Radio mit und ohne Rausch(en)

Vor langer Zeit hatte ich mal so eine Phase. Es muss wohl in den frühen 1980er Jahren gewesen sein. Damals habe ich mich flammend für Kurzwellenradio interessiert.

Beileibe kein "Magisches Auge": Display eines Internet-Empfängers. (Foto: Bernd Berke)

Beileibe kein „Magisches Auge“: Display eines Internet-Empfängers. (Foto: Bernd Berke)

Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen, auch ich selbst schaue ungläubig zurück: An etlichen Abenden saß ich fiebrig vor dem Weltempfänger, ja, ich schmiegte mich manchmal geradezu an den Lautsprecher oder in die Kopfhörermuscheln, um auch nur ja die schüttersten Signale aus der Ferne zu hören. Fein und feiner wurde die ganze Frequenzen-Skala durchgekurbelt, nein: behutsam abgetastet. Oh, du verheißungsvolles Rauschen im Äther!

Alsbald ging der Wahn so weit, dass ich gar zahlendes Mitglied in einem Kurzwellenclub wurde und intensiv die Verbandszeitschrift las, die Monat für Monat neue Frequenzen vermeldete und einen auch über höchst wandelbare Phänomene wie Sonnenflecken unterrichtete, die den Empfang beeinflussten. Das wuchtige Jahrbuch „Sender und Frequenzen“, überwiegend für den Kurzwellenempfang gedacht, lag ohnehin – über und über angefüllt mit Notizen – als tabellarische Bibel neben dem Receiver.

Stationen wie das omnipräsente Radio Moskau oder auch Radio Peking und das noch viel abstrusere Radio Tirana hat man bei all dem hassen gelernt. Mit ihrer lautstarken, viel- und falschzüngigen Propaganda überdeckten sie auf fast allen Frequenzbändern den Empfang anderer Sender. Doch auch der BBC World Service, die Voice of America oder die Deutsche Welle waren nicht das, was man hören wollte.

Wie gern hätte man statt dessen häufiger Botschaften etwa aus südamerikanischen, afrikanischen oder kleineren ostasiatischen Ländern empfangen. Doch der Erfolg war – trotz ziemlich kostspieliger Weltempfänger (von Grundig und Sony) – bescheiden, weil solche Sender, vor allem aus Geldmangel, nahe an der geringsten Schwundstufe operierten. Und wie groß war die Enttäuschung, wenn die spanische Grußformel „estimados oyentes“ (verehrte Hörer) nicht etwa auf lateinamerikanische Herkunft hindeutete, sondern doch wieder ein Fremdsprachenprogramm aus der Moskauer Ideologieküche war.

Dennoch blieb ich mit Ausdauer und Leidenschaft bei der Sache, obwohl die Resultate – aus heutiger Sicht – kümmerlich waren. Bei der Sendersuche überwogen allemal Quietschen, Pfeifen, Rauschen und Britzeln. Man hat es damals kaum anders gekannt. Nicht zuletzt haben Störsender zum tosend tinnitösen Geräuschchaos beigetragen.

Wie hat man aber innerlich geglüht und jubiliert, wenn man eine bislang noch ungehörte Station auf dem Radar hatte und obendrein zur vollen Stunde zweifelsfrei die Stationsansage hörte. Die Weltkarte lag stets in Reichweite und man hat eifrig Markierungen angebracht, wenn die akustische Terra incognita wieder etwas geschrumpft war. Man fühlte sich wie Magellan persönlich. Naja, vielleicht übertreibe ich etwas. Sehnsucht nach Ferne und Abenteuer hat aber gewiss mitgespielt. In ungemein gezähmter Form.

Hin und wieder habe ich mir auch die Mühe gemacht, an Radiosender zu schreiben und ihnen Empfangsberichte zu schicken. Angeblich waren die Leute dort sehr interessiert an solchen Rückmeldungen. Freudig erhielt man dann Bestätigungen aus Kanada oder Australien, einschließlich der sogenannten QSL-Karten, die als kleine Trophäen galten. Heute stellen Kurzwellensender immer mehr Programme ein.

Warum ich das alles erzähle? Seit einiger Zeit habe ich ein Internet-Radio. Zigtausend Stationen aus allen denkbaren Weltecken empfängt man damit vollkommen rauschfrei; aber nicht nur ohne Rauschen, sondern eben auch ohne jeglichen Rausch.

Abgesehen von einer ersten Erprobungszeit, bleibt das Radio nun zu allermeist unbenutzt. Die Leidenschaft von ehedem ist dahin, weil die öde Perfektion schier unendlicher Möglichkeiten herrscht. Sofern man will, kann man Sender aufrufen, die z. B. den ganzen Tag nur Beatles-Songs spielen. Oder vermeintlich exotische Klänge jeder Tönung, die freilich in einen globalen Datenstrom einfließen, als wäre alles einerlei.

Ein Zurück zur Kurzwelle gibt es allerdings auch nicht mehr. Das Gefiepe tut man sich nicht mehr freiwillig an. Internet killed the radio.

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Postskriptum:

Während ich die vorherigen Zeilen schrieb, ahnte ich dunkel, dass ich dasselbe Themenfeld schon einmal beackert habe. Und siehe da, es ist etwas über fünf Jahre her. Teilweise gleichen sich die Formulierungen, waren sie seinerzeit nicht sogar satz- und streckenweise prägnanter?

Soso, da lässt also das Gedächtnis fürs eigene Tun und Lassen merklich nach. Oder ist es nicht eh so, dass man im Kern immer wieder über dasselbe schreibt, nämlich über den Kreislauf seiner kleinen Obsessionen und Antriebe? Oder über das Erlöschen der einen oder anderen Neigung. Immer wieder, aber immer ein bisschen anders. Man steigt ja wohl nicht zweimal in denselben Redefluss.




„Green City“: Kunstschau erkundet die versehrte Stadtlandschaft des Ruhrgebiets

Werner Graeff: "Skizzen zur farbigen Gestaltung des Ruhrlandes", 1952 (© Museum Wiesbaden, Schenkung Ursula Graeff-Hirsch, Foto Museum Wiesbaden)

Werner Graeff: „Skizzen zur farbigen Gestaltung des Ruhrlandes“, 1952 (© Museum Wiesbaden, Schenkung Ursula Graeff-Hirsch, Foto Museum Wiesbaden)

Ja, wo leben wir denn? Hier im Revier. Und was heißt das? Um mal ein doch recht treffliches Wortspiel zu wagen: Wir leben in einer ebenso extrem vernetzten wie verletzten Stadtlandschaft.

Eine Kunstausstellung in Oberhausen geht nun den Spuren nach, welche sich in die (allemal manipulierte, künstlich her- und zugerichtete) Landschaft eingezeichnet oder auch eingegraben haben. Diese Strukturen definieren geradezu das Ruhrgebiet. Wo sie sich verflüchtigen, hört auch das Ruhrgebiet auf. Nur ganz allmählich ändert sich diese Zuschreibung, allem Strukturwandel zum Trotz.

„Green City“ heißt die Schau in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen. Gemeint ist keine einzelne Kommune, sondern die weitläufige, in sich schier grenzenlose Stadtlandschaft der Region. Hat der Titel seine Berechtigung? Tatsächlich ist Grün im Ruhrgebiet in vielerlei Bestands- und Schwundstufen vorhanden. An manchen Ecken und Enden erobern sich Pflanzen sogar ihr Revier zurück. So begünstigt hie und da industrieller Verfall ein neues, ganz anderes Wachstum.

Apropos „Green City“ und Ökologie: Schirmherr der Ausstellung ist NRW-Umweltminister Johannes Remmel, und der ist nun mal bei den „Grünen“. Nebenbei: Als Sponsor tritt u.a. eine Stiftung des Energieriesen RWE in Erscheinung.

Luftbild von Rita Rohlfing: "moments", 21. Juni 2014, 2014-2015 (© Rita Rohlfing, VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Luftbild von Rita Rohlfing: „moments“, 21. Juni 2014, 2014-2015 (© Rita Rohlfing, VG Bild-Kunst, Bonn 2015)

Es herrscht eine insgesamt recht diffuse Gemengelange – und dieser verwirrende Eindruck teilt sich auch beim Rundgang durch die Ausstellung mit. Klärung darf man wohl nicht verlangen. Das Etikett „Green“ bezieht sich nicht zuletzt auf die Sehnsucht der Menschen nach intakten Naturzusammenhängen. Doch ist es hier nicht selten als Negation oder Ironie zu verstehen, denn „natürlich“ thematisieren etliche Künstler in erster Linie die versehrte Landschaft, deren klaffende Wunden zumal auf Luftbildern erkennbar sind, besonders eindrucksvoll in Rita Rohlfings Serie „moments“ von 2014/15.

Gleich 64 Künstlerinnen und Künstler werden zur Bestandsaufnahme aufgeboten, viele davon noch recht unbekannt. Die Ausstellung, kuratiert von Nina Dunkmann, verficht keine erkennbare These, sie versammelt vielmehr eine Unzahl von gegenwärtigen „Positionen“, wie man es so gängig nennt. Mögliches Motto älterer Lesart: Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen.

Axel Braun: "Und wer in diesen Bannkreis tritt, wird vom Geist der neuen Zeit ergriffen" (Detail), 2014 (© Axel Braun)

Axel Braun: „Und wer in diesen Bannkreis tritt, wird vom Geist der neuen Zeit ergriffen“ (Detail), 2014 (© Axel Braun)

Das Ruhrgebiet wird – extremer als die meisten anderen Gegenden Deutschlands – durchzogen und zerschnitten, doch eben auch innig verbunden von Straßen, Schienen, Kanälen, Energie-Trassen und Brücken, die sich zu komplexen Netzen summieren. So viele Schneisen, solch ein Geflecht und Dickicht. Somit gerät übrigens schon die Anfahrt nach Oberhausen zur stadtlandschaftlichen Einstimmung. Die Ausstellung wiederum gliedert sich (nicht immer lupenrein) in Kapitel, die z. B. Straßen, Wasserwegen oder Energie gewidmet sind.

Zeitgeschichtlich betrachtet, beginnt der Reigen 1952. Damals, als das rußige Ruhrgebiet Grau in Grau gerade erst wieder erstanden war, setzte der Maler Werner Graeff farbige Akzente in die ansonsten düstere Industriekulisse, als wär’s eine frühe Vision der heute so beliebten „Landmarken“ gewesen.

Hendrik Lietmann: Foto aus der Serie "Das Rohrgebiet", 2009 (© Hendrik Lietmann)

Hendrik Lietmann: Foto aus der Serie „Das Rohrgebiet“, 2009 (© Hendrik Lietmann)

Über die Gruppe „B 1“, die sich gegen Ende der 1960er Jahre schon im Namen auf die zentrale Strecke des Ruhrgebiets bezog und Stadträume neu zu deuten suchte, und eine Figur wie wie HA Schult, der 1978 eine künstlerische Ruhr-Tour durch die Region unternommen hat, spult die Ausstellung sehr rasch in die heutige Zeit vor.

Gewiss: Da gibt es auch ein paar lässliche oder gar alberne Zugriffe aufs Thema (sehet selbst), doch auch originelle und erhellende Kreationen wie etwa Klaus Dauvens „Putzlappenzeichnungen mit Naturmotiven“, Eva Ketzers transportables und auf schrill-komische Weise falsches Naturidyll „Naherholung“ oder Johannes Jensens frech-fröhliche Ausrufung eines Kompostaates (Kompost-Staates) mit eigener Botschaft, Flagge und allem sonstigen Drum und Dran. Einen poetischen Zugang eröffnet Nikola Dickes Arbeit „Der verborgene Garten“. Und Hendrik Lietmann tauft kurzerhand gleich die ganze Region um: Seine Fotoserie „Das Rohrgebiet“ zeigt das chaotisch wuchernde System der Rohrleitungen rings um Garten- und Kleingarten-Areale.

Sebastian Mölleken: "Kuh unter der A 40", 2009 (© Sebastian Mölleken)

Sebastian Mölleken: „Kuh unter der A 40″, 2009 (© Sebastian Mölleken)

Stellenweise wird deutlich, wie sich die künstlerische Wahrnehmung des Reviers mittlerweile in verschiedenen Zeitschichten gleichsam abgelagert hat, aber eben auch aufgefrischt werden kann. So reagiert etwa der Künstler Axel Braun explizit auf die anfangs so umstrittenen, monumentalen Landmarken eines Richard Serra („Terminal“ in Bochum, Bramme auf der Schurenbachhalde in Essen-Altenessen), und zwar mit großem Respekt, aber nicht in erstarrender Ehrfurcht, sondern auch mit kritischen Untertönen; wie denn überhaupt das Revier jetzt aus anderen Distanzen und mit anderen Ansprüchen vermessen wird als ehedem.

Selbst Stätten, die man zu kennen meint, wirken im Kontext dieser Ausstellung verfremdet, so dass sich der Blick womöglich weitet. Hier kann man (auf einer imposanten Fotografie von Matthias Koch) noch einmal sehen, wie die heftig umgepflügte Landschaft aussah, nachdem das einstige Hoesch-Stahlwerk verschwunden war und bevor dort der Dortmunder Phoenixsee entstanden ist. Hier kann man auch noch einmal Zustände der brutal schnurgeraden und der renaturierten Emscher vergleichen.

Manch eine dieser Zeit- und Ortsbestimmungen lässt innehalten: Welch ein Wandel liegt da hinter uns! Und was steht noch bevor?

„Green City. Geformte Landschaft – Vernetzte Natur. Das Ruhrgebiet in der Kunst“. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen (Konrad-Adenauer-Allee 46). Eröffnung am Samstag, 9. Mai 2015, 19 Uhr. — Bis 13. September 2015, Öffnungszeiten Di bis So 11-18 Uhr. Mo geschlossen, aber Pfingstmontag (25. Mai) geöffnet. Eintritt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro. Katalog 29,80 Euro. Reichhaltiges Führungs- und Begleitprogramm. Info-Telefon: 0208/41 249 28. www.ludwiggalerie.de




„Das mechanische Corps“ – Technik der Jules-Verne-Romane inspiriert Kunst von heute

Ausstellungsansicht, Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV i

Die Kiste kann wandern, die Lokomotive fahren; bewegliche Kunst auf den Spuren von Jules Verne (Bild: David Brandt, HMKV im Dortmunder U)

Ein Messingobjekt, das in seiner kardanischen Aufhängung einem Schiffskompaß ähnelt, zeigt muntere Bewegung; ebenso sein Gegenüber, dessen Vorbild nicht so ohne Weiteres zu deuten ist, in dem sich etwas dreht, klassisch geradezu angetrieben von einer Technik, die lineare Schub- und Zugbewegungen einer Treibstange in Rotation überführt.

An der Decke bewegen sich rhyhthmisch die Paddel einer Luft-Galeere, weiter hinten hebt und senkt eine verrottete Nähmaschine in völliger Nutzlosigkeit den Nadelschaft. Mit aufgesetzter, zweckentfremdeter Miniaturskulptur der New Yorker Freiheitsstaue fräst eine Kernbohrmaschine ein Loch in die Museumswand, über Monitore laufen Sequenzen aus Filmen, die den Menschen vor rund 100 Jahren stumm erzählten, wie die Zukunft sein würde. All dies, und noch manches mehr, ist jetzt im Dortmunder U zu sehen.

Wenn man der Unterzeile des Ausstellungstitels glauben darf, wandeln die hier vorgestellten, überwiegend noch recht jungen Künstlerinnen und Künstler „auf den Spuren von Jules Verne“. Als „mechanisches Corps“ werden sie vom Kurator Christoph Tannert bezeichnet, der die Ausstellung zusammen mit dem vestorbenen Peter Lang für das Künstlerhaus Bethanien in Berlin realisierte.

Extraschicht zur Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV im Do

Bild: Stephanie Brysch, HMKV im Dortmunder U

Die Zukunft wird militärisch

„Das mechanische Corps“ ist auch der Titel der Ausstellung, und natürlich geschieht die Verwendung des eigentlich ja militärischen Begriffes Corps mit Hintersinn. Fortschritt, der utopische zumal, nahm in den Phantasien der Schriftsteller des 19. Jahrhunderts oft paramilitärtische Formen an. Zukünftige Gesellschaftsordnungen fußten auf militärischer Disziplin, Maschinen, mit denen Unmögliches möglich werden könnte – in Sonderheit die Reise zum Mond – waren Kanonen, Granaten, Torpedos und Raketen.

Gleichwohl wäre es vermessen, im Kollektiv der ausstellenden Künstler militärisch-elitäre Trends zu suchen. Der Titel der Ausstellung, anders gesagt, greift ein wenig ins Leere. Am ehesten noch eint die Ausstellenden doch die Freude an der (motorisch generierten) Bewegung, an der Nachvollziehbarkeit mechanischer, uhrwerkhafter, sichtbarer Abläufe.

Zwar ist in unserer Zeit fast alles in Bewegung, die Bewegungen der Maschinen indes sind fast unsichtbar geworden. Was bewegt sich noch in einem Kraftwerk, an einer Elektrolok? Bewegung findet im Alltag vieler Menschen größtenteils virtuell auf dem Computerbildschirm statt, ein unbefriedigender Zustand, der die ausstellenden „Retrofuturisten“ (O-Ton Tannert) beflügelt haben mag.

Ausstellungsansicht, Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV i

Hier darf die Nähmaschine sein, was sie immer schon war: ein kinetisches Objekt (Foto: David Brandt/ HMKV im Dortmunder U)

Dampf verändert alles

Zudem war die quasi-militärische Organisation der Industriearbeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die die Zukunftsphantasien vieler Autoren prägte, den immer komplexeren Produktionsabläufen geschuldet. Sie ließen sich seinerzeit nur in militärgleich gestalteten Befehlsstrukturen meistern, denn die computergestützte Meß- und Regeltechnik, die heutzutage oft auch Robotern die Arbeit zuteilt und mit ihnen plaudert (Stichwort Industrie 4.0), gab es noch nicht. Leider bleibt dieser Aspekt in der Schau weitgehend unbeachtet.

Aber vielleicht greift das schon zu hoch. Wenn Kurator Tannert die jungen Künstler auf Jules Vernes Spuren wandeln sieht, so auch deshalb, weil dessen Bücher reich bebildert waren und die wunderbar bewegliche Technik des 19. Jahrhunderts so eindrucksvoll in Szene setzten, daß uns das noch heute zu inspirieren vermag.

Neben den Raketen war natürlich der Dampf das Faszinosum jener Zeit, der in immer größeren Kolbenmaschinen mit viel rhythmischer Bewegung arbeitete und die menschliche Zukunft radikaler und ungleich schneller verändern würde als alle Erfindungen zuvor. Auch Reisen, Messen, Berechnen und Beobachten – Letzteres vor allem mit starken Teleskopen – waren andächtige Handlungen in den Illustrationen. Eine sorgfältig zusammengestellte Diaprojektion, übrigens noch mit museumstypischen Karussell-Projektoren und richtigen Dias, zeigt dafür etliche Beispiele.

Florian Mertens, Turbine, 2013, Ausstellung "Das Mechanische Cor

Turbine von Florian Mertens (Foto: David Brandt, HMKV im Dortmunder U)

Steam-Punker lieben es rüschig

Übrigens findet die Science-Fiction-Ästhetik des 19. Jahrhunderts heute ihren jugendkulturellen Ausdruck im düsteren, viktorianisch-rüschigen Steam-Punk, dem einige der Ausstellenden huldigen und der sich als Designvariante in recht kommerziellen Produkten findet, in Armbanduhren im Kapitän-Nemo-Look zum Beispiel oder in hochgradig retromäßigen Computertastaturen mit messingglänzender Registrierkassenoptik. Auch solche Objekte hat Kurator Tannert in die Ausstellung genommen, weil sie das Gesamtbild ergänzen.

Hingegen wirken die kindlich-ungelenken, bunten Bilder von Fluggeräten und Fliegern, die an einer Wand hängen, auf den ersten Blick deplaziert. Sie stammen von Karl Hans Janke, 1909 geboren, 1988 gestorben und bei Wikipedia als Vertreter der „Outsider-Art“ gelistet. Einen Großteil seines Lebens verbrachte er in der Psychiatrie, nachdem man ihm im Krieg Schizophrenie attestiert hatte. Janke hat vor seiner Erkrankung einige patentierte Erfindungen gemacht, sich später an der Konstruktion eines „Schwingenflugzeuges“ erfolglos abgearbeitet. Erfunden hat er bis zuletzt, weshalb man ihm in der Psychiatrie „Erfinderwahn“ bescheinigte. Doch hat er auch zeitlebens den Traum vom Fliegen geträumt, vielleicht, wie verschwommen auch immer, vom Flug in eine bessere Zukunft.

„Das mechanische Corps – Auf den Spuren von Jules Verne“. Hartware Medienkunstverein (HMKV) im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, Dortmund. Bis 12. Juli 2015. Geöffnet Di+Mi+Sa+So 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr. Eintritt 5 €. Katalog des Berliner Künstlerhauses Bethanien 29 €. Infos: www.hmkv.de




Weil der Energieriese RWE drastisch sparen will: Industriedenkmal Koepchenwerk bedroht

Als hätte ich es geahnt. Vor ein paar Tagen verfasste ich einige Zeilen über drei Buchstaben (die sehen echt erbärmlich aus) und über ein industriehistorisch wertvolles Elektrizitätswerk, das nach seinem Konstrukteur Arthur Koepchen benannt wurde. Und heute lese ich, dass die Eigentümerin (früher war das mal die VEW), dass also RWE in Essen aufgrund des hohen Kostendrucks im Allgemeinen drastisch sparen will: Das Schieberhaus am Oberbecken mit dem Schriftzug RWE, die oberirdischen Druckrohrleitungen und das Krafthaus am Ufer des Hengsteysees stünden zur Disposition, berichtet das online-portal www.derwesten.de.

Ansicht des Koepchenkraftwerks am Hengsteysee zwischen Dortmund, Hagen und Herdecke. (Foto: Bernd Berke)

Ansicht des Koepchenkraftwerks am Hengsteysee zwischen Dortmund, Hagen und Herdecke. (Foto: Bernd Berke)

Blöd nur, dass das ganze Ensemble des Koepchenwerks seit 1986 unter Denkmalschutz steht, auf den sich nun die gastgebende Stadt Herdecke beruft und beim Denkmalamt in Münster um Hilfe bittet. Tatsächlich können Denkmäler wieder aus der schützenden Liste genommen werden. Wenn beispielsweise ein Brand sie zerstört, oder wenn ein übergeordnetes öffentliches Interesse das notwendig macht – oder dem Eigentümer ist der Erhalt aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr zuzumuten.

Dann ist anscheinend bei der RWE die Armut ausgebrochen: Wie derwesten.de schreibt, musste das Unternehmen „2,5 Millionen Euro in den letzten rund 20 Jahren für Instandsetzungsarbeiten an den nicht mehr benötigten Gebäuden wegen Witterungs- und Altersschäden bereit stellen“.

Und weiter wird RWE-Sprecher André Bauguitte dort so zitiert: „Um langfristig den sicheren und wirtschaftlichen Betrieb der Anlage zu gewährleisten und angesichts der schwierigen Lage, in der sich RWE Power auch durch den Rückgang der Einsatzzeiten für das Pumpspeicherkraftwerk befindet, sind die finanziellen Anstrengungen nicht mehr zu vertreten.“

Da kommen mir ja die Tränen. 2,5 Millionen in 20 Jahren. 2,5 Millionen durch 20 ist? 125.000. (Uih, ich gestehe, ich hatte mich zunächst mit 25.000 schwerst verrechnet, hiermit korrigiert,. Das ändert aber nichts an meiner Einschätzung, dass dies für RWE nahe bei den Peanuts ankommt.) Also die geradezu erschütternde Belastung der RWE durch den Erhalt der Substanz im Koepchenwerk machte über zwei Jahrzehnte 125.000 Euro jährlich aus. Was mag wohl ein RWE-Chef im Jahr verdienen? Das kann man bestimmt irgendwo nachlesen.

Nah- und Teilansicht des Koepchenwerks (Foto: Bernd Berke)

Nah- und Teilansicht des Koepchenwerks (Foto: Bernd Berke)

Dass kulturbewusste Menschen nicht gerade zahlreich zu denen zählen, die managend in Großunternehmen mit Zahlen jonglieren, überrascht mich nicht wirklich. Die argumentative Beliebigkeit allerdings überrascht mit schon: „Technisch und wirtschaftlich gibt es auch nach 75 Jahren keine Alternative zu Pumpspeicherkraftwerken. Bis heute hat die Anlage in Herdecke mit historischem Kern und moderner Technik nichts von ihrer Bedeutung verloren. Im Gegenteil: Gerade im liberalisierten Strommarkt und besonders durch den Zubau von Windkraftanlagen mit ihrem stark schwankenden und entsprechend durch andere Quellen auszugleichenden Leistungsangebot sind die Anforderungen an das Pumpspeicherkraftwerk Herdecke in den letzten Jahren gestiegen.“ So heißt es auf einem pdf, das auf den Internetseiten der RWE die Vorzüge des Koepchenwerkes rühmt.

Klar, damit sind vermutlich nur die heutigen technischen Anlagen gemeint und nicht das denkmalgeschützte Ensemble. Aber der Energieriese kratzt mit seinen Sparplänen (2,5 Millionen in 20 Jahren) an einem absoluten Wahrzeichen der Region. Und das, um jährlich eine Summe Geldes einzusparen, die vermutlich sogar von den Portokosten übertroffen wird. „Das nachhaltige Nettoergebnis – die Kennzahl, die zur Errechnung der Dividende herangezogen wird – fiel auf 1,28 Mrd. Euro, wie der Konzern am Dienstag in Essen bekanntgab. Im Jahr zuvor hatte RWE 2,31 Mrd. Euro verdient.“ So schrieb die „Welt“ in diesen Tagen. Ja, schwere Zeiten in so einer Energiewende. Aber es ist immer noch das „Nettoergebnis“, von dem die „Welt“ da schreibt.

Technik hat Geschichte, Industrie hat Geschichte, die müssen in einer Industrieregion sichtbar bleiben. Wer leichtfertig ausradiert, was in Landschaft und Städten an die dynamische Entwicklung erinnert, die naturgemäß in Technik und Industrie stecken, der vergeht sich letztlich am eigenen Unternehmen. Und RWE wünscht sich ganz sicher, dass noch eine lange Unternehmenszukunft bevorsteht, während der man viel Zeit haben wird, auf eine ruhmreiche und innovative Vergangenheit zurückzublicken. Oder?




Besseres Klima, leichterer Zugang, neue Akzente: Museum in Hamm öffnet nach Umbau

Am östlichen Rand des Ruhrgebiets steht eine kulturelle Festivität ins Haus: Nach 21 Monaten Bauzeit feiert die Stadt Hamm die Wiedereröffnung ihres Gustav-Lübcke-Museums.

Damit es sich auch lohnt, wird dieses Ereignis fast das ganze Jahr über zelebriert, sozusagen Stück für Stück. Die einzelnen Abteilungen der Dauerausstellung öffnen nach und nach in jeweils neuer Form, die erste größere Wechselschau („Sehnsucht Finnland“ mit skandinavischer Kunst) wird es im Oktober geben.

Äußerlich sieht man so gut wie nichts vom Umbau: das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

Äußerlich sieht man so gut wie nichts vom Umbau: das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm. (Foto: Bernd Berke)

An diesem Sonntag beginnt der Reigen mit einem Tag der offenen Tür. Dann werden bereits die völlig umgestaltete Abteilung für Stadtgeschichte (auf verdreifachter Fläche) und Beispiele zur Kunst des 20. Jahrhunderts zu sehen sein. Ein Herzstück des Museums, die immerhin revierweit größte Ägypten-Sammlung, wird ab 30. August wieder präsentiert.

Aber was heißt hier „wieder“? Auch hier sollen sich Umfang und Darstellung gründlich ändern. Die Abteilung Altes Ägypten profitiert gleichfalls vom Umbau, bei dem vor allem die Klimatechnik nebst Heizung und Lüftung aufwendig erneuert wurde. Folge: Hamm bekommt jetzt in allen wesentlichen Bereichen so manche Leihgabe, deren Überlassung vorher zu riskant gewesen wäre.

Insgesamt rund 5,1 Millionen Euro hat die Stadt ins Museum investiert. Durchaus erwähnenswert: Dieser Kostenrahmen wird höchstwahrscheinlich eingehalten, vielleicht sogar knapp unterschritten. Man wird es sehen, wenn die letzten Ingenieur- und Handwerkerrechnungen beglichen sind.

Innenansicht mit Zugangsrampen (Foto: Bernd Berke)

Innenansicht mit Zugangsrampen (Foto: Bernd Berke)

Von den Ergebnissen der Sanierung sieht man als Besucher kaum etwas, denn die zeitgemäße technische Ertüchtigung hat sich vor allem in den „Eingeweiden“ des Museums vollzogen. Wer es genauer wissen will, kann sich einer Technikführung anschließen.

Das von Friederike Daugelat geleitete Haus mit seinen 4000 Quadratmetern Ausstellungsfläche bietet weitere Neuerungen, die der besseren Orientierung dienen: Die Besucher werden mit einem Farbleitsystem durch die einzelnen Bereiche geführt (Gold für Ägypten usw.) und mit neu gestaltetem Info-Material versorgt. Vor allem aber gibt es jetzt schicke Multimedia-Guides, die kostenlos ausgeliehen werden können und beim Rundgang per Ton und Film in die Museumsbestände einführen.

Überhaupt legt man offenbar großen Wert darauf, die Besucher nicht mit ihren etwaigen Fragen allein zu lassen. In der Abteilung für Kunst des 20. Jahrhunderts (trotz einzelner Glanzpunkte insgesamt wohl eher eine Kollektion aus der zweiten Reihe, wenn man ehrlich ist) eröffnet man den Zugang bevorzugt über die Künstler-Persönlichkeiten und erläutert lieber von Grund auf, was es mit der Kunst und Sammelschwerpunkten wie Expressionismus oder Informel auf sich habe. Man versucht also, anhand eines recht schmalen Ausschnitts aus der Sammlung, die weniger kundigen Besucher „da abzuholen, wo sie sind“, um eine nicht eben schmerzfreie Formel aus der populären Publizistik zu zitieren.

Stadtgeschichtliche Abteilung: Wohnzimmer der 50er Jahre. (Foto: Bernd Berke)

Stadtgeschichtliche Abteilung: Wohnzimmer der 50er Jahre. (Foto: Bernd Berke)

Das Gustav-Lübcke-Museum, seit 1993 im jetzigen Bau an der Neuen Bahnhofstraße ansässig, bietet also eine ausgesprochen vielfältige Mischung aus Gebieten der Kunst- und Kulturgeschichte, auch Archäologie und Angewandte Kunst (beides ab 14. Juni geöffnet) zählen noch hinzu. Geschärftes Profil sieht eigentlich anders aus. Hamm hat fast schon eine Wunderkammer.

Deutlich aufgewertet wird jetzt die Hammer Stadtgeschichte. Auch hier steht leichtere Faßbarkeit im Vordergrund. Die stadthistorische Präsentation wirkt liebevoll arrangiert, wenn auch hie und da noch etwas brav und bedächtig.

Die Chronologie reicht jetzt – anders als vordem – über den Zweiten Weltkrieg hinaus. So gibt es beispielsweise einen Raum zur „Wirtschaftswunder“-Zeit mit Kleinwagen, Jukebox und zeittypischem Wohnzimmer. Neu ist auch ein zeitungsgeschichtlicher Strang, bei dem man sich vom lokalen Platzhirschen („Westfälischer Anzeiger“) ausgiebig hat helfen lassen. Auch so eine Public Private Partnership.

Am Beginn des stadtgeschichtlichen Rundgangs geht es übrigens um den veritablen Mord an einem Kölner Erzbischof. Die Folgen dieser Bluttat führten anno 1226 (am Aschermittwoch) zur Gründung der Stadt Hamm. Dramatische Anfänge, fürwahr.

  • Gustav-Lübcke-Museum, 59065 Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel. 02381/17 75 01
  • Am Sonntag, 8. März 2015, Wiedereröffnung mit einem Tag der offenen Tür ab 10:30 Uhr (Musik vor dem Museum) bzw. 11:30 Uhr (offizieller Festakt) bis 18 Uhr.
  • Reguläre Öffnungszeiten Di-Sa 10-17 Uhr, So 10-18 Uhr. Eintritt: Dauerausstellung 2,50 Euro, ermäßigt 1,30 Euro, Kinder bis 15 Jahre frei.



Das Mysterium der Fernwärme

Sieht aus wie die Weltformel, dient aber der Preisberechnung für Fernwärme...

Sieht aus wie die Weltformel, dient aber der Preisberechnung für Fernwärme…

In Erwägung, dass hier zunehmend relevante Themen aus Sein und Zeit aufgegriffen werden, geht es nun um eine „Öffentliche Bekanntgabe der Fernwärmeversorgung Niederrhein GmbH für die Kunden in Dortmund-Bodelschwingh“.

Selbige ist heute im Anzeigenteil eines Dortmunder Lokalblatts (Mixtur aus WAZ und Ruhrnachrichten) abgedruckt; übrigens auf derselben Seite wie die täglichen Huren-Kleinanzeigen. Das will allerdings gar nichts besagen und ähnelt eher der zufälligen Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Operationstisch, welche bekanntlich den Surrealismus kennzeichnet. Damit hätten wir eine Kulturanspielung ebenso unversehens wie unauffällig untergebracht.

Jetzt aber streng zur energetischen Sache! Bislang hätte ich nie vermutet, dass die Menschen zu Bodelschwingh ihre Fernwärme vom Niederrhein beziehen. Aber es ist ja just Fernwärme. Seien wird also nicht kleinlich. In Dinslaken (dort, am Rande des Reviers, sitzt das Unternehmen) werden sie schon wissen, was sie tun.

Sie geben den werten Fernwärmeverbrauchern ja auch einen mathematischen Schlüssel an die Hand, mit dem Preisänderungen flugs ermittelt werden sollen. Merke: „Die einzelnen Werte der Preisbestimmungselemente der Preisänderungsklauseln und deren Summe werden hierbei auf sechs Nachkommastellen errechnet“.

Diesem hehren Zweck dient eine stupende Formel, die wir, um nur ja keinen Fehler zu machen, im fotografischen Abbild wiedergeben. Da bleiben wohl keine Fragen offen. Denn zur Erläuterung gibt es ja auch noch eine Menge Fußnoten wie etwa diese hier: „KWK-Index durchschnittlicher Preis für Baseload-Strom an der EPEX Spot je Quartal in Euro MWh…“ Na, und so weiter.

Helmut Schmidt hatte einst als Kanzler im Kreise der Minister gebarmt, er können seine „eigene Wasserrechnung nicht mehr verstehen.“ Unausgesprochen schwang dabei mit: „…und wenn i c h die schon nicht verstehe, dann…“ In Dortmund-Bodelschwingh werden sie den berühmten Ausspruch heute gewiss zitieren. Auch werden dort (irgendwie ebenfalls Schmidt gemäß) einige Köpfe rauchen, wenn besagte Formel auf den Tisch des Hauses kommt.

Wie bitte? Hier sei es kaum um Kultur gegangen? Nun, da hätten wir noch einen passenden Pfeil im Köcher: Der Dramatiker Heiner Müller hat Plattenbauwohnungen mal bündig als „Fickzellen mit Fernheizung“ bezeichnet.




Das Elend eines Kampfpiloten – James Salters Roman „Jäger“ (1957) endlich auf Deutsch

Cleve Connell ist der Anführer eines Schwarms von Kampfpiloten. Seine Aufgabe besteht darin, feindliche Maschinen abzuschießen und den eigenen Bodentruppen Schutz zu gewähren. Das hat jahrelang funktioniert.

Connell wurde in mehreren Kriegen für seinen Mut ausgezeichnet. Doch jetzt ist er in Korea stationiert. Und das Glück oder das Gespür für den Sieg kommt ihm abhanden. Immer wieder steigt er mit seiner Maschine in den Himmel auf. Doch nie bekommt er den Feind zu fassen, nie kann er nachweisen, dass er immer noch ein Ass ist, ein Held, dem Krieg Ruhm bedeutet und dem das Töten als eine Art Sport gilt. Allmählich wird er zum Gespött der Einheit und droht an seiner vermeintlichen Unfähigkeit zu zerbrechen.

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Bevor James Salter zum Schriftsteller wurde, hat er in der Air Force als Kampfpilot gedient und war er auch im Koreakrieg im Einsatz. In seinen 1957 erschienenen literarischen Erstling „The Hunters“ sind einige quälende autobiographische Erfahrungen eingeflossen. In „Jäger“, wie der jetzt (mit über 50 Jahren Verspätung) auch hierzulande herausgekommene Roman bei uns heißt, beschreibt Salter mit gnadenloser Präzision die Ambivalenz zwischen gloriosem Kampf und erbärmlicher Niederlage.

In knappen Sätzen, brillanten Formulierungen und mit lakonischer Beiläufigkeit registriert Salter, wie nahe ritualisierte Männlichkeit und pure Selbstsucht beinander liegen; wie zerstörerisch es sein kann, wenn eine auf das Töten abgerichtete menschlichen Kampfmaschine in einem Sumpf aus Konkurrenz, Neid und Verrat versinkt. Der Roman, 1958 mit Robert Mitchum und Robert Wagner verfilmt, ist kein Krieger- und kein Helden-Epos, sondern ein existenzielles Drama über den zur Freiheit – auch des Tötens – verurteilten Menschen.

Wie wichtig dem Autor sein Debüt ist, zeigt allein die Tatsache, dass er für eine amerikanische Neuausgabe (1997) den Roman noch einmal überarbeitet hat. In den USA gilt der 1925 geborene Autor, der mit „Lichtjahre“ und „Ein Spiel und ein Zeitvertreib“ international berühmt wurde, schon längst als moderner Klassiker. Manchmal hat es Jahre oder sogar Jahrzehnte gedauert, bis seine Bücher, die denen von Philip Roth, John Updike oder Richard Ford nicht nachstehen, in die deutsche Sprache übersetzt werden.

Doch als der öffentlichkeitsscheue Salter nach fast 30jährigem literarischen Schweigen sich 2013 noch einmal mit einem großen epischen Wurf zurück meldete („All That Is”/”Alles, was ist“), reagierte der hiesige Buchmarkt immerhin prompt.

James Salter: “Jäger”. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Beatrice Howeg. Berlin Verlag, 303 Seiten, 19,99 Euro.




Mit 66 zum ersten Mal in der Schwebebahn

Es soll sie ja geben, jene Menschen aus Nordrhein-Westfalen, die schon in Rente sind und doch noch nie in der Wuppertaler Schwebebahn gesessen und hoch über der Wupper das leichte Pendeln des Wagens genossen haben. Zu dieser Gruppe gehörten auch unsere Freunde aus dem südlichen Münsterland, die durch unsere Einladung mit ihren 66 und 63 Jahren zum ersten Mal dieses Technikwunder im Bergischen Land erlebten.

Die Schwebebahn über der Wupper in Elberfeld. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Die Schwebebahn über der Wupper in Elberfeld. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Einen gemeinsamen Besuch der sehr eindrucksvollen Pissarro-Ausstellung im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum verbanden wir also mit der Fahrt in der Schwebebahn von der Endstelle Oberbarmen bis nach Elberfeld. Döppersberg hieß die dortige Haltestelle früher, jetzt hat man sie großstädtisch in „Hauptbahnhof“ umbenannt. Gemeint ist damit allerdings der benachbarte DB-Bahnhof.

Schon der Aufstieg vom Straßenniveau auf die Einstiegsplattform ist gewöhnungsbedürfnis, und dann kommt die Bahn leicht ratternd tatsächlich wie schwebend angefahren. Allerdings schweben die Wagen ja nicht wirklich wie die Jungfrau im Zaubertrick, sondern sie hängen mit einem Stahlarm und einem Laufrad in einer Schiene, die fast durchgängig dem Flussverlauf folgt. Wegen dieser Konstruktion sagen Fachleute auch nicht „Schwebebahn“, sondern sie nennen das Gefährt eine „Einschienenhängebahn“.

Die Wuppertaler Bahn ist auch nicht die einzige ihrer Art in Deutschland, denn auch in Dresden gibt es so ein Schwebefahrzeug, das die Touristen auf einen Aussichtsberg befördert. Die beiden Bahnen sind jeweils zweigleisig und fast gleich alt: In Wuppertal ging sie am 1. März 1901 in Betrieb, und in Dresden fährt sie seit dem 6. Mai des selben Jahres. Konstruiert wurden sie von dem Ingenieur Eugen Langen.

Auch weltweit sind die deutschen Bahnen nicht einmalig: Seit 1982 verkehrt so eine „Einschienenhängebahn“ im amerikanischen Memphis und verbindet zwei Stadtteile rechts und liks des Flusses Mississippi , allerdings etwas komfortabler als bei uns: Sie „schwebt“ nämlich fast lautlos auf Gummirädern. Der berühmte Mephis-Bürger Elvis Presley konnte sie nicht jedoch mehr benutzen – er starb fünf Jahre zuvor, am 16. August 1977.




Die Generation Handy verschont mich nicht

Heute bleibt das Handy kalt... (Foto: Bernd Berke)

Heute bleibt das Handy kalt… (Foto: Bernd Berke)

Ja, ich weiß, das ist nicht richtig was Neues, das ist längst richtiger Alltag: Aber heute fiel es mir nicht nur besonders auf, sondern auch gehörig auf die Nerven. Das öffentliche Dauertelefonieren, die allerörtliche Erreichbarkeit und das hemmungslos vorgetragene Mitteilungbedürfnis via Handy. Ätzend!

Beginnen wir mit einer Klarstellung: Ich habe selbst ein Handy, ich weiß selbst, dass „Handy“ total falsch ist, weil Handy klein geschrieben wird, handlich bedeutet und damit eigentlich ein mobile phone oder auch cellular oder cell phone gemeint ist. Ich leiste mir auch gern ein High End-Gerät (Google Nexus 5, 32 Gigabyte). Und ich nutze mein Handy (bleiben wir beim falschen Ausdruck, weil den schließlich jeder versteht) exzessiv. Ich weiß eigentlich nicht mehr, warum ich noch einen Festnetzanschluss habe, dessen Nummer ich völlig vergessen habe.

Damit glaube ich hinreichend dargestellt zu haben, dass ich weder Fortschrittsungläubiger noch ein heimlicher Maschinenstürmer bin oder gar an fortgeschrittener Rückständigkeit leide. Nee!

Aber als ich heute hinaus in den heiteren Herbsttag schritt, meinen grünen Rucksack (Vaude – bin auch da markentreu) festzurrte und für einige Besorgungen Richtung Innenstadt eilte, da begann es schon nach 100 Metern. Eine junge Frau schob ihren Kinderwagen vor sich her und parlierte in einem sympathischen multikulturell-deutschem Wortgemisch mit wem auch immer. Ihre Kommunikation begleitete mich bis zu einer Ampelkreuzung, wo sie nach rechts abbog – und weiter plauderte. Ich hörte sie noch während meiner Wartezeit (bis es grün leuchtete) durch den Verkehrslärm.

Kaum in den Räumen des Discounters, der selbstgefällig behauptet, dass er sich lohne, höre ich das aufgeregte Plappern einer jungen Dame, die sich vermutlich mit einer anderen jungen Dame darüber austauscht, was am Abend zuvor geschehen sei, wie es wohl weiter gehen könnte und was sich am Arbeitsplatz so zugetragen habe. Meine Versuche scheiterten hilflos, den Durchzugsmodus in der Eustachi’schen Röhre (auch Ohrtrompete) anzuwerfen.

Unser Einkaufsweg war anscheinend identisch, in der Kassenschlange begeisterte sie die nähere Umgebung weiter mit ihrer ausgelassenen Unterhaltung, und erst als die Bezahlprozedur beidhändigen Einsatz beim Einpacken und Geldzählen erforderte, wurde das Gespräch unterbrochen. Als ich auch meine Einkäufe artig bezahlt hatte und nach draußen schritt, stand die junge Dame wieder da und unterhielt sich. Zu meinem Entzücken vis à vis, mit einer Bekannten.

Weiter rollte ich mit einer gleichnamigen Treppe aufs Parterre, um durch eine kleine Halle den Weg ins Stadtzentrum zu nehmen. Da wähnte ich mich von einen Unbekannten von hinten angesprochen… Nein, ich war nicht gemeint. Der Fremde sprach mit, ja, mit wem wohl? Er presste, während er mich hurtigen Hufes überholte, fast als fürchte er, dass mitgehört werden könnte, sein Handy ans Ohr und rief schallend seine Beiträge zur fernübermittelten Kommunikation ins Gerät, als müsse er die Kilometer Entfernung zum anderen Teilnehmer ohne elektronische Hilfe überbrücken.

Kaum hatte ich mich von diesem leisen Schrecken erholt, da keimte in mir das Mitleid – ich bin halt schnell mal gerührt. Ein junger Mensch schien mir doch arg einsam. Er trabte mir entgegen, den Kopf gesenkt, Hoody darüber gezogen. Und erzählte sich selbst irgendetwas in sich hinein. Ach, nee. Kaum war er mit mir auf selber Höhe, da erkannte ich, dass sein Handy nicht ans Ohr gehalten wurde, sondern er kabelverbunden war und ein wenig atemarm seine Silben in ein Mikro hustete, während der Ohrstöpsel die Laute des Gesprächspartners übermittelte.

Dann aber schon wieder das gewohnte Bild mit den gewohnten Geräuschen: Heerscharen von Menschen jeden Alters, jeder Herkunft, jeden betuchten Portemonnaies oder jeder betuchten Konfession marschierten entweder schneller als ich oder trollten sich mir entgegen und waren versunken im Palaver eines Daueraustauschs von Alltäglichkeiten.

„Du, und die Mutter kommt auch“, schnappe ich wehrlos auf. „Er kann sich ja benehmen wie er will, aber nicht mit mir!“ macht da jemand im Vorübergehen eine Kante klar. „Hast du gesehen, hast du die gesehen?“ oh Gott, schaue ich verwirrt umher, wo denn nur. „Das werde ich jetzt aber schnell verkaufen.“ Wurde ich etwa unfreiwilliger Ohrenzeuge einer wichtigen, einträglichen Transaktion?

Ich hockte mich verzagend in eine Außengastronomie, um kurz Ruhe zu finden, bei einem Eis. Sonne schien ja und trocken war’s. Ich hatte längst aufgehört wahrzunehmen, wie viele Menschen wie laut an mir vorüber zogen, um Büro, Haushalt, Freundeskreis und mehr plaudernd auf die Straße zu tragen. Auch die Wartezeit auf den überfüllten Bus verstrich nicht, ohne dass mir unfreiwillig alle möglichen Familiengeschichten oder was auch immer um die Ohre flogen. Ich verstand zwar kein Wort, weil die Muttersprache mir fremd war und ohne eingestreutes deutsches Vokabular auskam. Aber das war auch gut so.

Auf den letzten Metern bis daheim ereilte mich schon wieder ein angeregtes Gespräch in meinem Rücken. Kaum seufzte ich stumm meine Missachtung der ungezügelten Freiluft-Fernkommunikation in mich hinein, da marschierten zwei Schüler an mir vorbei. Ja, die unterhielten sich wirklich miteinander, von Angesicht zu Angesicht. Und sie beschwerten sich energisch über jemanden, der wohl ihr Lehrer war.

Sie sahen nicht mehr, wie ich vergnügt grinsend die Haustüre aufschloss. Es gibt sie also noch, die Kommunikation ohne Handy.




Was ein ambitionierter Setzer und Drucker mit Texten von Max Goldt anstellt

Wie auf jedes neue Buch von Max Goldt, so habe ich mich auch auf dieses gefreut. Doch ach, die Vorfreude wurde hernach ein wenig geschmälert.

Die herrlich schrägen Texte des Meisters sind in die Hände eines leidenschaftlich traditionsversessenen Setzers, Druckers und Typographen gefallen. Mit Goldts Einverständnis, ja gewiss doch.

Bisher hat sich der Drucker Martin Z. Schröder in seiner Berliner Werkstatt seit 1998 nur für Kleinverlage über Goldts Kolumnen hergemacht – und dabei recht achtbare Auflagen erzielt. Jetzt sehen wir die dabei entstandenen Seiten als Edition bei Rowohlt Berlin im Faksimile, also gleichsam aus zweiter Hand. Der Band heißt „Chefinnen in bodenlangen Jeansröcken“. Ein typischer Goldt-Titel im Geiste des höheren Nonsens, der freilich immer wieder unversehens ins erhaben Sinnhafte beidreht.

Chefinnen-in-bodenlangen-Jeansrocken-9783871347924_xxlNatürlich ist es aller Ehren wert, wenn einer die herkömmlichen Druck- und Satztechniken mitsamt den alten Apparaturen und Maschinen liebevoll pflegt, wenn er im Dienste der Bibliophilie weder Kosten noch Mühen scheut und hergebrachte Fertigkeiten vor dem Untergang bewahrt. Bücher, die in diesem Sinne entstehen, sind nicht zuletzt Sammlerstücke.

Auch mag es ja sein, dass eine sorgsam ausgewählte Typographie der Textinterpretation nutzt, ja gleichsam selbst schon eine Interpretation darstellt. Zumal die historischen Stilzitate prägen auch den Inhalt. Es sind eben grundverschiedene Anmutungen, wenn ein und derselbe Text in einer alten Schrift der Aufklärung, in Fraktur oder etwa in einem Duktus der 1950er Jahre aufscheint. Was eigentlich gar nicht mehr zu beweisen war.

Doch leider tritt hier der typographische und gestalterische Zugriff häufig dermaßen in den Vordergrund, dass er sich die Texte schier untertan macht. Wunderbar zauselig-abstruse Stellen werden optisch so zugerichtet, dass auf einen Schelmen anderthalbe gesetzt werden. Hie und da steigert das nicht gerade die Subtilität, sondern mindert sie sogar. Es ist, als wollte der Drucker Schröder stets unserer Phantasie aufhelfen und uns auf den Kerngehalt der Textpassagen bringen oder gar stoßen. Man merkt die Absicht und man ist (zuweilen) verstimmt.

Im Hochgefühl seines Handwerkerstolzes führt Schröder dabei vor, was mit drucktechnischen Mitteln so alles möglich ist, sein Arsenal ist ziemlich gut gefüllt. „Ja, das alles, auf Ehr’, das kann ich und noch mehr“: Es ist mitunter ein wahrer Lettern-Fetischismus, der sich da ergeht.

Da stehen Schriften kopf oder erstrecken sich in alle Richtungen, da kann das Satzbild jederlei Form annehmen und sich auch schon mal als Spirale ringeln. Die Zeilen können sich verengen, weiten, springen oder sonstwie ins Tanzen geraten.

Kurzum: Jede Seite sieht hier anders aus als die vorherige. Im Einzelnen ist das ja hübsch anzusehen und nötigt auch gehörigen Respekt ab. Doch die geradezu zwanghafte Vielfalt lenkt auf Dauer von den Inhalten eher ab.

Möglich, dass dies alles ein ästhetisches Fest für Typo-Freaks ist. Doch Max Goldts inspirierte und inspirierende Texte, von denen hier bewusst nicht die nähere Rede ist, wirken in diesem sicherlich immens arbeitsreichen Verfahren vielfach nur noch wie bloßes Demonstrationsmaterial, wie bruchstückhafte Versuchsobjekte. Ich erlaube mir, das schade zu finden.

Max Goldt und Martin Z. Schröder: „Chefinnen in bodenlangen Jeansröcken“. Faksimile vierer typografischer Sammlerstücke. Inszeniert von Martin Z. Schröder. Rowohlt Berlin Verlag. 144 Seiten, ohne Paginierung. 25 Euro.




Die Dinge beginnen zu denken – „Schöne schlaue Arbeitswelt“ in der Dortmunder DASA

Klingt doch erst mal richtig nett: „Schöne schlaue Arbeitswelt“ heißt die neue Schau in der Dortmunder DASA, dem Ausstellungshaus, das der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin angegliedert ist. Doch der Blick in die Zukunft weckt gemischte Gefühle.

Es geht um einige Ausprägungen der sogenannten „Ambient Intelligence“ (etwa: Umgebungs-Intelligenz), welche sich z. B. mit „denkenden“ Büros, Datenbrillen und allerlei Sensoren anschickt, weite Teile unseres Alltags zu bestimmen, also nicht nur die Arbeitswelt; wie denn überhaupt Grenzen zwischen Arbeit und sonstiger Lebenszeit auf vielen Feldern fallen.

Es ist keine Science-Fiction mehr. Wir sind schon mittendrin in diesen tiefgreifenden Prozessen mit eigenständig parkenden Autos und einkaufenden Kühlschränken, um nur zwei populäre Phänomene zu nennen. Und es ist beileibe nicht alles verheißungsvoll, was da auf uns zurollt. Die Titel-Anspielung auf Aldous Huxleys schaurige Utopie „Schöne neue Welt“ kommt also nicht ganz von ungefähr.

Vermessung und Virtualisierung des Körpers - zunächst noch spielerisch... (Foto: Bernd Berke)

Vermessung und Virtualisierung des Körpers – zunächst noch spielerisch… (Foto: Bernd Berke)

Die kompakte, recht übersichtliche Ausstellung wird in wenigen Raumwürfeln präsentiert und ist so mobil, dass sie demnächst landauf landab wandern wird – zunächst nach Hamburg und Mannheim.

Da sieht man beispielsweise den Handschuh, der sich einfärbt, wenn giftige Gase wabern. Oder einen Feuerwehranzug, dessen Textur ungeahnt viele Schadstoffe herausfiltert und dessen Sensorik in Gefahrenzonen blitzschnell lebenswichtige Daten erhebt. Die meisten Feuerwehren dürften sich einstweilen solch kostspielige Ausrüstung kaum leisten können.

Die wenigen Exponate verweisen auf vielfältige Hintergründe. Es sind jedenfalls spannende Gebiete, auf den die Dortmunder Bundesanstalt forscht. Mit „Ambient Intelligence“ befasst man sich seit 2009 intensiv. Dabei gilt es, sorgsam zwischen Chancen und Risiken zu lavieren. Einerseits drängt die globale Konkurrenz zum Handeln, andererseits soll das menschliche Maß gewahrt werden.

Kultur- und Geisteswissenschaftler, so steht zu hoffen (ja zu fordern), sollten an derlei Forschungen ebenso beteiligt sein wie Naturwissenschaftler und Ingenieure. Damit nicht nur die Machbarkeit zählt. Freilich kann man der Bundesanstalt in solcher Hinsicht wohl mehr (zu)trauen als manchen Forschungszweigen in der Industrie, wo sich alsbald alles „rechnen muss“.

Zurück in die Würfel. Eher schon wie ein Jux muten jene speziell präparierten Socken an, die per Scanner und iPhone einander automatisch zugeordnet werden können – endlich eine Lösung für das allfällige „Lost socks“-Problem? Halb scherzhaft beworben wird die sündhaft teure Erfindung (5 Paar Socken mit Zubehör ca. 150 Euro) vor allem für tölpelhafte Single-Männer. Das Set verrät einem übrigens auch, wie viele Waschgänge die Socken bereits hinter sich haben – und schlägt zeitig den Kauf von Neuware vor…

Der Gürtel, der den Träger zur geraden Körperhaltung ermahnt, steht für zahlreiche Apparaturen, die den Menschen unentwegt zur maximalen Fitness anhalten – und vielleicht eines nicht allzu fernen Tages von Krankenkassen zur Pflicht erklärt werden könnten.

Ein anderer Kubus der Ausstellung skizziert den Stand der Dinge bei den Datenbrillen („Head-mounted displays“). Ein Exemplar kann man auch gleich ausprobieren. Zum Einsatz solcher Brillen für Montage-Vorgänge läuft eine Langzeitstudie, derzufolge die Träger sich offenbar weniger bewegen, als wenn sie mit einem Tablet arbeiten. Außerdem werden sie schneller müde, ohne schneller gearbeitet zu haben. Die Effektivität ist also sehr fraglich. Allerdings ist bei den Datenbrillen eh die Unterhaltungs-Industrie die treibende Kraft und nicht so sehr das produzierende Gewerbe.

Auch ganze Bewegungsabläufe werden längst digital „optimiert“. Die exakte Körpervermessung generiert einen Schattenleib, der im virtuellen Bildraum erscheint und nach allen Regeln der Ergonomie analysiert werden kann. Denkt man das weiter und weiter, kann einem ziemlich unbehaglich werden. Darüber kann auch der spielerische Einsatz dieser Technologie nicht ohne weiteres hinwegtrösten.

Schließlich die intelligente Beleuchtung. Am Horizont erscheinen Szenarien, in denen beim Betreten eines Raumes (etwa eines Büros) je individuell die Lichtverhältnisse geregelt und immer wieder neu austariert werden – je nachdem, wer gerade anwesend ist.

Womöglich schön und gut. Doch auch auf diesem Gebiet lauert Manipulation. Eine vielfach praktizierte Steigerung des Blaulichtanteils hält Menschen bei der Arbeit länger wach – aber mit welchen Folgen? Blaulicht (in allen LEDs, somit auch als Hintergrundlicht auf vielen Bildschirmen) beeinflusst den Hormonhaushalt, genauer: es senkt den Melatonin-Spiegel. Anschließende Schlafstörungen sind sehr wahrscheinlich, auch könnte langfristig die Krebsgefahr wachsen.

„Schöne schlaue Arbeitswelt.“ DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25. Vom 11. September bis 23. November. Geöffnet Di-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr.

DASA-Eintritt für alle Bereiche 5 Euro (bis zum 28. September läuft neben der Dauerschau auch noch eine Sonderausstellung zur Geschichte des Zeitempfindens: „Tempo Tempo! Im Wettlauf mit der Zeit“). Führungen: 0231/9071-2645.

www.dasa-dortmund.de




Im Dickicht der Netze: Die Deutsche Bahn fällt auch beim ARD-Test durch

Warten auf den Zug: Aufnahme aus dem Hamburger Hauptbahnhof. (Foto: WDR/dpa/Bodo Marks)

Warten auf den Zug: Aufnahme aus dem Hamburger Hauptbahnhof. (Foto: WDR/dpa/Bodo Marks)

Es dürfte schwerfallen, ein Unternehmen zu finden, über das mehr geschimpft wird. Insofern konnte „Der Deutsche Bahn-Check“ (ARD) doch nur ins Schwarze treffen, oder?

Untersucht wurden (in gewohnt flotter Manier) Preise, Pünktlichkeit, Sauberkeit und Einhaltung der ziemlich vollmundigen Tempo-Versprechen. Wer glaubt denn wohl, die Deutsche Bahn hätte alle Prüfungen mit Bravour bestanden? Na, bitte. Vermutlich niemand. Und dabei wurden Themen wie der betrübliche Zustand vieler Bahnhöfe noch nicht einmal angeschnitten.

Rätselhaftes Preisgefüge

Vorwiegend junge Tester begaben sich für die Reportage ins Dickicht der Bahnnetze. Sie standen ratlos vor Fahrkarten-Automaten, wurden auch – nach langen Wartezeiten – bei persönlicher Beratung oft nicht schlauer und zahlten fast durchweg etliche Euros zu viel für ihre Tickets. Die wirklich günstigsten Angebote herauszufinden, ist offenbar derart schwierig, dass man von einem gezielten Versteckspiel sprechen kann. Prädikat fürs Preissystem: „undurchschaubar“.

Rechentricks bei Verspätungen

In Sachen Pünktlichkeit, so stellte sich heraus, schummelt die Bahn mit Statistiken. Mit allerlei Tricks wird die Zahl der Verspätungen heruntergerechnet. Für die einzelnen Reisenden sieht’s leider deutlich schlechter aus. Urteil zur Pünktlichkeit: „geschönt“.

Sodann der Sauberkeits-Check. Ergebnis: Die Toiletten sind weitgehend in Ordnung, allerdings herrschen wohl Hygienemängel in den Bord-Bistros. Besonders Salatproben ergaben bedenkliche Bakterien-Häufungen. Befund in Sachen Sauberkeit: „ausbaufähig“.

Auf vielen Strecken ausgebremst

Schließlich die Tempo-Versprechungen, die vor allem die angeblich superschnellen ICE-Züge in den Vordergrund rücken. Ein etwas unfaires Beispiel von einer Bummelstrecke im Allgäu (wo ein gemächliches Luftschiff schneller war als die Bahn) mal außer Acht gelassen, zeigten sich auch in dieser Hinsicht gravierende Mängel.

Ein frustrierter Lokführer stellte vertrauliche Unterlagen zur Verfügung. Demnach gibt es wegen des weithin maroden Schienennetzes immens viele Langsamfahrstrecken, auf denen nur noch Tempo 70, 40 oder gar 20 gefahren werden kann. Der schlechte Witz: Diese Bremsstrecken werden kurzerhand in den Fahrplan eingebaut, so dass sie rein rechnerisch nichts als Verspätung auftauchen. Der Langsam-Fahrplan wird ja einigermaßen eingehalten…

Und immer lockt das Auto

Gewiss: Es ist eine ungeheure Aufgabe, das weitverzweigte Bahnnetz in Betrieb und Schwung zu halten. Man ahnte es nicht nur beim Blick ins Frankfurter Netzzentrum. Auch dürfte es zahllose engagierte Mitarbeiter geben, an denen es nicht liegt, wenn einiges schiefgeht.

Aber: Mit dem gesamten System, so scheint es, stimmt es an manchen Ecken und Enden nicht. Vielleicht wäre ein Vergleich mit anderen Ländern noch erhellend gewesen.

Unerwünschte Folge jedenfalls: Viele Menschen fahren denn doch lieber Auto. Der eine oder andere Lokführerstreik wird diese missliche Situation nicht gerade entschärfen.




„Das weiße Gold der Kelten“: Salz hält auch uralte Fundstücke frisch

Wo vor Jahrzehnten noch das „Schwarze Gold“, also Kohle, das Leben bestimmt hat, geht es nun ums „Weiße Gold“ in viel weiter entfernten Zeiten: In Herne zeigt das LWL-Museum für Archäologie die aus Wien kommende Ausstellung „Das weiße Gold der Kelten – Schätze aus dem Salz“.

Es geht um staunenswerte Funde aus Hallstatt (Oberösterreich), wo schon in der Jungsteinzeit Salz gewonnen wurde. Um 1500 v. Chr. waren dann die bronzezeitlichen Kelten schon versiert im Salzbergbau. Etwa 1245 v. Chr. beendete ein katastrophaler Erdrutsch diese Phase. Die Geschichte des quasi (vor)industriellen Abbaus beginnt um das Jahr 850 v. Chr., in der frühen Eisenzeit. Die Kelten meißelten sich ins Innere der Berge vor, entlang der Salzadern stellenweise über 300 Meter tief. So weit die grobe Chronologie.

Kinderarbeit unter Tage

Die senkrechten, mit Holz ausgekleideten Stollen waren immerhin 8 bis 12 Meter breit und führten zu riesigen Hallen unter Tage. Dort arbeiteten nicht nur Männer (Abbau mit dem Pickel) und Frauen (als Trägerinnen) im Salzbergbau, sondern auch Kinder ab etwa 5 Jahren.

Blick in die Herner Salz-Ausstellung (Foto: LWL/Arendt)

Blick in die Herner Salz-Ausstellung (Foto: LWL/Arendt)

Man hat Schuhe in Kindergrößen gefunden und außerdem Leuchtspäne für unterirdisches Licht. Diese Späne trugen zum Teil Abdrücke von Kindergebissen. Mutmaßung: Kinder mussten die Fackeln im Mund tragen, um die Hände für anderweitige Arbeiten frei zu haben. Gewiss: Schulunterricht haben die Kleinen seinerzeit nicht versäumt, doch zeugen Skelettfunde von frühen Knochen- und Halswirbelschäden. Heute vernimmt man es mit Grausen. Die „Hallstätter“ wurden damals im Schnitt nur rund 35 Jahre alt, nur vereinzelt erreichten sie das 50. oder gar 60. Lebensjahr.

Salzherzen als frühe Markenzeichen

Und wozu die Strapazen unter Tage? Salz war zu jener Zeit praktisch so kostbar wie Gold, und zwar nicht wegen seiner würzenden Eigenschaften, sondern als – bis zur Erfindung des Kühlschranks – bevorzugtes Konservierungsmittel, das Lebensmittel länger frisch hielt. Von Hallstatt aus handelten die Kelten, die zweitweise ein Salzmonopol für große Teile Mitteleuropas innehatten, über weite Strecken mit dem „weißen Gold“, bis in die heutigen Länder Frankreich, Italien und Ungarn.

Sorgte unter Tage für Licht: ein Bündel von Leuchtspänen. (Foto: LWL/Lammerhuber)

Sorgte unter Tage für Licht: ein Bündel von Leuchtspänen. (Foto: LWL/Lammerhuber)

Um den Absatz weiter zu fördern, wurden in Hallstatt (gleichsam ein früher Marken-Auftritt) auch herzförmige Blöcke aus Salz angefertigt. Das war nicht nur ein Gag, sondern auch ein Qualitätsnachweis. Wie Hofrat Dr. Anton Kern, Direktor der Prähistorischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien, erläutert, konnte für die von allen Seiten sichtbaren Herzen nur bestes Salz verwendet werden, während in Säcken schon mal schlechtere Ware unten liegen konnte…

So wertvoll wie Gold

Die offenbar ebenso geschäftstüchtigen wie reisefreudigen Hallstatt-Kelten häuften jedenfalls wahre Reichtümer an, wie edle Grabbeigaben aus Elfenbein (aus Afrika), Bernstein (von der Ostsee), filigranem Glas oder just Gold belegen. Welch ein Gepränge! Und dabei hat man zwar rund 1500 von vermuteten 6000 Grabstellen ausgewertet, doch hat man die etwaigen Fürstengräber der Region noch gar nicht gefunden. Ja, die Forscher wissen noch nicht einmal, wo diejenigen gewohnt haben, die damals das Sagen hatten. Welche Prunkstücke da wohl noch schlummern?

Keltisches Schöpfgefäß mit Kuh- und Kälbchenfigur, um 600 v. Chr. (Foto: LWL/Arendt)

Keltisches Schöpfgefäß mit Kuh- und Kälbchenfigur, um 600 v. Chr. (Foto: LWL/Arendt)

Das Salz taugt nicht nur zur Lebensmittel-Konservierung, sondern hat auch viele archäologische Funde so erhalten wie sonst kaum irgendwo auf der Welt. Selbst empfindliche Fragmente von Textilien (Fellmützen, Tragesäcke, Lederkappen) und organische Bestandteile haben die Jahrtausende nahezu unversehrt überstanden. Hier sieht man auch Relikte der wohl weltweit ältesten Holzstiege (von etwa 1343 v. Chr.), eine raffinierte Baukasten-Konstruktion, die im Berg Unebenheiten überbrückt haben dürfte. Spuren an einem Holzkochlöffel lassen Rückschlüsse auf die Ernährung zu: Beispielsweise standen Sammelobst, Gerste, Hirse, Saubohnen und Linsen auf dem Speiseplan, aber auch (rohes) Fleisch und Milchprodukte, worauf Kaseinreste hindeuten.

Das älteste „Toilettenpapier“

Auf eine andere Verrichtung lassen Pestwurzblätter schließen, die unter Tage gefunden wurden. Die Bergleute haben sie dort unten offenbar als Vorläufer von Toilettenpapier benutzt, wobei speziell diese Blätter einen lindernden, antiseptischen Effekt bei damals allfälligen Entzündungen und Durchfall gehabt haben sollen.

Werkzeug für den Salzbergbau (Foto: LWL/Lammerhuber)

Werkzeug für den Salzbergbau (Foto: LWL/Lammerhuber)

In Zusammenarbeit mit der Innsbrucker Agentur „MuseumsPartner“ hat man die Herner Schau mit rund 250 Exponaten (aus dem Naturhistorischen Museum Wien) denkbar sinnlich gestaltet. Der Eingang führt durch eine Art Holzstollen. In sechs begehbaren Salzblöcken werden einzelne Themenkreise hervorgehoben. Mittlerweile übliche Animationsfilme vermitteln Vorstellungen vom Alltagsleben der keltischen Salzbergleute, die sich übrigens (wie vorgefundene Farbstoffe ahnen lassen) in ziemlich bunte Kleidungsstücke hüllten. In manchen Zonen des Rundgangs haben die Ausstellungsmacher sogar versucht, Gerüche aus der Bronzezeit zu rekonstruieren, die hier nun dezent verströmt werden. Pestwurz-Hinterlassenschaften selbstverständlich ausgenommen.

„Das weiße Gold der Kelten – Schätze aus dem Salz“. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Vom 23. August 2014 bis 25. Januar 2015. Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 6 Euro, ermäßigt 4 Euro, Kinder/Jugendliche 3 Euro. Begleitbuch aus Wien (erschienen 2008) 19,95 Euro.




„Simst“ du noch oder „whatsappst“ du schon?

Sprachen leben, sie werden von lebendigen Wesen zur Kommunikation genutzt. Und so verändern sie sich auch im Laufe der Lebenszeiten dieser lebendigen Wesen ständig, was manchem der Wesen sauer aufstößt. Andere sehen’s gelassen und machen mit. Bisweilen sind aber auch die Toleranz-Boliden unter den Sprachliebhabern vor arge Verständnisprüfungen gestellt.

„Moment, ich stumme mal eben mein Handy“, schnappte ich unlängst auf und begann spontan in eine Form des Grübelns zu geraten, die mit „Hirnzermarten“ treffender beschrieben wäre. Nach endlos erscheinenden Sekunden der Ratlosigkeit glimmte es erleuchtend auf: Der junge Mensch – und ich vermute mal sein gesamter Freundeskreis – hatte dieses mir bis dahin nicht geläufige Verb entwickelt, um seinen jeweiligen Gegenübern zu bedeuten, dass er sein Mobiltelefon „auf stumm“ schalten werde, damit dessen wie auch immer gearteter Klingelton die Unterhaltung nicht stört.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Ich verstummte lieber, als dass ich eine neugierige Frage an ihn richtete und mir einen verständnislosen Blick einhandelte. Okay, dass ich mal eben ein paar Informationen „google“, daran habe ich mich ja gewöhnt, nutze diese ganzneudeutsche Vokabel auch selbst gern, weil es keine bessere  und vor allem kürzere Kennzeichnung des dazugehörigen Tuns an PC, Tablet oder Cellphone (deutsch: Handy) gibt. Jeder Versuch einer umgangssprachlichen Verknappung mündete unweigerlich in eine bandwurmende Beschreibung der Handlung, was eigentlich niemand will.

Schon lange, so lange, dass ich kaum mehr Erinnerung habe, wann ich es nicht getan hätte, schon lange also „simse“ ich. Obwohl auch das ja an den höheren Blödsinn grenzt, denn allenfalls schreibe ich ja eine eine Nachricht über einen SMS (ShortMessageService), also nicht mal eine SMS schreibe ich. Und doch: Jede andere Form, es deutlich zu machen, wäre zu lang, also „simse“ ich auch.

Inzwischen ist das aber auch schon eine Handlung, die, wird sie verbalisiert, in deiner Umgebung sofort den Verdacht keimen lässt, du seist ein Gruftie, was ja auch der Wahrheit entspricht. Aber inzwischen würde das „Simsen“ einen Gruftie als nicht mehr auf der Höhe der modernen Zeit demaskieren. Schließlich „whatsappt“ mensch sich heute was. Die Community ist dauervernetzt und schier am Tropf eines Dienstes, dessen kryptischer Name (soll wortspielend die Frage „What ist up?“ – was geht – und App miteinander verbinden) in ein Verb umoperiert wurde.

Nun kann ich an dieser Stelle nur sagen, dass ich aus persönlichen Gründen gegenüber „WhatsApp“ phobisch reagiere und den Kommunikationsweg nur dann gezwungenermaßen beschreite, wenn er mir von der anderen Seite aufgenötigt wird. Daher „whatsappe“ ich auch nicht und werde mir das auch ganz sicher nicht angewöhnen. Aber die Angewohnheit, mich mit umgangssprachlichen Veränderungen konstruktiv auseinanderzusetzen, die werde ich mir bewahren. Schließlich habe ich mich ja auch an die Neue Rechtschreibung schon früh gewöhnt.

Ach ja, da erinnere ich mich gern dran. Ein Kunde kreidete mir damals, bei deren Einführung, einen Schreibfehler an. Ich solle doch „Litfaßsäule“ nach neudeutscher Weise mit drei „s“ schreiben. „Nöö“, antwortete ich, das bleibt bei „ßs“. Und naseweiste sogleich weiter, dass niemand gezwungen werden könne, einen Eigennamen anders zu schreiben als sein Träger. Zu spät bemerkte ich, dass der werte Kunde keine Ahnung hatte, dass Herr Litfaß ein findiger Berliner war und seine Werbesäule nix mit einem Fass zu tun hatte.




Rätsel des Alltags (1): Stöpsel-Spuk

IMG_9451Es ist von einem rätselhaften Phänomen zu berichten, das vielleicht in Grenzbereiche der Naturwissenschaften führt. Oder so.

Die Sache ist die: Um meine Kontaktlinsen einsetzen und abspülen zu können, bin ich darauf angewiesen, dass der Verschluss des Waschbeckens dicht bleibt. Sonst könnten die Linsen auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Gleichsam mit einem höhnischen Gurgeln.

Nun habe ich folgende Beobachtung gemacht, man kann inzwischen durchaus von einer langwierigen Versuchsreihe sprechen: Tagsüber fuktioniert der Mechanismus – auf bloßen Fingerdruck hin oder indem man am Hebel zieht. Abends aber ploppt der Stöpsel immer wieder hoch und lässt sich auch durch gutes Zureden nicht bändigen. Dann muss ich den Ausguss auf andere, recht umständliche Weise abdichten.

Wenn das keine Tragik ist!

Wie aber lässt sich der Unterschied erklären? Jedenfalls nicht mit bloßer Schulweisheit. Meine bisherige, naturgemäß laienhafte Hypothese lautet so: Womöglich herrschen in der Kanalisation und/oder im Rohrleitungssystem tagsüber andere Druckverhältnisse als nachts. Bin ich damit einem gut gehüteten Geheimnis der städtischen Wasserwerke auf der Spur? Handelt es sich um ein Spezifikum des Ruhrgebiets? Oder spukt es bei uns?




Ja, das Schreiben und das Lesen…

Seit Jahrzehnten, seit Jahrhunderten – ach, eigentlich immer schon, seit es Schriftzeichen gibt – wird um den Bestand der Lese- und Schreibkultur gebangt. Zugegeben: Man bangt ja auch gerne mit.

Aber: Es ist auch schon eine Binsenweisheit, dass – allen Bilderfluten zum Trotz – das Internet eine neue Verschriftlichtung mit sich bringt. Früher war die Schwelle zum Schreiben und vor allem zum freimütigen Herzeigen des Geschriebenen bedeutend höher. Doch nun darf jede(r) ‚ran, auch wenn sämtliche Balken der Rechtschreibung und Sinngebung sich biegen. Manche feiern das als Zeichen der Demokratisierung und wollen alles, alles gelten lassen. Jeder Mumpitz speichert und versendet sich, ob gesimst, im Netzwerk, im Chat oder sonstwo. Herrje!

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Und die Lesekultur, wenn wir denn großzügig von „Kultur“ reden wollen? Hat sich natürlich längst vom Papier gelöst. Beim Urlaub auf einer südlichen Insel ist es mir jetzt abermals aufgefallen, deutlicher denn je: Die Zahl der elektronischen Lesegeräte übersteigt inzwischen an den Stränden die der herkömmlichen Bücher. Da kalauerte mir durch den Kopf, es gebe entlang der Küstenlinie mehr Kindles als Kinder. Hehe, Hauptgag! Tä-tääää!

Gut, manchmal muss jemand sein ach so schickes Apparätchen schwenken und schwenken, bis das Sonnenlicht nicht mehr blendet. Aber dafür flattert auch nichts im Winde. Außerdem kann diese Jemandin theoretisch fünfzig Romane mit sich führen – praktisch ohne Mehrgepäck; während Unsereiner schleppt und ächzt.

Derlei Vorteile könnten einen fast zum Umstieg bewegen. Doch wenn ich dann diese lässigen Wischbewegungen sehe, die das Umblättern simulieren sollen! Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass man auf diese Weise mit solch heißem Herzen liest wie ehedem. Aus dem schier atemlosen Leser von einst wird ein Achwasweißich. Ein Seitenwichser. Ach, da habe ich mich doch glatt vertippt. Egal. Ist doch eh alles wurscht.




„re:set“ – Recklinghausen zeigt Malerei nach Computer-Motiven

Drum

Viereinhalb Quadratmeter wabernde Kunst: „Drum’n Bass“ von Volker Wevers aus dem Jahr 2007 (Bild: Kunsthalle Recklinghausen/Katalog)

Der Computer, eine Binse, hat viele Lebensbereiche gravierend verändert. Auch die bildende Kunst bedient sich seiner, manche Menschen behaupten gar, der Computer selbst besäße Kreativität und würde den Künstler bald überflüssig machen. Ist die Maschine also das letzte Maß der Dinge? Das will man ja auch nicht so recht glauben, zumal Bäume nicht in den Himmel wachsen, selbst dann nicht, wenn sie digitalisiert sind.

In der Recklinghäuser Kunsthalle sind nun rund 70 Bilder zu sehen, deren Schöpferinnen und Schöpfer sehr bewußt eine Trennlinie zur elektronischen Kunstgenerierung gezogen haben. Es ist dies eine Grenze irgendwo auf dem Weg zum künstlerischen Endprodukt, keine Ausgrenzung des Elektronischen schlechthin. Vielmehr sind viele Entwürfe im Rechner entstanden, um letztlich jedoch zu einem „gemalten“ Bild zu führen. „Re:set – abstract painting in a digital world“ ist die Gemeinschaftsschau von 16 Künstlerinnen und Künstlern überschrieben, und es darf einen nicht wundern, daß vier von ihnen mit Video arbeiten, was der Malerei ja nur mit einigen definitorischen Anstrengungen zuzuordnen ist.

Die Teilnehmer stammen aus Deutschland, Belgien, Dänemark und den Niederlanden, kuratiert wurde die Ausstellung von Claudia Desgranges und Friedhelm Falke, die auch als Künstler beteiligt sind, und das ganze ist ein Gemeinschaftsprojekt der Kunsthalle Recklinghausen mit dem Kunstmuseum Heidenheim, dem Clemens-Sels-Museum in Neuss und dem Kunstmuseum Celle, wo die Ausstellung bereits zu sehen war. Womit wir endlich beim Thema wären: Was gibt es überhaupt zu sehen?

Global und kränkend phantasielos geantwortet: Viele große bunte Bilder, die in Machart und Anmut natürlich ebenso heterogen sind wie das Teilnehmerfeld. Noch komplizierter wird es, wenn in jedem Oeuvre die spezifische Beziehung zur elektronischen Bildergenerierung mitgedacht werden soll oder gar der Mehrwert für den Betrachter, der durch die handwerkliche Ausführung entsteht. Da hat Friedhelm Falke beispielsweise von schwarzen Balken dominierte Flächenkompositionen auf dem Rechner durchprobiert und seine Favoriten mit Acrylfarbe auf Nesselgrund gemalt; Signe Guttormsen betont die Stofflichkeit ihrer Werke, indem sie beim hölzernen Trägermaterial immer wieder die rechteckige Grundform bricht, Ab van Hanegem wiederum malt vergleichsweise traditionelle, farbenfrohe Flächenkompositionen auf Segeltuch. Ist er damit eher bei Cézannes Stilleben-Apfel, oder war der Bildschirmschoner sein Vorbild? „Eher Apfel als Bildschirmschoner“, stellt Hans-Jürgen Schwalm, der stellvertretende Chef der Kunsthalle, kategorisch fest. Wenngleich van Hagenems farbsatte Bilder auch sehr schöne Bildschirmschoner ergeben würden, unterlegt vielleicht mit einem pfiffigen Animationsprogramm.

Man schreitet voran durch die Hallen des ehemaligen Hochbunkers am Recklinghäuser Bahnhof, trifft auf Michael Jägers stupende Ansammlungen kleinteiliger Dekorationsmuster in knallbunten Clustern auf monochromen Flächen, begegnet Martijn Schuppers’ geheimnisvollen, dreidimensional wirkenden Farboberflächen, die aus dem All oder auch aus dem Elektronenmikroskop stammen könnten, tatsächlich jedoch in einer sehr speziellen Prozedur unter Zuhilfenahme von Lösungsmitteln und weiteren geheimen Chemikalien entstanden. Entfernt lassen sie in ihrer Textur übrigens an manche Flächenbilder von Gerhard Richter denken, der jedoch mit vollkommen anderer Technik zu seinen Resultaten gelangte.

Den wild geschweiften Flachformaten Volker Wevers’ ist eigen, daß sie kraftvolle Titel tragen: „Roundaboard“ heißt eines von ihnen, „Drum’n Bass“ ein anderes, „Wide Car in Germany“ ein drittes. In ihrer schlierigen, plastischen Anmutung erinnern sie an den spontanen Expressionismus des hundertjährigen K.O. Götz, den die Kunstwelt soeben wiederentdeckt (ab März in der Duisburger Küppersmühle), doch sind sie, wie angesagt, Früchte der Auseinandersetzung mit Computergeneriertem.

Einige Plastiken sind in der Ausstellung, und warum sie nicht Plastiken sein sollen sondern Malerei, ist beim besten Willen nicht nachvollziehbar. Aber die stilistischen Zuordnungen von Kunst sind eh immer schwierig und wirken oft auch willkürlich. Ohne Computer-Hintergrund könnte man durchaus auch meinen, in dieser Schau etlichen Vertretern beispielsweise des abstrakten Expressionismus oder der konkreten Malerei begegnet zu sein.

Der Eindruck, den diese Recklinghäuser „postdigitale“ Bilderschau hinterläßt, bleibt verhalten. Natürlich liegt das ganz wesentlich daran, daß die zwölf unterschiedlichen Positionen einander gegenseitig Aufmerksamkeit wegnehmen. Doch köchelt das Gezeigte auch sehr im eigenen Saft, zeigt jenseits des autoreferentiellen Eifers wenig Lust auf Botschaft oder gar Radikalität.

Schließlich gilt, wie stets: Man (und frau!) gehe selber ins Museum und mache sich ein Bild. Denn nur hier gibt es die Originale zu sehen, und die wirken viel stärker als jede Reproduktion.

„re:set“ – Kunsthalle Recklinghausen, Große Perdekamp-Straße 25-27 (am Bahnhof). Sonntag, 9. Februar, bis 13. April 2014. Geöffnet täglich außer Montag 11 bis 18 Uhr. www.kunst-re.de, Eintritt 3 Euro. Der ausführliche Katalog kostet im Museum 12 Euro, im Buchhandel 24,80 Euro.




Stimmungsmache, Skandalgerede, Voraburteile: Dortmund und die „Tannhäuser“-Premiere

Kay Voges inszeniert in Dortmund den "Tannhäuser". Foto: TheaterDortmund/Birgit Hupfeld

Kay Voges inszeniert in Dortmund den „Tannhäuser“. Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

Skandal! Das Wort ist ausgesprochen, ist nachzulesen schwarz auf weiß. Der Vorgang, den es bezeichnet, wird herbeigeredet, -geschrieben, von manchem vielleicht auch ersehnt. Stimmungsmache, Beschwichtigungen, Erklärungen und Voraburteile schwirren durch den Raum. Eine Debatte ist zu verfolgen, deren Gegenstand bisher nur fragmentarisch sich darstellt. Es ist so, als würde ein Schmetterlingsbein sich aus der Raupe herausschälen, und einer ruft: „Ist das Tier aber hässlich“.

Worum geht es? In nüchternen Worten formuliert, um die bevorstehende Premiere von Richard Wagners großer romantischer Oper in drei Akten „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ am Theater Dortmund. Regie führt Kay Voges, der erfolgreiche, längst über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Chef des Schauspielhauses. Es ist seine erste Arbeit im musikdramatischen Fach. Voges wird, über das Bühnengeschehen hinaus, multimediale Effekte einsetzen. Eigentlich ist solcherart Inszenierungsbeigabe ein nicht mehr ganz neuer Hut. Doch mancher Bedenkenträger fragt schon jetzt beklommen, ob das nicht zu viel des Illustrierens sei.

Wagners „Tannhäuser“ – da war doch was. Genau: etwa die tumultuöse Aufführung 1861 in Paris, als organisierte Gruppen mit aller Macht (und Trillerpfeifen) das Werk des Deutschen akustisch zerstören wollten. Ein Vorgang, der bis heute zu den größten Eklats der Musikgeschichte zählt. Und jüngst, im Mai, der Skandal um die Inszenierung von Burkhard C. Kosminski an der Rheinoper in Düsseldorf. Die Premiere war die erste und letzte szenische Vorstellung, hernach blieb der Vorhang zu, der „Tannhäuser“ mutierte zu einem rein konzertanten Erlebnis. Freilich, der Regisseur hatte das Werk teils in der Nazi-Zeit verortet und pantomimisch gezeigt, wie eine ganze Familie exekutiert wird. Einige aus dem Publikum gaben an, sie hätten ob der Zumutung einen Arzt aufsuchen müssen.

Wenige Tage später stellte Dortmunds Opernchef Jens-Daniel Herzog den neuen Spielplan vor, mit eben jener Nachricht, dass Kay Voges den „Tannhäuser“ inszenieren werde. Um eiligst hinzuzufügen, Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten. Dann ging die Zeit ins Land und die Welt war in Ordnung. Nun aber, nach einigen Überlegungen des Regisseurs, abgedruckt in der Theaterzeitung, nach Einführungsmatinee und öffentlicher Probe, herrscht plötzlich jede Menge Aufgeregtheit. Der Knackpunkt vor allem: die Videoprojektionen.

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Joseph Tichatschek als Tannhäuser und Wilhelmine Schröder-Devrient als Venus in der Dresdner Uraufführung 1845. Zeichnung: F. Tischbein

Voges setzt sie im Schauspiel regelmäßig ein, etwa in seiner Inszenierung nach Thomas Vinterbergs „Das Fest“. Die Gesichter der Figuren werden groß auf eine Leinwand projiziert, auf dass das Publikum jede emotionale Regung und deren mimische Entsprechung mitbekomme. Das war immerhin eine Nominierung für den Theaterpreis „Faust“ wert. Ähnliches hat Voges im „Tannhäuser“ vor. Hinzu kommt der Versuch, in dieser Figur, taumelnd zwischen Venusberglust und hehrer Minne, Christus zu sehen; in Anlehnung an Martin Scorseses so umstrittenen wie glänzenden Film „Die letzte Versuchung Christi“.

Ob das gelingt, werden wir sehen. Voges sagt, Wagner, der Verfechter des Gesamtkunstwerks, hätte den Film als Gestaltungsmittel eingesetzt. Jens-Daniel Herzog hat das in einem Interview ähnlich formuliert. Ein Teil der veröffentlichten Meinung hingegen zerrt den wohlbekannten Satz mancher Wagnerianer hervor, der Komponist habe das so sicher nicht gewollt. Nun gut, Spekulationen sind das eine, teils polemische Urteile über einen Probenausschnitt aber sind von anderem Gewicht. Vom Skandal ist vorsorglich auch schon Mal die Rede.

„Kinder, schafft Neues!“ ist ein vielzitiertes Wagner-Wort. Ist der Einsatz der Video-Technik zu neu? Das Dortmunder Publikum werde durch die Bilder zu sehr von der Musik und den Figuren abgelenkt, unkt es im Blätterwald, das Seelenheil der Zuschauer könnte leiden. Solcherart Fürsorge ex cathedra wirkt geradezu putzig. Doch Filmsequenzen zur Oper sind den Musikfreunden der Stadt durchaus bekannt, zuletzt gesehen in hochgelobten Konzerthaus-Aufführungen von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und, man staune, in Richard Wagners „Tristan und Isolde“.

Voges hat unterdessen auf die Vorab-Urteile höchst originell reagiert. Bei aller Verärgerung stichelte er in einer Mischung aus Ernst und Ironie zurück. Inmitten seiner tiefsinnigen, urkomischen, so erfrischend albernen wie entlarvend verstörenden Revue „Das goldene Zeitalter“, in der uns das Leben als Endlosschleife offenbart wird, mit mehr oder weniger gelungenen Versuchen, daraus auszubrechen. Da dröhnt die „Tannhäuser“-Ouvertüre aus den Lautsprechern, und ein blondes Barbiepuppenwesen hämmert manisch in die Schreibmaschine „Volle Konzentration auf die Musik“.  Konsequent fällt der Vorhang, das Theater wird zum kollektiven Wohnzimmer mit Stereoanlage, Rezeption zur behaglichen Routine, wie der alltägliche Konsum der Tagesschau. Touché!

Gut nur, dass nun, kommenden Sonntag (1. Dezember), endlich Premiere ist, in annähernd ausverkauftem Haus. Erst dann ist die Stunde ernsthafter, kundiger Analyse und ästhetischer Beurteilung gekommen. Stimmungsmache aber vernebelt die Gedanken.

Informationen zur Inszenierung: http://www.theaterdo.de/detail/event/513/?not=1




Mensch-Maschine: „Metropolis“ am Schauspiel Bonn

„Wir sind die Roboter, tam, tam, tam, tam“: Der Song der legendären Band Kraftwerk schwebt stilbildend über Jan-Christoph Gockels Inszenierung von „Metropolis“, die nun in der frisch renovierten Halle Beuel am Schauspiel Bonn Premiere hatte.

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

Zurückgegelte Haare, schwarze Anzüge, kombiniert mit einer grellen Farbe und das Kling-Klang des Elektropops bilden den atmosphärischen Soundtrack in der Maschinenhalle der Megacity „Metropolis“, berühmt geworden durch Fritz Langs epochalen Film von 1927. Dabei werden die Arbeitssklaven verdoppelt durch kleine skelettartige Wesen, die den Menschen zur Maschine verlängern, regiert von Industriebaronen im Faltenrock. Das Bühnenbild ist angelehnt an die Ästhetik der Industriekultur, die man sonst eher aus dem Ruhrgebiet kennt. Doch war auch die Halle Beuel eine Jutespinnerei, die im „Dritten Reich“ Zwangsarbeiter ausbeutete, die „Sackleinen für die Front“ weben mussten.

Was ist nun interessant daran, einen ollen, gleichwohl kultigen Stummfilm auf die Bühne zu bringen? Die Eingangssequenz gibt einen Hinweis auf die Antwort: „Guten Tag, wie kann ich Dir behilflich sein?“, sagt Telefonstimme Siri, die jeder iPhone-Nutzer kennt und wartet die Replik kaum ab: „Tut mir leid, ich habe Dich leider nicht verstanden.“ Die Abhängigkeit des Menschen von Maschinen ist im Internetzeitalter schon längst eingetreten, aber anders, als sich die düstere Utopie von Fritz Lang oder George Orwell sich das vorstellten.

Diese Macht der Computer über unser Leben kommt viel bunter, witziger und vordergründig harmloser daher und umspannt doch nicht nur eine Metropole, sondern agiert global. Sie weiß alles über uns und wir zeigen uns auch gerne her. Sie will uns kaufen und wir verkaufen uns. Wie die Arbeiter in Metropolis sind wir nicht nur geknechtet von unseren kleinen Maschinen, nein, wir lieben sie und geraten ohne sie sofort in Panik. Heroisch ist, wer zwei Wochen ohne Internet und Smartphone auskommt und anschließend seine Gefühle darüber postet.

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

Foto: Thilo Beu/Theater Bonn

All das reißt die Inszenierung an, verfolgt es aber nicht weiter, sondern erzählt die Liebesgeschichte von Freder Fredersen (Hajo Tuschy) und Maria (Mareike Hein): Der verwöhnte Spross aus Metropolis Elite verknüpft die Auflehnung gegen seinen Vater und Industriebaron Joh Fredersen (Wolfgang Rüter) mit den revolutionären Ideen der Geliebten. Er will Arbeiter sein, nicht mehr Kapitalist, er will Freiheit für alle, statt Macht für sich.

Doch die neue Untergrundbewegung wird selbstredend abgefilmt und verraten, die Arbeiter, die er retten wollte, können mit ihrer neuen Freiheit nicht umgehen und lassen sich kaufen. Maria wird von einem Dr. Frankenstein namens Rotwang als Puppe geklont, die niemand mehr von der echten Frau unterscheiden kann. Michael Pietsch, der Puppenbauer, hat sich dabei ins Zeug gelegt und der Umgang mit dem diabolischen Spielzeug meistert das Ensemble so charmant, dass es alle Zuschauer angemessen gruselt.

Eine Psychologie dagegen entwickeln die (Film-)Figuren nicht, teilweise interagieren sie merkwürdig brüllend – scheinbar um längst nicht mehr vorhandenen Maschinenlärm zu übertönen. Die Szene schließlich, in der Fritz Lang, Sigfried Kracauer, Romanautorin Thea von Harbou etc. mit Namensschildchen auf dem Klemmbrett die Thesen ihrer Filmproduktion verhandeln, wirkt seltsam zusammengegoogelt und kann das Verhältnis von Vorlage zu Bühnenstoff, von damals zu heute nicht wirklich klären.

Kein Wunder, dass Metropolis untergehen muss. Die Rückwand der Fabrik stürzt ein und öffnet den Blick in eine Schaltzentrale des Computerzeitalters. Doch auch diese unsere gegenwärtige Epoche währt nur kurz. Schon geht das Rolltor hoch, die Überlebenden von Metropolis werfen sich den Affenpelz über und tanzen draußen um einen mickrigen Baum auf Rädern. Fortsetzung folgt? Vielleicht auf dem „Planet der Affen“…

Karten und Termine: www.theater-bonn.de




Mercedes gegen BMW: Duell des Zufalls

Das hört sich so simpel an wie eine Kinderfrage: Welches Auto ist besser – BMW oder Mercedes? Allen Ernstes wollte das ZDF diese Frage beantworten. Allen Ernstes? Naja, doch nicht so ganz.

Wahrlich ein Luxusproblem. Dass zwei solch starke Edelmarken aus Deutschland kommen, ist ja nun wirklich ein Pfund. Und dann gibt’s auch noch Audi, Porsche und ein paar andere. Man muss es sich diese Laufkultur nur leisten können…

Sinnarme Hektik

In knapp 45 Minuten sollte „BMW gegen Mercedes – Das Duell“ entschieden sein. Da ging es um Fahrverhalten, Wirtschaftlichkeit, Service-Qualität, „Kultfaktor“, Sicherheit, Werthaltigkeit beim Wiederverkauf und faire Arbeitsbedingungen bei der Herstellung. Bei so wenig Zeit und so vielen Kriterien war sinnarme Hektik angesagt.

Mercedes kontra BMW (@ ZDF/Uwe Kielhorn)

Mercedes kontra BMW (@ ZDF/Uwe Kielhorn)

Mal davon abgesehen, dass nur bestimmte Modelle miteinander verglichen wurden (Ober- und Mittelklasse, Geländewagen), wurde vielfach dem puren Zufall Tür und Tor geöffnet. Beispiel: Gerade mal zwei Werkstätten der beiden Marken sollten die Service-Qualität der Konzerne belegen. Zwei andere Autohäuser hätten vielleicht schon völlig andere Ergebnisse gebracht. Immerhin war’s wirklich peinlich, dass in beiden Fällen von sieben (durch Manipulation bewusst erzeugten) Fehlern nur je zwei gefunden wurden. O jemine! Und das bei diesen ziemlich teuren Fahrzeugen und den gesalzenen Reparaturpreisen…

Peinlichkeit beim Pannendienst

Drastischer und womöglich noch aussagekräftiger fiel der Vergleich der zentralen Pannendienste aus: BMW war nach 20 Minuten zur Stelle und sorgte gratis für Abhilfe, der angebliche „24-Stunden-Dienst“ von Mercedes war freitags um 16:30 Uhr gar nicht mehr erreichbar. Schönes Wochenende, kann man da nur sagen.

Unangenehm für BMW fiel allerdings der kurze Geländewagen-Test aus: Der X 5 kam ziemlich lädiert aus der Marterstrecke heraus, während das ML-Modell von Mercedes unbeschadet seine Bahnen zog.

Ansonsten wurden einige Vorurteile tendenziell bestätigt: BMW ist in aller Regel etwas agiler und innovativer, Mercedes dafür gediegener. Dass Mercedes am Ende mit hauchdünnem Vorsprung „siegte“, lag am minimalen Unterschied beim Blitzertest: 3,3 Prozent der BMW-Fahrer fuhren zu schnell, hingegen lediglich 2,4 Prozent der Mercedes-Fahrer. Auch hier gilt: Gestern oder morgen wär’s vielleicht anders ausgegangen.

Kinder sollten entscheiden

Geradezu auf alberne Weise wurde der Punkt „Kultfaktor“ zugunsten von Mercedes entschieden. Bis dahin gab’s ein Patt, deshalb durften 7 Kinder aus der Kita entscheiden, welche von den acht Bobby-Cars (je vier im Design der beiden Marken) sie bevorzugen. Ein BMW-Spielzeugauto blieb unbeachtet stehen, also ging diese Wertung an Daimler-Benz. Da hätte man gleich würfeln oder Münzen werfen können.

Die flotte, leidlich unterhaltsame, streckenweise aber auch etwas flapsige Sendung wird uns also die eigene Entscheidung nicht abnehmen können. Vielleicht mögen wir ja auch ganz andere Marken. Ja, es soll sogar Menschen geben, die sich vollends vom Auto abwenden.

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Jetzt auch im Kulturkanal: Lamento über den erbärmlichen Zustand der Straßen

Das höchst zweifelhafte Geschäftsgebaren des Limburger Bischofs beschäftigt offenbar weite Teile der Nation – und also gab’s einen ARD-„Brennpunkt“ dazu. Doch jetzt mal nüchtern betrachtet: Über den Herrn werden wir noch ein paar Tage oder schlimmstenfalls Wochen reden. Der Zustand unserer Straßen wird uns hingegen noch viele Jahre lang aufregen. Also bin ich meinem Vorhaben treu geblieben und habe mir die Sendung „Geflickt und zugeschüttet – Schlaglochrepublik Deutschland“ angesehen.

„Die Republik bröckelt“

Dem knackigen Titel nach zu urteilen, ist das ganze Lamento wohl bei RTL gelaufen? Weit gefehlt. Wenn’s drauf ankommt, findet man auch beim kulturgeneigten Kanal 3Sat markige Worte. Dann klingen die Sätze beispielsweise so: „Deutschland bremst sich aus.“ Oder auch so: „Die Republik bröckelt.“ Oder klischeehaft wie in der Schlussbilanz: „Straßen sind die Lebensadern unserer mobilen Gesellschaft.“ Wer hätte das gedacht?

Vor allem der stetig wachsende Schwerlastverkehr setzt den Straßenbelägen zu. (Foto: © ZDF/Sven Kiesche)

Vor allem der stetig wachsende Schwerlastverkehr setzt den Straßenbelägen zu. (Foto: © ZDF/Sven Kiesche)

Die Straßenbau-Industrie könnte Carsten Binsacks Film künftig glatt für ihre Lobbyarbeit einsetzen. Denn allüberall wird hier dringlicher Nachholbedarf ausgemacht und eingefordert, vor allem in den finanziell klammen Kommunen. Mindestens 6,5 Milliarden Euro seien jährlich zusätzlich erforderlich, um die Straßen wieder in einen annehmbaren Zustand zu versetzen. Da wir alle täglich Erfahrungen mit Schlaglöchern machen, ist auch sicher etwas dran am Befund.

Nuancen gingen verloren

Doch im Eifer des Gefechts gingen auch schon mal die Nuancen verloren. An einer Stelle hieß es, 40 Prozent aller deutschen Straßen seien „stark geschädigt“, später dann war abermals von jenen 40 Prozent die Rede, allerdings mit der deutlich harmloseren Bezeichnung „beschädigt“. Mit Verlaub, das ist nicht nur ein sprachlicher Unterschied.

Immer und immer wieder hieß es, der teilweise erbärmliche Zustand der Verkehrs-Infrakstruktur gefährde auch die Volkswirtschaft. Das ist sicherlich richtig, doch hier wurde es einem geradezu perfide eingehämmert.

Moniert wurde vor allem die bloße „Flickschusterei“ am Bestand: Kaltasphalt aufs Schlagloch gekippt, planiert – und fertig. Doch schon bald bricht an selber Stelle wieder die Straßendecke auf. Der TV-Beitrag plädierte folglich für eine nachhaltige Grundsanierung, die auf Dauer günstiger komme.

Streifzug durch Asphalt-Labore

Die interessanteren Teile des Reports führten in Versuchsanstalten und Labore, wo Fachleuchte vieler Fakultäten (Ingenieure, Chemiker, Geologen usw.) über neue, haltbarere Straßenbeläge nachdenken. Das eine Team testet neue Bitumen-Zusammensetzungen, das andere recycelt abgetragene Straßenreste und veredelt sie mit Wachs und Öl zum erneuten Gebrauch.

Doch solche frischen Ideen kämen viel zu langsam zum Zuge, ließ Carsten Binsack verlauten. Hie und da schien er dabei allzu technikgläubig und unkritisch zu sein. Fragen nach etwaigen wirtschaftlichen Interessen kamen beim ihm gar nicht erst auf. Er dachte nur in eine Richtung.

Blick in die fernere Zukunft

Auch um den beklagenswerten Zustand der Brücken ging es, und da kann einem tatsächlich angst und bange werden. Wir wollen mal inständig hoffen, dass deutsche Experten – wie von einem Beteiligten behauptet – tatsächlich ungleich bessere Prüfsysteme haben als die US-Kollegen. In Minneapolis stürzte 2007 eine Brücke mitten im Berufsverkehr ein…

Wie so manche Straßenbaukolonne die Schlaglöcher, so füllte auch der TV-Reporter hie und da nur notdürftig seine Themenlücken. Zwischendurch ging es nämlich gar nicht mehr um Straßenschäden, sondern gleich um Stauvermeidung, Abgasreduzierung und die „Intelligente Straße“ der Zukunft, die als Kunststoffhaut mit Sensoren versehen wird, dadurch alle Risiken erfasst und die entsprechenden Infos den betroffenen Autofahrern in Echtzeit übermittelt. Schöne neue Welt. Aber bis dahin fahren wir noch so manchen Kilometer.




Ruhrtriennale: Heiner Goebbels zeigt in „Stifters Dinge“ Kunst als Ablauf mechanischer Vorgänge

Friedhof der Klaviere: die zentrale Installation für "Stifters Dinge". Foto:

Friedhof der Klaviere: die zentrale Installation für „Stifters Dinge“. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Nun hat Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels selbst Hand angelegt. Als Konzeptkünstler, Regisseur und Komponist hat er dem Festival seinen ureigenen Stempel aufgedrückt. Auf dem zu lesen ist: „Stifters Dinge“. Angekündigt als Klavierstück ohne Pianisten, Theaterstück ohne Schauspieler und als Performance ohne Performer.

Goebbels misstraut offenbar dem Menschen auf der Bühne, setzt stattdessen auf die Macht der Elektronik, des Maschinellen. Zu sehen ist eine Installation, die wirkt wie das Ergebnis von jungenhafter Begeisterung an der Bastelei – mitsamt der hellen Freude, dass alles prächtig funktioniert.

Das Stück, wenn wir es so nennen wollen, passt also prima in die Duisburger Kraftzentrale, einst das energiespendende Herz für die Herstellung von Stahl. Denn auf der „Bühne“ laufen vielschichtige Arbeitsprozesse ab. Diesmal allerdings zur Erzeugung von Lauten, Klängen, bildlichen Illustrationen, Textauszügen. Die allesamt offenbar eine herbe Zivilisationskritik ausdrücken wollen: Der Mensch zerstöre mehr und mehr die schöne Natur. Goebbels erweist sich damit als Anwalt des französischen Philosophen und Ethnologen Claude Lévi-Strauss.

Aber zunächst wird eben jene Schönheit beschrieben, ertönt aus dem Lautsprecher „Die Eisgeschichte“ Adalbert Stifters, eine literarische Verneigung vor den Geheimnissen eines winterlichen Waldes, einer Terra incognita. Doch Lévi-Strauss verneint kurz darauf in einem eingespielten Interview, dass es auf der Welt noch unberührte Orte gebe. Und Vertrauen in die Menschheit, nein, das habe er nicht.

Natur - das ist nur noch eine Frage der Projektion. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Natur – das ist nur noch eine Frage der Projektion. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Solcherart Pessimismus spiegelt sich nicht zuletzt im zentralen Bühnenaufbau wieder. Fünf (präparierte) Klaviere – zum Teil sind es nur noch deren Torsi – hat Ausstatter Klaus Grünberg an einer Wand aufgeschichtet, dazwischen blattlose Baumkrüppel gesetzt. Wie ein Instrumentenfriedhof wirkt das (oder doch wie ein Altar mechanischer Kunsterzeugung?), dementsprechend wird ein musikalisches Aufzucken inszeniert, das sich in pochenden, knarzenden Geräuschen ausdrückt oder in fragmentierten Läufen, wilden Figurationen. Nur einmal erreicht uns ein Hort der Ruhe: wenn plötzlich der langsame Satz aus Bachs „Italienischem Konzert“ erklingt und aus drei großen Wasserbecken sanftes Plätschern zu vernehmen ist.

Ähnlich mag Jacob van Ruisdaels Waldbild, als Illustration von Stifters Erzählung, unser Gespür von Ästhetik erfreuen. Doch die farblichen Veränderungen, die das projizierte Gemälde alsbald ereilen, machen alles Wohlgefühl zunichte. Sodass uns Goebbels einerseits verstört zurücklässt. Verhindern aber kann er nicht, dass diese besondere, rätselhafte Art politischen Theaters für manche lediglich ein technisches Faszinosum darstellt. Gleichwohl – der Applaus ist höflich.

Weitere Vorstellungstermine sowie Informationen über eine „Unguided Tour“ unter www.ruhrtriennale.de

 

(Der Text ist in ähnlicher Form zunächst in der WAZ erschienen.)




Hohe Belastung mit Umweltgift PCB: Uni Bochum reißt zwei Großgebäude ab

Luftbild der Bochumer Ruhr-Universität (© Pressestelle der Ruhr-Uni)

Luftbild der Bochumer Ruhr-Universität (© Pressestelle der Ruhr-Uni)

Was muss man da heute lesen? Die Ruhr-Uni Bochum (RUB) will bis März 2015 gleich zwei ihrer Großgebäude abreißen.

Und zwar nicht etwa aus ästhetischen Gründen, um vielleicht den architektonischen Brutalismus rückgängig zu machen. Im Gegenteil: Die beiden Bauten der Ingenieurwissenschaften (Kürzel IA und IB) sollen bis 2017 in gleicher Form und Höhe an selber Stelle wieder erstehen, um die „denkmalwürdige Silhouette“ der Ruhr-Uni zu erhalten.

Doch das ist zwar ein Aspekt, aber beileibe nicht der aktuelle Kern der Sache. Der Abrissgrund klingt nämlich durchaus beunruhigend. Es ist die offenbar viel zu hohe PCB-Belastung in den Gebäuden. Nicht nur als jemand, der einige Jahre in anderen Uni-Gebäuden (vornehmlich GA und GB) zugebracht hat, fragt man sich bang, was es damit auf sich hat. Mag sein, dass ich da etwas verpasst habe. Doch ich kann mich nicht daran erinnern, dass das Thema bisher in einer breiteren Öffentlichkeit über Bochum hinaus debattiert worden wäre.

Offiziell heißt es, bei „Voruntersuchungen zur geplanten Kernsanierung“, die auf dem gesamten Campus nach und nach erfolgt, habe sich gezeigt, dass die PCB-Belastung in IA und IB „ungleich größer“ ist als im gerade sanierten IC-Gebäude vor der Modernisierung.

Weiter heißt es in der Pressemitteilung der RUB: „Es kann nicht sichergestellt werden, dass sich das gesundheitsgefährdende PCB vollständig entfernen lässt.“ Mehr als nur „interessant“ wäre es nun zu erfahren, wie sich die Belastung mit der Krebs auslösenden Substanz wohl auf die Menschen ausgewirkt hat, die bislang in diesen Gebäuden als Lehrende, Studierende oder sonstwie tätig gewesen sind.

Bei IA und IB handelt es sich um die ältesten Bauten der gesamten Uni. Baubeginn war am 2. Januar 1964, bereits Mitte 1965 wurde der Lehrbetrieb aufgenommen.

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Näheres zum Thema PCB findet sich zum Beispiel hier:
http://www.lfu.bayern.de/umweltwissen/doc/uw_53_polychlorierte_biphenyle_pcb.pdf




Navigation ins Nirgendwo

Mit diesen obskuren Objekten, die Navigationsgeräte („Navis“) heißen, stehe ich seit jeher auf Kriegsfuß. Im Prinzip ist das ja eine famose Erfindung, die man sich früher gewünscht hätte. Allerdings habe ich damit im Lauf etlicher Jahre fast nur schlechte Erfahrungen gemacht.

Schon mehrere „Montagsgeräte“ haben mir den Nerv geraubt. Die Marke Becker (allenfalls zögerliche Zielfindung) kann ich demnach ebenso wenig empfehlen wie Navigon (seinerzeit unglaublich umständlicher Download von Aktualisierungen, erbärmlicher Support). Reiner Zufall? Bloßes Pech? Inzwischen längst verbessert? Mag sein.

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Doch der Fluch verfolgt mich weiter. Neuerdings ist es ein Apparat von TomTom, der wegen Bildschirmsalat und anschließendem Totalausfall bereits kurz nach dem Erwerb zweimal zur Reparatur eingeschickt werden musste, sodann im Rahmen der Garantie ausgetauscht wurde. Das neue Exemplar bringt nun keinerlei GPS-Empfang zustande, kann also nicht einmal feststellen, wo es sich befindet. Bei der Service-Hotline (wenn man sie denn nach langer Warteschleife erreicht) kenne ich mittlerweile fast alle Stimmen.

Liegt es an der Aura?

Inzwischen suche ich auch nach übersinnlichen Erklärungen fürs Dauerdesaster. Entweder besitze ich eine Aura, welche die Navis von ihrem eigentlichen Tun ablenkt, oder diese Technik ist – unabhängig vom jeweiligen Hersteller – immer noch nicht richtig ausgereift; was Multimilliarden-Geschäfte keineswegs ausschließt.

Eine ins absurde ragende Episode muss noch erzählt werden. Für einen Kurzurlaub ging’s neulich auf die Nordseeinsel Borkum. Vorsichtshalber haben wir nicht nur mein gerade frisch umgetauschtes TomTom-Gerät mitgenommen, sondern auch das Medion-Maschinchen meiner Frau. Doppelt abgesichert, ha! Da konnte ja wohl überhaupt nichts mehr schiefgehen.

Die Affäre mit der Fähre

Doch das erstgenannte Teil konnte just keine Satelliten-Signale empfangen und sich somit gar nicht erst positionieren. Ein Debakel. Also flugs das zweite Gerät angeworfen, das seltsamerweise eine kolossale Fahrtdauer von fast 7 Stunden bis zum Fähranleger in Eemshaven (Holland) vorhersagte. Normal wäre etwa die Hälfte.

Waren da etwa schon Seewege mit einberechnet worden? Egal. Es hätte uns jedenfalls sehr, sehr stutzig machen sollen. Leider haben wir uns trotzdem ohne Kartencheck auf die Wegführung verlassen – und sind geradewegs zum Anleger nach Emden geleitet worden, für den wir freilich keine Fähren-Reservierung hatten. Für eine Umkehr war es schon zu spät.

Kurzum: Wir haben unsere gebuchte Fähre verpasst und konnten in Emden nur noch als Fußgänger mitschippern, was auch schon ein Glücksfall war. Das Auto musste anderntags nachkommen. Während der Umbuchung hieß es bei der Reederei, dass derlei navigatorische Fehlleitungen zum falschen Fährhafen täglich vorkämen. Es war also alles andere als ein Einzelfall.

Suche nach dem Heiligen Gral

Soll ich nun weiter nach der klaglos funktionierenden Navigation suchen wie nach dem Heiligen Gral? Soll ich mich dabei in den Ruin und in den Wahnsinn treiben lassen?

Es empfiehlt sich wohl die reumütige Rückkehr zur guten alten Landkarte nebst Stadtplänen und der Befragung von Passanten via Seitenfenster. Doch wehe, wenn dann einer dämlich zurückfragt: „Haste denn keine Navi?“




TV-Nostalgie (4): „Raumpatrouille“ – Als „Orion“ in die märchenhafte Zukunft schwebte

So hat man sich vor 47 Jahren die Zukunft vorgestellt: Die Menschen leben in einer keimfreien Unterwasserwelt. Das Mobiliar sieht poppig und furchtbar avantgardistisch aus. Leute in Einheitskluft vollführen schon mal seltsam roboterhafte Tänze. Vor allem aber brechen sie tagtäglich in die unendlichen Weiten fremder Galaxien auf.

Willkommen bei der „Raumpatrouille“, der legendären Science-Fiction-Spielserie aus den 1960er Jahren! Willkommen an Bord des Raumschiffs „Orion“!

Der „alte Adam“ ist noch lebendig

Als „Märchen von übermorgen“ wird das Ganze schon im Vorspann der einstündigen Auftaktfolge bezeichnet, die ich mir jetzt noch einmal angesehen habe. Unter den Erdbewohnern herrscht Frieden, es gibt keine Nationalstaaten mehr. Doch der blaue Planet muss sich unentwegt gegen extraterrestrische Angreifer wehren – allen voran die geheimnisvoll glitzernden, ungreifbaren „Frogs“, gegen die auch Laserpistolen nichts ausrichten können. Trotzdem sind sie an einem Punkt verwundbar…

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von "Raumpatrouille". (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von „Raumpatrouille“. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Auch der „alte Adam“ ist in dieser fernen Zukunft noch lebendig. Es gibt immer noch Hierarchien und Intrigen, aber auch Teamgeist und Freundschaft. Und es gibt immer noch diese uranfängliche, zuweilen etwas komplizierte Sache zwischen Männern und Frauen.

Dietmar Schönherr als smarter Kommandant

Im Zentrum der am 17. September 1966 gestarteten, siebenteiligen ARD-Reihe schwebt natürlich das Raumschiff „Orion“ unter dem Kommando des smarten Allister McLane (Dietmar Schönherr). Weil der oft allzu husarenhaft und eigenmächtig vorgegangen ist, degradieren ihn die Chefs für eine Bewährungsfrist von drei Jahren. Auch stellen sie ihm als Aufpasserin die rigide Sicherheitsoffizierin Tamara Jagellovsk (Eva Pflug) zur Seite, was der eingeschworenen „Orion“-Besatzung gar nicht in den Kram passt. Ein Hauptstrang der Serie schildert denn auch gruppendynamische Prozesse.

Der „Kalte Krieg“ und die Verweigerung

Man beachte den russisch klingenden Namen Jagellovsk und stelle sich vor, dass das alles mitten im Kalten Krieg (und vor der ersten Mondlandung) gesendet wird. Da ist es schon eine kleine Sensation, dass jene Tamara gelegentlich menschliche Seiten durchschimmern und mit sich reden lässt. Das Dauerthema Gehorsams-Verweigerung deutet, wenn man so will und genau hinhört, schon zaghaft auf die Rebellion von 1968 voraus. Jedenfalls ist es sozusagen sternenweit entfernt vom „Kadavergehorsam“ im Zweiten Weltkrieg, der damals gerade erst 21 Jahre zurücklag.

So erlesen auch das Darsteller-Ensemble war (außer Schönherr und Pflug u. a. Wolfgang Völz, Benno Sterzenbach, Friedrich Joloff usw.), wurde es doch beinahe in den Schatten gestellt, nämlich von den ungemein kreativ ausgeklügelten Spezialeffekten, die mit einfachsten Mitteln bewerkstelligt wurden. Computer im heutigen Sinne gab es halt noch nicht. Aber Phantasie und Tüftlergeist waren reichlich vorhanden!

Spezialeffekte mit Reis, Rasierklinge und Bügeleisen

So wurde ein interstellarer Lichtsturm mit Hilfe hochgeworfener Reiskörner erzeugt. Kosmische Strahlen? Die ritzte man mühsam in die einzelnen Filmbilder ein – per Handarbeit mit einer gewöhnlichen Rasierklinge. Berühmtheit erlangte das Bügeleisen, aus dem im Handumdrehen ein Bestandteil der futuristischen Raumschiff-Armaturen wurde. Oft halfen bewusst unscharf aufgenommene Bilder, viele aufgeregt blinkende Glühbirnchen oder wallende Nebelschwaden, um den galaktischen Budenzauber zu inszenieren. Und dabei haben wir noch gar nicht die futuristische Geräuschkulisse mit ihren bizarren Halleffekten erwähnt.

Es wurde spannend erzählt, doch keineswegs ohne Humor und einen Schuss Selbstironie. Der technische Jargon wurde bis zur Parodiereife ausgereizt, menschliche Schwächen geradezu wonnewoll ausgekostet. Trotz tollster Raumfahrttechnik lebten die uralten Instinkte aus Verfolgungsjagden in Dialogen dieser Art fort: „Sie kommen!“ – „Nichts wie weg hier!“ So ähnlich muss sich das schon in der Steinzeit angehört haben.

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst bei www.seniorbook.de erschienen.




Körper, Dinge, Räume neu vermessen – Zeichnungen von Micha Laury in Bochum

Es ist, als würden alle Räume neu vermessen, alle Körper und Gegenstände von Grund auf neu erkundet, noch einmal erfunden, anders zusammengesetzt. Ein zweiter Schöpfungsakt aus dem Geiste und mit den Kräften der Kunst.

Micha Laury: "Holding my Brain" (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Holding my Brain“ (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Der aus Israel stammende, seit 1976 in Paris lebende Künstler Micha Laury, vereint in seinem Werk unvordenkliche Uranfänge mit weit ausgreifender Zukunftsschau. Bochums Museumdirektor Hans Günter Golinski, dessen Haus Micha Laury nun die erste deutsche Einzelausstellung ausrichtet, fühlt sich dabei gelegentlich gar an die Universalgelehrten der Renaissance erinnert, etwa an Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer. Doch es gibt natürlich auch ästhetische Anknüpfungsstränge in der neueren Kunst, so bei Duchamp, Beuys oder Jasper Johns.

Unter der Enge im Kibbuz gelitten

Laury (Jahrgang 1946) ist in einem Kibbuz aufgewachsen, in denkbar elementaren, einfachen und notgedrungen ärmlichen Verhältnissen, auch in einer gewissen Enge. Der junge Mann verlangte mehr vom Leben und ahnte, dass Kunst Auswege eröffnen könnte. Er durfte eine Kunstschule besuchen. Doch man ließ ihn dort wochenlang biedere Blumenvasen abmalen, also rebellierte er – und wurde hinausgeworfen.

„Fuck the art“ nennt er 1967 ein zorniges, doch auch mit Ironie getränktes Bild, auf dem die Finger ziemlich unsanft durchs Halteloch der (wohl überflüssigen) Palette stoßen. Das bloße Abbild muss überwunden werden, die Dinge muss man aus ihren gewohnten Zusammenhängen heraus reißen, damit man sie neu denken kann. Ein umfassender Ansatz.

Micha Laury: "Fuck the Art" (Study for Plaster Cast), 1967. (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Fuck the Art“ (Study for Plaster Cast), 1967. (© Micha Laury/Museum Bochum)

Sein erstes Atelier hatte Laury in einem unterirdischen Bunker – eine Zelle, die ihn ganz auf sich selbst und die wenigen Gegenstände aus der unmittelbaren Umgebung verwiesen hat. Käfig- und Gefängnisbilder scheinen das Trauma immer wieder zu umkreisen. Und so wirken seine frühen Arbeiten (bezeichnender Titel „Ich weiß nicht, was ich tun soll“) zuweilen ausgesprochen klaustrophobisch, selbstbezüglich, ja beinahe autistisch.

Wenn der Mund am Finger saugt

Da werden mit zahlreichen Studien etwa Zunge, Finger und Ohren jeweils für sich in ihren grundlegenden Funktionen bildnerisch erforscht. Was geschieht genau, wenn ein Finger sich in den Mund senkt und daran gesaugt wird? Wie ist es, wenn eine Zunge von innen an die Wange stößt? Und weiter, schon (wie etliche andere Motive) schmerzlich an Gewalt und Folter gemahnend: Wie sieht es aus, wenn ein Kopf vor die Wand schlägt? Was wird aus Armen und Beinen, wenn sie sich verselbständigen oder zu Prothesen werden? Makaber auch eine Kochanleitung, bei der Spiegelei und Hirn zusammen in einer Pfanne schmoren. Dieser Künstler erspart sich und dem Betrachter nichts. Er führt eine Art Tagebuch, das ihn immer weiter und weiter ins Unbekannte geleitet; auch ins abgründig Böse.

Micha Laury: "Two Figures (Sandwich)". (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Two Figures (Sandwich)“. (© Micha Laury/Museum Bochum)

Apropos Hirn. Schon sehr bald, auf einer Zeichnung von 1970, deutet sich diese bleibende Passion an. Da halten zwei Hände eine rohe Gehirnmasse. Auf anderen Bildern sieht man Gehirnströme, die sich aus den Köpfen nach draußen ergießen oder Wolken, die gleichsam ausgehaucht werden. Der als Fallschirmspringer im Krieg schwer am Kopf verletzte Laury ist bis heute geradezu besessen vom Hirnthema, das er freilich im Lauf der Zeit aus der Leidensdarstellung herausgeführt und im schier unstillbaren Erkenntnisdrang produktiv gewendet hat. Zunehmend hat er sich in den letzten Jahren mit weltweit führenden Hirn- und Zukunftsforschern vernetzt. Gemeinsame Langzeit-Projekte und Symposien sind auf dem Weg.

Botschaft der Todesangst

Für eine Serie von Anti-Heldenbildern wollte Laury einen Freund dazu bewegen, mit einer Militärmaschine Botschaften von Todesangst an den Himmel zu schreiben. Der Luftwaffenkommandant hatte etwas dagegen. So blieb es bei Zeichnungen, die den ungeheuerlichen Vorgang imaginieren. Die Draufsicht-Perspektive des Fallschirmspringers erzeugt übrigens ein ums andere Mal „abstrakte“ Formen. Auch auf solche Weise können sich Bildmuster verwandeln.

Micha Laury: "Shadow" (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Micha Laury: „Shadow“ (1969). (© Micha Laury/Museum Bochum)

Laury befasst sich mit Skulptur, Objekten, Installation und Performance, er untersucht also Räume und deren Koordinaten. Bochum hat sich für die vergleichsweise zurückgenommenen Arbeiten auf Papier entschieden. Es ist mithin eine intimere, nahezu kammermusikalische Ausstellung geworden, deren rund 120 Blättern vielfach etwas Unvollendetes, Skizzenhaftes eigen ist. Zeichnungen sind bekanntlich näher an der ursprünglichen Idee, erst recht gilt dies für Laurys Expeditionen in die Terra incognita.

Jenseits des heutigen Menschenbildes

Die Ausstellung endet mit Zukunftsvisionen. Laury sieht eine völlig beispiellose Ära der posthumanen Wesen heraufdämmern, die die Begrenzungen des menschlichen Leibes und des bisherigen Intellekts bei weitem überschreiten werden. Er führt uns Elemente und Erscheinungsformen dieser Transformation vor Augen. Da tun sich überall ungeahnte Kraftfelder auf, es herrscht ein allseits frei fluktuierender Austausch zwischen Hirnen und Maschinen, Telekinese und Teleportation sind selbstverständlich.

Solche Zustände seien schon in dreißig bis fünfzig Jahren zu erwarten, sagt Laury. Moralfragen stellt er zunächst einmal nicht. „Wir haben ohnehin keine Wahl. Das alles wird kommen.“ Und das allerletzte Bild? Es zeigt, wie unendliche Schwärze das ganze Universum aufsaugt….

Micha Laury: „Human Mind Body Space“. Arbeiten auf Papier. Kunstmuseum Bochum, Kortumstraße 147. Vom 29 Juni bis zum 11. August. Geöffnet Di-So 10-17 Uhr, Mi 10-20 Uhr. Katalog 25 Euro.

P.S.: Während der Ausstellungseröffnung (29. Juni, 17 Uhr) wird ein Freundschaftsvertrag des Bochumer Museums mit dem israelischen Museum of Art in Ein Harod unterzeichnet, einem bereits 1938 begründeten Außenposten der internationalen Kunstszene. Bochums Museumleiter Hans Günter Golinski findet es derweil höchst bedenklich und fatal, dass in Europa manche Kräfte aus politischen Gründen auf einen Boykott israelischer Kunst dringen…

Über das Museum in Ein Harod kam auch der Kontakt zu Micha Laury zustande. Bei dieser Ausstellung kooperiert Bochum außerdem mit den Museen in St. Etienne (Frankreich) und Goch (Niederrhein).

P.P.S.: Im Bochumer Museum ist derzeit (bis 28. Juli) ebenfalls eine Schau des – vor allem durch Porträts von Rockgrößen – berühmten Fotografen Anton Corbijn zu sehen. Dazu demnächst noch ein paar Worte an dieser Stelle.




Witten will’s wissen: Wohin gehen die Kunden?

Vergesst Berlin, München, Hamburg! Hier kommt Witten!

Die Reviergemeinde mit ihren rund 96.000 Einwohnern (neuester Zensus) liegt mal wieder ganz vorn. Dort lassen sie jetzt, in einem vorerst auf fünf Jahre angelegten Projekt, die Kundenströme untersuchen, die sich Tag für Tag durchs Städtchen bewegen. Wenn diese Ströme mal nur keine Rinnsale sind…

Natürlich dürfen dabei keine Wildfremden ran. Nein, eine ortsansässige Firma besorgt, wie das Wittener Stadtmarketing stolz verkündet, das Geschäft mit einem neuartigen System, das die womöglich kaufwilligen Passanten scannen soll. Wie viele Leute tummeln sich wann und wo in den Einkaufszonen?

Wohin werden sich diese schattenlosen Gestalten wenden? (Foto: Bernd Berke)

Wohin werden sich diese schattenlosen Gestalten wenden? (Foto: Bernd Berke)

Leute, beruhigt euch! Die Sensoren sollen quasi nur ein Zählwerk in Gang setzen, jedoch keine Bilder aufzeichnen.

Ergriffen zitieren wir den idr-Nachrichtendienst des Regionalverbands Ruhr (RVR), der prinzipiell fast alles toll findet, was sich im Revier abspielt: „’City Monitoring’ erfasst an verschiedenen Punkten in Echtzeit die Bewegungen auf den Einkaufsstraßen und kann dank 3-D-Technik sogar zwischen Personen und deren Schatten unterscheiden.“

Da haben wir lauter Zauberformeln aus dem digitalen Wunderland versammelt: Echtzeit! 3D! Scannen! Wow!

Die strikte Unterscheidung zwischen Menschen und Schatten ist nicht nur hilfreich, wenn es um Kundenzahlen geht, sondern verweist indirekt auch noch auf hochliterarisches Herkommen. Ich sage nur Chamisso und Schlemihl. Der Mann ohne Schatten… Wer weiß, wer da durch Witten huscht!

Fassen wir vorerst zusammen: Das Paradies mag – wie Degenhardt einst im Lied sarkastisch mutmaßte – irgendwo bei Herne liegen, doch Silicon Valley muss irgendwo bei Witten sein.

Aber nun mal ganz frei nach „Tocotronic“ gesagt: Ich möchte nicht Teil einer Kundenbewegung sein. Mir kommen da aufsässige Phantasien in den Sinn. Kleine Sabotageakte.

Wie wär’s beispielsweise mit Flashmobs in Witten, die zu überraschenden Zeiten an bestimmten Punkten für Betrieb sorgen und den Datenbestand gründlich verfälschen?

Problem nur: Wie lockt man auf einen Schlag so viele Leute in diesen Flecken, dass es überhaupt auffällt? Und zweitens: Wahrscheinlich haben sich die Schlaumeier ein Verfahren ausgedacht, bei dem die statistischen „Ausreißer“ nach oben und unten gekappt oder anders gewertet werden.

Doch halt! Ich weiß, was ich mache. Ich kaufe einfach nicht in Witten ein. So wie bisher auch.




Wer blättert denn noch im Brockhaus?

Wie gern sehen sich manche gedruckt! Es ist ihnen ein Antrieb des Schreibens, vielleicht sogar ein hauptsächlicher.

Auch mit dem Internet hat sich diese Form des Bleibenwollen nicht erledigt, sie hat sich allerdings gewandelt, ins Flüchtige gewendet. Wenngleich man uns sagt, dass im Netz nichts verloren gehe, so beschleicht einen hin und wieder das Gefühl, mit einem Wusch könne alles hinschwinden für immer. Doch auch im Virtuellen hinterlässt man gern seine mehr oder weniger kümmerlichen Spuren, wenn es auch nicht mehr den geringsten Anschein von Ewigkeit hat.

Neuere Techniken haben eine totalitäre Tendenz; dergestalt, dass sie alles Vorherige verdecken. Um mit einem Filmtitel von Alexander Kluge zu reden, so ist es „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“. Man hat nur noch eine vage Vorstellung davon, was ehedem gewesen ist. Wie war das noch, die Typenhebel kraftvoll zu betätigen und Buchstaben mit der mechanischen Schreibmaschine aufs Papier sausen zu lassen? Wie war das noch, den eigenen Schrieb gar von bloßer Hand zu erzeugen? Wie war das mit dem Wort in den Zeiten vor Word?

Mit den Jahren geht die Übung verloren. Man beginnt staksig zu schreiben, die Hand fährt ungelenk und etwas unbeholfen dahin. Die allermeisten verfassen kaum noch handschriftliche Briefe, allenfalls roh hingeworfene Notizen, Ideenskizzen. Ansonsten wird einem die Handschrift ungewohnt, ja vielleicht schon ein wenig befremdlich.

Just vor zwei Tagen stand in den einstweilen verbliebenen Zeitungen, dass es künftig kein gedrucktes Brockhaus-Lexikon mehr geben wird. Was früher als eherner Bestand bürgerlichen Wissens gegolten hat, ist im Schwinden begriffen. Aber wer schaut denn auch noch ins lederne Lexikon, dessen Bände zusehends veralten? Wie gern hat man darin einst geblättert; nicht immer gezielt, sondern gern kreuz und quer, von diesem auf jenes kommend, das eine oder andere unverhofft hinzu lernend.

Da dies hier ein Kulturblog aus dem Revier ist, sei der guten Ordnung halber noch vermerkt, dass der Urvater des besagten Lexikons, Friedrich Arnold Brockhaus (1772-1823), in Dortmund geboren und aufgewachsen ist. Auch hat er hier erste Geschäfte (Wollhandel) betrieben. Seine Buchhandlung als Vorläuferin des Verlags F. A. Brockhaus hat er 1805 freilich in Amsterdam gegründet. Der Mann war nach eigenem Bekunden von einer „wahren Bücherwuth“ besessen. Doch dass wir hier seinen Namen mit Wikipedia verlinken, sagt denn auch einiges über die grundlegend gewandelte Lexikographie aus.




Hauptbahnhof in Hagen: Vom Dom der Mobilität zur „Endstation Denkmal“

Imposant: Hauptbahnhof Hagen.

Imposant: Hauptbahnhof Hagen.

Friedrich Harkort, dessen Namen der 1931 fertiggestellte Ruhrstausee im Dreistädteeck Hagen/Wetter/Herdecke trägt, sorgte im 19. Jahrhundert dafür, dass das Bergische mit dem industriellen Dortmund im wachsenden Schienennetz verbunden wurde.

Im Revolutionsjahr 1848 war Hagen daran angeschlossen, entwickelte sich fortan zum ausgewachsenen Logistikstandort, blieb es bis heute. Als 1861 in Ruhr-Sieg-Strecke hinzu kam, war Hagen ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt, hatte erste Höhepunkte im industriellen Aufbau und alles rief danach, dass dieses immer wohlhabender werdende Hagen einen repräsentativen Bahnhof im Stadtkern brauche.

Es dauerte indes noch bis zum 14. September 1910, dann wurde das Empfangsgebäude seiner Bestimmung übergeben. Repräsentativ war es und eine Zierde für die einstige Prachtstraße (heute B7), die vom Reichtum stolzer Bürger kündete und sich durch die ganze Stadt zog; eine Kathedrale der mobilen Welt, mit einem „Glockenturm“ neben dem Eingang, der auch heute noch den Reisenden die Zeit zeigt, bevor sie in das gewaltige Tonnengewölbe der Empfangshalle treten. Weiter führt der Weg zu den Gleisanlagen, die von einer zweischiffigen Halle überspannt werden, die im Ruhrgebiet und in Westfalen einzigartig ist, in ganz Deutschland zu den Raritäten zählt. Prachtvoll eben.

1911 war es Karl-Ernst Osthaus, der sicher war, dass dem Bahnhof ein weiteres Juwel zugeeignet werden müsste. Er sorgte dafür, dass der Holländer Jan Thorn-Prikker ein riesiges Glasgemälde für den Eingangsbereich schuf: „Der Künstler als Lehrer für Handel und Gewerbe“. Hagens Hauptbahnhof wurde so Spiegel der erfolgreichen und reichen Industriestadt ebenso wie der Kulturstadt mit paneuropäischer Anziehungskraft.

Zierde der Empfangshalle: Jan Thorn-Prikkers Glasgemälde, gestiftet von Karl-Ernst Osthaus.

Zierde der Empfangshalle: Jan Thorn-Prikkers Glasgemälde, gestiftet von Karl-Ernst Osthaus.

Drei Sanierungsschübe hübschten das Gebäude wieder auf – nach dem 2. Weltkrieg, der wundersamer Weise nur überschaubare Zerstörungen in diesem Bereich hinterlassen hatte, während die Bombardements fast die gesamte Innenstadt zerlegten. Zunächst war es der eilige Wiederaufbau, der mehr das Zweckmäßige denn das Industriedenkmal in den Mittelpunkt rückte, 1990 gab es dann große denkmalpflegerische Anstrengungen und noch einmal – mit Blick auf die Fußball-WM 2006 – eine großangelegte Sanierung.

Und heute? Das Unternehmen Deutsche Bahn (DB) hat anscheinend das Interesse verloren, fleißige Mitarbeiter vor Ort feilen da und dort die gröbsten Gemeinheiten der Zeit weg. In manchen Bereichen umweht Verfall das einstige Schmuckstück am Berliner Platz, dessen spröde Innenstadtarchitektur ohnehin sparsam mit lobenswerten Details aufwartet. Bis heute bemüht sich (bemüht sie sich überhaupt?) die DB vergeblich darum, einen Einzelhandelsnachfolger für den Platz zu finden, der seit der Havarie der Schlecker-Gruppe leer steht. Trockenbauplatten, die – warum auch immer – den Blick auf alte Bausubstanz verstellen, sind teilweise zerschlagen und werden mit Netzen umhüllt, dass die Tauben nicht hineinfliegen und Nester oder anderes bauen. Im geräumigen Flugraum der Empfangshalle sind so viele Flattermänner unterwegs wie nirgendwo, aber sie haben ja auch reichlich Raum für ausgedehnte Rundflüge. Wenn sie denn mal was verlieren, hängt es an den einst geweißten Wänden.

Elegant, schön und selten: die zweischiffige Gleishalle.

Elegant, schön und selten: die zweischiffige Gleishalle.

Der Dom des jahrhundertwendigen Fortschritts ist in einem siechen Zustand. Bedauerlich. Und die Eigentümerin DB sieht derzeit keinen Anlass zum Eingreifen, gibt vor (stimmt wahrscheinlich auch), Schlimmeres beseitigen zu müssen. Sei es (und das ist auch prima), dass mein alter Heimatbahnhof in Dortmund-Hörde neu gebaut wird oder der kleine Unnaer immer einladender wird. Dass ein großes Denkmal einer großen Zeit der großen Stadt Hagen so vor sich hin dämmern darf, ist weder fortschrittlich noch kundenfreundlich, es ist schlicht peinlich. Gegenüber zahlenden Reisenden genauso wie gegenüber einer Stadt, die ein ansehnliches Entrée verdient.




„Zügig ins Jenseits“: Kurzkrimis rund ums Bahnfahren

Zügig.CoverDer Dortmunder hat es bekanntermaßen gerne spannend – nicht nur beim Fußball. Der Spannung verschrieben hat sich folgerichtig der in der Stadt des Champions-League-Halbfinalisten ansässige Grafit Verlag, der jetzt mal wieder eine neue Sammlung von Krimi-Kurzgeschichten herausgegeben hat.

„Zügig ins Jenseits“ nimmt sich all jener an, die während des Schienenverkehrs auf die schiefe Bahn geraten sind. Ort der Geschehnisse ist im vorliegenden Band die Deutsche Bahn. Klar, denn das Unternehmen Zukunft Deutsche Bahn ist ja mehr als fahren. Und vom Wetter reden sie auch nicht. Manch einem mögen beim Anblick der bekannten Werbeslogans gelegentlich die Gesichtszüge entgleisen und mörderische Gedanken kommen.

Immer gut für einen Erregungstumult

Der Ärger über verspätete Züge, ausgefallene Klimaanlagen oder besonders uncharmante Zugbegleiter wächst sich hierzulande gerne zu bemerkenswerten Erregungstumulten aus. Fünfzehn in dem Thema bewanderte Krimiautoren sind nun auf diesen Zug aufgesprungen und quer durchs deutsche Schienennetz gereist. Mitgebracht haben sie abgefahrene Geschichten aus den Abgründen des Zugverkehrs. In dieser Anthologie bleibt keiner verschont: nicht die grölenden Fußballfans, nicht die lümmelnden Berufsjugendlichen, nicht die picknickenden Ehepaare. Auch geraten die Piccolöchen der Keglern öfter unter die Räder.

Der Autorin Nicola Förg reicht die schnarrende Stimme einer Zugbegleiterin, um die arme Frau schnellstens zur Endstation Jenseits zu expedieren. Edgar Franzmann bereitet der BO-Ru-SSI-AAA und einem Sheriff im Ruhestand einen großen Bahnhof, Ella Theiss entzündet in Hamburg eine bombige Fontäne und Stephan Hähnel liest im Beschwerdemanagement auch das Kleingedruckte.

Tempo zwischen Bummelzug und ICE

Manche Geschichten entfalten sich mit dem gemächlichen Thema eines Bummelzuges, wieder andere rasen mit dem mörderischen Tempo eines ICE auf ihr kriminelles Ende zu. Roger M. Fiedler stellt die Weichen für seinen „Zeigersprung“ auf gelungene Satire und ihm gelingt es, zu erklären, was wir immer schon wissen wollten: Theorien sind die Ursachen aller Pannen.

Auch ganz Aktuelles kommt nicht zu kurz, Welpenhändler aus Duisburg möchte man nach der Lektüre nicht unbedingt sein. Und dass die sich neu etablierende Gruppe der Samstagspendler, welche sich das Recht, am Samstag vier Mitfahrer auf ihr Monatsticket mitnehmen zu dürfen, regelmäßig versilbern lassen, nicht ungefährlich lebt, dürfte nach der Lektüre von Niklaus Schmidts Geschichte auch klar sein. Klar wird dem Leser auch so einiges Wissenswerte aus dem Streckennetz, denn als kleine Kulanz ist jeder Geschichte eine „Wussten sie schon, dass…“-Frage“ mit Antwort vorgeschaltet.

Noch eine Besonderheit: Nicht alle Geschichten sind verbrecherisch, eine erzählt von der Liebe. Für „Drück mich jetzt!“ erhielt Alexandra Trudslev den Förderpreis des Literaturpreises Ruhr, sowie sicherlich die Zustimmung vieler Leser, die sich gleich ihrer Heldin schon an störrischen Fahrkartenautomaten abgearbeitet haben.

Fazit: Ohne Zugzwang gut geeignet, sich die Zeit auf Reisen angenehm zu vertreiben und so dazu beizutragen, ein vielbeschworenes Versprechen der Deutschen Bahn einzulösen: Urlaub von Anfang an.

„Zügig ins Jenseits. Mörderische Geschichten für Bahnfahrer“. Grafit Verlag, Dortmund. 224 Seiten. 9,99 Euro.




„Dortmunder Modell“: Die Stadt muss kleinlich sparen, ihr Airport macht Millionen „Miese“

Kürzlich konnte man im Dortmunder Lokalteil der Ruhr-Nachrichten (RN) erfahren, wie kleinlich inzwischen die Sparschrauben bei der Stadt angesetzt und festgedreht werden. Beispiele erwünscht? Bitte sehr: Zootiere bekommen ab jetzt weniger Frischkost. Macht gerade mal 10 000 Euro im Jahr. Brunnen sprudeln künftig seltener, was Strom und Wasser spart. 35 000 Euro im Jahr. Vom Kulturbereich mal wieder ganz zu schweigen.

Völlig ohne weitere Erläuterung finden sich in dem RN-Artikel Posten wie die Kündigung der „Alarmaufschaltung zur Überwachung“ der kommunalen Kindertagesstätten (was besagt das, bitte?) mit einer Ersparnis von 36 000 Euro, die hoffentlich niemand bereuen wird. Ferner werden die Kosten für Lebensmittel in den Kitas um 12,5 Prozent oder 175 000 Euro gekürzt. Das ist schon ein größerer Batzen. Steigen also die Elternbeiträge? Oder wird die Verpflegung einfach reduziert? Erläuterung Fehlanzeige. Nach dem eher als tabellarisches Kuriositäten-Kabinett angelegten Bericht hat man mehr Fragen als vorher.

Ein Monster als Maskottchen: Dortmund Airport (Foto: Bernd Berke)

Ein Monster als Maskottchen: Dortmund Airport (Foto: Bernd Berke)

Doch darauf wollte ich gar nicht in erster Linie hinaus. Halten wir uns noch einmal die genannten Beträge vor Augen, um sodann das aktuelle Jahres-Defizit des Dortmunder Flughafens erst richtig würdigen zu können. Der von den Stadtspitzen aus Prestigegründen seit jeher gehätschelte Airport, der ja auch ein paar nette Pöstchen bietet, hat – wie jetzt bekannt wurde – 2012 abermals 18,5 Millionen Euro Miese gemacht. Das ist eine Million weniger als 2011 und das geringste Minus seit 2003, also haben wir es quasi noch mit einer vergleichsweise guten Nachricht zu tun.

Man kann sich ungefähr ausmalen, was sich da im Lauf der Jahre angesammelt hat. Und wer springt finanziell ein? Nun, die allzeit ziemlich klamme Stadt Dortmund (26% Anteile) und die Dortmunder Stadtwerke DSW 21 (74% Anteile), eine hundertprozentige Tochter der Stadt. Mit den Strom-, Gas- und Wasserpreisen subventionieren Einwohner und Wirtschaft also den Flughafen ganz gehörig.

Absurde Rechenaufgabe: Wie vielen Zootieren könnte man da wie viele hundert Jahre lang Frischkost nach Herzenslust kredenzen? Doch mal ganz ernsthaft: Wie viele Theater, Museen, Schulen, Kindergärten, Sportvereine oder Schwimmbäder könnte man wirksam fördern, wenn es diesen Flughafen nicht gäbe? Wie viele Straßen ließen sich schnellstens reparieren, wie viele Sozialleistungen bezahlen?

Wer solche Verluste schreibt wie der Dortmunder Flughafen, der wird doch wohl wenigstens einen Airport von internationaler Bedeutung betreiben? Nun ja, wie man’s nimmt. Eigentlich eher nicht. Das offizielle Dortmund gefällt sich darin, dass die heimische Geschäftswelt von hier aus aufbrechen kann – freilich geht’s direkt weder nach Berlin noch nach Paris, Rom, Mailand oder Madrid. Ein paar Touristen fliegen nach „Malle“ oder Faro, einige Heimaturlauber zu teilweise zweitrangigen Destinationen Osteuropas (siehe Liste am Ende des Beitrags).

Von Steigerungsraten kann auch keine Rede sein. Im Gegenteil. Sowohl die Zahl der Passagiere als auch – besonders drastisch – die Menge der beförderten Luftfracht hat mit den Jahren in Dortmund kontinuierlich abgenommen. Gleichwohl werden weite Teile der Stadt und der östlich angrenzenden Gemeinden mit Fluglärm versorgt. Offenbar noch nicht genug. Stets wird uns vorgegaukelt, dass längere Betriebszeiten (am frühen Morgen und nachts) bzw. eine verlängerte Start- und Landebahn die Verluste mindern würden.

Da sehnt man sich im Kleinen geradezu nach einer „Berliner Lösung“ – einem Flughafen, der nie und nie eröffnet oder wenigstens nicht erweitert wird.

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Dortmunder Destinationen

Alghero, Italien
Belgrad, Serbien
Breslau, Polen
Budapest, Ungarn
Bukarest, Rumänien
Cluj-Napoca, Rumänien
Gdansk (Danzig), Polen
Faro, Portugal
Girona, Spanien
Istanbul, Türkei
Izmir, Türkei
Kattowitz, Polen
Kiew, Ukraine
Lemberg, Ukraine
London, Großbritannien
Málaga, Spanien
München, Deutschland
Neumarkt, Rumänien
Oporto, Portugal
Palma de Mallorca, Spanien
Posen, Polen
Skopje, Mazedonien
Sofia, Bulgarien
Temeschwar, Rumänien
Vilnius, Litauen




„Die Wirklichkeit wird nicht mehr gebraucht“: Ernst-Wilhelm Händlers „Der Überlebende“

Der Ich-Erzähler bleibt namenlos. Alles andere wäre auch geradezu widersinnig. Denn der Mann steht für die kommende Überschreitung biologischer Gegebenheiten, für den Übergang der Schöpfung in eine anonyme Eiseskälte.

Die Hauptfigur in Ernst-Wilhelm Händlers Roman „Der Überlebende“ leitet das Leipziger Elektrotechnik-Werk des fiktiven US-Konzern D’Wolf, betreibt dort aber insgeheim weiter die Roboterforschung, die offiziell gestoppt worden ist. Für dieses verborgene Geisterprojekt geht er über Leichen – nicht nur im übertragenen Sinne.

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Gesichter von Menschen kann sich der seltsam seelenlose Mann ohnehin nicht merken, worauf also sollte sich ein etwaiges Mitleid beziehen? Landläufig würde man ihn vielleicht als Autisten bezeichnen. Dieser hier will gleichzeitig alle Fäden ziehen, alles unter Kontrolle behalten, über jeden Schritt von Karrierefrauen mit mysteriösen Namen wie Sondra oder Burgi unterrichtet sein.

Hat schon die Firma ein ausgeklügeltes Überwachungssystem („Total Recall“) installiert, das beispielsweise alle Konferenzen für immer aufzeichnet, so setzt der Werksleiter seinerseits eine noch lückenlosere Spionage-Apparatur drauf. Ihm entgeht – rein äußerlich – praktisch nichts. Aber kann er das Gesehene auch richtig deuten? Wie dringend bräuchte er eine Software, die alle Beziehungen unfehlbar analysiert…

Wenn er jedenfalls argwöhnt, dass die schwer erkrankte Ehefrau Maren, Freund Peter oder Tochter Greta seine Kreise stören, so müssen eben Opfer gebracht werden. In den universalen und galaktischen Dimensionen, in die er sich gedanklich so gern erhebt, spielen einzelne Menschenleben überhaupt keine Rolle. Ein kurzerhand vertauschtes Medikament, ein geschickt eingefädelter und perfide beeinflusster Boxkampf – wer will es ihm nachweisen? Er ist und bleibt „Der Überlebende“. Und um welchen Preis?

Ernst-Wilhelm Händler, der früher selbst als mittelständischer Unternehmer tätig war und wirtschaftliche Mechanismen (so auch Firmenhierarchien, Marktstrategien und Preiskämpfe) sachkundig in die Handlung einfließen lässt, verwendet eine durchaus passende, wie aus dem Baukasten gefügte, auf Präzision versessene Sprache. Wie metallische Scharniere klirren und klacken schon die zahllosen Imperfekt-Endungen: „Du aber frösteltest. Mit der linken Hand rafftest du das Nachthemd…“ Doch die stocknüchterne, zuweilen steifleinene Genauigkeit und all das rational erscheinende Kalkül scheinen letztlich in ein dunkles Chaos zu führen; in einen Strudel hin zum Ende der Welt, wie wir sie kennen…

Fischen wir nur einige Partikel aus dem Gedankenstrom des Technikers, der ein später Nachfahre von Max Frisch „Homo Faber“ sein könnte und auch George Orwells Überwachungs-Visionen hinter sich lässt: „Wir würden es fertigbringen, die Realität zu klonen, sie würde annihiliert und durch ihre Doppelgängerin ohne Menschen ersetzt werden. Die Wirklichkeit wird nicht mehr gebraucht, sie kann verschwinden, sie muss verschwinden.“

Wesentliche Teile des Geschehens sind nur noch durchs Flimmern von Bildschirmen vermittelt – wie in der Finanz- und Börsenwelt oder vielen Bereichen der „Frei“-Zeit längst üblich. Kalkulatoren und Controller sind die verbliebenen Mächte in diesem blutleeren Getriebe. Wer womöglich über all das herrscht, steht gar nicht mehr zur Debatte. Vielleicht egal. Die einstweilen noch tapsigen, aber lernfähigen Roboter werden wohl einst alle lebendigen Wesen ersetzen, wenn nicht Einhalt geboten wird. Das ist der Erwartungshorizont dieses Romans.

Man liest den Fortgang mit einer fast widerwilligen Faszination, befremdet und fröstelnd.

Ernst-Wilhelm Händler: „Der Überlebende“. Roman. S. Fischer Verlag. 320 Seiten, 19,99 Euro.




„Wie fühl‘ ich mich, wie fühlst du dich…?“ – Gerhard Henschels „Abenteuerroman“

Wenn ein Autor sein Buch Abenteuerroman nennt, startet das Kopfkino des Lesers. Geschichten von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ oder vielleicht auch Stevensons Schatzinsel dürften ihm in den Sinn kommen. Der Schriftsteller Gerhard Henschel, der sich hier zu Wort meldet, wählt indes vermeintlich banalere Motive, lässt er doch einen jungen Mann namens Martin Schlosser über sein Leben Anfang der 1980er Jahre erzählen.

Die Fans von Henschel kennen die Hauptfigur aus den Vorgängerbüchern („Kindheitsroman“, Jugendroman“, „Liebesroman“). Schlosser lebt jetzt in der tiefen Provinz, dem niedersächsischen Meppen. Die Handlung beginnt, als er kurz vor dem Abitur steht. Flockig-locker ergreift der Romanheld das Wort, der eigentlich so recht kein Wässerchen trüben kann. So hält er sich gern ein Hintertürchen offen. Beispiel Bundeswehr. Von der Wehrpflicht, so etwas hat es ja mal in der praktischen Ausführung in Deutschland gegeben, ist er ebenso wenig überzeugt wie vom Pazifismus. Also lässt sich Schlosser erst einmal auf die Bundeswehr ein. Spätestens hier bekommt der Buchtitel dann doch seine Berechtigung, sind doch die Erlebnisse abenteuerlich genug. Einer Mutprobe kommt dann schon der Antrag von Schlosser auf Kriegsdienstverweigerung gleich. Dass er so glimpflich aus der Nummer rauskommt und die Tage bis zur Entlassung ohne große Schikanen übersteht, ist für die damaligen Verhältnisse als andere als selbstverständlich.

Henschel

Frank und frei breitet Schlosser sein Liebesleben aus, wobei sich das anfangs eher bescheiden ausnimmt. Das Bild, das Autor Henschel von dem Pärchen Martin und Freundin Heike zeichnet, bleibt allerdings bis zum Schluss recht schablonenhaft. Beide sind wohl eher der friedensbewegten Anti-Atomkraft-Bewegung zuzuordnen, Heike studiert zudem Pädagogik. Martin hat es in der Zweierbeziehung stark auf das Körperliche abgesehen, wobei Heike zwar keine Kostverächterin ist, aber ihr Gegenüber gern in Gespräche mit der Überschrift „Wie fühl‘ ich mich, wie fühlst du dich und was sagt uns das?“ verwickelt.

Wann die zarten Bande wohl reißen werden, drängt sich förmlich als Frage auf, zumal beide auch abseits ihres gemeinsamen Weges eines nicht verabscheuen: Abenteuer. Womit wir wieder beim Titel wären.
Von Beginn an ist Henschels Buch wie ein Kaleidoskop angelegt. Kleine Erzählstücke fügen sich zum großen Ganzen. Martin Schlosser wechselt häufig Thema und Perspektive. Gerade noch berichtet er vom Besuch bei einem Freund, dann ist er schon wieder auf der Suche nach einer Zivildienststelle. Zwischendrin greift auch das politische Geschehen Raum (Kriegsrecht in Polen, Verhältnis BRD-DDR, Falklandkrieg, Kanzlerdämmerung) – und all das versieht der junge Mann gern mit seinen persönlichen Notizen. Nach dem Sturz von Helmut Schmidt merkt er an, dass neben Innenminister Zimmermann jetzt wohl auch die anderen Finsterlinge emporkommen würden und meint Barzel, Dregger, Wörner und vor allem Strauß, den Strippenzieher. Zu einem politischen Engagement mag sich Martin aber doch nie durchringen, er tritt vielmehr aus der SPD aus und ärgert sich, dass man ihm die Parteizeitung auch danach noch zuschickt.

Henschel formt eine Figur, die gern auch über den Dingen zu stehen scheint und die vor allem aus der Literatur Honig saugt. Gern liest Martin Schlosser Zeilen des Lyrikers Rolf-Dieter Brinkmann, der zeit seines Lebens auf der Suche nach seinem wahren Ich war. Schlosser schafft es aber augenscheinlich, innere Distanz zu wahren. Das soll ihm während der Zivi-Zeit, als er einen schwerstbehinderten Jugendlichen betreuen muss, zum Vorteil gereichen. Welchen Nutzen ihm sein Studium der Fächer Germanistik, Philosophie und Soziologie bringt, wird sich erst in einem Folgeband herausstellen. Das wäre durchaus wünschenswert.

Gerhard Henschel: „Abenteuerroman“. Hoffmann und Campe, 576 S. 24,99 Euro




Vorfälle (2): Schaukelpferd, Briefmarken, Autoschlüssel

Es gibt in Dortmund ein Traditions-Geschäft, vor dem stets ein elektrisch betriebenes Schaukelpferd gestanden hat. Eines Tages aber war das Pferd defekt und wurde – zur Enttäuschung vieler Kinder – abgebaut.

Für immer? Eigentlich nicht. Die Apparatur sollte repariert werden. Das aber zog sich sehr, sehr lange hin, weil es offenbar nur noch Münzschlitze für 50-Cent-Stücke an aufwärts gibt – und nicht mehr solche für 20 Cent. Diesen Preis hat der Betreiber aber partout beibehalten wollen.
Schließlich fand sich nach gründlicher Suche doch noch ein altes Ersatzteil, das sich mit einem Kniff verwenden ließ.
Eines schöneren Tages stand also das Pferd wieder am Platze. Der Ritt kostet nach wie vor 20 Cent. Ein kleines Zeichen wider die landläufige Geldgier.

Anderntags fiel mir beim Gang durch die Stadt auf, dass ein alteingesessenes Lädchen geräumt wurde, sehr wahrscheinlich wegen Geschäftsaufgabe nach Pleite. Es gibt ja auch sonst genug Leerstände in der City. Zudem handelt es sich um ein winziges Briefmarkengeschäft. Schon lange habe ich mich gewundert, wie man sich in dieser Branche innerstädtisch halten kann. Ist das denn nicht ein längst ausgestorbenes Hobby?
Doch da wurde nicht ab-, sondern umgeräumt und neu aufgezäumt, wie sich bald darauf erwies. Jetzt macht da jemand mit frischem Mut im selben Metier weiter. Wie soll man das nennen: verrückt oder tapfer?

Unterwegs an solchen Orten vorbei, bemerkt man vielleicht auch dies: Seit es die Klickschlüssel zur Fernsteuerung der Türen gibt, vollführen Autofahrer andere Bewegungsmuster. Wir erinnern uns dunkel: Ehedem wurde geradezu sorgfältig abgeschlossen, indem man den Schlüssel im Schloss drehte. Manchmal ging dem auch ein nervöses Nesteln voraus. Heute aber klickt man lässig aus der Hüfte, aus dem Handgelenk, über die Schulter hinweg. Die Gestik wirkt meist achtlos, ja zuweilen arrogant oder blasiert, als könne man sich auch sonst der Welt ringsum bedienen. Damit verglichen war das Schließen von Hand geradezu nobel. Oder wenigstens reell.




Das Leben in 100 Jahren: Hoffnung und kalte Schauer beim Blick in die Zukunft

In einem Jahr, das die Menschheit nach dem Maya-Kalender nicht überstehen wird, kommt das Buch von Michio Kaku gerade recht. „Unser Leben in 100 Jahren“. Das lässt hoffen.

Doch dem Autor Michio Kaku wäre es sicher zu wenig, seinen Lesern die Botschaft zu senden: „Kopf hoch, es geht weiter“. Er sieht die Menschheit auf der Schwelle zu einer neuen Ära in der Erdgeschichte. Es dauert nicht mehr lange, bis wir alle ins Weltall ausschwärmen können, Hologramme die reale Präsenz eines Besuchers ersetzen und Gene gekauft werden können.

Da läuft einem als Leser manchmal ein kalter Schauer über den Rücken, wenn der japanische Physiker seine Theorien entwickelt. Wo bleibt der Schutz des menschlichen Erbguts, wo der Schutz vor der totalen Überwachung? Doch Kaku versteht sich nicht als neuer Huxley oder zweiter Orwell, obwohl er ganz deutlich auf die Gefahren von religiösem Fundamentalismus oder totalitären Regimen zu sprechen kommt. Er setzt aber sehr eindeutig seine Auffassung entgegen, dass die Menschheit auf einen „intellektuellen Kapitalismus“ angewiesen sein wird, wie er es nennt. Um die Herkulesaufgaben, die auf die Weltbevölkerung warten, lösen zu können, gehe es gar nicht anders, als aus Wissenschaft und Forschung Kapital zu schlagen.

Zu den Kernfragen zählt der Autor zweifellos die Suche nach geeigneten Energieproduktionen, die den Bedarf der Menschen decken. Fossile Energieträger werden dabei keine Rolle mehr spielen, Supraleiter, Magnetismus, Wasserstoff sind drei Stichworte aus dem Gedankengebäude von Kaku. In seiner japanischen Heimat wollen ein Autokonzern und andere große Unternehmen eine nach jetzigem Dafürhalten abgedrehte Idee verwirklichen und eine Solarstation im All positionieren. Die immensen Kosten sind aber ein Bremsklotz, noch ist ungeklärt, wie die gewonnene Energie ohne große Verluste zum Erdtrabanten geliefert werden kann.

Aufhorchen lässt das Buch vor allem an den Stellen, die sich dem medizinischen Fortschritt widmen. Die genetischen Codes werden immer weiter entschlüsselt, beschreibt Kaku sehr eindringlich, und aus ihnen lassen sich Rückschlüsse ziehen, wie denn die bestmögliche Behandlung aussehen könnte. Was sich äußerst vorteilhaft anhört, da es dem Menschen gute Chancen bietet, Krankheiten frühzeitig entgegenzuwirken oder erst gar nicht entstehen zu lassen, hat aber nicht nur zur Folge, dass die Menschen, wie Kaku schreibt, 150 Jahre und älter werden können, gleichzeitig erhöht sich auch die Bevölkerungszahl. Daraus resultiert die Frage, ob die Tragfähigkeit des Planeten ausreicht, damit alle Menschen genügend Nahrung haben. Wer sich heutzutage vehement gegen Biotech-Industrie wendet, wird dann vielleicht kein Argument mehr in der Hand haben. Wenn es ohne gentechnisch veränderte Lebensmittel nicht angeht, die Menschheit zu retten, kann man dem sich wohl kaum versagen, meint der Autor.

Zu verhindern gilt es aber gewiss, dass eine weitere Aussicht, die Kaku beschreibt, eines Tages Realität werden könnte, dass man nämlich irgendwann Gedanken lesen kann. Die ethische Dimension spricht der Autor zwar an, bleibt aber sehr zurückhaltend, klare Schranken einzufordern.

Mag es auch möglich sein, Gedankenwelten zu entschlüsseln, nach Kakus Prognose wird es wohl nie Roboter geben, die mit einem Menschen gleichzusetzen sind. Das klingt beruhigend, dennoch besitzen sie vielfältige Fertigkeiten oder können entsprechend programmiert werden, beispielsweise, um mit dem Hund Gassi zu gehen oder das Mittagessen zuzubereiten.

Zum Ende seines Buches beschreibt Michio Kaku einen Tag im nächsten Jahrhundert. Da wird dann schon bei der Morgentoilette durchgecheckt, ob der Körper fit ist und anschließend wickelt man sich Kabel um den Kopf, damit sich das eigene Heim (vom Herd bis zum TV) steuern lässt.

Als ich das Buch aus der Hand lege, hat mich die Wirklichkeit wieder. Gott sei Dank.

Michio Kaku: „Die Physik der Zukunft – Unser Leben in 100 Jahren“. Rowohlt-Verlag, 602 Seiten, 24,95 Euro.




Zum Tode von Neil Armstrong: Die Mondfahrt und der historische Satz

„Wie, du hast dir das entgehen lassen?“ Die Kolleginnen und Kollegen, angeführt von Chef Malte, blickten ungläubig bis verblüfft in meine naiv-blauen Augen und schüttelten unisono ebenso entgeistert wie im Geiste scheibenwischend die erfahreneren Köpfe. Gerade hatte ihnen so ein nassforscher Berufsneuling die überraschende Tatsache verkündet, dass er nicht wie im Falle von faustkämpferischen Auseinandersetzungen zwischen Cassius Clay (der hieß damals noch so) und Ingemar Johansson nächtens aus den Federn gekrabbelt war und schlaftrunkenen Auges den unvermeidlichen Sieg des tänzelnden US-Profis wahrgenommen hatte.

Nein, dieser Berufsneuling des Jahres 1969, Ihr werdet es erraten, das war ich, hatte sich nach links umgedreht und weiter geratzt, während Neil Armstrong auf die staubige Mondoberfläche hüpfte und seine legendären Worte hinaus in All nuschelte: „That’s one small step for a man, one giant step for mankind.“ („Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger Schritt für die Menschheit.“) Der nassforsche Jüngling hatte vor sich selbst auch eine Begründung für diese historische Respektlosigkeit: Die USA waren immer noch das Land, das Rassen diskriminierte, die USA waren das Land, das den Vietnamkrieg führte, die USA ließen nicht erkennen, dass sie wesentliche Beiträge dafür leisten wollten, dass Bettelarmut im reichsten Land der Welt verschwindet, die USA ließen noch weniger erkennen, dass sie ernsthaft Frieden als ultimatives Ziel ihrer Außenpolitik sahen, usw. usw.. Warum also sollte ich noch stumm applaudieren, wenn ein solches Land Milliardenbeträge ins Weltall schießt, um den eiskalten Steinklumpen zu erobern.

Nun, ich räume ja ein, dass ich wie manche andere ziemlich naiv und vielleicht auch übertrieben politisch korrekt durch die frühen Arbeitsjahre wandelte und es als Lust empfand, mich auf bisweilen schräge Art und Weise zum sogenannten Linkssein bekannte. Richtig Unrecht geben kann ich mir aber bis heute noch nicht, nur halte ich mich inzwischen für etwas zu respektlos diesem Neil Armstrong gegenüber. Er, der am vergangenen Samstag starb, wurde zum Symbolhelden einer wissenschaftlich-kulturellen Glanzleistung, die bis auf den Tag in fast alle Lebensbereiche nachwirkt – und nicht nur beim fettlosen Eierbraten in einer Teflon-Pfanne. Nicht nur er allein war der Held, sondern auch Buzz Aldrin, der nach der Landung in der Mondfähre „Eagle“ blieb und keine Chance bekam, historische Sätze ins All zu nuscheln.

Nun, ich bleibe dabei, es für richtig zu halten, mich nicht meines Schlafes zu berauben, um diese einmalige TV-Aufführung einer amerikanischen Ruhmestat in Live-Erinnerung zu behalten. Ich verbeuge mich angesichts des Todes von Neil Armstrong am Samstag vor ihm, weil er sich nach anstrengender Reise beim ersten Fußtritt auf Mondboden einen Satz (sicher wohl überlegt) heraus schraubte, der in der Geschichte bleiben wird. Ähnlich wie Cäsars „Iacta est Alea!“ (laut Plutarch – „Geworfen ist der Würfel!“).
Obgleich ich gestehen muss, dass ich davor und danach noch andere, werthaltigere Sätze hören durfte. Wie Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen!“ Oder Robert Jungks: „Die Welt kann verändert werden. Zukunft ist kein Schicksal.“

Gut, dann gehen wir mal ans Werk und arbeiten mit daran, dass gute Lehren gezogen werden, aus den Segnungen einer Mondfahrt und aus meinen nicht so weit hörbaren Begründungen für die mir eigene Mondfahrt-Ignoranz.




„Sounds Like Silence“: Auf den Spuren der Stille, an den Grenzen des Schweigens

Jubiläumshalber ist der Komponist John Cage (100. Geburtstag am 5. September) heuer erst recht eine kulturelle Leitfigur. Nicht nur setzt die Ruhrtriennale vielfach bei seinem Werk an, nicht nur hat die Fluxus-Kunst (derzeit im Fokus des Museums Ostwall) ihm Impulse zu verdanken – auch die gedankenreich unterfütterte Ausstellung „Sounds Like Silence“ kommt (parallel im selben Hause Dortmunder „U“) auf ihn zurück. Für die intellektuelle Durchdringung auf hohem Theorie-Plateau sorgt der ortsansässige Hartware MedienKunstVerein (HMKV), dessen Leiterin Inke Arns den Leipziger Medienwissenschaftler Dieter Daniels als Ko-Kurator gewonnen hat.

Porträt des großen Anregers John Cage (© Henning Lohner & John Cage / Foto Henning Lohner)

Porträt des großen Anregers John Cage (© Henning Lohner & John Cage / Foto Henning Lohner)

„Sounds Like Silence“. Hört sich an wie Stille. Oder: Geräusche wie Stille. Der auf den Welthit „Sounds of Silence“ von Simon & Garfunkel anspielende Titel kann füglich auch auf Cage bezogen werden. Der hat das berühmte Stück 4’33’’ erschaffen, 4 Minuten und 33 Sekunden vermeintlich völliger Stille. Die Uraufführung war am 29. August 1952, also vor 60 Jahren. Eine Inspirationsquelle: Robert Rauschenbergs „White Paintings“ (ab 1951), monochrom weiße Bilder, die ebenfalls nicht pure Abwesenheit bedeuten. Bloß keine Angst vor der Leere! Am Saum des Nichtseins ist in allen Künsten stets ein Etwas gewesen.

Das Cage-Stück zwischen Sein und Nichts kann sich mitsamt allen Weiterungen in die Hirnwindungen fräsen. Und so kreist auch die Dortmunder Ausstellung gebannt (jedoch alles andere als kopflos, wenn nicht gar kopflastig) um diese Ikone der akustischen Kunst. Wer hätte gewusst, dass von diesem epochalen Werk viele verschiedene Notationen/Partituren sowie über 50 Platten-Einspielungen existieren – und dass keine exakt der anderen gleicht. Denn die vollkommene Stille gibt es nicht. Immer sind da noch so geringe Nebengeräusche, Schwingungen an der Wahrnehmungsgrenze. Selbst in der schalldichten Kammer (die man hier – sofern seelisch gefestigt – erproben kann) hört man, neben der Aufnahme vom angeblich weltweit stillsten Wüstenort, noch das Grundrauschen der eigenen Nerven- oder Blutbahnen. Dass wir nach dem Tode gar nichts mehr hören, ist auch noch nicht ausgemacht…

Blick in einen der Ausstellungsräume von "Sounds like Silence" (© Foto HMKV)

Blick in einen der Ausstellungsräume von "Sounds like Silence" (© Foto HMKV)

Man schreitet hier durch lauter dunkle Räume, denn man soll sich ja auf Hören konzentrieren. Überall wollen Kopfhörer ergriffen und aufgesetzt sein, auf dass man lausche und zunehmend differenziere. Nun gut, ein paar Filme sind auch zu betrachten – bis hin zur Jux-Aufführung von 4’33’’ durch Helge Schneider in Harald Schmidts Late Night Show (ARD). Mit dem im Internet forcierten Projekt „Cage Against the Machine“ haben es Popmusiker 2010 geschafft, die Stille auf Platz 21 der britischen Charts zu hieven.

Mit Stille in die Charts: Projekt "Cage against the Machine", 2010 (© Courtesy Dave Hillard / Foto Carina Jirsch)

Mit Stille in die Charts: Projekt "Cage against the Machine", 2010 (© Courtesy Dave Hillard / Foto Carina Jirsch)

Die anspruchsvolle Ausstellung verfolgt etliche Nachwirkungen der in 4’33’’ berufenen Ideen. Merce Cunningham hat eine experimentelle Tanzversion besorgt. Selbst Heinrich Böll gerät mit seiner Hörfunk-Satire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ (1955) in den Blick, obwohl er sich schwerlich auf Cage bezogen haben dürfte.

Breit ist das Spektrum: Die Formation „Einstürzende Neubauten“ hat mit „Silence is Sexy“ (2000) der Stille gehuldigt. Spezielle Dortmunder Varianten von 4’33’’ gibt es ebenso wie bewusst verfälschende Cage-Aufführungen, die die Frage nach geistigem Eigentum aufwerfen. Als stummer Handy-Klingelton ist das Stück so präsent wie als sukzessive Löschung vormals vorhandener Musik. Studien zur Wahrnehmung der Taubstummen stehen neben einer Videoinstallation von Bruce Nauman, der sein verlassenes Atelier nächtelang filmte. Auch da begab sich noch etwas…

Filmstill aus Name June Paiks Film "A Tribute to John Cage" (1973) (© Nam June Paik)

Filmstill aus Name June Paiks Film "A Tribute to John Cage" (1973) (© Nam June Paik)

Kunsthistorisch interessant ist ein genialisches Gipfeltreffen von Nam June Paik und Cage. Wie der Koreaner 4’33’’ filmisch aufbereitet hat, ist für beide Oeuvres aufschlussreich. Ferner wird ein Interview mit Cage (von Vicki Bennett) ebenso sprachlos gemacht wie eine Tagesthemen-Ausgabe mit Ulrich Wickert (von Hein-Godehart Petschulat) oder eine kriegstreibende Rede des George W. Bush (durch Matt Rogalsky).

Am Horizont solcher Darbietungen erscheint eine Ökologie der Geräusche. Eine leisere Welt wäre wohl keine schlechtere.

„Sounds Like Silence“. Cage / 4’33’’ / Stille. 1912-1952-2012. Bis 6. Januar 2012 im Dortmunder „U“, Leonie-Reygers-Terrasse (Navi Rheinische Straße 1). Eintritt 5 Euro, freier Eintritt bis 18 Jahre. Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 11-18 Uhr. Internet: www.hmkv.de

Helge Schneider (li.) und Harald Schmidt bei der Jux-Aufführung von 4'33'' (© 2010 Courtesy Kogel & Schmidt GmbH, Grünwald / meine Supermaus GmbH, Mülheim)

Helge Schneider (li.) und Harald Schmidt bei der Jux-Aufführung von 4'33'' (© 2010 Courtesy Kogel & Schmidt GmbH, Grünwald / meine Supermaus GmbH, Mülheim)




Brenne, blaues Flämmchen, brenne!

Hier meldet sich das stets rege Ressort Sex, Crime & Explosionen, denn es gab

Gasalarm!

 

Nun, so erschröcklich war es schließlich doch nicht. Aber als technischer Laie weiß man das nicht sogleich.

Das bläuliche Flämmchen war erloschen – und es roch auf einmal so streng. Also das Fenster angelweit auf und vorsichtshalber den Notdienst des Energieversorgers verständigt.

Den Fachmann, der daraufhin eintraf, den will ich preisen. Keine Angst. Dies wird keine Ode auf den Gasmann oder dergleichen. Aber ein Lob der Menschen, die sachkundig, unaufgeregt und freundlich ihre Obliegenheiten versehen. Wie es denn überhaupt in jedem, aber auch wirklich jedem Beruf solche unauffälligen Helden des Alltags gibt.

In diesem Falle war’s einer, der gewiss schon ein paar explodierte Häuser gesehen hat – und es oft mit ziemlich panischer Kundschaft zu tun bekommt. Wenn man ihm begegnet, so kann man sich vorstellen, wie er es vermag, beruhigend auf nervöse Menschen einzuwirken.

Indem er rasch und zielsicher zu Werke geht, findet er gleichwohl noch Zeit, jeden seiner Schritte knapp zu erläutern. Es war ein kleiner Schnellkurs in Sachen Gasboiler, Abgase, Rußverbrennung, Kaminzug usw. Schon mal über Thermoelemente nachgedacht? Man macht sich zu selten einen Begriff von den Mechanismen, die hinter unseren Bequemlichkeiten stecken.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Eine Riechprobe gab es obendrein. So wie Parfümhersteller ihre Düfte auf Teststreifen ziehen, so kann man auf einer Karte auch den Stinkstoff freirubbeln, der dem eigentlich geruchslosen Gas beigemischt wird. Früher roch das Zeug nach Schwefel, seit ein paar Jahren hat man umgestellt auf eine andere Substanz, die einen durch ihren Ekelfaktor unfehlbar alarmieren müsste.

Der Vorfall erwies sich als gänzlich harmlos. Nach wenigen Sekunden hatte sich die (anfangs zu riechende) Gaszufuhr automatisch ausgeschaltet. Sie ließ sich ebenso problemlos wieder in Gang setzen.

Viel Lärm um beinahe nichts. Folglich sieht man schon Einsatzkosten auf sich zukommen. Doch derlei Maßnahmen sind gratis – und warum? Es ist eigentlich nicht zu fassen. Damit gewisse Leute nicht am völlig falschen Ende sparen und womöglich „denken“: Da lass ich doch lieber den Nachbarn anrufen und dafür blechen. Das könnte dann schon der allerletzte Hirnimpuls gewesen sein.




Abenteuer in den Dortmunder U-Bahn-Tiefen

Wer in seinen Bewegungen eingeschränkt ist – vulgo behindert –, der hat in Dortmund oft schlechte Karten, vor allem im Öffentlichen Nahverkehr.

Stadtbahn Dortmund, unterirdisch.

Das fängt schon im Hauptbahnhof an, in dem die Rolltreppen alle Nase lang defekt sind und daher still stehen. Dass man auf die Fahrstühle zu den DB-Bahnsteigen noch jahrelang wird warten müssen, an diesen Gedanken hat man sich ja schon gewöhnt. Auch in anderen U-Bahn-Stationen, zum Beispiel Kampstraße, werden marode Fahrsysteme nur noch selten repariert. Mit großkotziger Geste hat man sich vor Jahrzehnten ein modernes und teures System geleistet, und jetzt kann man nicht einmal die kleinen Folgekosten stemmen. Wenigstens sieht es in Düsseldorf etwas besser aus.

Griechische Verhältnisse in Dortmund? In einigen deutschen Großstädten kann man manchmal den Eindruck haben. Nur protestiert hier seltener jemand.




Losung des Tages: Keine Gnade mit Computern – und dann weg mit dem Internet!

Das ist bedenklich: wie sehr unsereiner vom Online-Zugang abhängt.

Viele werden das empört von sich weisen: Wir doch nicht! Doch muss man ihnen glauben? Nein. Auch ihr seid süchtig, liebe Leute. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen.

Die Sache verhält sich so. Ich bin für ein paar Tage in Urlaub und die Online-Verbindung streikt hier immer wieder.

(Werte Einbruchswillige, meine Lieben und ich können jede Sekunde zurückkehren – dann lauere ich sofort wieder mit meinem Schießgewehr, kawumm!).

Quälend offline also. Dabei ist man doch nur in Holland und nicht im Outback.

Es grenzt an Slapstick. Nur im Freien funktioniert der vom Haus des Vermieters kommende WLAN-Empfang, doch zuweilen lediglich dann, wenn ich das Notebook in einer bestimmten Zone des Grundstücks über Kopfhöhe halte, zähneknirschend das schüttere Empfangssignal abwarte und nun laaaangsam das Gerät senke, um mich schließlich wieder voooorsichtig hinsetzen zu können. Bis auf weiteres.

Es ist entwürdigend. Es ist demütigend.

Und nein: Ich will nicht ins Internet-Café.

Verfluchte Technik, die einen zum Deppen degradiert und sowieso auf Verschleiß beruht. Mit Computern samt allem Drum und Dran mag ich keine Nachsicht oder Geduld aufbringen. Wie denn auch?

Alle kennen das, gebt es nur zu! Man möchte die Apparatur anschreien, maßregeln oder am besten gleich vor die Wand klatschen. Man möchte das Display aufschlitzen, die Tasten oder die Platine herausreißen und überhaupt das vermaledeite Internet aushebeln, ankokeln, abservieren. Weg damit auf den Müllhaufen der Geschichte. Von vorn beginnen.

Doch man muss ja so dringend Mails verschicken, Freunden bei Facebook dies und jenes mitteilen, seine Homepage, sein Blog oder sonstwas weiterführen. Das virtuelle Leben darf doch nicht pausieren. Man könnte sonst womöglich zur Besinnung kommen. Zur Einkehr gar!

Solcher Zwiespalt setzt wohl voraus, dass man eine lange Zeit des Lebens gänzlich ohne Internet verbracht hat. Den digitalen Eingeborenen (um die Formel ein allerletztes Mal zu verwenden) ist das nicht mehr begreiflich zu machen.

Weiß man denn selbst noch, wie es vorher gewesen ist? Wie man ohne Suchmaschinen und all die anderen Phänomene und Phantome sein Dasein hat fristen können? Sollte man etwa Bücher befragt oder sich bei Fachleuten erkundigt haben? Sollte man Dinge im Wortsinne begriffen haben?