordula Nolte ganz „natürlich“

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Die Kraft des Atmens – Szene mit Sandra Bolen. Foto: Jochen Riese

„Natürlich“, „biologisch“, „organisch“ – die Adjektive sind zu Schlagworten der Werbung geworden, denen man kaum mehr vertrauen mag. Was bedeutet das wirklich: Natürlichkeit? Das Dortmunder Tanztheater Cordula Nolte geht mit seinem neuesten Stück „natürlich“ an die Basis und erforscht tänzerisch die vier Elemente. Feuer, Wasser, Luft und Erde – natürlicher geht es nicht.

Wie fühlen wir uns in den Elementen? Was machen sie mit uns? Und was passiert, wenn sie fehlen? Um das herauszufinden, hat sich das elfköpfige Ensemble unter Leitung von Cordula Nolte in die Natur begeben, hat mit Bewegungsabläufen im Wasser oder auf dem Erdboden experimentiert. Herausgekommen sind vier Szenen ganz unterschiedlichen Charakters, die jeweils ein Element in Szene setzen – tänzerisch und (schau)spielerisch, musikalisch, farblich – und am Ende sogar olfaktorisch.

Foto: Jochen Riese

Ein Feuerwehrschlauch bannt die Flammen. Foto: Jochen Riese

Orange- und Rottöne haben die leichten, flatternden Kleider des Feuers. Nicht die Bedrohung und Gefahr, die vom Feuer ausgeht, ist das Thema, sondern seine Schönheit und Faszination. Als blicke der Zuschauer in ein Lagerfeuer, entdeckt er auf der Bühne an der Rheinischen Straße lodernde Flammen, die sich nach oben recken, rhythmisch züngelnde und zitternde Flammen, die dann langsam ersterben, sieht Funken zur Seite stoben.

Ein Feuerwehrschlauch, der die Bühne kreuzt, ist das einzige Accessoire in diesem Teil; an ihm bzw. unter ihm ziehen sich die Tänzerinnen und Tänzer liegend über die Bühne – ein Spiel mit dem Feuer, bis der Schlauch die Flammen schließlich umwickelt und damit bannt. Doch es geht auch das sprichwörtliche Feuer der Liebe, die Nähe und Vertrautheit, das Aufeinander-Eingespielt-Sein, das die Tänzer paarweise erkunden.

Foto: Jochen Riese

Wassermangel und Verschwendung: Szene mit Olaf Nowodworski. Foto: Jochen Riese

Auf das Feuer folgt Wasser, hier steht der Mangel im Vordergrund: Dürstende stecken zu zweit in einer Regentonne, strecken ihre Arme aus in Richtung eines schwarz gekleideten Mannes (Olaf Nowodworski) auf der anderen Seite der Bühne, der zwischen mehreren gefüllten Wasserflaschen steht. Gespielt großmütig spendet der Geizige den Leidenden nur wenige Tropfen.

Die Szene ändert sich: Drei Tänzerinnen formieren sich singend in einer Reihe: „Ein kleiner Pinguin steht auf dem Eis – jetzt ist es weg, so’n Scheiß“, während  von allen Seiten Plastiktüten auf die Bühne fliegen. Die Tänzerinnen, nun in türkis-blau-grün, werden zu großen weiche Wellen, sie drehen sich wie Strudel am Boden umeinander und gehen rhythmisch mit Po oder Oberkörper auf und ab wie kleine Wellen, die am Ufer anlanden.

Der schwarz Gekleidete taucht wieder auf, der Mensch, der das Wasser braucht und es dennoch bekämpft. Das Wasser ist kraftvoll, die Naturgewalten siegen über den Menschen, ringen ihn zu Boden – und doch bleibt das Wasser verschmutzt und voller Plastik-Müll zurück.

Weiß und transparent sind die Kostüme beim Luft-Thema, das dem Atmen gewidmet ist. Die Tänzerinnen und Tänzer werden ganz Atem, vollziehen mit dem Körper nach, wie die Luft sie durchströmt, wie sich Brust und Bauch und Körper heben und senken. Bunte, mit Sauerstoff gefüllte Luftballone werden zum begehrten Gut, nach dem eine Hatz entsteht.

Wachsendes, loderndes Feuer. Foto: Jochen Riese

Wachsendes, loderndes Feuer. Foto: Jochen Riese

Nach der Pause das Thema Erde, die das Ensemble in Mengen auf die Studio-Bühne geschafft hat. Dieser letzte Teil ist der sinnlichste des Abends: Langsam und hingebungsvoll streicheln die Tänzerinnen und Tänzer die Erde oder graben die Füße ein, riechen an ihr und reiben sich mit ihr ein, verspeisen sie gar genüsslich mit Messer und Gabel in Gartenhandschuhen. Nach und nach zieht der kühle Duft frischer Erde ins Publikum. Leichtfüßig springen zwei Tänzer in hüfthohe Papiertüten wie Samen, die sich Platz zum Keimen suchen, Wurzeln schlagen, wachsen, sich in die Luft recken. Andere erkunden mit ihren Körpern die Schwere und die Anziehungskraft der Erde, stampfen sitzend mit den Füßen.

Plötzlich bewegt sich etwas in dem Erdhügel hinten auf der Bühne, den man gar nicht mehr im Blick hatte: Ein Bein bohrt sich aus der Erde, dann zwei, dann der ganze Mann (Holger Quiering), der sich durch das Erdreich schneckt, wühlt, kriecht, auf dem Kopf stehend mit den Beinen wie mit Fühlern die Umgebung erkundet – ein starke Übersetzung dafür, „ganz in seinem Element“ zu sein.

Ganz in seinem Element: Die Erkundung der Erde (Holger Quiering). Foto: Jochen Riese

Ganz in seinem Element: Die Erkundung der Erde (Holger Quiering). Foto: Jochen Riese

Jeder Szene und jedem Element hat Ensemble-Mitglied Olaf Nowodworski einen eigenen Sound verpasst: fließend sanft und voller Obertöne beim Thema Wasser, ätherisch beim Thema Luft, rhythmische Percussion beim Feuer, schweres Schlagwerk bei der Erde. So wird der Abend zu einem sinnlichen Gesamtkunstwerk, von dem kraftvolle Bilder im Kopf bleiben.

Nächste Termine hier.




Rheingold, Notwist, Pasolini: Johan Simons stellt sein erstes Ruhrtriennale-Programm vor

Bikini Bar 2006(c) Atelier Van Lieshout

Demnächst vor der Bochumer Jahrhunderthalle: Die Bikinibar aus dem Atelier Van Lieshout (Foto: Ruhrtriennale)

Johan Simons ist, wie bekannt, für die nächsten drei Jahre Intendant der Ruhrtriennale, und heute hat er sein Programm 2015 präsentiert. Erster Eindruck: Es kommt drauf an, was man draus macht, oder auch: Schau’n mer mal.  Der Chef selbst ist da nicht so zögerlich. „Seid umschlungen!“ ist das euphorische Motto dieses „Festivals der Künste“ (Untertitel), das programmatisch sehr gern in den Schöpfungs- und Erlösungsmythen der Menschheit gründelt.

Die richtig großen Namen, das, was man im Showgeschäft „eine sichere Bank“ nennen könnte, fehlen weithin. Der Regisseur Luk Perceval und die Choreographin Anne Teresa De Keersmaeker sind vielleicht noch am ehesten Namen, die einer etwas breiteren Kulturöffentlichkeit bekannt sein könnten, wiewohl natürlich auch viele andere Auftretende ihre mehr oder minder große Fangemeinde haben werden.

In diesem Programm vermengt Klassik sich mit Pop und Zwölftönerei, um im nächsten Schritt auch noch elektronisch verfremdet zu werden, dort löst sich die Oper in eine Rauminstallation auf, und wenn schon nicht atemberaubend Crossovermäßiges auf die Spielstatt gestellt wird, dann sind zumindest doch Sprachenkenntnisse hilfreich, um fremdsprachige Schauspieltexte verstehen zu können. Immerhin sind deutsche Untertitel versprochen.

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Ruhrtriennale-Intendant Johan Simons (Foto: Stephan Glagla)

Johan Simons selbst, der das Theaterspielen auf der Straße begann, sich und seinen robusten Inszenierungsstil mit „Sentimenti“ bei der Ruhrtriennale früh schon unvergeßlich machte und selbst einen Stoff von Elfriede Jelinek noch als Burleske zu inszenieren wußte („Winterreise“, 2011 an den Münchner Kammerspielen), gibt jetzt den seriösen Einrichter bedeutungsschwerer Musikstoffe, inszeniert im September in der Jahrhunderthalle Wagners „Rheingold“, nachdem er schon Mitte August eine Bühnenfassung des Pasolini-Films „Accattone“ mit Musik von Johann Sebastian Bach auf die Bühne der Kohlenmischhalle Zeche Lohberg in Dinslaken zu stellen beabsichtigt.

Kohlenmischhalle Zeche Lohberg Dinslaken (c) Julian Roeder fuer die Ruhrtriennale

Nicht unbedingt ein Ausbund an Schönheit, trotzdem in diesem Jahr ein Spielort der Ruhrtriennale ist die Kohlenmischhalle der Zeche Lohberg in Dinslaken (Foto: Ruhrtriennale)

Die Zeche Lohberg übrigens ist neu im Strauß der Spielorte, der generösen Ruhrkohle-AG – bzw. deren mit anderen Großbuchstaben firmierenden Rechtsnachfolgerin – sei Dank. Hingegen, um auch das noch los zu werden, bleibt Dortmund wieder außen vor. Letztes Jahr noch war zu hören, daß die neue Triennale-Leitung auch Interesse an der berühmten Jugendstil-Maschinenhalle der Museumszeche „Zollern“ in Dortmund-Bövinghausen gezeigt hätte. Doch es ist wohl nichts daraus geworden. Statt dessen, neben den „Haupt-Städten“ des Festivals (Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck) nun also Dinslaken. Voilà!

Auffällig viele Niederländer (und Belgier) bevölkern das neue Triennale-Programm. Doch ist dies letztlich nicht zu geißeln, da ein Intendant natürlich alle Freiheiten hat, Kunst und Künstler zu bestimmen. Für den Vorplatz der Jahrhunderthalle ist seine Wahl auf das „Atelier Van Lieshout“ gefallen, das hier rund um eine bespielbare Gebäudeskulptur mit Namen „Refectorium“ ein Dorf entstehen lassen will, in dem es ein „BarRectum“, einen „Domesticator“, eine „Bikinibar“ oder auch ein „Workshop for Weapons and Bombs“ geben soll. „The Good, the Bad and the Ugly“ ist das Projekt überschrieben. Was kommt da auf uns zu? Geistige Auseinandersetzung natürlich, hier, laut Ankündigung, mit Selbstbestimmung und Macht, Autarkie und Anarchie, Politik und Sex.

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Hier gibt es bald wieder Theater: Gebläsehalle Duisburg-Nord (Foto: Ruhrtriennale)

Schauen wir ein wenig durch das Programm, das sich (unter anderem) auf einem sehr ordentlichen, nach Spielstätte und Datum ordnenden Kalender abgedruckt findet. Den Reigen der „großen“ Produktionen eröffnet, wie schon erwähnt, am 14. August die musikalische Pasolini-Adaption „Accattone“ in Dinslaken. Sie wird sechsmal gezeigt – und mehr findet in Dinslaken dann auch nicht statt.

In Bochum steigt am 15. August die Eröffnungsparty mit dem Namen „Ritournelle“, und da geht es dann hübsch popmusikalisch zu, wenn nicht gerade Neue Musik von Karlheinz Stockhausen zum Vortrag gelangt, entweder das Frühwerk „Gesang der Jünglinge“ oder das Spätwerk „Cosmic Pulses“. Bißchen Namedropping für die, die etwas damit anfangen können: Das Berliner Plattenlabel City Slang, das seit 25 Jahren besteht, spielt eine Rolle und ebenso die Gruppe „Notwist“. Es wird bestimmt laut und lustig, doch danach auch ganz ruhig.

Lediglich zwei Auftritte des Collegium Vocale aus Gent und ein Termin mit dem 80jährigen Musik-Minimalisten Terry Riley (29. August) nämlich stehen noch auf dem Augustprogramm. Unter der Leitung von Philippe Herreweghe bringen die Genter Johann Sebastian Bach zum Klingen. Am 16. August heißt das Programm „Ich elender Mensch“, am 21. August „Ich hatte viel Bekümmernis“.

Ab dem 12. September jedoch wird, wie wir doch hoffen wollen, Johan Simons’ „Rheingold“ der Jahrhunderthalle einheizen und neue Maßstäbe setzen. Angekündigt ist „eine ,Kreation’ an der Grenze zwischen Oper, Theater, Installation und Ritual“ (!). Die Musik machen das Orchester MusicAeterna aus Perm unter dem Dirigenten Teodor Currentzis und der finnische Techno-Experimentierer Mika Vainio. Sieben Termine sind angesetzt.

Weiter geht es nach Essen, in die auch ohne Theater schon beeindruckende Mischanlage der Kokerei Zollverein. Ein „Parcours“ ist sie, seit hier vor vielen Jahren die Ausstellung „Sonne, Mond und Sterne“ neue Maßstäbe in der kulturellen Umnutzung alter Industriebauten setzte. Nun erklingt hier, auf diesem Parcours, Monteverdis „Orfeo“, dezentral und verwirrend vorgetragen. Zur Musik werden Besuchergruppen von maximal acht Personen durch die Räume geführt, die nun die Stationen von Orfeos Abstieg zeigen nebst seinem Versuch, die Geliebte für sich zurückzugewinnen. Das Regisseurinnen-Trio Susanne Kennedy, Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot, sagt die Ankündigung, habe in dem alten Betonbunker Qualitäten einer Vorhölle erkannt, und das kann man nachvollziehen. Eurydike übrigens, die spätere Salzsäule, wird von mehreren Schauspielerinnen gespielt.

Etliche weitere Tanz- und Musikproduktionen sowie Rauminstallationen können in diesem Text keine Erwähnung finden, weil es sonst einfach zu viel wird. Von den Schauspielproduktionen sei noch „Die Franzosen“ erwähnt, ein Werk des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski, in dem er Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ mit weiteren Stoffen des Romanciers zum großen Sittenbild einer „Gesellschaft im Umbruch zwischen 19. und 20. Jahrhundert“ verwebt. Sein Nowy Teatr spielt das alles in polnischer Sprache und will sechsmal die Halle Zweckel füllen. Das wirkt ein bißchen optimistisch, aber man soll ja nicht unken.

Ach ja: Von Anne Teresa De Keersmaeker wird Ende September dreimal die Uraufführung ihrer Choreographie „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ gezeigt, die Rilkes Erzählung über den begeisterten Türkenkrieg-Soldaten aktuell deutet; Regisseur Luk Perceval verarbeitet mehrere Stoffe Émile Zolas mit Darstellern des Hamburger Thalia-Theaters zu einem Gesellschaftsbild, das den Titel „Liebe – Trilogie meiner Familie I“ trägt. Die Teile II und III gibt es auf dieser Triennale noch nicht zu sehen.

So, das soll mal reichen. Glück auf!

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„Cabaret“ in Essen: Das Ende der Spaßgesellschaft

Jan Pröhl (Conférencier) und die Kit-Kat-Boys and -Girls. Foto: Birgit Hupfeld

Jan Pröhl (Conférencier) und die Kit-Kat-Boys and -Girls. Foto: Birgit Hupfeld

Schon nach wenigen Minuten schaut man erstaunt ins Programmheft: Hier steht wirklich das Schauspiel-Ensemble des Grillo-Theaters auf der Bühne? Keine ausgebildeten Musical-Darsteller? In Essen hat Reinhardt Friese „Cabaret“ einstudiert – und damit einen veritablen Hit gelandet. Der temporeiche Abend ist ein Genuss für Auge und Ohr: beste Unterhaltung, schöne Stimmen, gekonnte Choreografien, klug inszeniert.

Berlin in den 1920er Jahren: Am Vorabend des Nationalsozialismus werden die Nächte durchgefeiert. Es ist eine Zeit, für die der Begriff „Dekadenz“ geprägt wurde: Mitten in der Wirtschaftskrise wird gegen den Niedergang einfach angefeiert. Fett tönt die Tuba im Kit-Kat-Club, schmierig klingt dessen beleibter Conférencier (Jan Pröhl), der mit kaum verhohlener Geilheit die Tanz-Nummern seiner „Kit Kat-Girls and Boys“ ansagt. Was dieser Jan Pröhl mit seinem maskenhaft geschminkten Gesicht, dem angeklatschten Seitenscheitel und in seinem schlecht sitzenden Frack da beim Sprechen mit seiner lüsternen Zunge macht – das ist widerlich und großartig zugleich. Zur Live-Musik der achtköpfigen Kit-Kat-Band lässt er seine Cabaret-Puppen tanzen – allesamt Studierende an der Folkwang Hochschule der Künste.

Der Star des Clubs ist Sally Bowles (festes Ensemble-Mitglied Janina Sachau, ein singendes und tanzendes Multitalent). Sie verliebt sich in den erfolglosen amerikanischen Schriftsteller Clifford (Thomas Meczele) und treibt alsbald sein Kind ab. Auch sonst fallen Schatten auf das leichte Leben: Cliffords Zimmer-Wirtin, das spröde Fräulein Schneider (Ingrid Domann) findet ihr Glück mit Obsthändler Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und lässt es wieder los, als ihr klar wird, dass ein jüdischer Gatte das Vermietungsgeschäft gefährdet.

Eine Ananas sagt mehr als rote Rosen: Herr Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und das Fräulein Schneider (Ingrid Domann). Foto: Birgit Hupfeld

Eine Ananas sagt mehr als rote Rosen: Herr Schultz (Rezo Tschchikwischwili) und das Fräulein Schneider (Ingrid Domann). Foto: Birgit Hupfeld

Regisseur Friese und Bühnenbildner Günter Hellweg verzichten wohltuend auf jegliche ausstatterische Opulenz. Eine Showtreppe aus Glasbausteinen und hunderte Glühlampen am Boden bilden die Bühne, über den Orchestergraben führt ein Steg. Die Spielfläche für das immerhin 15-köpfige Ensemble wird dadurch arg reduziert – trotzdem gelingt es den Darstellern virtuos, die große Show ebenso in Szene zu setzen wie kammerspielartige Szenen.

Wie filmische Überblendungen gehen die Szenen übergangslos ineinander über – Umbauten braucht es nicht, nur ein riesiger Zylinder fährt dann und wann herunter, verdeckt die Showtreppe und wird zur Pension des Fräulein Schneider. Diese fast leere Bühne, dazu die fast komplett in schwarz, weiß und grau gehaltenen Kostüme von Annette Mahlendorf und die Musiker unter Leitung von Hajo Wiesemann lassen das begeisterte Publikum von der ersten Sekunde an atmosphärisch eintauchen.

Janina Sachau als Sally Bowles. Foto: Birgit Hupfeld

Janina Sachau als Sally Bowles. Foto: Birgit Hupfeld

Stephan Brauer ist für die Choreografien verantwortlich. Mit sicherem Blick hat er charakteristische und durchaus anspruchsvolle Elemente aus den Tanz-Nummern aufgegriffen, die vor allem aus dem Musical-Film mit Liza Minelli bekannt wurden, ohne das Ensemble zu überfordern.

Die Stimmung ist auf dem Höhepunkt, bevor kurz vor der Pause das wirkliche Leben in Gestalt von Nazis in die Blase dringt. Am Umgang mit dem Erstarken der Nazis scheiden sich Geister und Paare. „Berlin ist vorbei“, resümiert Clifford und reist zurück nach Amerika. „Wenn die Nazis kommen, was habe ich dann für eine Wahl?“, fragt Fräulein Schneider rhetorisch. „Das ist gar nichts, das ist ein Lausbubenstreich“, sagt der jüdische Obsthändler.

Sally will ihre Karriere jedenfalls nicht opfern und kehrt nach der Abtreibung auf die Bühne zurück. „Life is a cabaret“ singt sie inbrünstig und mit soulig-warmer Stimme, dreht sich dann erstaunt um – alles ist leer, alle sind weg. „Gute Nacht“, sagt der Conférencier, inzwischen ein Mephisto mit Hitler-Bärtchen. Trommelwirbel. Das Ende der Spaßgesellschaft.

Termine: 19., 26., 31. Dezember. Karten: 0201 / 81 22-200