Liverpool zwischen Beatles und „Kloppo“

Beatles-Skulpturen an den Gestaden des River Mersey in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal ein paar Zeilen, die so gar nichts mit dem Ruhrgebiet zu schaffen haben – und „irgendwie“ dann doch. Bin jetzt auf einer England-Reise endlich mal einen Tag lang in Liverpool gewesen.

Erwähnt man dort, dass man aus Dortmund kommt, hellen sich manche Mienen auf. Denn alle, die auch nur ansatzweise „Ahnung“ von Fußball haben, wissen natürlich, dass Jürgen Klopp – vor seiner Zeit beim FC Liverpool – Borussia Dortmund meisterlich trainiert hat. Es ist, als schlinge dieser Sachverhalt ein imaginäres Band um beide Städte, auch wenn Dortmunds eigentliche englische Partnerstadt Leeds ist. Aber die sind abgestiegen (unqualifizierter Zwischenruf: „Wie Schalke!“).

Allgegenwärtiger „Kloppo“: „Jürgen’s Bierhaus“ in Liverpool. (Foto: Bernd Berke)

Mitten in Liverpool mit seinen (auch baulich) imposanten Museen steht man plötzlich vor einem Pub namens „Jürgen’s Bierhaus“. „Kloppo“ scheint an der Merseyside allgegenwärtig zu sein. Und kaum minder beliebt als einst in Dortmund. Man hat schon etwas über das Phänomen gelesen, hier aber erfährt man es direkt. Apropos: Zweierlei Einschätzungen sind uns im Vorfeld begegnet. Die eine kam von einer gebürtigen Liverpoolerin (deren Bruder ausgerechnet in Dortmund lebt), die ihre „Liverpudlians“ in höchsten lokalpatriotischen Tönen als warm und herzlich pries. Eine andere, südenglische Betrachtungsweise klang hingegen wie eine gelinde Warnung: Bewohner Liverpools, hieß es von jener Seite, seien oft ziemlich direkt und rau („rough“) im Umgangston. Damit sollten Revierbewohner freilich nur begrenzt Probleme haben. Ein offenes Wort wird hier wie dort gepflegt.

Typische Location im Touristenviertel. (Foto: Bernd Berke)

Mit Liverpool war doch noch etwas? Aber ja! Besucht man Liverpool erstmals, so ist selbstverständlich mindestens eine der diversen Führungen auf den Spuren der Beatles zu absolvieren. Unser Guide war eine Frau, stammte aus Irland, bekannte sich fußballerisch zum Lokalrivalen FC Everton, ließ aber Jürgen Klopp notgedrungen gelten. Viel wichtiger: Sie kannte so manche Anekdote zum Leben und Wirken der unvergleichlichen Band – vor allem über ihren erklärten Lieblings-Beatle John Lennon (einverstanden!) und seinen sehr „komplexen Charakter“, die Fährnisse rund um Yoko Ono inbegriffen. Mindestens fünf Mal hat unsere Bärenführerin im Laufe der fast dreistündigen Tour gesagt: „They’ve changed the world.“ Nun, was die damalige Musik und Jugendkultur angeht, ist das nicht übertrieben.

Mit der Musik der Beatles aufgewachsen, habe ich bislang immer „Sgt. Pepper“ und das „White Album“ für die absoluten künstlerischen Höhepunkte gehalten. Was ja auch durchaus stimmen dürfte. Seltsam unterschätzt habe ich jedoch die LP „Revolver“, trotz aller langjährigen Hörpraxis. In dieser Hinsicht hat mir der Rundgang mit Hinweisen der buchstäblich bewanderten Expertin Augen und Ohren geöffnet. Sie hat unbedingt recht: „Revolver“ war, vor den folgenden Höhenflügen, bereits ein Auf- und Durchbruch zu anderen Sphären. Eine gar späte Einsicht, nicht wahr?

Noch so eine Kultstätte. (Foto: Bernd Berke)

Rund 60 Jahre ist es her, dass die Beatles 1963 die Charts umkrempelten und eine Massenhysterie auslösten. US-Präsident John F. Kennedy wurde im November 1963 in Dallas erschossen und es war, als hätten die Beatles (die weder „Fab Four“ noch „Pilzköpfe“ genannt werden sollten) die westliche Welt aus dem damaligen Stimmungstief gerissen. Es musste sie einfach geben. Genau damals. Und genau so, wie sie gewesen sind. Bis sie so wurden, wie sie ewig in Erinnerung bleiben werden, hat es allerdings seine Zeit gedauert. Etliche Einflüsse, Umstände und Menschen mussten „zufällig“ zusammenkommen, um das Wunder zu bewirken. Die Vorläufer-Bands sollen anfangs fürchterlich geklungen haben, doch nach und nach hat sich das gegeben. Und wie!

Kraftvoller Auftritt: Impression aus dem Liverpooler Museumsviertel. (Foto: Bernd Berke)

Gewiss: In bestimmten Straßenzügen von Liverpool (rund um den „Cavern Club“ etc.) werden Touristen aus aller Welt dermaßen unablässig beschallt, dass viele es offenbar nur mit alkoholischer Betäubung durchstehen bzw. zu steigern versuchen. Man muss es ja nicht über sich ergehen lassen.

Der leider zu kurze Aufenthalt hat mich jedenfalls im Gefühl bestärkt, dass zwei der großartigsten kulturellen Dinge in meiner Generation just aus England zu uns gedrungen sind: die Beatles (sowie viele andere Combos neben und nach ihnen) – und Monty Python’s Flying Circus. Na gut, mit den Filmen der Nouvelle Vague haben auch Franzosen einiges zum positiven Lebensgefühl hinzugefügt. Und Deutschland? Nun, Robert Gernhardt und die Neue Frankfurter Schule waren gleichfalls nicht zu verachten. Was einen halt so geprägt hat.




Gehört meine Stimme wirklich noch mir?

Ist da noch jemand, der zurück möchte in die gute alte Zeit der Stimmübermittlung, vulgo des Telefonierens? (Aufnahme von 2019 aus London: Bernd Berke)

Jetzt wird’s intim. Oder wenigstens persönlich: Mit meiner Stimme habe ich eigentlich keine weiteren Probleme. Hie und da ereilten mich gar aus der holden Damenwelt vereinzelte Komplimente ob des sonoren Timbres. Oder so ähnlich. *Räusper, hüstel*.

Hätte ich also zum Hörfunk gehen sollen? Nein. Da reden sie ganz anders drauflos, wie ich es nicht vermag. Lieber äußere ich mich schriftlich. Deshalb musste es halt etwas Gedrucktes oder „irgendwas mit sichtbaren Buchstaben“ sein. Zeitung. Buch. Oder eben Blog. Ohne sonstiges Gedöns.

Wozu die weitschweifige Vorrede? Ich hatte dieser Tage ein befremdlich-gespenstisches Erlebnis, das mit meiner Stimme zu tun hat. Zwischen verwickelten Verhandlungen mit mehreren Telekom-Hotline-Mitarbeitern (drei Männer, da gibt’s nix zu gendern) wurde mir von einem Chatbot die Möglichkeit (um nicht zu sagen: die Okkasion) angeboten, mich künftig mit meiner bloßen Stimme zu identifizieren. Dann, so hieß es salbungs- und verheißungsvoll, bräuchte ich nicht mehr meine Kundennummer und derlei Kram bereitzuhalten, sondern müsste einfach nur ein paar Worte sprechen. Zu diesem Behufe möge ich, um das Ganze anzustoßen, dreimal den vorgegebenen, nicht allzu magischen Testsatz sprechen, der da ungefähr lautete: „Bei der Telekom ist meine Stimme mein Passwort.“ Was tut man nicht alles, wenn man seine Ruhe haben will? Also nach dem Piepton gesprochen, getreulich Wort für Wort. Und noch einmal. Und ein letztes Mal. Gut dressiert. Danach haben „sie“ mich tatsächlich schon an der Stimme erkannt, als wären wir seit Jahrzehnten befreundet. Auch musste ich nicht mehr den grenzdebilen Testsatz sprechen, sondern durfte herumtexten, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Nein, ich habe keine Juxsätze oder Obszönitäten ausprobiert.

Als ich die schiere Tatsache der Stimmprobe im bekannten Netzwerk gepostet habe, wurde klar, dass sich die Sache noch nicht so herumgesprochen hat; nicht einmal bei manchen Internet-Freaks. Deswegen noch einmal diese Zeilen hier. Wenn man weiß, wie die rigiden deutschen Datenschutzbestimmungen so manche Innovation verhindern, wundert man sich, dass diese Entwicklung überhaupt möglich gewesen ist. Aber sei’s drum. Mir fiel jedenfalls ein, dass mit dieser Neuerung das Zeitalter der anonymen Anrufe sich wohl dem Ende zuneigt. Ob nun in Echtzeit oder im Nachhinein, kann bald jeder Anruf stimmlich und namentlich zugeordnet werden, sofern ein Muster vorliegt (daran wird’s nicht lange mangeln).

Welch eine – behördlicherseits wohl willkommene – Ergänzung zur personengenauen Bilderkennung! Bald verlieren Krimis dieser altbackenen Art endgültig jeden Sinn, in denen ein sinistrer Herr anonym anruft und mit hinterhältiger Stimme knödelt: „Hier ist einer, der es gut mit Ihnen meint…“




Wehmut und Dankbarkeit: Das Auryn Quartett verabschiedet sich mit einem Konzert in Duisburg

Das Auryn Quartett hat alles erreicht, was ein Kammermusikensemble nur erreichen kann. Nun ist nach 41 gemeinsamen Jahren Schluss.

Das Auryn Quartett. Foto: Manfred Esser

Die Vierer-Formation hat vom Wiener Musikverein über die New Yorker Carnegie Hall bis zu den Salzburger Festspielen alle großen Säle und Festivals bespielt; sie hat sich ein unglaublich breites Repertoire von Joseph Haydn bis Wolfgang Rihm erarbeitet, Werkzyklen von Beethoven bis Bartók aufgenommen und sich mit der Gesamteinspielung aller Streichquartette Joseph Haydns ein unsterbliches Denkmal gesetzt.

Vor allem spielt das Quartett seit 41 Jahren in der gleichen Besetzung und gehört damit zu den Ensembles mit der längsten Kontinuität: Die Geiger Matthias Lingenfelder und Jens Oppermann, der Bratscher Stewart Eaton und der Cellist Andreas Arndt hatten sich beim Studium an der Kölner Musikhochschule zusammengefunden und 1981 beschlossen, ein Quartett zu bilden. Bereits ein Jahr später waren sie u.a. beim ARD-Wettbewerb erfolgreich. Nach 40 Jahren sollte Schluss sein. Corona ist es zu verdanken, dass es 41 Jahre geworden sind. Aber am 27. Februar setzt das „allerletzte Abschiedskonzert“ in der Elbphilharmonie Hamburg den unverrückbaren Schlusspunkt. „Wir wollten aufhören, wenn wir noch oben sind im Niveau“, erklärt Stewart Eaton im WDR, einem Sender, dem das Auryn Quartett viel verdankt und für den es unvergessliche Aufnahmen eingespielt hat.

Zuvor jedoch, zum vorletzten Konzert, kamen die vier Musiker aus dem Rheinland – sie lebten auch rund 20 Jahre in Köln – noch einmal nach Duisburg. Hier waren sie 2013/14 „Artist in Residence“ bei den Duisburger Philharmonikern, spielten 2018 Beethoven und gemeinsam mit der Geigerin Carolin Widmann und dem Pianisten Alexander Lonquich Ernest Chaussons wundervolles Konzert für Violine, Klavier und Streichquartett.

Herzzerreißender Abgesang

Jetzt gab es in der Mercatorhalle einen bewegenden, warmherzig beklatschten Abschiedsabend mit Mozarts „Kleiner Nachtmusik“, Antonín Dvořáks Es-Dur-Streichquartett op. 51 und Franz Schuberts d-Moll-Quartett „Der Tod und das Mädchen“. Ein herzzerreißender Abgesang auf das Leben, den das Auryn Quartett mit der Zugabe in serener Milde vergoldete: Das Adagio aus dem „Lerchen-Quartett“ op. 64/5 von Joseph Haydn verströmt in seinem ruhevollen Puls und im makellosen Zusammenklang eine enthobene Ruhe, einen Kontrast zur Todesverzweiflung Schuberts, als hätte Haydn dem düsteren Tod den himmlischen Paradiesesfrieden entgegen gesetzt.

Dass dem Wiener Meister das Finale des Abends gebührt, hat seinen Grund. Das Auryn Quartett fühlte sich Haydn stets besonders verbunden. Auf die Frage in einer dem Quartett gewidmeten „Tonart“-Sendung im WDR nach dem Höhepunkt seiner Laufbahn verwies einer der Musiker auf die Gesamteinspielung aller Haydn-Quartette. „Alle 68 sind auf ihre Art ganz tolle Musik und ermöglichen so viele Entdeckungen.“

Doch die nach dem magischen Amulett aus Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ benannte Formation gehört nicht zu der Fraktion, die ihre Klangvorstellung auf makellos lasierte Töne in perfekter Mischung aufbaut. Sicher, ein Unisono wie der Beginn der Mozart’schen „Kleinen Nachtmusik“ ist aus einem Guss. Aber durch die Fortspinnung, flott und mit Energie gegeben, windet sich die eine oder andere prägnante Nebenstimme, ist die Klangpolitur nicht schmeichelnd sanft, sondern auf die Individualität der Stimmen bedacht. Den fehlenden fünften Satz, der im Original entfernt wurde, ersetzt das Quartett mit dem Menuett KV567/3 aus den „Sechs deutschen Tänzen“. So beherzt und ungekünstelt musiziert, macht der Ohrwurm wieder richtig Spaß.

Dichter Satz, differenzierte Transparenz

Die Kunst, ineinander verwobene Stimmen in ihrer Individualität zu achten, musikalisch sinnvoll zu gewichten und dennoch den dichten Satz nicht zu zergliedern, sondern als klangliches Ganzes erleben zu lassen, führt das Auryn Quartett mit dem Es-Dur-Quartett Dvořáks vor. Wieder steht eher das Temperament als die vollendete Klangkultur im Vordergrund, wird das genaue Hinhören eingefordert. Die Anstrengung wird belohnt, weil die Transparenz nicht analytischer Selbstzweck ist, sondern einem klarsichtigen Durchdringen des Werks dient. Wolfgang Rihm hat es in einem Interview einmal so ausgedrückt: „Das Streichquartett ist eine Besetzung, die es erlaubt, aus der Homogenität heraus in die Bereiche des Heterogenen, ja des Disparaten zu gelangen.“ Treffender könnte der Ansatz des Auryn Quartetts nicht beschrieben werden.

Das „Disparate“ ist dann in radikaler Konsequenz in Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ gefordert. Das betrifft die Klanglichkeit, deren Spektrum von den schrill-schmerzlichen Eröffnungsakkorden bis in täuschend gemütliche Ländler-Leichtigkeit reicht. Das umschreibt aber auch die Emotionalität dieses Ausnahmewerks, dessen seelische Abgründigkeit selbst in Schuberts Œuvre nicht so leicht wiederzufinden ist. Im Angesicht des Todes gibt es eben keine Kompromisse mehr.

Da insistiert die innere Unruhe des ersten Satzes mit einem selten so genau und gewichtig zu erlebenden Cello; da mischen sich aber auch, wenn sich Andreas Arndt mit seiner dunklen Farbe herausnimmt, die Klänge der Violinen und der Viola zu einer schimmernden Fläche, die jedoch nicht lockend glüht, sondern schmerzlich brennt. Der zweite Satz beginnt mit gläsern gelassenen, fast vibratolosen, allmählich intensiveren Tönen. Die Musiker verfolgen die allgegenwärtigen Melodiezitate und -bruchstücke in filigraner Transparenz und schier unendlichen Beleuchtungsnuancen. Das Scherzo spricht in seinem Grimm der Bezeichnung Hohn, es ist, kontrastiert von einem wehmütigen Trio, eine wilde Verzweiflungsjagd, die sich im Presto des Finales– trotz des Tempos genau artikuliert – noch steigert.

Das Auryn-Quartett präsentierte sich ein letztes Mal auf der Höhe seines erfahrungsgesättigten Könnens: Ein Abschied, der schwer fällt, aber in dem die Erinnerung an eine so lange Zeit außerordentlichen Musizierens die Wehmut mit Dankbarkeit mildert.




Der erste Opernstar der Schellack-Zeit: Vor 100 Jahren starb der gefeierte Tenor Enrico Caruso

Der legendäre Tenor Enrico Caruso im Jahr 1910. (Laveccha Studio, Chicago / Wikimedia, gemeinfrei/public domain)

Schon mal gehört? „Der singt wie ein Caruso“. Ein geflügeltes Wort, auch von Menschen zitiert, die den wirklichen Caruso nie gehört hatten, nicht einmal auf seinen legendären Schellack-Platten. „Caruso“ galt als bedeutungsgleich für faszinierendes Singen, spätestens seit der Tenor aus Neapel vor 100 Jahren, am 2. August 1921, in seiner Heimatstadt unerwartet an den Folgen einer Rippenfellentzündung gestorben war.

Carusos Karriere war auch in der Zeit der großen Opern-Diven und der gefeierten Heldentenöre einzigartig. Kaum ein Sänger – vielleicht mit Ausnahme von Maria Callas – versetzte die Opernwelt so sehr in Aufregung. Kaum ein anderer Name ist bis heute auch außerhalb der Welt des Musiktheaters so geläufig. Caruso war und ist eine Legende, um die sich zahllose Anekdoten ranken, während er selbst sein Privatleben sorgsam verborgen hielt.

Befeuert wurde dieser Ruhm auch durch einen Film wie „Der große Caruso“, 30 Jahre nach seinem Tod mit Mario Lanza in der Titelrolle gedreht. Was Wahrheit und was Erfindung ist, lässt sich in den Biografien nur schwer bestimmen, denn es gibt wenig Material aus erster Hand. Schon seine Herkunft aus einer armen Familie war durch die – inzwischen widerlegte – Behauptung verklärt, seine Mutter habe 21 Kinder zur Welt gebracht.

Der „Carusiello“ singt Serenaden

Das Singen war ihm offenbar in die Wiege gelegt: Die schöne Stimme des kleinen „Carusiello“ fiel dem Pfarrer Giuseppe Bronzetti auf, der ihn daraufhin förderte. Der junge Altist sang in der Kirche und verdiente sich – vielleicht auch eine Legende? – ein paar Lire, indem er an so manchen Abenden „unter dem Fenster irgendeines italienischen Mädchens“ eine Serenade sang, „während der Verehrer in der Nähe stand, erwartungsvoll hinaufblickend, ob sein teuer bezahlter Gesangstribut auch Anerkennung fände“. Dass der Unterricht bei lokalen Gesangslehrern ebenso harte Arbeit war wie diejenige in Fabriken, um den Lebensunterhalt zu verdienen, wird oft nicht ausreichend gewürdigt. Schon in der Jugend entdeckt wurde jedoch auch Carusos Zeichentalent. Sein Leben lang pflegte er diese Kunst als Hobby; witzige Selbstporträts und gekonnte Karikaturen belegen seine Begabung.

Auch als Zeichner talentiert: Selbstkarikatur von Enrico Caruso beim Singen in einen Aufnahmetrichter, 1902. (Wikimedia, gemeinfrei/public domain – Quelle: https://soundofthehound.files.wordpress.com/2011/01/img565.jpg)

Auch ein Caruso musste seinen Weg durch die Provinz machen und seine Stimme heranbilden. Im Alter von 24 Jahren debütierte er 1897 in der Uraufführung von Francesco Cileas „L’Arlesiana“ am Teatro Lirico in Mailand, 1898 folgte dort Umberto Giordanos „Fedora“. Sein erstes Auftreten an der Scala, einem der führenden italienischen Opernhäuser (als Rodolfo in Giacomo Puccinis „La Bohème“) brachte ihm die Bewunderung des Dirigenten Arturo Toscanini, mit dem Caruso künftig zusammenarbeitete, auch in einer seiner Favoriten-Rollen, dem Nemorino in Gaetano Donizettis „Liebestrank“.

Nie wieder Neapel

Caruso genoss bereits eine gewisse Berühmtheit, als er im Winter 1901 für seinen ersten Auftritt am renommierten Teatro San Carlo nach Neapel kam. „Nachdem er auf fremden Schlachtfeldern so oft gekämpft und gesiegt hatte, kehrte er frohen Herzens in seine Heimat zurück, um sich auch hier den Ruhmeslorbeer zu pflücken“, heißt es in einer alten Biografie. Intrigen, Rivalitäten und Carusos Stolz sorgten jedoch dafür, dass der „Liebestrank“ nicht den gewünschten Erfolg brachte. Vielleicht sahen seine Landsleute in dem jungen Tenor auch immer noch den Straßensänger von einst. Caruso schwor, nie wieder in Neapel aufzutreten und höchstens zurückzukommen, um einen Teller Spaghetti zu essen. Dem blieb er sein Leben lang treu.

Erster Star der Schallplatte

Die noch folgenden 20 Jahre seines Lebens waren ein Triumphzug. Über Buenos Aires und London ging es an die Metropolitan Opera in New York, wo er 1903 als Herzog in Giuseppe Verdis „Rigoletto“ debütierte und fortan – mit einer Ausnahme – bis 1920 in jeder Eröffnungspremiere einer neuen Saison sang. Die großen Partien in den Opern Giuseppe Verdis und Giacomo Puccinis blieben seine Domäne. Viele Male gab er den Radames in „Aida“ und triumphierte 1910 mit der legendären Emmy Destinn als Minnie die Uraufführung von Puccinis „Mädchen aus dem goldenen Westen“ unter Arturo Toscanini.

Caruso baute sich erfolgreich einen märchenhaften Ruhm auf und verstand es, den viel bewunderten Glanz seiner Stimme auch finanziell zu vergolden. Zwei Rollen schien er besonders geliebt zu haben: die des Canio in Ruggero Leoncavallos „Pagliacci“ („Der Bajazzo“) und die 1919 erstmals gesungene Partie des Eleazar in Jaques Fromental Halévys großer Oper „La Juīve“ („Die Jüdin“). Eine Beobachterin erinnert sich an seine innere Rührung: „Ich habe ihn nach dem ersten Akt (des „Bajazzo“) fünf Minuten in seiner Garderobe schluchzen hören; ich habe ihn so aufgewühlt gesehen, dass er auf offener Bühne ohnmächtig zusammenbrach.“ Eleazar war auch seine letzte Partie an der Met im Dezember 1920; er sang unter großen Schmerzen, von seiner Partnerin gestützt.

Dass Carusos Ruhm bis heute anhält, ist auch seinen Schallplatten zu verdanken. Er war einer der ersten Opernsänger, die erkannten, wie bedeutsam dieses neue Medium ist. Und er hatte Glück, dass seine Stimme für die Mittel der damals beschränkten Aufnahme- und Wiedergabetechnik passgenau geeignet war. Der Tenor mit dem zu männlich-baritonaler Fülle hin entwickelten Timbre hat sich mit fast 500 Aufnahmen zum ersten großen Plattenstar gemacht. Die Aufnahmen zeigen auch, wie er seinen Gesangsstil einem sich wandelnden Geschmack angepasst und ihn vom kunstreich verzierten, leichten Singen des klassischen Belcanto des 19. Jahrhunderts zu dramatischer Gestaltung mit kraftvoll-wuchtigen Tönen entwickelt hat.




Er konnte viel mehr als diese Albernheiten im Wirtschaftswunder – zum Tod von Bill Ramsey

Label von Bill Ramseys Single „Pigalle“ (Polydor NH 24428) aus dem Jahr 1961. (© Deutsche Grammophon / Quelle: www.rocknroll-schallplatten-forum.de)

Ich mach’s kurz, es gibt gar nicht so viel zu sagen: Es stimmt mich traurig, dass Bill Ramsey mit 90 Jahren gestorben ist. Seine Stimme hat ein paar Tonlagen meiner Kindheit und meiner Generation mitgeprägt – bevor die Beatles und all die anderen kamen.

Zu den weit verbreiteten Weisheiten über den 1931 in Cincinnati/Ohio geborenen US-Amerikaner, der sich nach seiner Soldatenzeit dauerhaft in Deutschland niederließ, gehört es, dass er musikalisch viel mehr vermochte, als er in seinen Schlagern zeigen durfte. Eigentlich war er ein Jazz-, Swing- und Blues-Könner von Graden – ähnlich wie etwa Paul Kuhn, mit dem er öfter gemeinsam aufgetreten ist. Doch derlei Fähigkeiten waren in der Adenauerzeit nicht so sehr gefragt.

Bill Ramsey im August 2005. (© Wikimedia / Sven Teschke – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.en)

Es musste vielmehr entlastend komisch sein; komisch nach dem biederen Verständnis der Wirtschaftwunderzeit. Und bitte recht pfiffig, aber nicht so anspruchsvoll oder gar schwermütig. Um der lieben Einkünfte Willen trug Ramsey in den späten 1950ern und frühen 60ern vorzugsweise jene etwas anzüglich-albernen Titel vor, die – ob nun gewollt oder ungewollt – ein paar Zeitgeist-Spuren jener Jahre auf den Begriff brachten: allen voran „Pigalle“ („…daaaas ist die größte Mausefalle mit-ten in Pa-ris“ – 1960) oder „Zuckerpuppe (aus der Bauchtanzgruppe)“, welch Letztere schenkelklopftauglich nicht aus dem Orient, sondern aus dem weniger geheimnisumwitterten Wuppertal stammte. Auch erfuhren wir durch ihn, dass die Mimi ohne Krimi nie ins Bett ging. Ach ja. Der Titel ist sicherlich schon zweihunderttausend Mal gelaufen, wenn es um Krimilektüre ging.

Seine Schlager-Popularität zog es nach sich, das er dutzendfach in „Opas Kino“ mitmischte: Besagte Mimi war auch eine Filmfigur, Ramsey spielte ihren genervten Gatten. „Die Abenteuer des Grafen Bobby“ kamen gleichfalls nicht ohne die freundlich-rundliche Präsenz dieses sympathischen Menschen aus.

Aber es gab eben auch den anderen Bill Ramsey, der an der Hamburger Hochschule für Musik dozierte und TV- oder Radio-Sendungen moderierte, die sich ernsthaft mit populärer Musik befassten. Noch im hohen Alter, bis 2019, hatte er eine Musiksendung beim Hessischen Rundfunk. Es war ihm wohl sehr daran gelegen, dem Publikum zum besseren Verständnis zu verhelfen. Ein bleibendes Verdienst.




Entdecker in den Gefilden der Rockmusik: Alan Bangs wird 70 Jahre alt

Eine Reihe älterer Musikkassetten. Es sind hauptsächlich Auszüge aus Sendungen von Alan Bangs darauf festgehalten. (Foto: Bernd Berke)

Ja, so ist das halt: Immer mehr Leute, die man als Generationsgenossen (Frauen sind durchweg mitgemeint) empfindet, überschreiten die 70er-Linie. Nun ist der Musik-Moderator Alan Bangs an der Reihe, der am 10. Juni vor 70 Jahren in London geboren wurde und dessen Einfluss auf viele Menschen wohl immer noch anhält, obwohl er schon seit etlichen Jahren keine regelmäßige Hörfunksendung mehr hat.

Alan Bangs hat über Jahre hinweg und mit anhaltenden Folgen beileibe nicht nur meinen (Pop)-Musikgeschmack wesentlich mitgeprägt. Noch heute gibt es in traulichen Internet-Ecken spezielle Seiten, die seine Playlists von damals recherchieren und pflegen. Auf Umwegen lässt sich also Versäumtes nachholen. Den Sammlern sei Dank für so viel leidenschaftliche Fleißarbeit.

Legendäre Sendung „Nightflight“

Der Kult fing mit Alan Bangs‘ legendärer Sendung „Nightflight“ (rund 700 Folgen vom 25. Mai 1975 bis zum 9. April 1989) bei BFBS Germany an. Es war alles andere als das sonst meist übliche Abnudeln von Hitparaden. Von Anfang an horchte man bei Bangs auf. Er machte sich auf zu musikalischen Erkundungen, beseelt von spürsicherer Entdeckerfreude. Alan Bangs war imstande, Neuentdeckungen aus der Independent-Szene beispielsweise auch mit klassischer Musik zu kombinieren, wenn es ihn gelüstete und wenn es Sinn ergab. Tatsächlich: Da gewahrte man so manche gemeinsamen Schwingungen und Querverbindungen. Überhaupt gerieten „Nightflight“-Ausgaben zu abenteuerlichen Überfahrten in vordem ungeahnte Klanggefilde – oder eben zu geheimnisvoll gleitenden Flügen durch die Nacht.

Screenshot der Internet-Seite nightflights.de, die Alan Bangs gewidmet ist und nach eigenen Angaben die Inhalte von über 1100 Sendungen (!) auflistet.

Damals war die Kompaktkassette das Aufzeichnungsmittel der Wahl. Das mit den großen Tonbandspulen hatte sich weitgehend erledigt und wurde hauptsächlich noch von Freaks und Nostalgikern betrieben. Bis heute habe ich ein ganzes Konvolut von Kassetten verwahrt, auf denen vorwiegend Auszüge aus Sendungen von Alan Bangs die Jahrzehnte überdauert haben, klanglich immerhin noch einigermaßen tolerabel. Ein Schatz, auch und gerade in Zeiten von Streamingdiensten mit zig Millionen Titeln. Wobei diese ehedem unvorstellbare Fülle allemal als Weiterung und Ergänzung taugt.

Beim Formatsender „1 Live“ vergrault

So viele großartige Künstler hat man erstmals durch seine Sendungen (hernach kam vor allem noch die „Alan Bangs Connection“ auf WDR 1 in Betracht) kennen und schätzen gelernt. Seine recht sparsamen, jedoch substantiellen Anmoderationen – mit dem gewissen, die Authentizität steigernden englischen Akzent – erschlossen behutsam die je besonderen Qualitäten der Künstlerinnen und Künstler. Alan Bangs hat in Deutschland (jedenfalls in ambitionierten Kreisen) Leute wie etwa Kevin Coyne, Television, Patti Smith, Green on Red oder die Cowboy Junkies bekannt gemacht (weitere Namen im Anhang). Es war Musikvermittlung im allerbesten Sinne.

Im April 1995 begab sich eine zu Teilen schändliche Programmreform, die aus WDR 1 den Formatfunk „1 Live“ machte und in deren Verlauf so ziemlich die letzten Ecken und Kanten abgeschliffen wurden. Alan Bangs sah sich zunächst auf die Nachtschiene verbannt und wurde im September ’95 bei der krähend zwanghaft jugendlichen Welle vollends „vom Hof gejagt“, als er es wagte, zwischendurch eine längere Strecke mit Musik von Chopin zu bespielen. Seither ist er nur noch sporadisch bei deutschen Stationen (z. B. Bayern 2) aufgetaucht. Wir machen das Fass jetzt nicht ganz auf, aber: Von ähnlich gravierenden Vorgängen bei öffentlich-rechtlichen Kanälen hört man in letzter Zeit vermehrt. Bei dem oder jenem Kulturradio bleibt kaum ein solider Stein auf dem anderen. Eine Verfallserscheinung, gegen die sich weithin und weiterhin Protest erheben sollte.

Natürlich muss auch noch der von Peter Rüchel ersonnene Rockpalast im WDR-Fernsehen erwähnt werden, der in den 80ern mit Bangs-Moderationen zeitweise enorme Popularität erlangte. Wer damals am Bildschirm oder sogar live dabei war, wenn es in der Essener Grugahalle zur Sache ging, wird vernehmlich mit der Zunge schnalzen. Ich sage nur: Patti Smith. Van Morrison. Rory Gallagher. Hach!

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Ein bisschen Namedropping muss sein

Wenn ich so ins Verzeichnis meiner besagten und betagten Kassetten schaue, werde ich zum Namedropping animiert. Natürlich kennt man die Leute und Gruppen heute längst. Aber in der ersten Hälfte der 80er Jahre verhielt sich das noch anders. Da war Alan Bangs, der natürlich auch häufig Allzeit-Größen wie Neil Young, Bob Dylan oder die Rolling Stones spielte, zumindest hierzulande ein Pionier.

Nur ein paar Beispiele. Here we go:

Laurie Anderson, Band of Outsiders, Billy Bragg, Alex Chilton, Church, Dream Syndicate, Echo an the Bunnymen, Gang of Four, Gist, Go-Betweens, Rupert Hine, Robyn Hitchcock, Jesus & Mary Chain, Joy Division, Ed Kuepper, Natalie Merchant, OP8, New Order, Ramones, Rose of Avalanche, Michelle Shocked, Sisters of Mercy, Stranglers, Guthrie Thomas, Richard & Linda Thompson, Suzanne Vega, Violent Femmes.

Natürlich mochte ich nicht jeden einzelnen Song. Manche Protagonisten fand ich arg gewöhnungsbedürftig, z. B. das Penguin Café Orchestra, Cabaret Voltaire und Pere Ubu. Aber – und darauf kommt es an – man muss sich erst einmal darauf einlassen. Nur auf diese Weise kann differenzierter Geschmack entstehen.

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P. S.: Auf der Seite nightflights.de (siehe auch Screenshot) geben die Betreiber Gelegenheit, Alan Bangs mit persönlichen Worten zu gratulieren. Bangs möchte demnach gerne bei einer deutschen Radiostation seine Tätigkeit fortsetzen. Möge es gelingen. Das schon genannte Bayern 2, wo etwa ein Roderich Fabian und Kolleg(inn)en gelegentlich in ähnlichem Geiste auflegen, wäre vielleicht als Anlaufpunkt vorstellbar.

Weitere Netzadresse:

blog.nightflights.de




Neues Album „Rough and Rowdy Ways“ – Bob Dylan auf dem Höhepunkt seines Schaffens

Gastautor Bernd Huber über das neue Album von Bob Dylan:

Bob Dylan legt uns mit „Rough and Rowdy Ways“ die Blaupause seiner künstlerischen Persönlichkeit vor. Er destilliert das, was man von ihm halten darf und bleibt sich selbst treu. Er hatte mit den Musen nie ein Problem, er brauchte sich nie um sie zu bemühen. Aber jetzt ruft er sie an, augenzwinkernd.

Aber so hatte er auch angefangen. Die Musik und die Worte, das war für ihn nie billiger Karneval, kein Tingeltangel, kein Clap your hands und I love you all, immer war das Kunst für ihn. Und weil es immer Kunst war, man in ihm aber einen Botschafter für andere Dinge sehen wollte, schnallte er sich irgendwann die Stratocaster um. Dylan machte aus dem Rock’n’Roll keinen Zirkus, er nahm ihm jeden marktschreierischen Ansatz.

Ich weiß noch, wie er mich als junger Mann erschreckte, so schön war er, und er wusste schon sehr gut, wer er war. So etwas hatte ich nie erlebt. Als er einem Journalisten, der ihm vorwarf, gar nicht richtig singen zu können, antwortete, er sänge schöner als Caruso, war da auch schon Poesie in dieser Antwort.

Melancholie, aber auch Aufbegehren

Von William Blake und Shakespeare bis Jimmy Reed, Dylan hat alles verinnerlicht. Chopin, Beethoven, alles ist in seiner Musik und in seinen Lyrics. „Rough And Rowdy Ways“ ist die Konsequenz seines Schaffens, indem er sich selbst auf die Spitze treibt. Den Preis, den er für das alles bezahlt, nennt er uns, wenn er davon singt, dass man sowohl weinend als auch lachend dichten muss. Und dann ist auch noch der Wunsch unsichtbar zu sein, wie der Wind.

Ich stehe Alterswerken von Rockmusikern skeptisch gegenüber, aber Dylan ist ja kein Rockmusiker im eigentlichen Sinne und wäre er einer, dann wäre er eben auch mit dieser Platte eine Ausnahme, denn er lässt sich nicht hinreißen, „nur“ mit der Altersmelancholie zu kokettieren. Dylan wäre nicht Dylan, wenn da nicht Aufbegehren, ein Anflug von Zynismus und Kraft wären. „How long can it go on?“ Und der nächste Satz: „I crossed the rubicon“. Ich habe mich der Welt geöffnet, singt er, jedoch auch: „Ich zeige Euch vieles von mir, aber nicht alles“.

Den vergessenen Blues neu belebt

Die Musik ist unter all’ diesen Worten ist so wunderbar direkt, druckvoll und verletzlich gleichzeitig. Hier singt ein Narr zu einem Dieb, aber der Dieb hat dem Narren den Text untergeschoben. Haben einmal die Weißen den Blues von den Farbigen geklaut, aus ihm dann Rock’n’Roll gemacht, so steht es Bob Dylan zu, diesen vergessenen Blues wieder aus der Taufe zu heben, ihn mit Country und all’ den großen Songs der amerikanischen Geschichte zu versöhnen. Wenn er singt, er sei kein falscher Prophet, sondern nur einer, der sagt, was er denkt und fühlt, dann bin froh, dass einer so denken und fühlen kann und diesem Denken und Fühlen eine einmalige Form verleihen kann.

Der junge Bob Dylan ist als Intellektueller gestartet. Wenn einer Zimmermann heißt, sich aber selbst zu Bob Dylan macht, dann weiß er schon, wo er hin möchte. Mit seiner neuen CD ist er, wie er singt, ziemlich zwischen Himmel und Erde angekommen. Höher hinauf kommt keiner mehr. Zumindest ist niemand in Sicht, dem das ansteht.

Es ist ein weiter Weg gewesen von ALL ALONG THE WATCHTOWER bis zu ROUGH AND ROWDY WAYS, aber jede Etappe mit Dylan war es wert, dass man sie mitgegangen ist. Sein neues Album ist jetzt schon ein Meilenstein in der Pop-und Rockgeschichte. Wir erleben den größten Songwriter aller Zeiten auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Es gibt nichts Vergleichbares.




Was macht Corona mit der Kultur?

Sorglos hat man eigentlich noch nie auf den inzwischen so globalisierten Globus blicken können. Jetzt sind mal wieder ein paar neue Sorgen hinzugekommen. (Foto: BB)

Und hier bekommt Ihr wieder ein Bonus-Paket der Revierpassagen, nämlich: Heute gibt’s k e i n e n laienhaften Aufsatz über Corona. Jedenfalls nicht über virologische Fragen oder Quarantäne. Wie denn auch?

Obwohl man da unendlich viel erwägen und bekakeln könnte, aus nichtfachlicher Sicht wohl überwiegend Nutzloses. Aber das geschieht schon andernorts zur Genüge und weit über Gebühr. Man schaue sich nur die Kommentare an, wenn etwa „Zeit“ oder „Süddeutsche“ mit Live-Schaltungen zu allfälligen Pressekonferenzen des Bundesgesundheitsministers und des Robert-Koch-Instituts aufwarten. All die vielen selbsternannten Fachleute im Publikum, die Besserwisser, Hassverspritzer und Paniker aus den Untiefen des Netzes. Und das bei Angeboten dieser seriösen Medien… Das seriöseste aller hiesigen Medien, „Der Postillon“, hat diesen Trend natürlich auch erkannt: „Zahl der Corona-Experten in Deutschland sprunghaft angestiegen“. Wohl irgendwie wahr.

So. Und jetzt, da Ihr Euch vielleicht in Sicherheit wiegt, kommen hier halt doch noch ein paar CoV-19-Absätze. Wir sind schon mittendrin. Aber halb so schlimm. Wir hamstern keine Zeilen. Wir desinfizieren auch nicht eigens die Tastatur. Tippen mit sorgsam gewaschenen Händen (20 Sekunden plus!) ist freilich die leichteste Übung.

Konzerthusten mit neuer Virulenz

Vielleicht erwischt es ja nach dem Sport mit seinen zuschauerlosen „Geisterspielen“ (so auch das Revierderby BVB – Schalke am kommenden Samstag) sehr bald auch Teile des Kulturbetriebs. Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmenden, deren Absage nicht nur von Gesundheitsminister Spahn dringlich angeraten wird und in Frankreich bereits verfügt worden ist, haben wir schließlich auch in Philharmonien, Konzerthäusern und Opernhäusern, erst recht bei manchen Rock-Auftritten etc. Da sitzt oder steht man beim kulturellen Geschehen ziemlich dicht an dicht. Der Konzerthusten ist ja eh ein sprichwörtliches, heftiges und häufiges Phänomen im Bereich der E-Musik. Auch er hat allerdings schon einen bedrohlichen Bedeutungswandel hinter sich. Mit Hustinetten als Gegenmittel ist es nicht mehr getan.

…oder gar daheim zum Buch greifen

Von Veranstaltungen wie dem Literaturfestival Lit.Cologne, der Pariser oder der Leipziger Buchmesse (alle abgesagt) – letztere mit sonst Abertausenden von lesewilligen Hallenflaneuren – mal ganz abgesehen. Und noch mehr zu schweigen von den italienischen Zuständen, wo im ganzen Land Museen, Kinos und Theater geschlossen bleiben. Schon warnen besorgte Publizisten vor nachhaltigen Schäden an der „italienischen Lebensart“.

Just, als ich das schreibe, erreicht mich die Nachricht von der Absage der Museumsnacht im LWL-Museum für Archäologie in Herne am 27. März. Dort wird übrigens – ausgerechnet – noch bis zum 10. Mai die derzeit besonders aufschlussreiche natur- und kulturhistorische Ausstellung über die Pest gezeigt. Apropos: Wie man liest, erlebt zur Zeit auch Albert Camus‘ moderner Klassiker „Die Pest“ einen Auflagenschub sondergleichen.

Schon wird uns auf Feuilleton-Seiten wärmstens anempfohlen, öfter mal daheim zu bleiben und zwecks Kulturgenuss diverse Streamingdienste für Kino und Musik anzuwerfen. Oder gar: zum Buch zu greifen! Man denke nur…

„Inflation öffentlicher Zusammenrottungen“

Es sind keine günstigen Zeiten für kulturgeneigte Adabeis. Wenn ich nicht irre, war es die Neue Zürcher Zeitung, die vor ein paar Tagen geradezu erbittert gegen das ewig amüsierwütige Ausgehen zu Felde zog, und zwar mit einer solchen Formulierung: „Die hedonistische Eventkultur mit ihrer Inflation öffentlicher Zusammenrottungen zu unwesentlichen Zwecken“, hieß es da, solle endlich wieder durch „Vergnügungen in bescheidenerem, privaten Rahmen“ ersetzt oder wenigstens ergänzt werden. Sie raten freilich nicht direkt zum Brettspieleabend, sondern erst einmal zu Netflix-Filmen und Gruppen-Chats. Man will die Leute da abholen, wo sie sind. Mit möglichen Folgen einer zunehmend digitalisierten Kultur hat sich unterdessen auch die Süddeutsche Zeitung befasst. Wir sehen betroffen: Da ist einiges im Schwange.

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P. S.: Hat eigentlich schon mal wieder jemand nachgeschaut, was in den einst so umkämpften Notstandsgesetzen steht, die vor über 50 Jahren schon manchen „Achtundsechziger“ auf die Barrikaden getrieben haben? Kann uns da jetzt was blühen?

Nachtrag: Erstaunlich, dass laut Homepage heute (10. März) im Dortmunder Konzerthaus die Veranstaltung „Sinatra & Friends“ (Trio aus England) stattfinden soll. Sind da wirklich weniger als 1000 Plätze besetzt? Man wird ja mal fragen dürfen. Laut Landesgesundheitsminister Laumann gilt die 1000er-Grenze ohne Wenn und Aber. Bei Überschreitung müsste seit heute abgesagt werden.

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Absagen und Sonstiges

Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) stellt den gesamten Spielbetrieb „bis auf weiteres“ ein.

Das Frauenfilmfest Dortmund/Köln (Programmschwerpunkt diesmal in Köln) soll nach jetzigem Stand vom 24. bis 29. März stattfinden. Pro Filmvorstellung soll die Zahl der Zuschauerinnen auf 100 begrenzt werden. Es werden Anwesenheitslisten geführt und auch sonst diverse Sicherheitsmaßnahmen ergriffen.

 




Frank Goosen huldigt den Beatles – ein amüsanter Abend im Dortmunder „Fletch Bizzel“

Das Gesamtwerk der Beatles sollte man schon in wesentlichen Zügen kennen, sonst würde man ihm nicht so recht folgen können: Frank Goosen, mit trockenem Ruhrgebiets-Humor gesegneter Rock-, Fußball- und Revier-Fachmann, ist mit seinem neuen Buch „The Beatles“ angerückt. Im Dortmunder Szene-Theater „Fletch Bizzel“ plaudert er freiweg über seine innigen biographischen Verbindungen zu den „Fab Four“. Im Publikum ist die Generation 60 plus bestens repräsentiert.

Der freundliche Herr Goosen beim Buchsignieren nach seinem Dortmunder Auftritt. (Foto: Bernd Berke)

Im Gegensatz zu Leuten, die in den 1950er Jahren geboren wurden und deren Adoleszenz zeitlich direkt mit dem Aufstieg der Beatles verknüpft war, ist Goosen (Jahrgang 1966) ein „Nachgeborener“, wie er sich selbst bezeichnet. Als ihm Musik überhaupt zu Bewusstsein kam, lag das Oeuvre der Beatles schon fertig vor – abgesehen von dieser oder jener Soloplatte, zumal von Sir Paul McCartney.

Dass nun aber dieser „Nachgeborene“ so überaus viel über die Beatles weiß, das hat mich – als etwas älteren Fan der Liverpooler – beinahe schon gewurmt. Nun gut, ich fasse mich: Es hat mir vor allem Bewunderung abgenötigt, wie sehr sich der Mann in die Materie eingelebt (eingehört, eingelesen) hat. Und wie sinnreich er das mit seiner Jugend verwoben hat, das ist aus Erfahrung gekonnt (und nicht wohlfeil gewollt): Es waren jene Zeiten, als man angehimmelten Mädchen in heißer Hoffnung selbst zusammengestellte Audio-Cassetten zusteckte. In diesem Fall hieß sie Regina. Aber es war zwecklos. Da musste dann halt eine gewisse Michelle herhalten. Moment mal. Michelle? Nein, mehr wird hier nicht verraten. Nur, dass Frank Goosens Opa einmal ziemlich irritiert war, als John Lennons Gefährtin Yoko Ono auf einer Scheibe aufstöhnte, als hätte sie vor dem Mikro einen echten Orgasmus gehabt.

Das konnte doch kein Zufall sein!

Dass sein Vortrag gewohnt unterhaltsam ist, hat man von Goosen nicht anders erwartet. Zwar legt er zwischendurch keine einschlägigen Platten auf (Hallo, GEMA, nix zu holen!), aber am Schluss darf ihm das Publikum Fragen stellen, die er nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet.

Der ebenso bodenständige wie weltoffene Bochumer hat gleich eingangs berichtet, dass die Beatles gerade mal 25 Tage nach seiner Geburt in der Essener Grugahalle gespielt haben. So nah sind sie sich dann nie wieder gekommen – rein räumlich besehen… Und bald darauf sind die Beatles gar nicht mehr mehr live aufgetreten. Sonnenklar: Das konnte doch kein Zufall sein! Sondern? Es war wohl ein Zeichen. Fast so magisch wie die Bedeutung der Zahl 9 im Leben John Lennons (und sei’s in der Quersumme).

Seit den späten 70er Jahren hat sich der pubertierende Frank Goosen denkbar intensiv mit John, Paul, George und Ringo befasst. Los ging’s mit den beiden roten und blauen Doppelalben für den ersten Überblick, dann folgte nach und nach alles Weitere. Mit den Beatles, so dozierte Frank G. schon damals auf dem Schulhof, sei recht eigentlich Farbe in die vordem schwarzweiße oder auch graue Welt gekommen – bis hin ins seinerzeit auch nicht gerade bunte Ruhrgebiet. Goosens mehr oder weniger exklusive Entdeckung: Die zunächst allmähliche, dann explosive Farbwerdung habe sich ja schon an ihren Albumhüllen und an so manchen Songtexten gezeigt. Der selbsternannte Beatles-Experte Michael („Name geändert“), der damals blasiert widersprechen wollte, habe übrigens keinen blassen Schimmer gehabt. Damit das mal klar ist.

Den Vatikan reißt man ja auch nicht ab

Überhaupt waren die Beatles für ihn eine bis heute nachwirkende Offenbarung. Unverzeihlich findet es Goosen, dass der berühmte Cavern Club in Liverpool abgerissen und durch einen weit weniger auratischen Nachbau ersetzt worden ist. Nachvollziehbare Analogie: „Den Vatikan reißt man doch auch nicht ab!“

Dennoch war es ein Lebens-Höhepunkt, als Goosen vor einiger Zeit mit Frau und Kindern endlich einmal Liverpool aufsuchte und auf den Spuren der frühen Beatles unterwegs war – mit dem geradezu besessenen Guide namens Steve, der an Beatles-Detailwissen alle anderen in den Schatten stellte. Welch‘ ein Gänsehaut-Erlebnis, tatsächlich einmal durch die Penny Lane zu schreiten oder die wahrhaftigen Strawberry Fields (bzw. deren Nachfolge-Areal) zu sehen! Allerdings merkt Goosen auch an, welch massentouristische Untiefen dort zu gewärtigen sind. Da wird man an manchen Punkten von allen Seiten dermaßen mit Beatles-Titeln beschallt, dass es kaum auszuhalten ist. Noch weitaus unerträglicher: die idiotische Anmaßung mancher Touristen, sich in New York vor dem Dakota Building (dort wurde am 8. Dezember 1980 John Lennon ermordet) mit dem heutigen Doorman fotografieren zu lassen…

Noch eine Erkenntnis der Marke Goosen gefällig? Nun, wenn man bestimmte Beatles-Titel auf ordentlichen Vinyl-LPs gehört und dabei ungeahnte Instrumente entdeckt habe, so könne man seine CD-Sammlung eigentlich wegwerfen.

Weitere NRW-Tourneedaten mit dem Programm „Acht Tage die Woche – die Beatles und ich“: 3.3. Menden, 4.3. Bottrop, 17.3. Oberhausen, 18.3. Essen, 23.3. Duisburg, 31.3. Waltrop, 1.4. Haltern, 2.4. Gladbeck, 21.4. Herne, 25.4. Hagen. Gesamtprogramm: www.frankgoosen.de

Frank Goosen: „THE BEATLES“. KiWi Musikbibliothek (Kiepenheuer & Witsch). 182 Seiten. 12 €.




„Mir brennen die Schläfen“: Sound und Lebensgefühl der 70er und 80er Jahre – von Zappa bis zur ZDF-Hitparade

Alle, die sich mal einen Trip in die 70er und 80er Jahre gönnen möchten, nimmt Ulli Engelbrecht mit auf eine Tour durch Zeiten, als angesagte Bands und Musiker beispielsweise noch Golden Earring oder Frank Zappa hießen.

Schon der Titel des Buches spricht Bände: „Mir brennen die Schläfen“. Dieses Gefühl kommt bei dem in Bochum geborenen Autor aber wohl vor allem auf, wenn er mit Kumpel Benny in der eigenen, ansehnlichen Sammlung von Langspielplatten stöbert. Bei rund 2000 Stück mangelt es wohl kaum an Auswahl.

Dass mit Engelbrecht ein profunder Kenner der Rock- und Popszene am Werk ist, zeigen die vielen Geschichten, die ihm bei Songs und Interpreten in den Sinn kommen; seien es nun Pete Townshend von „The Who“ oder Alice Cooper, Titel wie „Born to be wild“ und „Bicycle Race“: Der Autor erzählt locker-flockig und süffisant aus seinen wilden Jahren und darüber, welche Musik bei der damals jungen Generation (er selbst ist Jahrgang 1957) Konjunktur hatte. Auf unzählige Namen kommt er zu sprechen. Die Geschmäcker waren unterschiedlich. Bisweilen blickt Engelbrecht auf musikalische Seitenwege. Wem beispielsweise Krautrock kein Begriff mehr ist, der erhält mit dem Buch eine kleine Gedankenstütze.

Auch Gitte und Vicky gehörten irgendwie dazu

Da dem Autor daran gelegen ist, möglichst umfassend das Lebensgefühl jener Jahre zu schildern, geht er auch auf Liedermacher wie Franz-Josef Degenhardt und Dieter Süverkrüp ein, die vor allem Fans unter jungen Leuten hatten. Das dürfte sich vom deutschen Schlager eher nicht behaupten lassen, auf den Engelbrecht in amüsanter Weise zu sprechen kommt. Gitte, Vicky Leandros und Udo Jürgens sind da nur drei aus einer Schar an Interpreten, die zu der Zeit unbedingt dazugehörten. Zudem geht es um Jahre, in der eine ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck ein echter Straßenfeger war.

Apropos TV: Mit einem Klassiker des damaligen Programms steigt der gebürtige Bochumer in die erste Episode seines Buches ein und gibt genüsslich wieder, wie ein Dialog aus der Serie „Der Kommissar“ ablief. Ein derart monotones Format könnte man wohl heute den Zuschauern nicht mehr zumuten, resümiert er. Der Beliebtheit hat’s keinen Abbruch getan. Denkt Engelbrecht an die Zeit zurück, dann ist bei ihm nach wie vor Begeisterung für Filme wie Flipper und „Percy Stuart“ groß. Ansonsten zieht er das Fernsehangebot jener Tage auf charmante Art durch den Kakao.

Als mitgebrachte LPs in der Bochumer Kneipe liefen

Da wendet sich der „multifunktionale Öffentlichkeitsarbeiter“ (Engelbrecht über Engelbrecht) doch lieber seinen LPs zu. Sortiert habe er sie alle, mit Ordnungssinn sei er nun mal aufgewachsen. Wenn er früher die eigenen Platten nicht in seinem Zimmer hören wollte, nahm er sie mit in eine Kneipe in der Nähe. Das Bochumer Lokal bot seinen Gästen an, mitgebrachte LPs abzuspielen. Es machte, wie der Autor schildert, wahrlich einen Unterschied, ob der Sound aus gleich mehreren Boxen zu hören oder man auf den Schallplattenspieler daheim angewiesen war. So entstand ein gefragter Treffpunkt für Jugendliche, der sich von anderen Kneipen ums Eck deutlich abhob.

Das Lokal habe sich zu einem idealen Ort entwickelt, um junge Männer und Frauen zusammenzubringen, erzählt der Autor. Er erinnert zugleich daran, dass unter Frauen ein anderes Rollenverständnis aufkam, Stichwort lila Latzhose, mit Folgen für den Plattenteller. Auf einmal waren Sänger wie Klaus Hoffmann und Konstantin Wecker gefragt. Denn sie galten als Frauenversteher.

Zum Schluss stellt der Autor insgesamt 99 Platten vor und unterzieht sie einem kurzen und knackigen Musikcheck. Top oder Flop ist hier die Frage. In seinem Fundus ist Engelbrecht dabei auch auf Scheiben gestoßen, die eine echte Rarität sein dürften. Beispielsweise sind die Norddeutschen Witthüser & Westrupp oder der Este Peeter Vähi wohl eher nicht in ein kollektives Musikgedächtnis eingegangen.

Ulli Engelbrecht: „Mir brennen die Schläfen. Rockstorys & Popgeschichten“. BoD (Books on Demand), 180 Seiten, 9,80 Euro.




„Opus Klassik“: Zwei Preise gehen nach Düsseldorf

Im Vordergrund: die Trophäe des Opus Klassik. Foto: Monique Wüstenhagen

Im Vordergrund: die Trophäe des Opus Klassik. Foto: Monique Wüstenhagen

Unser Gastautor Robert Unger (Geschäftsführender Vorstand des Internationalen Kurt Masur Instituts Leipzig) über die Verleihung des Musikpreises „Opus Klassik“:

Gleich zwei Preise des zum zweiten Mal vergebenen Opus Klassik gehen nach Nordrhein-Westfalen, genauer: in die Landeshauptstadt Düsseldorf.

Das musische sozial-integrative Projekt SingPause in Düsseldorf erhält den Preis in der Kategorie „Nachwuchsförderung“. In der Kategorie „Sinfonische Einspielung des Jahres für Musik des 19. Jahrhunderts“ zeichnete die Jury die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Ádám Fischer für ihre Interpretation der Dritten Sinfonie Gustav Mahlers aus.

Der Opus Klassik ist der Nachfolger des Echo Klassik: Diesen Preis hatte der Vorstand des Bundesverbands Musikindustrie (BMVI) 2018 eingestellt, nachdem es für die Verleihung des Echo Pop an die Rapper Kollegah und Farid Bang anhaltende Kritik gegeben hatte. Nicht wenige Kritiker hatten die Texte auf dem prämierten Album „JBG3“ als gewaltverherrlichend, sexistisch und antisemitisch eingestuft.  Der Preis solle nicht als „Plattform für Antisemitismus, Frauenverachtung, Homophobie oder Gewaltverharmlosung wahrgenommen“ werden, begründete der BVMI seinen Schritt. Das Album landete später auch auf dem Jugendschutz-Index.

Ausrichter des Opus Klassik Preises ist der Verein zur Förderung der Klassischen Musik e. V., in dem Labels, Veranstalter, Verlage und Persönlichkeiten aus der Klassik-Welt vertreten sind. Dieser zeichnet außerordentliche Künstler und Leistungen aus dem Genre Klassik aus. Eine unabhängige Jury wählt nach Nominierungen in verschiedenen Kategorien die Preisträger aus. Der Opus Klassik soll dabei „ein Preis von der Klassik für die Klassik sein“, so der Vorsitzende des Vereins zur Förderung der klassischen Musik Dr. Clemens Trautmann, Präsident der Deutschen Grammophon. Die Preisverleihung findet am 13. Oktober im Konzerthaus Berlin statt und wird dann vom Partner ZDF um 22.15 Uhr ausgestrahlt.

Die SingPause als sozial-integratives Bildungsangebot hat das Ziel, ganzen Jahrgängen von Grundschulkindern die Musik zurückzubringen. Sie startete erstmals 2006 und ist heute die größte Singbewegung für Kinder in Europa. Zwei Mal in der Woche besucht in 69 Grundschulen ein in der amerikanischen WARD-Methode ausgebildeter Sänger eine Grundschulklasse und macht mit den Schülern eine SingPause. Durch den gemeinsamen Gesang lernen die Kinder, dass die Stimme ein wunderbares Instrument ist, während sie durch den Gesang selbstbewusst und stark werden sollen. Die Düsseldorfer SingPause ist ein Projekt des vor mehr als 200 Jahren gegründeten Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf.

Ausgezeichnete Aufnahme: Mahlers Dritte Sinfonie mit den Düsseldorfer Symphonikern und dirigiert von Ádám Fischer. Cover: Avi music

Ausgezeichnete Aufnahme: Mahlers Dritte Sinfonie mit den Düsseldorfer Symphonikern und dirigiert von Ádám Fischer. Cover: Avi music

Seit 2015 führen Ádám Fischer und die Düsseldorfer Symphoniker in einem Zyklus alle Sinfonien Gustav Mahlers gemeinsam mit Sinfonien von Joseph Haydn auf. Die Aufnahme von Gustav Mahlers Dritter Sinfonie vom November 2017 aus der Tonhalle wurde nun mit dem Opus Klassik ausgezeichnet. Der Mitschnitt unter Mitwirkung der Altistin Anna Larsson, dem Clara-Schumann-Jugendchor und den Damen des Städtischen Musikvereins entstand in Kooperation mit dem Deutschlandradio und ist erschienen beim Label Avi Music.

Die Aufnahme setzte sich in der Kategorie „Sinfonische Einspielung / Musik des 19. Jahrhunderts“ gegen 16 weitere Nominierte durch. Dies ist bereits die zweite renommierte Auszeichnung für einen Mitschnitt des Mahler-Zyklus: Die 2018 erschienene Sinfonie Nr.1 unter Ádám Fischer erhielt im Januar den BBC Music Magazine Award. Der Zyklus wird am 28. Februar sowie 1. und 2. März mit Mahlers Sechster in der Düsseldorfer Tonhalle vollendet; zum Abschluss dirigiert Ádám Fischer am 15., 17. und 18. Mai 2020 Joseph Haydns „Die Jahreszeiten“.

Die Preise sind ein Achtungszeichen für die Kulturvielfalt in der Rhein-Ruhr-Region, die sich sonst im nationalen Feuilleton neben Metropolen wie München, Berlin, Hamburg oder Frankfurt schwer tut, Aufmerksamkeit zu erzielen. Für die Kommunen, die unterstützenden Institutionen und die erfreulich ausgebaute Kulturförderung der Landesregierung mögen die Auszeichnungen ein Signal sein: Es lohnt sich, in Kultur zu investieren.




Bilanz mit Mut zur Lücke: Viel Eigenlob für „Pink Floyd“-Ausstellung – doch die Besucherzahl bleibt ein Geheimnis…

Das „Dortmunder U" am 14. September 2018, dem Eröffnungstag der „Pink Floyd"-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Das „Dortmunder U“ am 14. September 2018, dem Eröffnungstag der jetzt beendeten „Pink Floyd“-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Mit der „Pink Floyd“-Ausstellung (Untertitel „Their Mortal Remains“) wollte man im „Dortmunder U“ das ganz große Rad drehen. Am letzten Sonntag, 10. Februar, ist die mächtig beredete und beworbene Schau nach fünf Monaten zu Ende gegangen. Also war man gespannt, welche Besucherzahl am Schluss vermeldet werden würde. War die (sicherlich mindestens angepeilte) magische Marke von 100.000 erreicht oder übertroffen worden? Hatte man gar die insgeheim erträumten 130.000 bis 150.000 geschafft?

Und tatsächlich: Gleich montags wurde für heute zur bilanzierenden Nachbereitungs-Pressekonferenz eingeladen – mit dieser ausdrücklichen Zusicherung: „Wir möchten Ihnen die Besucherzahlen (…) gerne vorstellen…“ Prima. Als wenn ich etwas geahnt hätte: Den Termin habe ich nicht selbst wahrgenommen, sondern mich auf die städtische Pressemitteilung verlassen.

Und? Sag schon! Wie viele Besucher waren es denn nun? Keine Ahnung. Zwar hat die besagte Pressekonferenz heute stattgefunden, doch eine konkrete Besucherzahl wurde eben nicht verraten. Die Schau habe „Zehntausende Menschen“ angelockt. Das könnten 20.000 oder 60.000 sein. Beispielsweise. Wirklich seltsam, diese auffällige Zurückhaltung. Ist die Wahrheit etwa unangenehm? Ansonsten hieß es, es sei nach verhaltenem Beginn immer besser gelaufen. Gegen Schluss habe es lange Warteschlangen gegeben.

Aber wer braucht denn auch schnöde Besucherzahlen? Höchstens so ein paar neugierige Journalisten. Die Ausstellung und ihre Effekte konnten ja auch so über den grünen Klee gelobt werden. Stadtdirektor Jörg Stüdemann (in Personalunion Kulturdezernent und Stadtkämmerer) und Edwin Jacobs, Direktor des „Dortmunder U“, führten einige Punkte auf, die wohl nicht von der Hand zu weisen sind. Stichwortartig zusammengefasst:

  • Das „Dortmunder U“ sei landes- und bundesweit als Ausstellungsort ins Bewusstsein gerückt, und zwar sozusagen „mit einem Knall“ (Jacobs).
  • Erhoffte, vielleicht auch wahrscheinliche Folgewirkung: Man werde bei Verhandlungen im Vorfeld künftiger Ausstellungen in einer deutlich besseren Position sein.
  • Laut Besucherbefragung waren satte 97 Prozent mit der Schau zufrieden oder sehr zufrieden. Das wäre als Wahl- oder Abstimmungsergebnis schon beinahe unheimlich. Je etwa ein Drittel der Leute kam a) aus Dortmund/dem Ruhrgebiet, b) dem Rest des Landes NRW und c) aus anderen Bundesländern.
  • Organisation und Logistik hätten den Härtetest bestanden, es seien dabei viele neue Erkenntnisse gewonnen worden.

Alles gut und schön. Aber eine klitzekleine Frage hätten wir dann doch noch – auch, wenn es nervt: Wie viele Besucherinnen und Besucher hat die Ausstellung eigentlich gehabt?

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Nachtrag am 15. Februar 2019:

Selbstverständlich geht es nicht nur um die bloße Besucher(innen)zahl, sondern im Gefolge um handfeste Finanzfragen. Das ohnehin – Achtung, Modewort – „eingepreiste“ und dem Rat genannte städtische Finanzrisiko von 1 Million Euro dürfte spürbar überschritten werden. Das berichten u. a. dpa und die Ruhrnachrichten.

Vielleicht haben ja doch die recht hohen Eintrittspreise manche Leute vom Besuch der Ausstellung abgehalten? Der „krumme“ Normalpreis via Eventim betrug immerhin 29,76 Euro. Eine darauf abzielende Frage hatte „U“-Chef Edwin Jacobs bei der Eröffnungs-Pressekonferenz u. a. mit dem Hinweis auf die ungleich höheren Preise für Konzert-Eintrittskarten gekontert.

Ohne es den jetzigen Akteuren anlasten oder einen direkten Bezug herstellen zu wollen: Die Besucherzählung der Dortmunder Kulturbetriebe fürs „Dortmunder U“ war jedenfalls schon vor Jahren durch eine gewisse Eigenwilligkeit aufgefallen – dazu hier ein Bericht von 2016.




Heino wird 80 – Sind denn alle Geschmäcker nivelliert?

Auch nicht mehr der Jüngste: Heino. (© ZDF / petersohn, michael)

Auch nicht mehr der Jüngste: Heino. (© ZDF / petersohn, michael)

Kinder, wie die Zeit vergeht! Denkt euch nur: Morgen (13.12.) wird Heino schon 80. Obwohl: Etliche Leute haben bereits vor vier bis fünf Jahrzehnten gesagt, er sei ein Mann des Ewiggestrigen und wirke ziemlich alt.

Was sonst nur ganz wenigen – *räusper, räusper* – Kulturschaffenden widerfährt: Das ZDF hat ihn jetzt mit einer 45-Minuten-Sendung zur Prime Time gewürdigt. Darin wird der sonore Volkslied-Barde überwiegend im milden Licht der (Lebens)-Abendsonne betrachtet. Selbst die meisten Achtundsechziger, so erfahren wir, hätten irgendwann und irgendwie ihren Frieden mit Heino gemacht. Ein Rebell von damals ist sogar seit Jahren sein Produzent und hat ihn offenbar als Profi schätzen gelernt.

Hat sich also alles relativiert, sind alle Unterschiede nivelliert und alle einst so tiefen Gräben zugeschüttet worden? Je nun. Jörg Müllners Film mit dem schulterklopfenden Titel „Mensch Heino!“ spart auch kritische Fragen nicht gänzlich aus – und nicht alle haben sich mit der Zeit ohne weiteres erledigt; wenngleich Heino selbstzufrieden meint, der Erfolg gebe ihm in jedem Sinne Recht.

Eine von Heinos ersten Autogrammkarten aus den frühen 1960er Jahren. (© ZDF/Privatbesitz Heino)

Eine von Heinos ersten Autogrammkarten aus den frühen 1960er Jahren. (© ZDF/Privatbesitz Heino)

Trotz Apartheid in Südafrika aufgetreten

In die äußere rechte Ecke gehört er wohl wirklich nicht. Jedoch: Zumindest „blauäugig“, naiv und fahrlässig, hat Heino (bürgerlich Heinz Georg Kramm) gelegentlich Liedgut ausgegraben und neu zu beleben versucht, das schon in der Nazizeit zum forschen Absingen und Marschieren taugte. Auch ist er gegen alle Vernunft und wider allen Anstand in Südafrika aufgetreten, als dort noch die rassistische Apartheid herrschte.

Immer wieder zog es ihn nach Namibia (zu Kolonialzeiten „Deutsch-Südwest“), um dem dortigen Deutschtum dienstbar zu frönen und dabei stets das historisch anrüchige „Südwester-Lied“ anzustimmen. In und um Windhoek hat er seine vielleicht treueste Fangemeinde, allenfalls annähernd erreicht von Scharen ehemaliger DDR-Bürger, die ihn früher partout nicht hören sollten (worüber sogar die Stasi wachte). Filmemacher Jörg Müllner präsentiert auch ein schräges Archiv-Fundstück aus der Fernseh-Steinzeit: Karl-Eduard von Schnitzler (berüchtigt als „Sudel-Ede“) mit einem harschen Verdammungsurteil über Heino im „Schwarzen Kanal“, dem legendären DDR-Propagandamagazin.

Liaison mit einer bildhübschen Prinzessin

Schlagerkollege Roberto Blanco hingegen huldigt ihm auf fast schon ergreifend schlichte Weise. Heino habe Millionen glücklich gemacht. Neben Weggefährten und Managern kommt selbstverständlich auch Gattin Hannelore (seit 1979 seine dritte Ehefrau) zu Wort. Fotografien zeigen sie als bildhübsche, in ihrer ersten Ehe adelig angeheiratete Prinzessin von Auersperg. Die Boulevard-Presse überschlug sich damals ob dieser Promi-Liaison. Freilich drohte zugleich ein Imageschaden beim rückständigen Publikum. Hatte der treudeutsche Heino nicht auch ehelich felsenfest zu bleiben?

Überzeichnet wie eine Comicfigur

Ein Deutungsansatz des Films besagt, dass dieser Heino sich zu einer Art Comicfigur habe stilisieren lassen, alles an ihm sei auf gewisse Weise übersteigert – das Blonde, das Deutsche, das Heimattreue; auch die monströsen Sonnenbrillen, die er als Markenzeichen weiter trug, als seine Augenkrankheit längst geheilt war. Just dieses Übertriebene zog wie von selbst den Spott auf sich – bis hin zum berühmten Gruft- und Zombie-Auftritt eines erschröcklich vervielfältigten Heino in „Otto – der Film“.

Vaterlos aufgewachsen: Kindheitsbild aus der frühen Nachkriegszeit mit Mutter Franziska und Schwester Hannelore. (© ZDF/Privatbesitz Heino)

Vaterlos aufgewachsen: Kindheitsbild aus der frühen Nachkriegszeit mit Mutter Franziska und Schwester Hannelore. (© ZDF/Privatbesitz Heino)

Längst ist Heino souverän und selbstironisch genug, um beispielsweise Cover-Versionen alter Rocksongs zum Besten zu geben oder auch mit den Brachial-Typen von „Rammstein“ gemeinsam aufzutreten – und das vor 80.000 Hardrock- bzw. Metal-Fans beim Wacken Open Air. Natürlich steckt aber vor allem geschicktes Marketing hinter derlei forcierten Crossover-Bestrebungen. Heinos Karriere, die schon zu verblassen schien, lebte damit noch einmal kultverdächtig auf.

Ärmliche Kindheit in Düsseldorf

Der Film blendet auch weit zurück zu den Anfängen – in die recht ärmliche, vaterlose Düsseldorfer Kindheit, zur nicht so sehr geliebten Bäcker- und Konditorlehre, zu den ersten Auftritten mit dem Trio OK Singers. Um die schmale Kasse aufzubessern, mussten Heino und seine Mitstreiter anfangs auch schon mal im Hafen Säcke schleppen oder sich auf dem Schrottplatz verdingen.

Der Durchbruch kam 1965 in Quakenbrück. Dort traf Heino den Schlagersänger und Produzenten Ralf Bendix („Babysitter-Boogie“), der ihn allmählich zum unverkennbaren Markenzeichen formte. Heino machte demnach widerspruchslos alles, was Bendix wollte. Und tatsächlich: Alsbald hatte Heino sein frühes Vorbild Freddy Quinn nicht nur erreicht, sondern auch überflügelt, was die Verkaufszahlen anging. Spätere Bilanz: 50 Millionen abgesetzte Tonträger in Deutschland, dazu ein Bekanntheitsgrad von angeblich 98 Prozent.

Wenn er so sein Bankkonto betrachtet…

Der junge Heino wurde von Bendix gezielt als Kontrastprogramm zur Beat-Musik und zu den nachfolgenden Richtungen aufgebaut – mit der schwarzbraunen Haselnuss, dem blau, blau, blau blühenden Enzian und allem volltönenden Karamba Karacho. Ihr wisst schon: diese manchmal arg dröhnenden Klänge fürs tümliche oder tümelnde Volk.

Finanziell sollte er das alles nicht bereuen. Wenn er so sein Bankkonto betrachte, sinniert der in der Eifel lebende Heino nun rückblickend im Film, dann habe er wohl alles richtig gemacht. Doch das ist eine gewagte, wenigstens einseitige Schlussfolgerung. Denn es liegen, wie der Film gleichfalls verrät, auch einige Schatten auf seiner Familiengeschichte. Alles hat seinen Preis…

In der Mediathek ist der ZDF-Film „Mensch Heino! Der Sänger und die Deutschen“ noch für ein Jahr abzurufen – bis zum 10. Dezember 2019.

 

 

 

 




Bahn frei für das Akkordeon: Gespräch mit der Folkwang-Professorin Mie Miki, Trägerin des neuen Opus Klassik Preises

Mie Miki. Foto: Marco Borggreve

Konzertprogramme für Essen und Duisburg zusammengestellt: Mie Miki. (Foto: Marco Borggreve)

Das Akkordeon rückt in den Mittelpunkt: Vom 30. November bis 4. Dezember finden am Folkwang Campus Essen-Werden sowie am Folkwang Campus Duisburg fünf Konzerte, ein Meisterkurs, Workshop, Vortrag und der Folkwang Akkordeon Wettbewerb für Studierende der Folkwang Akkordeonklassen statt.

Das Programm zusammengestellt hat Mie Miki, Professorin für Akkordeon und Prorektorin für künstlerische Exzellenz an der Folkwang Universität der Künste. Miki wurde im Oktober mit dem neuen Opus Klassik Preis ausgezeichnet, der nach dem Scheitern des Echo-Klassik als unbelasteter Nachfolgepreis gegründet wurde. Ausrichter des Preises ist der neu gegründete Verein zur Förderung der Klassischen Musik e.V., in dem Labels, Veranstalter, Verlage und Personen aus der Klassik-Welt vertreten sind. Mie Miki erhielt den Preis als „Instrumentalistin des Jahres“ für ihr Album „Das wohltemperierte Akkordeon“. Unser Gastautor Robert Unger sprach mit der in Japan geborenen Akkordeonistin.

Frage: Frau Miki, wann haben Sie mit dem Spielen des Akkordeons begonnen?

Mie Miki: Ich bekam zum zweiten Geburtstag ein Toy-Piano von meinen Eltern geschenkt. Ich war anscheinend so begeistert, dass ich immer wieder versuchte, auf diesem Piano Kinderlieder zu spielen. Daher plante meine Mutter, mir ein Klavier oder eine Geige zu geben. Doch mein Vater wollte auf keinen Fall ein Instrument wählen, das man später studieren und mit dem man professionelle Musikerin werden kann. Der Grund: Seine Schwester wollte Konzertpianistin werden, und eine solche harte Jugend wollte er mir ersparen. So bekam ich mit vier Jahren das Akkordeon und Unterricht bei Herrn Ban in Tokyo.

Sie wurden mit dem Opus Klassik in der Kategorie „Instrumentalistin des Jahres (Akkordeon)“ ausgezeichnet. Welchen Stellenwert hat dieser Preis für Sie?

Mie Miki: Natürlich einen hohen! Ganz besonders, weil es sich um eine Einspielung von Johann Sebastian Bachs „Das Wohltemperierte Klavier“ handelt.

Das Besondere an Bach

Bachs Werk scheint für Sie eine besondere Rolle einzunehmen. Wie kam es zu dieser Vorliebe?

Mie Miki: Nach fünf Jahren intensiver Vorbereitung bin ich endlich an einem Punkt angelangt, wo ich mich entscheiden konnte, diese Auswahl aus dem „Wohltemperierten Klavier“ auf dem Akkordeon aufzunehmen. Doch eigentlich begann mein Lernweg zu diesem Werk bereits vor 40 Jahren in meinem Klavierstudium bei Bernhard Ebert in Hannover. Für kein anderes Stück meines Repertoires habe ich jemals so viel Zeit gebraucht, bis ich es vortragen konnte, obwohl ich die „technischen“ Schwierigkeiten in Bezug auf den Notentext nicht auf der höchsten Ebene einstufe. Denn diese Musik ist mit ihren Präludien und Fugen sehr klar und übersichtlich in der Architektur, und die 24 Tonarten bilden eine harmonische Vollständigkeit.

Dann, an einem Sommertag in Tokyo, hatte ich plötzlich das Gefühl, alles zu verstehen und alles zu können! Ich weiß nicht, woher dieses Gefühl so plötzlich, aber mit großer Zuversicht zu mir kam, doch von diesem Zeitpunkt an begann ich, mit Freude, Respekt und Leidenschaft zu üben. Meine Erkenntnis dazu ist: Diese Stücke sind in ihrer Schönheit, ihrem Zauber, in Überraschung und Abenteuer so differenziert dicht und vieldimensional komponiert, dass der Interpret immer wieder etwas Neues entdecken kann. Somit funktioniert ein Übe-Plan leider wenig und ich ergab mich für meine Arbeit der Zeitlosigkeit. Deshalb hat es so lang gedauert.

International erfolgreiche Akkordeon-Klasse

Sie haben den originalen Fingersatz des „Wohltemperierten Klaviers“ für Ihre Aufnahme genommen.

Mie Miki: Das moderne klassische Akkordeon hat in beiden Händen Einzeltöne, und der Tonumfang ist fast so groß wie beim Klavier, daher kann man Literatur für Tasteninstrumente genau in ihren Originaltexten wiedergeben. Es hat lange gedauert, bis der Notentext mein Instrument erreichte, und mein Instrument die Musik erreichte. Es wird nicht bearbeitet, denn nur so kann man vergleichen, wie unterschiedlich die Klangergebnisse sind, ob beim Cembalo, Klavier oder Akkordeon.

Beim Label BIS erschienen: Mie Mikis Akkordeon-Aufnahme von Bachs "Das wohltemperierte Klavier". Cover: BIS Records

Beim Label BIS erschienen: Mie Mikis Akkordeon-Aufnahme von Bachs „Das wohltemperierte Klavier“. (Cover: BIS Records)

Was bedeutet es für Sie, an der Folkwang Universität das Akkordeon-Spiel zu unterrichten?

Mie Miki: Ich habe im Jahr 1981 die Akkordeonklasse gegründet. Damals waren einige Studenten sogar älter als ich, aber mit großer Hoffnung und viel Leidenschaft habe ich versucht, auch durch das Unterrichten dieses in der Klassik jüngste Instrument noch mehr zu erforschen. Inzwischen habe ich eine international sehr erfolgreiche Klasse mit vielen Preisträgern. Viele von mir ausgebildete Studenten sind weltweit Professoren und Dozenten geworden.

Seit 2013 sind Sie auch Prorektorin für künstlerische Exzellenz. Was zeichnet für Sie die Folkwang Universität aus? Welche Wünsche und Ziele haben Sie für die Entwicklung der Universität?

Weltweit eine der interessantesten Kunsthochschulen

Mie Miki: Die Umgebung prägt entscheidend die Entwicklung eines jeden Künstlers. Wer Musik studiert, hat oft nicht genügende Möglichkeiten, die mannigfaltigen Aspekte der Kunst „außerhalb der Musik“ mitzuerleben. Ob Theater oder Tanz, Physical Theatre oder Musical, Fotografie oder Design, hier an der Folkwang Universität der Künste mit den Standorten Essen-Werden, Essen Nord Zollverein, Duisburg, Bochum und Dortmund kann sich jeder Musiker in einem wunderbar kreativen Arbeitsklima entwickeln und eigene Zukunftsvisionen gewinnen. Für mich als Musikerin bedeutet es sehr viel, in welcher Umgebung ich lebe und junge Musiker ausbilde. Die Folkwang Universität ist für mich eine der schönsten und interessantesten Kunsthochschulen der Welt.

Haben Sie im Ruhrgebiet eine Heimat gefunden?

Mie Miki: Als Musiker kennt man, glaube ich zumindest, mehrere Aspekte von „Heimat“. Meine erste Heimat ist Tokyo, wo ich geboren bin, aber das Ruhrgebiet gehört auf jeden Fall auch zu meiner Heimat.

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Die Aufnahme „Das wohltemperierte Akkordeon“ von Mie Miki ist bei BIS Records mit der Nummer BIS-2217 erschienen.

Das Programm der Akkordeonwoche findet sich hier: https://www.folkwang-uni.de/en/home/hochschule/news/vollanzeige/news-detail/folkwang-akkordeonwoche-mit-hochkaraetigen-gaesten-1/




Wo die legendären Alben lebendig werden: Dortmund lockt mit „The Pink Floyd Exhibition“

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd"-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer bricht durch die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall" nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd“-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer durchbricht die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall“ von 1981 nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Ein berühmter Song von Pink Floyd trifft hier und jetzt besonders zu: „Wish You Were Here“, eh schon eine der eingängigsten Schöpfungen der 1965 gegründeten britischen Kultband. Ja, man wünscht sie sich zurück, am liebsten gleich und genau hierher: die alten Zeiten, die eigene Jugend, all die verheißungsvollen Aufbrüche der damaligen Pop- und Rockmusik.

Tatsächlich wird einem jetzt in Dortmund dabei aufgeholfen: „The Pink Floyd Exhibition“ mit dem britisch-sarkastischen Untertitel „Their Mortal Remains“ (Ihre sterblichen Überreste) erweist sich als durchaus anregendes Unterfangen, das so manche Phase und manchen Moment der über 50-jährigen Band-Historie überraschend lebendig werden lässt. Auch jüngeren Besuchern dürfte sich bei der Zeitreise hoch droben auf der sechsten Ebene des „Dortmunder U“ der eine oder andere Zugang zum Werk der Supergruppe eröffnen.

Dritte Station nach London und Rom

Die Abfolge der Ausstellungsstationen klingt geradezu märchenhaft: erst London (Victoria and Albert Museum), dann Rom, jetzt Dortmund. Schon einmal hat Dortmund ziemlich zentral im „Pink Floyd“-Universum gelegen: 1981 gab es in der Westfalenhalle gleich sieben Aufführungen der gigantischen Show „The Wall“. Ansonsten stemmten damals nur Los Angeles, New York und London die ungemein aufwendige Konzertserie.

Schier endlos gespiegelt: das ohnehin schon vielschichtige Cover des „Pink Floyd"-Albums „Ummagumma". (Foto: Bernd Berke)

Schier endlos und überlebensgroß gespiegelt: das irritierende Cover des „Pink Floyd“-Albums „Ummagumma“. (Foto: Bernd Berke)

Auch an diesen Mythos, an den sich etwas ältere Dortmunder noch heute mit leuchtenden Augen erinnern, konnte „U“-Direktor Edwin Jacobs anknüpfen, als er Aubrey Powell (Gestalter vieler legendärer „Pink Floyd“-Plattencover) von einem lohnenden Gastspiel der Schau in Dortmund überzeugte. Powell fungiert denn auch auch Ko-Kurator der Ausstellung. Und wer, wenn nicht er, könnte den Geist der Cover (und somit auch der Musik) gleichsam wieder einfangen und staunenswert neu aufleben lassen?

Auf einmal erhebt sich die Mauer

Hier und da steht man beim Rundgang ganz plötzlich inmitten altbekannter Szenarien; da wird etwa das ohnehin schon rätselhaft vielschichtige Cover von „Ummagumma“ beiderseits endlos gespiegelt. Am spektakulärsten ist jedoch der Effekt, wenn sich auf einmal ein nachempfundenes Stück der Mauer aus den „Wall“-Konzerten vor einem erhebt – mitsamt dem grässlichen Lehrer und dem erbärmlich leidenden Schüler.

Ganz klar: Da erinnern sich Kenner natürlich sogleich an die – zugegeben – auch etwas wohlfeile Zeile „We don’t need no education“ (Wir brauchen keine Erziehung) und den Schlachtruf „Hey! Teachers! Leave them kids alone“ (Ey, Lehrer, lasst die Kinder in Ruhe). Überhaupt ist die Verschränkung von Sound und Bildern in dieser Ausstellung streckenweise besonders stimmig gelungen. Eins hebt das andere hervor, hebt es auf eine neue Stufe.

Die Musiker als Ingenieure und Tüftler

Wer sich entsprechend Zeit nimmt, kann gut und gerne zwei bis drei Stunden durch diese Ausstellung streifen, die eine labyrinthische, abgedunkelt höhlenartige Anmutung hat – fast wie so ein Underground-Club seligen oder auch erschröcklichen Angedenkens.

Reichlich Exponate: Eine von vielen Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd"-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Reichlich Exponate: Eine von vielen gut gefüllten Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd“-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Ziemlich getreulich chronologisch, sozusagen Album für Album (siehe Anhang), kann man hier voranschreiten – von den psychedelischen Anfängen durch alle (über)ambitionierten Klangexperimente und bombastischen Aufgipfelungen von quasi wagnerianischen Gesamtkunstwerk-Ausmaßen, die freilich bei dieser Band mit den Jahren nicht immer mit überbordendem Erfindungsreichtum einher gingen. Dass und wie „Pink Floyd“ auch Anschluss an die Avantgarde der E-Musik suchte, hat längst nicht alle Kritiker gleichermaßen überzeugen können.

Nicht ohne fliegendes Schwein

Die Mannen von Pink Floyd, so zeigt sich hier abermals, waren nicht zuletzt kreative Ingenieure und ehrgeizige Soundtüftler, die stets das jeweils neueste elektronische Equipment bis an die Grenzen austesteten. Zahlreiche Gerätschaften sieht man hier, die heute liebenswert altmodisch und reichlich verwittert aussehen, die zu ihrer Zeit aber der letzte Schrei und State of the Art waren – vom heute vorsintflutlich wirkenden „Azimuth Co-ordinator“ bis zum frühen Synthesizer.

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U". (Foto: Bernd Berke)

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U“. (Foto: Bernd Berke)

Ansonsten sieht man einen vielfältigen medialen Mix aus Fotografien, Filmausschnitten, Plakaten, Bühnenskizzen, Briefen und weiteren Objekten. Hie und da sind es eher bloße Devotionalien, doch manch ein Stück gibt auch näheren Aufschluss. Und ja: Das fliegende Schwein hat selbstverständlich auch seine gebührenden Auftritte, und zwar erstmals schon ganz unten überm Foyer.

Der Gentleman Nick Mason gab sich die Ehre 

Offenbar hat man sehr zeitig und vorausschauend begriffen, dass es zur sich immer mehr entfaltenden Band-Geschichte jede Menge aufhebenswerte Gegenstände gibt. So gehören denn auch zahlreiche Gitarren zu den Exponaten, aber auch ein im Stile des japanischen Malers Hokusai verziertes Schlagzeug oder gar hübsch aufgefächerte gebrauchte Drumsticks von Nick Mason und ein halb zerfetztes Schlagfell, das er offenbar etwas wuchtiger traktiert hat.

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Dabei hat sich dieser Nick Mason, der mitten aus der aktuellen Tournee heraus als einziges Band-Mitglied zur Ausstellung nach Dortmund kam, in der Gruppe musikalisch zumeist vornehm im Hintergrund gehalten, jedoch dem großen Ganzen ein höchst solides rhythmisches Gerüst und Fundament verliehen. Er macht übrigens den sehr angenehmen Eindruck eines feinsinnigen, mit Ironie gesegneten britischen Gentleman. Indeed!

Wechselvolle Bandgeschichte

Die Alphatiere der Gruppe, Roger Waters und David Gilmour, sind – nach allem, was man so hören und lesen kann – hingegen ganz andere, mächtig auftrumpfende Kaliber. Roger Waters, der seit etlichen Jahren im Sinne der dubiosen Organisation BDS für einen rigiden Boykott gegen Israel eintritt, wehrt sich übrigens in einem just heute veröffentlichten Interview der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ-Magazin) nochmals gegen den oft erhobenen Vorwurf des Antisemitismus‘. An dieser Stelle genug davon.

Die wechselvolle, oft sehr turbulente Bandgeschichte, die anfangs Syd Barrett früh in den Drogenwahn trieb und später in mancherlei persönliche und juristische Grabenkämpfe mündete, wollen wir hier auch nicht im Detail nachbeten. Teile kann man sich in der Ausstellung erschließen, anderes wird man füglich nachlesen können. Vom optischen und akustischen Genuss des finalen Konzertfilms sollte man sich jedenfalls nicht abhalten lassen.

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd" und Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd"-Drummer Nick Mason,, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U") und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd“ und Ko-Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd“-Drummer Nick Mason, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U“) und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Ob die Schau doch noch eine oder mehrere weitere Stationen ansteuern wird, steht dahin. Gespräche laufen offenbar. Man könnte den Verdacht haben, dass die USA noch an die Reihe kommen werden.

Dortmund aber hat die Exklusivität in ganz West- und Mitteleuropa für sich. Die Besucherzahl könnte und sollte deshalb weit oberhalb der 100.000er-Marke liegen. Viele Gäste werden wohl vor allem aus den Niederlanden, aus Belgien, der Schweiz und Österreich anreisen – und wer weiß, woher sonst noch. Wie schön, wenn die Stadt mal außerhalb der Fußball-Zusammenhänge dermaßen viele Leute anlockt.

„The PINK FLOYD Exhibition. Their Mortal Remains“. Ausstellung im „Dortmunder U“, 6. Ebene, Leonie-Reygers-Terrasse. Tel. 0231 / 50-247 23. www.dortmunder-u.de

15. September 2018 bis 10. Februar 2019. Geänderte Öffnungszeiten: Mo-Mi 10-18, Do/Fr 10-20 Uhr, Sa/So 10-22 Uhr. Letzter Einlass jeweils eine Stunde vor Schließung.

Tickets gibt es im Vorverkauf über die Firma Eventim, die sonst vor allem Konzertkarten anbietet. Die ungewöhnlichen Preise: Normal 29,76 Euro, ermäßigt 23,16 Euro. www.eventim.de Bestell-Hotline 01806 / 57 00 70.

Durch den Rundgang geleitet wird man übrigens von hochmodernen Audioguides, die jeweils die passenden Sounds zu den gerade besehenen Ausstellungsstücken liefern – ganz gleich, wie und in welcher Richtung man sich bewegt.

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Die wichtigsten Alben von Pink Floyd“

The Piper at the Gates of Dawn (1967)
A Saucerful of Secrets (1968)
Ummagumma (1969)
Atom Heart Mother (1970)
Meddle (1971)
The Dark Side of the Moon (1973)
Wish You Were Here (1975)
Animals (1977)
The Wall (1979)
The Final Cut (1983)
A Momentary Lapse of Reason (1987)
The Division Bell (1994)




Von der Schiefertafel zum Tablet, von der Langspielplatte zum Streaming: „Die Verwandlung der Dinge“

Wie die Dinge immerzu vergehen und sich wandeln! Ganz konkret und doch geradezu gespenstisch.

Auch dem kulturhistorisch bewanderten Sachbuchautor Bruno Preisendörfer (Jahrgang 1957) ist immer mal wieder Verwunderung und zuweilen gelinde Belustigung anzumerken, hervorgerufen durch all die heimlichen und unheimlichen Evolutionen unseres Alltags, zumal in der Spanne eines längeren Menschenlebens.

Preisendörfers Buch „Die Verwandlung der Dinge“ beschreibt zum Gutteil Sachen und Verhältnisse, die jüngere Menschen gar nicht mehr kennen oder die sie sich nicht einmal mehr vorstellen können. Hie und da mutet die Rückschau schon ziemlich vorsintflutlich an. Mag sein, dass man bald so etwas wie „Zeitgenössische Archäologie“ wird studieren können.

Der Autor unternimmt „Eine Zeitreise von 1950 bis morgen“ (Untertitel), wobei er sich mit der Zukunftsschau merklich zurückhält. Auch geht er mit Industrie-Kritik in Sachen Unterhaltungselektronik sehr sparsam um. In dieser Hinsicht könnte man sich ganz andere Ansätze vorstellen.

Am interessantesten werden seine Schilderungen immer dann, wenn er die Verwendung einstiger Gegenstände detailliert beschreibt. Manche Phänomene von „damals“ drohen einem ja selbst schon zu entgleiten: ihr Erscheinungsbild, ihre Haptik und Akustik, ihr Gebrauch mitsamt allerlei Tücken.

Wie war das denn noch mit Schiefertafel, Griffel und später Füllfederhalter – Jahrzehnte, bevor wird uns an PCs und Tablets gewöhnt haben? Wie lief das mit Langspielplatten, Tonbändern und Audio-Kassetten, bevor Walkmen, CDs, MP3-Player und schließlich das Streaming aufkamen? Wobei anzumerken wäre, dass die LPs bekanntlich seit Jahren eine kleine Renaissance erleben, auch so etwas gibt’s. Manchmal erobert die Nostalgie – im Namen des Authentischen – gewisse Marktnischen zurück. Fast völlig verschwunden sind hingegen die früher so allgegenwärtigen Telefonzellen, seit fast alle Leute mit Smartphones gesegnet sind.

Preisendörfers Phänomenologie ist streckenweise recht spannend und leidlich unterhaltsam zu lesen, allerdings steigt der Autor nur ganz selten und höchstens mal nebenher in Tiefenstrukturen technischer Entwicklungen ein, sondern verharrt weitgehend an der Oberfläche. Es zitiert sich ja auch so schön und süffig aus alten Gebrauchsanleitungen.

Im Überschwang des Gestrigen unterläuft dem Autor auch schon mal eine Geschmacklosigkeit, als es um die die Einführung des Farbfernsehens geht: „Die Farbära begann in Westdeutschland am 25. August 1967. Benno Ohnesorg lag am 2. Juni 1967 noch schwarz-weiß auf dem Straßenpflaster.“ Aber das ist gottlob die Ausnahme.

Was geneigte Leser allzeit zu schätzen wissen und was leider nicht selbstverständlich ist: Das Buch hat einen ordentlichen, gut durchgearbeiteten Anhang mit Quellenverzeichnis, launigem Glossar, Chronologie („Zeittreppe“) und Personenregister.

Speziell zu gerundeten Geburtstagen mit etwas höheren Ziffern und zu ähnlichen Anlässen dürfte dies ein ideales „Weißt-du-noch?“-Geschenk sein. Aber wer sagt, dass man auf solche Anlässe warten muss?

Bruno Preisendörfer: „Die Verwandlung der Dinge. Eine Zeitreise von 1950 bis morgen“. Verlag Galiani Berlin. 272 Seiten. 20 Euro.




Nur der Putz hält noch die Wand: Das vierte Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow in Dortmund

Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk.

Dortmunds Orchesterchef Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk

Nicht jedes Gespräch muss inhaltsschwer sein. Manchmal macht es Spaß, nur zu reden und zu hören, dem Klang der Worte und Stimmen zu lauschen, mit Nichtigkeiten Sympathie, Witz und Ironie oder die pure Freude am Zusammensein auszudrücken. Oder, um es platt und treffend zu sagen, einfach vor sich hinzuquatschen. Wer in eine solche Unterhaltung verwickelt ist, mag Freude daran haben, wer außen steht, wundert sich vielleicht, oder fragt sich, was das soll.

So ähnlich geht es dem Hörer von Sergej Rachmaninows Viertem Klavierkonzert. Orchester und Solist quatschen munter drauflos, tauschen Allgemeinplätze aus, versteigen sich manchmal in eine abgelegene Modulation, in eine spitz-würzige Pointe der Instrumentation, setzen zu einer Melodie an, die sie bald wieder vergessen, spielen mit Bausteinen, aus denen andere Komponisten Wunderwerke errichten. Rachmaninow nicht: Sein letztes Klavierkonzert von 1927 ist, möglicherweise aufgrund des Kürzens und Überarbeitens im Schaffensprozess, nicht viel mehr als ein buntes, die Farben und Formen ständig weiterklickendes Kaleidoskop.

Dass dieses Konzert im Programm der Dortmunder Philharmoniker auftauchen musste, ist klar: Ihr Chef Gabriel Feltz hat eine tiefe Verbindung zu dem oft unterschätzten Komponisten, dokumentiert durch mehrere Konzerte und CD-Aufnahmen: Gerade ist die neue Platte mit der Dritten Sinfonie erschienen; Feltz hat sie nach dem Konzert eifrig beworben und im Foyer des Konzerthauses signiert.

Der Pianist Alexander Krichel. Foto: Uwe Arens/Sony Classical

Der Pianist Alexander Krichel. Foto: Uwe Arens/Sony Classical

Aber das g-Moll-Klavierkonzert wird kein Ruhmesblatt in dieser Liebesbeziehung bleiben: Schon zu Beginn deckt das Orchester die eigentlich kraftvollen Akkorde des Pianisten zu; von musikalischer Feinarbeit kann auch im weiteren Verlauf nicht die Rede sein. Die wenigen interessanten Momente des Stücks, etwa die sehnsuchtsvollen, an Dvořák gemahnenden Holzbläserstellen, ein paar harmonisch aparte Überleitungen oder rhythmischer Pep sind zugetüncht von sämiger Klangfarbe, als wolle Feltz zeigen, dass es nur der Putz ist, der die Wand noch aufrecht hält.

Solist Alexander Krichel stand von vornherein auf verlorenem Posten. Mit nobel hanseatischem, etwas unterkühltem Ton kommt er den Orchesterwogen ebenso wenig bei wie den virtuosen Leerstellen des Konzerts. Mal auf, mal ab, mal quirlig fingerfertig, dann wieder mit anfliegendem Pathos – und das alles melodisch reizlos: Krichel gewinnt dem Werk nichts ab, steht aber damit nicht allein. Schon andere Pianisten haben sich damit ohne Erfolg das Elfenbein von den Tasten geschubbert. In einigen Details – mir blieben wunderschöne Arpeggi oder glanzvoll und fein durchleuchtete Piani im Gedächtnis – lässt Krichel seine Klasse aufblitzen. Wenn er am 9. März in der Stadthalle in Mülheim/Ruhr das Fünfte Klavierkonzert Ludwig van Beethovens spielt, kann er sicher mehr zeigen.

Soeben erschienen: Rachmaninows Dritte vervollständigt den Zyklus der Symphonien des Komponisten, aufgenommen von den Dortmunder Philharmonikern unter Gabriel Feltz. Cover: Dortmunder Philharmoniker

Soeben erschienen: Rachmaninows Dritte vervollständigt den Zyklus der Symphonien des Komponisten, aufgenommen von den Dortmunder Philharmonikern unter Gabriel Feltz. Cover: Dortmunder Philharmoniker

Viel wohler fühlen sich beide Seiten des Saales offenbar bei Rachmaninows „Sinfonischen Tänzen“ op.45. Auf einmal klart sich der Klang der Dortmunder Philharmoniker auf, werden im sich lichtenden Nebel Konturen deutlich, zeichnet sich die Musik plastisch durch. Die Holzbläser haben bis in die tiefsten Schründe von Bassklarinette und Kontrafagott luzide Momente, die Violinen phrasieren frei und süffig glühend, das Saxophon schmeichelt, aus dem Schlagzeug sprühen Triangelschaum, Tamburinglitter, die zischenden Fontänen der Becken und das finale Dröhnen des Tamtam.

Feltz bezieht dieses Spektrum der Klänge sinnig aufeinander, lässt die Dynamik elastisch und frei atmen wie das Aufrauschen von Wellen am Strand, die sich türmen und verebben. Zu Beginn, in Rachmaninows „Toteninsel“, will ihm das noch nicht gelingen: Da hat er eher den Bogen der Dramaturgie als die Klangdetails im Orchester im Blick.

Im Sechsten Philharmonischen Konzert am 13. und 14. März 2018 im Konzerthaus Dortmund dirigiert Gabriel Feltz Anton Bruckners Achte Symphonie.




Weil der WDR hohe finanzielle Hürden setzt: Ruhrgebiets-Hörspiele können nicht im Buchhandel verkauft werden

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über eine neue Edition mit Ruhrgebiets-Hörspielen, die allerdings einen Schönheitsfehler hat:

Für mich ist es ein Rücksturz in meine literarische Vergangenheit: „Die Sonne ist nicht mehr dieselbe. Ruhrgebiets-Hörspiele 1960 bis 1990“. So lautet der Titel einer facettenreichen Dokumentation (die beiliegende DVD umfasst nicht weniger als 39 Hörspiele), die jetzt von der Literaturkommission Westfalen veröffentlicht worden ist.

Ruhrgebietsspezifische Hörspiele gab es natürlich von jeher im Programm des Westdeutschen Rundfunks, richtig Fahrt hat diese Sparte allerdings erst aufgenommen, als der aus Bottropstammende Frank Hübner Anfang der 1980er Jahre die Ruhrgebiets-Redaktion beim WDR übernahm.

Heimatdönekes, sofern es sie gegeben hatte, waren passé. Wir, Autoren und Autorinnen aus dem Revier, befassten uns mit gegenwärtigen Themen, orientiert an ambitionierten literarischen Qualitätskriterien. Klingende Autorennamen versammelten sich da: Michael Klaus, Jürgen Lodemann, Monika Littau oder Rolf Dennemann.

Ich für meinen Teil habe versucht, mit Formen der Konkreten Poesie den Ruhrgebiets-Slang zum Tanzen zu bringen. Aufbruchstimmung allenthalben, die im zweijährigen Gruppen-Projekt „Blackbox B 1“ gipfelte.

All das kann man in der neuen Doku nachlesen und -hören, wenn, ja wenn es so leicht wäre, an diese empfehlenswerte Veröffentlichung heran zu kommen. Man muss sich bemühen: Aus urheberrechtlichen Gründen kann die Edition nicht im Buchhandel erscheinen.

Der Bezug ist nur möglich über die Literaturkommission für Westfalen, Salzstraße 38 / Erbdrostenhof, 48133 Münster. Warum das? Der WDR hatte vor den regulären Verkauf der Edition so hohe finanzielle Hürden gesetzt, dass die Herausgeber darauf verzichten mussten. Kein Ruhmesblatt für den WDR!




Pionier des Rock’n’Roll: Zum Tod des Gitarristen Chuck Berry

Charles Edward Anderson, weltbekannnt als „Chuck“ Berry, hat uns alle verlassen. Zurück bleiben nicht zu zählende Fans in Trauer, aber auch dankbarer Freude – über einen 90 Jahre währenden Lebensweg, den „Chuck“ streckenweise mit seiner unvergleichlichen Musik veredelte.

Chuck Berry bei einem Konzert im Casino von Deauville (Frankreich) am 12. Juli 1987. (Foto: Roland Godefroy / Wikimedia Commons) - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Chuck Berry bei einem Konzert im Casino von Deauville (Frankreich) am 12. Juli 1987. (Foto: Roland Godefroy / Wikimedia Commons) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Er war ein wahrer Pionier des Rock’n’Roll, später seine lebende Ikone. „Chuck“ schien so unverwüstlich wie seine Musik – ewig jung. Der Sohn von Henry Berry, dem Diakon einer Baptistenkirche, und Martha Berry, einer Schulleiterin, begann an der Sumner High School in St. Louis mit dem Gesang und dem Gitarrespielen. Doch schon 1944 begann auch sein Lebensweg, sich zu krümmen: drei Jahre Jugendgefängnis wegen bewaffneten Raubüberfalls.

Auch Beatles und Stones waren seine Fans

1959 geriet er nochmal mit der Justiz über Kreuz. Dann glättete er das ramponierte Verhältnis. Inzwischen bewaffnete sich der rockende Jüngling lieber mit seiner Gitarre, die er im Laufe der Jahre zum führenden Instrument seines Genres machte.

Ob es die Beatles waren, die gestanden, ohne seinen Einfluss niemals Musiker geworden zu sein. Oder die Stones, deren Keith Richards sich als Chuck Berrys größter Fan outet. Die Namen der liebevoll gedenkenden Verehrer schmücken das „Who is Who“ der neueren Musikgeschichte.

Eric Clapton, Bruce Springsteen, Angus Young von AC/DC, ja selbst Simon and Garfunkel – sie alle verwiesen gern auf Chucks Vorbildfunktion, oder sie coverten gleich seine klassischen Stücke. Wie Motörhead oder Status Quo, die mehr als 40 Bühnenjahre lang ihre Konzerte mit „Bye Bye Johnny“ beendeten. Oder sie alle spielten Berry-Kompositionen wie „Rock and Roll Music“, „Carol“, „Johnny B. Goode“ oder „Roll over Beethoven“ live auf der Bühne.

Immer schlug der Gitarrero des Rock seit Karriere-Beginn eine Gibson. Sie war der Klang ganzer Musiker und-Liebhaber-Generationen, sie prägte das Verständnis der Musik. Chuck Berry, we will miss you. Bye bye Johnny.




Versäumtes nachholen: Es ist niemals zu spät, die Songs von Nick Drake zu hören

So ist es üblich, so ist es Brauch: In den jugendfrischen Lebensphasen, da man sich stark und manchmal gar unverwundbar (zwischendurch freilich umso verwundbarer) fühlt, hört man auch am intensivsten Rock- und Popmusik. Das, was die eigene Generation anbetrifft, entgeht einem dabei erst recht nicht. Im Großen und Ganzen.

Carlos Bottelho: Porträt-Bildnis von Nick Drake (Mischtechnik auf Leinwand - Foto: Bottelho. Wikimedia Commons, Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/)

Carlos Bottelho: Bildnis von Nick Drake (Mischtechnik auf Leinwand – Foto: Bottelho. Wikimedia Commons, Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.5/)

Doch hie und da versäumt man wohl doch etwas und erfährt vielleicht erst Jahrzehnte später staunend davon. So erging es mir jetzt, als im Rahmen einer „Langen Nacht“ des Deutschlandfunks (Dank an die findigen Hörfunkleute!) ein paar Songs gesendet wurden, bei denen ich sofort aufhorchte. Das war ja wundersam zartsinnige, feinstens versponnene, ausgesprochen originelle Musik. Von wem stammte sie nur?

Hatte man die Ansage verpasst, musste man früher umständlich an die Stationen schreiben, um zu erfahren, wer da zu einer bestimmten Uhrzeit zu hören gewesen war. Längst vorbei. Heute ruft man die Playlist auf und erfährt’s mit allen wissenswerten Grunddaten. So auch jetzt.

Es war also ein gewisser Nick Drake. Kenner schnauben jetzt vielleicht verständnislos oder sogar verächtlich: „Waaaas? Den kanntest du nicht? Ich habe den schon immer…“ Na, und so weiter. Die ehrliche Antwort lautet: „Nein. Bisher habe ich ihn nicht gekannt.“

Dieser Nick Drake hatte – grob gerechnet – in meiner und für meine Generation Songs geschaffen, gespielt und gesungen; vielleicht auch nur für sich selbst. Jedenfalls fühlt sich dieses Verpassthaben sehr seltsam an. Habe ich ihn damals, zwischen all den anderen, nur nicht sonderlich wahrgenommen oder ist er mir wirklich völlig unbekannt geblieben?

Gewiss, er galt Zeit seines kurzen Lebens (1948-1974) als Geheimtipp und als „Musiker für Musiker“, doch gerade auf solche war man damals doch versessen und ist es noch heute.

Man mag nicht daran denken, was aus den vielen früh Verstorbenen geworden wäre – aus Jimi Hendrix, Jim Morrison, Janis Joplin, Keith Moon, Brian Jones, eben Nick Drake und einigen weiteren. Vielleicht sähen die gesamten Musiklandschaften (oder wenigstens deren aufregendste Gefilde) mit ihnen deutlich anders aus.

Nachruhm war dem melancholischen Gitarrenkünstler Nick Drake, der zusehends in heillose Depressionen gestürzt sein soll, immerhin beschieden. Auf einer 2003 von der führenden Musikzeitschrift „Rolling Stone“ erstellten Liste der 500 besten Alben aller Zeiten standen alle drei (!) Studio-LPs, die er jemals herausgebracht hat: „Five Leaves Left“, „Bryter Layter“ und „Pink Moon“. Diese drei Platten schafften es auch samt und sonders auf die Bestenliste des Buchs „1001 Albums You Must Hear Before You Die“.

„Before You Die…“ Es ist also noch nicht zu spät, diesen großartigen Singer-Songwriter nachträglich kennen zu lernen. Und jetzt bitte Ruhe. Ich habe zu lauschen.




Der Sound des Aufbruchs im Revier: Ruhr Museum zeigt 60 Jahre „Rock & Pop im Pott“

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Essens Kulturdezernent Andreas Bomheuer erinnert sich: Essener Songtage 1968, ein singuläres Ereignis in der neueren Musikgeschichte des Ruhrgebiets. Der legendäre Frank Zappa entstieg auf der Bühne einem Sarg und fragte das Publikum schlankweg: „How do you feel?“ Dann legte er los. – Bomheuer ist heute noch ergriffen von dem Moment: „So etwas vergisst man nie.“

Just in Essen, im Ruhr Museum auf dem Gelände des Weltkulturerbes Zeche Zollverein, schickt sich jetzt eine Ausstellung an, derlei kostbare Erinnerungen en gros zu wecken: „Rock & Pop im Pott“ erzählt die Geschichte der populären Musik im Revier über 60 Jahre hinweg. Dazu bietet man die immense Fülle von rund 1500 Exponaten auf (etwa die Hälfte davon Schallplatten).

Historischer Startpunkt sind die damals bundesweit beispiellosen Dortmunder Jugendkrawalle im Spätherbst 1956. Deutsche Radiosender spielten seinerzeit keinen Rock’n’Roll, also musste man sich die Schaffe im Kino „reinziehen“. Es lief der Film „Rock Around the Clock“ (deutscher Titel „Außer Rand und Band“) mit Bill Haley.

Dortmunder Jugendkrawalle

Nach dem Lichtspiel waren nahezu 2000 Jugendliche tatsächlich dermaßen aufgekratzt, dass gar Scheiben zu Bruch gingen – ein in jenen Jahren ungeheuerlicher Vorgang, über den etwa der „Spiegel“ breit berichtete und der schon die Energien ahnen ließ, die sich in dieser Musik Bahn brachen. Fotos und aufgeregte Zeitungsartikel erinnern daran. Interessanter Nebenaspekt: In den Anfangszeiten war – neben dem Kino – auch die Kirmes ein Ort, an dem Rock’n’Roll zur Geltung kam. Auch hier konnte man für ein paar Stunden aus der landläufigen Spießigkeit der Adenauer-Ära ausbrechen.

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Die Schau beginnt mit markanten Songzitaten und dem Durchgang durch einen Sound-Raum, in dem Highlights des Ruhrgebiets-Rock zur 15minütigen Bild- und Toncollage komprimiert sind. Eine Ausstellung über Musik geht halt nicht ohne Musik. Es ist freilich eine Gratwanderung: Man kann Rock & Pop zwar nicht nur in Vitrinen einsperren, doch andererseits muss man im Museum weit übers bloße „Zuballern“ mit Musik hinaus gelangen.

Sperrholzkisten-Ästhetik

Das Rock-Spektrum im Westen der Republik reicht von Nena bis Herbert Grönemeyer, von Phillip Boa bis Extrabreit (die heute zur längst überbuchten Eröffnung der Ausstellung spielen), von Franz K. bis Geier Sturzflug, von Grobschnitt bis Bröselmaschine. Auch die Humpe-Schwestern Inga und Annette stammen aus dem Ruhrgebiet, genauer: aus Hagen. Die berühmte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“ brachte ein neues Selbstbewusstsein zum Ausdruck.

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe "The Kepa Beatles" in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe „The Kepa Beatles“ in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

Nach dem akustischen Einstieg wird man über einen Boden mit starken Farben (nach passender Maßgabe der Pop Art) durch die Jahrzehnte geleitet, unterwegs waltet eine dem Gegenstand angemessene Sperrholzkisten-Ästhetik. Bloß nicht zu schick und gediegen werden, lieber ein wenig „schmutzig“ bleiben! Einige Seitenkabinette vertiefen die Themen des Hauptstrangs, da geht es beispielsweise um veränderte Tanzstile und vielfach ausdifferenzierte Moden.

Das Team unter Leitung des Museumschefs Prof. Heinrich Theodor Grütter hat kaum eine Facette ausgelassen, die Ausstellung entfaltet ein wahres Kaleidoskop, sie trumpft hie und da mit raumgreifenden „Leitobjekten“ (Kinokasse, Jukebox, Synthesizer) auf, lässt aber nebenher auch manche Zwischentöne anklingen.

Wenn Rock historisch wird

Grütter hält dafür, dass eine solche Ausstellung erst jetzt wirklich sinnvoll sei, weil nun manche Entwicklungen abgeschlossen und somit „historisch“ sind. Mitten im Strom der Ereignisse wäre eine museale Aufarbeitung kaum möglich gewesen. Am Konzept beteiligt war übrigens das Dortmunder Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet. Eine Einrichtung, die sicherlich größere Beachtung verdient.

"Schmutzige" Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von "Eisenpimmel". (Ruhr Museum)

„Schmutzige“ Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von „Eisenpimmel“. (Ruhr Museum)

Zur besseren Gliederung gibt es eine Außen- und eine Innenperspektive, sprich: Hier geht es sowohl um Gastspiele internationaler Rock- und Pop-Stars im Revier, allen voran Beatles (25. Juni 1966) und Stones (12. September 1965) in der Essener Grugahalle, als auch um die zahllosen Bands, die im Ruhrgebiet selbst entstanden sind.

Heinrich Theodor Grütter selbst erinnert sich gern an die Jungs aus seiner Heimatstadt Gelsenkirchen, die als „German Blue Flames“ Furore machten und als eine der ganz wenigen deutschen Gruppen im „Beat Club“ des Fernsehens spielen durften.

Zu großen Teilen ist die Ausstellung eine Angelegenheit für „Best Agers“, wie Grütters selbstironisch anmerkt. Erkennbar ist aber auch das Bemühen, denn doch ein paar jüngere Leute aufs Zollverein-Gelände zu locken, beispielsweise durch Live-Konzerte und musikalische Workshops.

Hymnen aufs Revier

Hunderte, ja Tausende Formationen sind seit Ende der 50er Jahre im Revier entstanden. Zunächst spielten sie Rock’n’Roll und Beat, es folgten z. B. Protestlieder, Krautrock, Neue Deutsche Welle, Punk und Heavy Metal, schließlich Techno und HipHop, wobei in letzterer Stilrichtung Migranten den Ton angeben. Gar nicht mal so erstaunlich: Von den Kindern der Zugewanderten stammen, wie Experten versichern, neuerdings auch die treffendsten „Hymnen“ aufs vielfach geschundene Revier.

Eine regional zugespitzte These der Schau lautet, dass das proletarisch geprägte Revier für Beatmusik fast so prädestiniert gewesen sei wie die Gegend um Liverpool. Immerhin hat ja der Dortmunder Manfred Weissleder den Star Club in Hamburg gegründet, in dem die Beatles frühen Ruhm erlangten. Auch in späteren Jahrzehnten kann man dem (zuweilen rebellischen) Geist der Ruhrregion nachspüren. So hat das einst stählerne Industriegebiet buchstäblich seine eigenen Spielarten des Heavy Metal hervorgebracht.

Weitere Leihgaben gesucht

Die Essener haben den strammen Ehrgeiz, möglichst die gesamte Band-Landschaft des Ruhrgebiets zu kartographieren. Bereits jetzt zeugen über 700 Tonträger-Exponate von ungeheurer Vielfalt. Und die bis Februar 2017 dauernde Schau soll unentwegt wachsen: Wer selbst noch dergleichen Schätze hortet, soll sich melden und womöglich zum Leihgeber werden. Auch Bands, die schon Tonträger veröffentlicht haben (im Zweifelsfalle reichen Demo-Kassetten), werden aufgefordert, Laut zu geben. Das Ganze könnte zur Unternehmung von geradezu enzyklopädischen Ausmaßen anschwellen…

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs "Fantasio", 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs „Fantasio“, 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Man sollte sich jedenfalls für diese Schau reichlich Zeit nehmen, am besten (ganz im Sinne der Veranstalter) mehrmals kommen, sonst entgehen einem vielleicht Feinheiten wie etwa die Catering-Listen von Rockstars (welchen Saft wollten sie trinken?) oder rare Plakate wie jenes der vom Niederländer Ruud van Laar begründeten Dortmunder Kultstätte „Fantasio“ von 1971, das einen Auftritt des famosen Gitarristen Rory Gallagher avisierte. Oder ein hübsches Detail auf dem Plakat von 1967, das die Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle ankündigte und den Eintrittspreis mit schlappen 7 Mark angibt. Man vergleiche, was heute für die Crew von Mick Jagger aufgerufen wird.

Königsweg der Kultur

Rock & Pop haben auch im Revier etliche neue Auftrittsorte (neudeutsch Locations) entstehen lassen, dies ist natürlich gleichfalls Thema im Ruhr Museum, ebenso wie Fanzines, Szene-Zeitschriften und Devotionalien, das technische Equipment (vor allem zahlreiche Gitarren) oder die großen Festivals von „Rockpalast“ bis „Juicy Beats“, wobei die in Duisburg katastrophal beendete Loveparade nur diskret gedämpft zur Sprache kommt.

Glasklar wird allerdings, dass die anfangs so misstrauisch beäugte und niedergehaltene Rock- und Popkultur in den letzten Jahrzehnten recht eigentlich der Haupt-und Königsweg der Kultur gewesen ist. Wer damals jung war, hat es eh im Innersten gespürt.

„Rock & Pop im Pott“. 5. Mai 2016 bis 28. Februar 2017. Geöffnet Mo-So 10 bis 18 Uhr. Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (Gebäude A 14), kostenlose Parkplätze A 1 und A 2, Zufahrt über Fritz-Schupp-Allee. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de Audioguide 3 Euro. Katalog 304 Seiten, 33 Abbildungen (Klartext Verlag) 24,95 Euro. Info-Telefon/Buchung von Führungen: 0201 / 24 681 444.




Randale für den Rapper

Dies vorangeschickt: Mit Rap habe ich so gut wie nichts im Sinn, noch weniger mit Gangsta-Rap. Das ist auch, aber nicht nur eine Generations- und Schichtenfrage. Ich mag nicht glauben, dass Musik zur Feier von Gewalt und Verbrechen erfunden wurde. Auch besinnungsloses Auskotzen ist nicht ihr Wesenskern.

Nun aber konkreter: Einer dieser Typen, die für eine leider ziemlich zahlreiche Anhängerschaft als Gangsta-Rapper posieren, nennt sich Kurdo. Sein äußerst schmales Textrepertoire kreist kraftwortreich um Phantasien wie („sinn“-gemäß) „Ich-bin-ein-richtiger-harter-Verbrecher-ihr-alle-seid-schwule-Weicheier-mit-Scheiß-Abitur“ sowie „Ich **ck deine Mutter, ich **ck deine Schwester“. Also richtig bodenloser Mist der weithin üblichen Art.

Zu einer Autogrammstunde dieses begnadigten, äh ich meine natürlich begnadeten Künstlers hatte ein Saturn-Markt im Dortmunder Vorort Eving eingeladen. Es erschienen rund 4000 (!) Fans und es kam zu heftigen Tumulten, die ein polizeiliches Großaufgebot erforderten. Leute, die bedeutend näher dran waren, sagen, dass die Polizei strategisch überfordert war.

Die Autogrammstunde fand schließlich nicht statt, sie soll aber angeblich nachgeholt werden. Warum eigentlich? Soll die wahrlich anderweitig schon mehr als genug geforderte Polizei abermals kostspielig und riskant eingreifen müssen, damit dieser längst zum Kommerz-Heini mutierte Ghetto-Brüller noch mehr Publicity bekommt? Gut denkbar, dass Kurdo und seine Spießgesellen jede Randale als willkommene Werbung bejubeln. Aus diesem Grund scheut man sich ja schon, ihn überhaupt zu erwähnen. Aber sei’s drum.

Anderntags musste dann auch in Hamburg die Polizei einschreiten, als Kurdo auftauchte. Und es waren beileibe nicht die ersten Vorfälle dieser Art. Schön wär’s, wenn man Kurdo, den Veranstaltern und/oder Managern die Kosten der Polizeieinsätze in Rechnung stellen könnte. Dann müsste er noch ein paar Verbrecher-Liedchen mehr singen.

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P.S.: Wenn wir schon beim Thema sind: Ja, ich bin auch dafür, die Bundesliga-Vereine an den Kosten für Polizeiaufgebote wenigstens zu beteiligen.




Ungemein wandelbar, unstillbar neugierig – zum Tod von David Bowie

Als er neun Jahre alt war, hatte er eine Begegnung mit „Gott“, wie er es später beschrieb. Der kleine David Robert Jones aus Londons Stadtteil Brixton hörte Little Richards Version von „Tutti Frutti“ verzückt rauf und runter – und war seinem Vater Haywood endlos dankbar, dass der ihm die Rille geschenkt hatte.

Im Klang von Little Richards Stakkato erwachten der Sinn für die Musik, die Kreativität, das Sinnliche am Machbaren beim Jungen, aus dem später David Bowie werden sollte. Er wurde zur Ikone des Pop und zu einem Künstler, dessen Einfluss auf die Entwicklung des Genres ungeheuer wurde. David Bowie, das Multitalent mit dem androgynen Äußeren, ist jetzt mit 69 Jahren an Krebs gestorben.

David Bowie am 8. August 2002 bei einem Auftritt im Tweeter Center (Tinley Park bei Chicago). (Foto: Adam Bielawski/Wikipedia Commons)

David Bowie am 8. August 2002 bei einem Auftritt im Tweeter Center (Tinley Park bei Chicago). (Foto: Adam Bielawski/Wikipedia Commons) – Link zur Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Bevor aus ihm der gefeierte Star mit 140 Millionen verkauften Tonträgern wurde, war er aber erstmal Dave Jay, der bei einer weniger gefeierten Combo namens „The Kon-Rads“ sang und Saxophon spielte. Aber immerhin. Er war es, der den Titel „I Never Dreamed“ mit komponierte, den die Decca aufnahm. Allerdings blieb der kommerzielle Erfolg zunächst aus.

David machte auf Solo, spielte und sang in anderen Gruppen, machte einen Ausflug in die Pantomime, deren Einfluss bei späteren Bühnenauftritten sichtbar blieb, wurde kurzfristig zu „Davy Jones“, was er aber alsbald aufgab, weil einer der „Monkees“ so hieß. Also wurde David Bowie geboren, und beim Nachnamen stand Amerikas Nationalheld Jim Bowie Pate.

„Ground Control To Major Tom“, das war das erste, was ich von diesem schillernden Künstler wahrnahm. Immer wieder mal kreuzte der Titel meinen Weg im Auto, wenn es aus den schwindsüchtigen Lautsprechern plärrte, was der einsame Astronaut und die Bodenstation miteinander besprachen. Ein Jahrzehnt später bestätigte David Bowie meine spontane Assoziation mit psychedelischen Halluzinationen, outete Major Tom als Junkie.

Seine unstillbare Neugierde, sein Hunger nach neuen Einflüssen, seine chamäleoneske Wandlungsfähigkeit sorgten dafür, dass David Bowie anscheinend unaufhaltsam aufstieg. Als Musiker wurde er vorübergehend „Ziggy Stardust“ (Madonna sah ihre Welt verändert, nachdem sie ein Ziggy Stardust-Konzert besucht hatte), Andy Warhol und dessen Follower weckten seine Leidenschaft, bei Auftritten mit Geschlechterrollen zu spielen.

Dem Aufstieg konnte er nur selbst im Weg stehen. In seiner durchaus kreativen „Berliner Phase“ durchlebte er einen kalten Entzug. In der „Hauptstadt des Heroins“, wie er Berlin taufte, säuberte er Geist und Körper, machte unter anderem einen Abstecher zum deutschen Film. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ sah ihn in einem Kurzauftritt, der gesamte Soundtrack stammt von ihm.

Ohnehin ist Davids Filmografie beeindruckend. Mit Cathérine Deneuve und Susan Sarandon wirkte er in „Begierde“ von Tony Scott mit. In „Der Mann, der vom Himmel fiel“ habe er eigentlich nur sich selbst gespielt, gestand der damalige Debütant – er war zu der Zeit schwerst süchtig nach Kokain. Martin Scorsese stellte ihn neben Willem Dafoe und Harvey Keitel in „Die letzte Versuchung Christi“.

Die Bandbreite seiner musikalischen Wegbegleiter reichte (beispielsweise) von Pat Metheny über Queen, Pink Floyd, Mick Jagger und Marianne Faithfull bis hin zu Bing Crosby.

Nun wird er die unterschiedlichen Szenen nicht mehr inspirieren und deren Inspirationen in sich aufsaugen. Kurz vor seinem Tod erschien sein letztes Album, „Blackstar“. Nun kommt bei der Groundcontrol ein letzter Gruß von Major Tom an. David Bowie ist auf seinem letzten Trip.




Über alle Gegensätze hinweg – Andreas Maiers Huldigung „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“

Da schreibt ein viel beachteter Belletrist im hochrenommierten Suhrkamp-Verlag ein ganzes Buch über – Udo Jürgens. Ja, ist der Schlagermann denn überhaupt literarisch themenwürdig?

Das fragt sich Andreas Maier (zuletzt: „Die Straße“, „Der Ort“) auch selbst unentwegt, der gelinde Zweifel ist konstitutiver Bestandteil des Buches „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Doch zugleich erfahren wir von einer Art – nun, nennen wir es ruhig beherzt „Erweckung“, die den am 21. Dezember 2014 gestorbenen Musiker mehr und mehr als quasi überzeitliches, dem Alltag enthobenes Phänomen wahrnimmt, in dem gleichsam alle Gegensätze aufgehoben sind… Nanu?

42519Als Kind hatte Andreas Maier noch Jürgens’ Erfolgslied „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ vernommen. Dann setzte eine langjährige Pause ein, in der derlei Klänge nur noch peinlich waren. Die meisten von uns dürften wohl in dieser Phase verharren, wenn nicht sich darin verschanzen.

Bei Andreas Maier setzt jedoch irgendwann eine zunächst zögerliche Rückkehr ein, deren Fortgang man beinahe als reuiges Konvertitentum bezeichnen könnte. Maier hebt freilich nicht völlig ab, sondern verankert diese Bewegung in seiner heimatlichen Region, bezieht sie innig auf die Stimmungslage in gewissen Frankfurter Äppelwoi-Wirtschaften, wo Jürgens’ allzeit radikale Emotion im rechten Moment auf ein – alkoholisch befeuertes – kollektives großes „Ja“ treffen kann.

Und so singt denn auch die gesamte Kneipe hingebungsvoll seine Lieder, als sich die Nachricht von Jürgens’ Tod verbreitet. Welch’ eine gefüllte Gegenwart, wie sie wohl kein zweiter Künstler dieses Genres hervorrufen könnte. Ja, man muss sagen: Diese Stunden hätte man wohl auch gern miterlebt. Wer sonst stiftet schon derlei Gemeinschaft?

Also gut. Werden wir erst mal wieder nüchtern.

Maier schickt sich an, nicht nur etliche populäre Mythen seiner jüngeren Jahre (z. B. zwischen Asterix, Beatles, Perry Rhodan und Raumschiff Enterprise) anklingen zu lassen, er arbeitet auch heraus, wie Udo Jürgens hinter und neben all diesen Hervorbringungen immer und immer da gewesen ist. Einzelne Songs werden deutend herauspräpariert, teilweise mikrostrukturell bis kurz vor die Parodiegrenze, also Zeile für Zeile (besonders „Merci Chérie“), bis sich tatsächlich so etwas wie ein beständiges „Narrativ“ des Udo Jürgens ergibt.

Obwohl er so angetan ist, muss Maier doch immer wieder innehalten, etwa so: „Aber wodurch wurde er wichtig? Es war ja nicht mein Ziel und Vorsatz, diesen Chansonnier und, in seinen kommerziellsten Augenblicken, Gassenhauser-Wodka-Trallala-Unterhalter Einzug in mein Leben halten zu lassen.“

Der Autor kommt zu dem Schluss, dass Jürgens wie kaum ein anderer geeignet sei, eine bestimmte Art des Weltzugangs zu eröffnen, etwas ganz und gar Offenes und Allgemeines zu verkörpern – jenseits aller sonstigen Zersplitterung. Nach und nach sucht Maier diesen Erzählzusammenhang zu (re)konstruieren.

Verblüfft stellt er dabei fest, dass diejenigen, die Udo-Jürgens-Konzerte besucht haben, im Umkreis der Hallen gar nicht identifizierbar waren – anders als praktisch alle anderen Fans: „Hier aber war nichts charakteristisch, abgesehen von einem gewissen Glanz, der auf allen Gesichtern lag.“ Vielleicht lag’s auch an der allgemeinen Vorfreude, habe doch nach solchen Konzerten die „Koitalquote“ enorm hoch gelegen, wie Maier mutmaßt. Lassen wir die These mal so stehen. Auch eine Formel wie die vom Klassizismus des Nichtssagens setzt ja etwas in Gang. Und dass niemand die Musik des Udo Jürgens adäquat nachspielen kann, hat doch wohl gleichfalls etwas zu bedeuten.

Jedenfalls sind wir uns nun in Maiers Gefolge zum Hymnus vorgedrungen. Diese Musik sei nicht cool oder hip, sie bewege sich weit außerhalb solcher bequemen Geschmacksurteile. Bei einem Jürgens-Auftritt fühlt sich Maier nach jedem Lied, als habe er „fünfmal hintereinander Doktor Schiwago geschaut“. Ganz großes Kino der Emotionen also. Erschöpfend in jedem Sinne.

Nun. Man kann in derlei Gefilde nicht so ohne weiteres folgen. Man erlebt, wie da einer „in Zungen“ redet. Unter der Hand ist dies denn wohl ein selbsterfüllendes Buch geworden. Das Projekt war nun einmal eingestielt, die Verlagsmaschinerie angeworfen, also musste eine inhaltliche Entsprechung her. Dennoch ist es mehr als nur das.

Dass dieser Text unsere Geschmacksbildung (nicht nur) auf dem Pop-Sektor hinterrücks gründlich infrage stellt, ist nämlich ebenso wahr. Rechthaberisch oder auch nur einfordernd ist Andreas Maier bei all dem an keiner Stelle. Soll man deshalb sagen, dies sei ein angenehmes Buch? Oder ist es nicht vielmehr auf einschmeichelnde Weise unbequem?

Andreas Maier: „Mein Jahr ohne Udo Jürgens“. Suhrkamp Verlag. 218 Seiten. 17,95 €.




Musik-Erlebnisse im Halbschlaf: Johnny Halliday und Nive Nielsen & The Deer Children

Hier mal ganz außer der Reihe einen herzlichen Dank an die Redaktion des Kulturmagazins „Fazit“ im Deutschlandfunk bzw. Deutschlandradio Kultur. Natürlich auch für den einen oder anderen Bericht zu den künstlerischen Zeitläuften. Doch just jetzt habe ich anderes zu verdanken, nämlich zwei Hinweise auf unverhofft grandiose Musik.

Auf den französischen Altrocker Johnny Halliday habe ich nie sonderlich geachtet, also habe ich auch nichts auf ihn gegeben. Seit Jahrzehnten ist er zugange – und ich habe kaum jemals richtig hingehört. Ich Ignorant habe ihn für den französischen Peter Kraus gehalten. Ein arges Missverständnis und Versäumnis?

Da braucht es wohl besondere Umstände: ein reifes Alterswerk – und die Stunde zwischen Tag und Traum. So kann’s gehen: Mitternacht ist vorbei, man ist beim Radiohören unversehens eingeschlafen und merkt plötzlich auf: Da haben halb verwehende Klänge ins Verdämmern hinein gespielt. Und nun ist man auf einmal wohlig wach und wird gewahr, wer da singt.

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Zwischen den Wortbeiträgen spielt „Fazit“ das eine oder andere Musikstück. Man muss sagen: Es sind oft ausgesuchte Interpreten und Stücke darunter. An jenem späten Abend war es eben das neue, am 12. November herausgekommene Halliday-Album, das so heißt wie jenes berühmte Buch von Stendhal: „De l’amour“ („Über die Liebe“). Man höre zur Einstimmung vor allem in den krass lautenden Titel „L’amour me fusille“ (etwa: „Die Liebe erschießt mich“) hinein.

Etwa 24 Stunden später hatte ich – ohne allzu große Übertreibung – ein noch größeres Erweckungs-Erlebnis. Buchstäblich. Denn wieder war ich eingenickt und bin erwacht, als eine wahrhaftige Sirenenstimme sang. Gottlob wurde angesagt, was da zu hören war – und man kann halt die entsprechende Playlist im Internet aufrufen. Das sind so Angelegenheiten, für die man früher eigens Briefwechsel mit dem Sender beginnen musste…

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Wer da gesungen hat? Nun, eine Frau aus Grönland. Ja, richtig gelesen. Nive Nielsen und ihre Band „The Deer Children“ (ungefähr: Rehkinder/Kitze) sind ein veritables Ereignis. Das Allerfeinste, was mir in letzter Zeit zu Ohren gekommen ist. Herzschmelze sehr wahrscheinlich.

Schon ist die Platte („Feet First“, erscheint am 27. November) bestellt, schon habe ich probehalber in andere Produktionen mit ihr reingelauscht. Und ich weiß: In dieser Musik kann man sich verlieren, wenn man denn bereit ist. Und das sollte nicht nur im Halbtraum der Fall sein. Obwohl: Wahrscheinlich hat eben dieser trancehafte Zwischenzustand die ästhetischen Sinne weiter geöffnet.

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P.S.: Die Links zum Versand jpc sind nicht als Empfehlung zu verstehen, sondern als Option. Allerdings sind die Leute aus Georgsmarienhütte vor allem auf dem Gebiet der Tonträger eine Alternative zu Amazon und anderen Weltherrschern…




Vorzeige-Ruhri kann auch anders: Grönemeyer traut Journalisten nicht über den Weg

Vor Äonen hat der Rock- und Popsänger Herbert Grönemeyer mal eine Langspielplatte mit dem Titel „4630 Bochum“ herausgebracht. Doch halt! Wir wollen nicht gleich gar so polemisch sein, es war im August 1984. Noch nicht so lang her, wenn man’s mal erdgeschichtlich betrachtet…

Seither gilt der Mann, der in grauer Vorzeit vorwiegend musikalisch am Bochumer Schauspielhaus gewirkt hatte, jedenfalls als Vorzeige-Ruhrgebietler. Wenn es hier ums große Ganze der Region geht, kommt er immer wieder ins Spiel. So auch am 9. Januar 2010, als er zur Eröffnung des Europäischen Kulturhauptstadt-Jahres seine Revier-Hymne „Komm zur Ruhr“ schmetterte.

Kaum einer, so scheint es, gilt gegenwärtig als „ruhriger“. Dabei hat der mit vielen Preisen dekorierte Grönemeyer der Gegend längst den Rücken gekehrt und seit vielen Jahren hauptsächlich in London gelebt. Es sei ihm natürlich gegönnt, aber was genau ist daran jetzt so ruhrverbunden?

Steht diese Bank etwa an dem Weg, über den Grönemeyer den Journalisten nicht traut? Keine Ahnung. (Foto: Bernd Berke)

Steht diese Bank etwa an dem Weg, über den Grönemeyer den Journalisten nicht traut? Keine Ahnung. (Foto: Bernd Berke)

Doch das nur nebenbei. Auch dass ich – ehrlich gesagt – seine Gesangskünste nur selten sonderlich gemocht habe, soll hier zwar erwähnt werden, aber hübsch im Hintergrund bleiben. Es tut nichts zur folgenden Sache.

Beim Pressetermin fand ich ihn vor Jahren menschlich recht sympathisch und entspannt. Doch er und sein Management können auch anders. So jedenfalls muss man wohl die schmallippige Mitteilung der WAZ-Kulturredaktion verstehen, die ihm vorwirft, er wolle auf ungebührliche Weise in die Berichterstattung der Medien eingreifen.

Das behauptet die WAZ: Anlässlich einer Vorab-Pressekonferenz über einen Grönemeyer-Auftritt (27. Mai 2016, Arena Gelsenkirchen) sollten Journalisten unterzeichnen, dass Zitate vor Veröffentlichung durchgehend autorisiert (also von ihm und seinen Presseleuten gestattet) werden müssten; nicht nur im Interviewtext (wie gelegentlich vor allem bei brisanten Politthemen üblich), sondern auch „in der Überschrift und in Bildunterschriften“. Ein starkes Stück. Überdies wollte Grönemeyer laut WAZ kontrollieren, welche Fotos in der Berichterstattung verwendet werden. (Drum verwenden wir hier ein ganz und gar unverfängliches Foto aus völlig anderem Zusammenhang, hehe!).

Angesichts solcher Ansprüche bzw. Zumutungen verzichtete die WAZ auf einen Bericht über das Hintergrundgespräch. Gut so. Sich auf Grönemeyers Bedingungen einzulassen, hätte bedeutet, einen möglichen Eingriff in die redaktionelle Unabhängigkeit hinzunehmen. Gegenbeispiel: Die „Rheinische Post“ hatte damit anscheinend weniger Probleme und berichtete wohlwollend.

Man fragt sich, was Grönemeyer so Weltbewegendes zu erzählen hat. Soweit mir bekannt ist, ist er weder Kanzler noch Minister der Bundesrepublik Deutschland, ja nicht einmal Präsident oder König des Ruhrgebiets. Man würde seine Worte gewiss nicht allzu sehr auf die Goldwaage legen. Er selbst scheint das allerdings anders sehen zu wollen. Da kann man nur appellieren: Komm zur Ruhe.

Grönemeyer scheint derzeit auf Krawall gebürstet zu sein. Soeben hat er den NDR harsch kritisiert , weil der Sender beim ESC-Schlagerwettbewerb doch nicht an Xavier Naidoo festhalten mochte (ansonsten kein Wort mehr über den insgesamt verkorksten Vorgang). Er wird bestimmt nicht den vergifteten Kampfbegriff „Lügenpresse“ im Munde führen. Dann soll er aber auch bitte nicht den Eindruck erwecken, die Journalisten würden ihm allzeit das Wort im Munde herumdrehen.




Klänge aus Arbeitswelt und Alltag bewahren – Tagung zum europäischen Projekt in Dortmund

Wer weiß noch, wie ein Webstuhl, eine Registrierkasse, ein Wählscheibentelefon oder eine mechanische Schreibmaschine geklungen haben? Eben. Längst nicht mehr alle.

Also ist es wohl an der Zeit, solche flüchtigen Geräusche zu sammeln und als kulturelle Zeichen für Mit- und Nachwelt zu bewahren. Was es damit auf sich hat, war jetzt Thema einer internationalen Expertentagung in Dortmund.

Anlass für Bilanz und Ausblick: Seit nunmehr zwei Jahren läuft das rund 500.000 Euro schwere EU-Projekt „Work with Sounds“, bei dem sechs Museen Klänge der Arbeit und des Alltags (Küchengeräte etc.) aufgenommen und systematisch erschlossen haben. Die Zusammenarbeit neigt sich vorerst dem Ende zu. Eine Fortführung ist noch fraglich. Reizvoll könnte es es sein, wenn noch mehr Länder mit anderen Traditionen mitwirkten. Dem ersten Ideengeber und Anreger des Projekts, Torsten Nilsson vom Arbetetsmuseum im schwedischen Norrköping, wäre es bestimmt recht.

(Nicht nur) akustische Kostprobe im Dortmunder LWL-Industriemuseum Zeche Zollern: Wenn die alte Dampflok faucht, verschwindet auch schon mal ein Fotograf im Nebel... (Foto: Bernd Berke)

(Nicht nur) akustische Kostprobe im Dortmunder LWL-Industriemuseum Zeche Zollern: Wenn die alte Dampflok faucht, verschwindet auch schon mal ein Fotograf im Nebel… (Foto: Bernd Berke)

Beteiligt waren bisher Arbeits- und Industriemuseen aus Krakau (Polen), Bistra (Slowenien), Tampere (Finnland), Brüssel (Belgien) und Norrköping (Schweden) sowie das Dortmunder LWL-Industriemuseum, wo heute eine auch optisch besonders imposante Klangkostprobe vorgeführt wurde: Eine alte Dampflokomotive machte ordentlich Zisch-, Fauch- und Pfeif-Geräusche. So herrlich sinnlich klingt kein ICE. Wie denn überhaupt die meisten Klänge der digitalen Jetztzeit seelenloser anmuten als die industriellen Vorläufer.

Unter den bisher rund 600 Tonaufnahmen (etwa 100 pro Museum) gab es zwar die eine oder andere Doublette, doch hat sich längst erwiesen, dass sich vermeintlich gleiche Geräusche in verschiedenen akustischen Umgebungen und Kontexten verändern. Manche Städte haben ihre ganz eigene Melodie. Doch auch derlei Unterschiede gehen tendenziell verloren. Ach, Europa!

Kenner der Materie achten freilich auf feine Differenzen und versichern, dass ein Webstuhl von 1920 anders rattert als einer von 1940. Überdies haben sich im Laufe des Projekts verschiedene Schwerpunkte ergeben. In den skandinavischen Ländern überwogen Geräusche der Holzverarbeitung, im Ruhrgebiet halt Klangfolgen (oder auch „Krach“) aus der Schwerindustrie. Apropos: Auch das „Lärmbewusstsein“ unterliegt historischem Wandel.

Bei all dem geht es nicht etwa um pure Nostalgie. Sicherlich weckt das eine oder andere Geräusch schwindender Gewerke vor allem bei Älteren wehmütige Erinnerungen, doch drehte sich die Tagung nicht zuletzt um konkrete praktische Nutzanwendungen.

So könnten etwa Museen von der akustischen Feldforschung profitieren und ihre Präsentationen künftig öfter gezielt mit Sounds anreichern – ein bislang arg vernachlässigter Weg, Besucher anzusprechen. Auch ist es denkbar, die Wahrnehmung von Demenzkranken mit klanglichen Erinnerungen anzuregen. Überhaupt wurde bei der Dortmunder Tagung in vielerlei Richtungen debattiert, so manche Disziplin konnte wahrscheinlich Sinnreiches beitragen.

Na klar, man kann sich die gesammelten Tonbeispiele selbst anhören. Die bisherigen Resultate des Projekts stehen online und sind frei zugänglich. Mehr noch: Man darf all diese Töne auch kopieren, kreativ verwandeln (schon entstehen erste Kompositionen) und bei Bedarf sogar kommerziell verwenden. Doch in erster Linie sind Künstler, Schulen und andere Bildungseinrichtungen eingeladen, sich zu bedienen.

Wie überall üblich, so werden auch für www.workwithsounds.eu die Klickzahlen registriert. Und welches Geräusch wurde mit Abstand am häufigsten aufgerufen? Der belgische Zahnarztbohrer. Worauf das wohl schließen lässt?




Vom Mikro zur Motorsäge – die zweite Karriere von Pia Lund („Phillip Boa & the Voodooclub“)

Sie war Sängerin bei Phillip Boa & the Voodooclub, der einzig wirklich erfolgreichen und international anerkannten Dortmunder Band. Heute arbeitet Pia Lund alias Pia Bohr als bildende Künstlerin im Dortmunder Klinikviertel. Unser Gastautor Michael Westerhoff hat sie dort besucht.

Pia Bohr alias Pia Lund (Foto: privat)

Pia Bohr alias Pia Lund (Foto: privat)

Pia Bohr arbeitet dort, wo sie lebt. In einem Hinterhof-Loft des Dortmunder Klinikviertels. „Hier ist nichts richtig gedämmt, im Winter ist es sehr kalt“, bremst Pia Bohr meine Begeisterung. Ihr Hund hat es sich auf einem Teppich gemütlich gemacht. Wir sitzen in ihrer Küche, die gleichzeitig Schlafzimmer und Wohnzimmer ist. Halt ein großer Raum, in dem sich das Leben abspielt.

Außer der Kunst. Die hat Pia Bohr ausgelagert. In einen Vorraum des Lofts. Wenn sie Baumstämme mit der schweren Motorsäge bearbeitet, staubt es mächtig. Holz für ihre Skulpturen holt sie einmal im Jahr in Italien: „Ich packe dann so viel wie möglich in den Kofferraum und fahre mit dem schwer beladenen Wagen nach Hause“.

Nach Hause – das ist seit einigen Jahren wieder Dortmund, nachdem sie einige Zeit mit ihrem früheren Partner Phillip Boa auf Malta gelebt hat. „Ich bin viel unterwegs und froh, wenn ich wieder hier hin komme“, erzählt sie. Pia weiß, dass Dortmund nicht der Nabel der Kunstwelt ist, sie fühlt sich hier aber wohl. Übrigens genauso wie ihr Ex-Partner Boa, der mittlerweile wieder zeitweise in der Stadt lebt.

„Du hast dich mit ihm im Café Strickmann getroffen? Da hat er schon früher immer seine Interviews gegeben.“ Es ist ein, zwei Jahre her, dass wir dort über Musik, aber insbesondere über Musiker, die an Streams und Downloads kaum noch etwas verdienen, gesprochen haben. Das ist durchaus auch für Pia ein Thema: „Die sollen schön weiter auf Tour gehen“, grinst sie. Bohr ist Mit-Autorin der meisten Lieder, bekommt also Tantiemen, wenn ihr Ex Phillip Boa mit den Songs auf Tour geht…

Mit Musik hat sie sonst nicht mehr viel zu tun. 2013 ist Pia Bohr ein zweites Mal beim Voodooclub ausgestiegen. Es hatte mal wieder Krach gegeben. „Ich würde gern mal wieder einen Song schreiben, das fehlt mir“, sagt sie. Die Auftritte mit der Band weniger. Doch sie hat den kreativen Prozess vom Schreiben bis zum Aufnehmen der Songs genossen.

Sie ist stolz auf ihre musikalische Vergangenheit: „Wir haben uns nie verbogen.“ Mit „Container Love“ oder „This is Michael“ hatten Phillip Boa & the Voodooclub ein paar passable Hits, arbeiteten mit dem Produzenten von David Bowie und verkauften in 30 Jahren immerhin rund zwei Millionen Tonträger. Dass sie keine Superstars wurden, lag wohl eher daran, dass sie Promotion und Marketing weitgehend vermieden haben.

Das Potenzial hatten sie. Auch wegen der einprägsamen Stimme von Pia Lund, wie sie sich damals nannte. „Sie haben sich durch ihre unnahbare Art viel kaputt gemacht“, sagen manche Kritiker. An Pia Bohr kann es nicht gelegen haben. Sie ist eine offene, sympathische Frau, mit der es Spaß macht, über Gott und die Welt zu reden.

Tim Renner holte die Band in den 80ern vom eigenen Independent-Label zur großen Polydor. „Der Renner ist ja jetzt Staatssekretär für Kultur in Berlin“, sagt Bohr. „Und er legt sich gerade heftig mit Claus Peymann an“, ergänze ich. „Naja, mit dem kann man sich ja auch gut anlegen“, antwortet Bohr. Und schon sind wir beim nächsten Thema.

Auf dem Esstisch liegt ein Buch von Kim Gordon, Ex-Sängerin von Sonic Youth. Wie Bohr Musikerin, die in den frühen 80ern begonnen hat, wie Bohr bildende Künstlerin und wie Bohr eine der wenigen Frauen, die in der musikalischen Macho-Welt der 80er als Frau bestehen konnte.

"Spionin" - eine Skulptur von Pia Bohr (Foto: Pia Bohr)

„Spionin“ – eine Skulptur von Pia Bohr (Foto: Pia Bohr)

Für Wehmut gibt es jedoch keinen Anlass: „Heute kann ich entscheiden, was ich arbeite und wie ich arbeite, ich muss nicht mehr in einer Gruppe agieren.“ Sie genießt sie ihre Unabhängigkeit: „Ich muss keine Kompromisse mehr machen, kann tun und lassen, was ich will. Das war schon immer mein Traum“.

Ein lauter Traum, von dem die Kinder in der Tagesstätte gegenüber sicherlich ein Lied singen können. Wenn sie den Motorschleifer anwirft, ist das schon Punk: „Mehr als drei Stunden am Tag schaffe ich nicht, das Gerät ist zu schwer.“ Wegen der schönen Struktur bearbeitet sie in erster Linie Birnen- und Oliven-Baumstämme.

Bohr hat zwar einen Plan, wenn sie einen der Baumstämme zu großen Skulpturen verarbeitet. „Aber dabei bricht schon mal was ab.“ Das durchkreuzt regelmäßig ihren Plan. „Man muss mit dem Holz gehen, mit ihm kommunizieren.“ Bis eine Skulptur fertig ist, können Wochen vergehen.

Demnächst stellt Bohr in Berlin aus: „Da gibt es eine richtige Kunstszene, die die Arbeiten schätzt“, sagt sie mit einem kleinen Seitenhieb auf Dortmund. „Die Dortmunder wollen kleine, quadratische Bilder.“ Allenfalls Ärzte und Rechtsanwälte kaufen im Ruhrgebiet ihre Skulpturen. Trotzdem engagiert sie sich im Vorstand der „Dortmunder Gruppe“, einer Künstler-Vereinigung, die 1956 gegründet wurde, beteiligt sich an Kunstaktionen und öffnet ihr Atelier regelmäßig für Besucher.

Auftragsarbeiten macht Bohr eher ungern, aber manchmal kann sie nicht nein sagen. Sie zeigt mir zwei kleine Holzstücke, die sie vorsichtig in Handtücher eingeschlagen hat. „Sieht man, dass das Büffelköpfe sind?“ Die Hörner und der Kopf sind klar erkennbar. Man wird sie demnächst an der Tür eines Burgerladens im Kreuzviertel bewundern können.




Makellose Technik im Dienste des Ausdrucks – die Sängerin Diana Damrau auf Bühne und CD

Diana Damrau. Foto: Michael Tammaro/Virgin Classics

Diana Damrau. Foto: Michael Tammaro/Virgin Classics

Fiamma del Belcanto“ heißt die neueste CD-Veröffentlichung der Sängerin Diana Damrau. Mit den Begriffen nimmt man’s bei Warner nicht so genau: Enthalten sind Arien des klassischen Belcanto, etwa aus „La Sonnambula“ und „I Puritani“ von Vincenzo Bellini, Raritäten wie Gaetano Donizettis „Rosmonda d’Inghilterra“, die der Opernbesucher im Ruhrgebiet vor einigen Jahren in Gelsenkirchen erleben konnte, und Ausschnitte aus Opern des mittleren Verdi, aber auch die Arie der Nedda („Qual fiamma“) aus Ruggero Leoncavallos „Pagliacci“, die das „schöne“ Singen der romantischen Ära hinter sich gelassen haben.

Wie auch immer: „Belcanto“ ist ein unscharfer Begriff geworden, der heute irgendwie mit einer geglückten Stimmtechnik und dem italienischen Repertoire zu tun hat – mehr nicht. Dass es noch wenige Sänger(innen) gibt, die mit den Mitteln dieser musikalischen Ausdruckswelt umgehen können, bewies Diana Damrau nicht nur mit ihrer CD, sondern auch bei einem Arienabend in der Alten Oper Frankfurt. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Bassbariton Nicolas Testé, sang sie Ausschnitte aus dem CD-Programm, begleitet von der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter David Giménez.

Ein Abend, der die Faszination des technisch makellosen Singens im Dienst einer klugen Expression in unsere Welt zurückgeholt hat. Trotz einer hartnäckigen Bronchitis war Diana Damrau in jedem Moment Herrin der Lage: Ein paar zögerliche Ansätze und heimliche Huster zwischendurch sind Marginalien, für die sich die Sängerin humorvoll selbst entschuldigte: Der Versuch der Ansage vor dem Konzert ging mangels gestützter Stimme des Sprechers kläglich unter.

Manchmal ist „Technik“ fast zu einem abwertenden Begriff geworden: „Technisches“ Singen gilt in diesem Sinn als instrumental, kalt, ausdrucksarm, seelenlos. Was man hören will, sind vor dem Hintergrund eines solchen Urteils die ins Grobe verzerrten „naturalistischen“ Stilelemente des Verismo oder eines deklamatorischen Wagner-Gesangs. Übersehen wird dabei, dass Gestaltung mittels musikalischer Mittel eine makellose Technik voraussetzt. Diana Damrau hat die Gabe, noch die schwierigste Phrase technisch einwandfrei zu bewältigen – und so ist sie imstande, inhaltlich erfülltes und emotional bewegendes Singen zu verwirklichen.

Zum Beispiel in Szene und Romanze der Giulietta aus Vincenzo Bellinis „I Capuleti e I Montecchi“: Das fragile Rezitativ („Eccomi in lieta vesta …“) verlangt von der Sängerin variable Pianissimo- und Piano-Schattierungen, ein sicher auf dem Atem getragenes Legato und die Kunst des sprachhaltigen, akzentuierten Bildens der Worte. Damrau macht schon in der unterschiedlichen Färbung des wiederholten Eingangswortes „eccomi“ deutlich, wie die emotionale Verfassung der blutjungen Julia ist, die sich vor einer erzwungenen Hochzeit fürchtet und nach ihrem fernen Geliebten Romeo sehnt. Die Hochzeitsfackeln brennen, aber für sie sind es verhängnisvolle Lichter, Zeichen künftigen Unglücks: Die Begriffe, die das seelische Leid des Mädchens umschreiben, färbt Damrau zwischen tonlos, fahl und düster, stets aber den rund und makellos gebildeten Ton bewahrend.

Den Namen des ersehnten Geliebten, „Romeo“, lässt sie dagegen zärtlich blühen. Damrau zeigt, wie viel Expressivität den „einfachen“ Noten Bellinis zu entlocken ist. Die Romanze „Oh! Quante volte, oh!“ legt sie dagegen eher instrumental an: Hier steht der vollendet gebildete Legato-Bogen im Vordergrund, der seinerseits nicht eine Demonstration technischer Kunstfertigkeit ist, sondern die Freiheit ermöglicht, das Singen auf den Sinn der Worte zu konzentrieren.

Wieder anders angelegt ist die Figur der Elvira aus Bellinis „I Puritani“: Damrau führt sie nicht so ätherisch ein wie vor 12 Jahre Elena Mosuc in der legendären Essener Inszenierung Stefan Herheims unter Stefan Soltesz. „Qui la voce“ nimmt sie fließend, mit kostbar klanggesättigtem Ton und leichter Akzentuierung. In ihrem Singen leuchtet das frühere Glück noch in der Wehmut über den Verlust nach. Die Cabaletta „Vien diletto“ gestaltet Damrau mit drängendem Begehren auf „vien“ – der Geliebte möge endlich kommen und sie aus dem Gefängnis ihrer Trauer befreien; der helle, neckische Ton, den Damrau anschlägt, trägt die Züge des Irrsinns.

Eine Verheißung für neue Partien in den nächsten Jahren sind die ebenso expressiv durchgebildeten Szenen aus Verdis „I Masnadieri“ („Die Räuber“) und „Luisa Miller“. Diana Damrau ist heute in der Lage, sich über die auch in Frankfurt gefeierte Violetta hinaus dem mittleren Verdi und allen großen Frauenpartien Donizettis problemlos zu nähern – und gerade bei Donizetti gäbe es noch vieles auf die Bühne zurückzuholen, von „Parisina d’Este“ bis beispielsweise „Maria di Rohan“. Mit Nicolas Testé stand ihr ein Sänger zur Seite, der zwar nicht über Damraus gestalterische Finesse verfügt, aber einen gut durchgebildeten, füllig timbrierten Bassbariton mitbringt. „Cedi, cedi“ aus dem groß angelegten Duett Raimondo – Lucia aus „Lucia di Lammermoor“ ist eine der wundervoll chevaleresken Kavatinen Donizettis, die Testé nobel zurückhaltend singt; die wehmütige Jugenderinnerung des Grafen aus Bellinis „La Sonnambula“ kleidet er in weite Phrasierung, weniger aber in die Farbe des nostalgischen Schmerzes.

Testé zeigt auch, dass die Erzählung des Ferrando aus dem ersten Akt von Verdis „Il trovatore“ meist viel zu wenig ernst genommen wird: Sie ist nicht nur dramaturgisch unersetzlich, um das Geschehen zu verstehen, sondern gibt dem Sänger auch reichlich Gelegenheit, balladeske Rhetorik zu entfalten. Testé trifft den erzählenden Duktus und beweist, dass er mit einem ansprechend gebildeten Zentrum punkten kann. So erlebt man ihn auch in der Szene zwischen Luisa und Wurm aus dem zweiten Akt von Verdis Schiller-Adaption – wobei andererseits auch deutlich wird, wo Testé am charakterisierenden Ausdruck arbeiten muss. Der „Canaille“ fehlen noch die Farben der Niedertracht.

Die neueste CD von Diana Damrau ist bei Warner Classics erschienen und enthält auch wenig bekannte italienische Arien etwa von Gaetano Donizetti. Cover: Warner Classics

Die neueste CD von Diana Damrau ist bei Warner Classics erschienen und enthält auch wenig bekannte italienische Arien etwa von Gaetano Donizetti. Cover: Warner Classics

Undankbar sind solche Arienkonzerte oft für das begleitende Orchester. Die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz scheint gleich zu Beginn unterstreichen zu wollen, dass sie das Spektakel nicht ernst zu nehmen gewillt sei: Die Ouvertüre zu Bellinis „Capuleti e Montecchi“ gerät zur Jahrmarktsmusik, mit knallendem Schlagwerk und faserigen Einsätzen: Lärm statt Brillanz, Buchstabieren von Tönen statt Atmen von Phrasen.

Auch Dirigent David Giménez weckt mit hastigen Übergängen und steifer Agogik für die Ouvertüre zu „Norma“ schlimme Befürchtungen. Es sei zur Ehrenrettung des Klangkörpers betont, dass der Abend immer besser wurde: Trotz der kurzatmigen Anlage durch Giménez und der lärmenden Coda gelang in „Norma“ der Kontrast der kriegerischen Klänge mit der atmosphärisch reizvollen Entrückung. Und das Intermezzo aus Giacomo Puccinis „Manon Lescaut“ war so ausgesprochen leidenschaftlich wie das Vorspiel zu „La Traviata“ traurig-ätherisch.

Ein Sonderlob gebührt der Cellistin, die Diana Damrau in „Ah, non credea“ aus Bellinis „La Sonnambula“ sensibel begleitete. Am Ende großer Jubel und viele Bravi für Nicolas Testé, vor allem aber für Diana Damrau, die auch aus ihrer Zeit im Festengagement an der Oper Frankfurt trotz der zwölf mittlerweile vergangenen Jahre eine treue Fan-Gemeinde hat.

Fiamma del Belcanto. Diana Damrau, Orchestra Teatro Regio Torino, Gianandrea Noseda, CD bei Warner Classics 0825646166749

Die nächsten Auftritte von Diana Damrau in Deutschland sind beim Mozartfest Würzburg am Montag, 8. Juni, 20 Uhr, in Mozarts „Le Nozze di Figaro“ in Baden-Baden am 16. und 19. Juli, bei den Münchner Opernfestspielen am 22. und 25. Juli als Lucia in Donizettis „Lucia di Lammermoor“ und als Violetta in Verdis „La Traviata“ an der Deutschen Oper Berlin ab 9. Januar 2016.




Rio Reiser wäre jetzt 65 – er fehlt mehr denn je

Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=_UlTvJ2POXM

Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=_UlTvJ2POXM

Zum Platz der Kulturen hinter der Backsteinfassade des Kulturzentrums Lindenbrauerei in Unna führt ein Weg. Er heißt “Rio Reiser-Weg”, benannt nach dem legendären Frontmann der ebenso legendären Gruppe “Ton, Steine, Scherben”.

Rio Reiser wäre heute 65 Jahre alt geworden. Und ich fragte mich gerade, ob er im Rentenalter schweigsamer geblieben wäre und den Versuch unterlassen hätte, der fortschreitend wirrer werdende Welt auf seine Art den Zerrspiegel vorzuhalten. Ich denke nein.

Rio Reiser, der am 20. August 1996 mit nur 46 Jahren starb, hieß bürgerlich Ralph Möbius. Er hatte einen Bruder mit Namen Gert und einen, der heißt Peter Möbius und blieb einst durch das Langzeitengagement des “Hoffmanns Comic Teater” in Unna hängen. Damals, in den 1980er Jahren, trieb es auch Rio Reiser dorthin, und er machte Musiken für wegweisende Projekte am Hellweg. Noch heute gibt es dort viele, die dem Musiker und Protagonisten linker Bewegungen Deutschlands liebend-kritisch verbunden blieben.

Rio wählte seinen Künstler-Nachnamen mit Bedacht: Er zog nicht von ungefähr die Romanfigur Anton Reiser herbei, die Karl-Philipp Moritz in seinem – wenn man so will “Lebenswerk” – zwischen 1785 und 1786 in drei Teilen in Berlin veröffentlichte. Anton war in diesem “psychologischen Roman” der Spross einer kleinbürgerlichen Familie, der hoch begabt nach Anerkennung und fortschrittlichen Wegen für sich und seine Zukunft strebte, der den engen Grenzen einer pietistischen Umgebung entweichen wollte, der aus dieser Umgebung zum Rebellen geradezu geboren wurde und Erfolg aus der selben Kraft schöpfte, die ihn rebellieren ließ. Diese Kraft ließ ihn aber auch sein individuelles Scheitern ertragen, in diesem Umfeld, das bisweilen zu stark für ihn war.

Rio Reiser gehörte zu den handverlesenen Intellektuellen seiner Zeit, die Karl-Philipp Moritz und seinen Gedanken zu dessen Epoche und deren besonderen Zwängen näher getreten waren. “Rebell” – das ist die treffende Bezeichnung für ihn. Abseits der immer wieder herunter gebeteten verurteilenden Stereotype, die ihn gern auch heute noch in die Nähe von Gewalt und revoluzzend-zerstörerischen Ambitionen stellen. Ja, er konnte in seinen Texten und in seinem realen Leben auch mal um sich rüpeln. Aber ihn auf solche Einzelfälle zu reduzieren, wird ihm ebenso wenig gerecht, wie ihn auf die Textzeile “… macht kaputt, was euch kaputt macht …” einzudampfen. Auch sollte man sein Lebenswerk nicht nur unter der Zeile „Rio, König von Deutschland“ in Erinnerung bewahren.

Die Deutsch-Rock-Band, deren Frontman er war, “Ton, Steine, Scherben” in der Exegese ihres Namens in die Nähe von Trümmern zu rücken, die nach einem revolutionären Akt übrig bleiben, ist auch völlig blödsinnig. Eine Herkunftsanalyse des Namens besagt, dass Heinrich Schliemann beim Ausheben von Troja Pate stand (“Was ich fand, waren nur Ton, Steine, Scherben.”) Eine andere Version entlehnt den Bandnamen einer alternativen Antwort auf die damalige IG Bau, Steine, Erden, was auch recht wahrscheinlich klingt.

Nun balgen sich völlig unterschiedliche Unterströmungen seit langem darum, ob Rio eine nennenswerte Bedeutung für die bundesdeutsche Nachkriegskultur hatte oder nicht, oder ob er sogar eher schädlich für sie gewesen sein könnte. Sagen wir es so: Das Schädlichste für die abendländische Nachkriegskultur war stets die reichsdeutsche Vorkriegszeit (so um die 12 Jahre während) und deren Nachbeben, die bis heute ihre Ausschläge auf einer nach oben hin offenen Richter-Skala hinterlassen. Und die kamen nicht von einer politischen Linken. Die seismischen Quellen waren woanders zu verorten.

Und daher meine, wenn auch sehr persönliche Einschätzung: Rio Reiser war nicht nur wesentlicher Teil eines kulturellen und gesellschaftlichen Fortschritts, er war nicht nur ein bedeutender Faktor in der modernen deutschen Musik, er war nicht nur ein kluger und facettenreicher Poet, Künstler, Sänger – Rio Reiser war in Europa so etwas wie der Bob Dylan einer Generation, die für sich Hirnselbsständigkeit erzwang, wenn versucht wurde, ihnen diese zu verweigern. Und das ist mehr als mancher Denker, mancher Dichter und fast alle Lenker dieses Landes in der Vergangenheit zu Wege gebracht haben.

Vielleicht fehlt dem Deutschland von heute, das Pegida und AfD-Populismus als akut beklagt, vielleicht fehlt ganz Europa, das Phantomschmerzen aus sogenannter „Islamisierung“ beklagt, vielleicht fehlt aber auch dem Europa, das die Terroropfer von Paris betrauert, heute eine wuchtige Stimme wie die von Rio Reiser. Sie war wahrlich nicht traumschön. Das war Bob Dylans Stimme auch nie. Aber Rio rüttelte unverdrossen wie Dylan an der Engstirnigkeit der Gesellschaft.

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Joachim Fuchsberger ist tot – Schauspieler, Showmaster, Schlagertexter

Howard Carpendale zwitscherte seine Schlagertexte, Jürgen Marcus posaunte sie, Gitta Lind schmalzte sie und sogar Udo Jürgens machte sie zu Erfolgen. Nebenher bescherte er den Stuttgarter Kickers ihre Vereinshymne: Die Rede ist von Joachim Fuchsberger, der als gebürtiger Schwabe erstaunliches Hochdeutsch sprechen konnte.

Fuchsbergers Spitzname „Blacky“ wird einerseits auf ein falsch intoniertes „Jackie“ (Fuchsbergers soldatesker Deckname als Nahkampfausbilder im 2. Weltkrieg) zurückgeführt und andererseits auf die Anekdote, er habe eine Moderation im Bayerischen Rundfunk mit  trunkener Zunge absolviert: zuviel Black and White (böser Whiskey der 60er Jahre). „Blacky“ Fuchsberger, der weißhaarige, talkende Teilzeit-Weise, ein Mit-Fundament und Mit-Denkmal des Deutschen Unterhaltungsfernsehens, starb im Alter von 87 Jahren in München.

Einen schulischen Abschluss hatte er nicht, daran hinderte ihn der großdeutsche Krieg, den er als Nahkampfausbilder (Dan-Träger im Judo) erlebte. Nach dessen Ende kam er zu uns in Revier. Weil man hier im Gegensatz zu Stuttgart unter Tage prima Geld verdienen konnte. Also schackerte er in Recklinghausen auf Zeche König Ludwig als Bergmann. Dann montierte er an Setzmaschinen im väterlichen Betrieb, versuchte sich als Chemigraf (die machten einst Klischees u.a. für den Zeitungsdruck). Schließlich strandete er wieder im Süden, in München, wo er für Hörfunk und Wochenschauen seine markante Stimme zur Verfügung stellte.

Da war er dann kurzfristig mit der Sängerin Gitta Lind verheiratet, für die er auch – wie anfangs angdeutet – das Schlagertexten in sein reichhaltiges Kreativ-Repertoire aufnahm. Aber die Entwicklung des Herrn Fuchsberger, der seit 1954 mit der Kollegin Gundula Korte verheiratet war, ist da noch längst nicht am Ende.

Es trieb ihn zu einer finalen Leidenschaft: Er wurde Schauspieler. Speziell der Bühne blieb er bis zu seinem Tode treu. Es begann mit wenig erinnerungswürdigen Nebenrollen, bis er als Gefreiter Asch in der Verfilmung von Hans Hellmut Kirsts Roman-Trilogie „08/15“ über Nacht populär wurde. Und dann natürlich die unvergleichlichen Filme nach Edgar Wallace…

Wisst Ihr noch?  Der Frosch mit der Maske – da ist er der jugendliche Hobbydetektiv Richard Gordon, Die Bande des Schreckens  – „Blacky“ als Chefinspektor Long (Vorlage für eine Figur in einer späteren Parodie namens „Wixxer“), Die toten Augen von London, Das Geheimnis der gelben Narzissen, Die seltsame Gräfin, Das Gasthaus an der Themse, Der schwarze Abt, Der Hexer, Der Mönch mit der Peitsche. Kennen wir alle noch, ich gestehe freimütig, dass auch ich fast alle gesehen habe. Und alle wiedererkannt hatten wir sie in der genialen Tobi Baumann-Klamotte Der Wixxer, in dessen 2. Auflage Neues vom Wixxer Joachim Fuchsberger als ehemaliger Scotland-Yard-Chef Lord David Dickham auftritt. Mit dabei waren damals noch Chris Howland, Ingrid van Bergen und Wolfgang Völz – ebenfalls Wallace-Veteranen aus den 1960ern.

Nach seiner filmischen Ausflügen durch nebelige London wendete sich Joachim Fuchsberger der Fernsehmoderation zu: Auf Los geht’s los oder Heut‘ Abend hießen seine Formate, die er bestimmt und lächelnd beherrschte („Je älter ich werde, desto intoleranter werde ich.“).  Es lief immer wieder tragisch  für ihn und seine Familie. Er fing sich nach einem Schimpansenbiss eine üble Hepatitis B ein, war lange krank, litt depressiv. Sein Sohn Thomas ertrank 2010 im Kulmbacher Mühlbach.

Zwischen seinen verschiedenen TV-Verpflichtungen trieb es ihn in seine zweite Heimat nach Australien, von wo er Reportagen fürs deutsche Fernsehen lieferte.

Kaum zu zählende Preise, eine ellenlange Filmografie, prägende Auftritte im Fernsehen oder als Stadionsprecher der Olympischen Spiele von 1972, als er eine Panik vermied, weil er n i c h t durchsagte, dass ein Gerücht von einem Terroranschlag aufs Stadion im Umlauf sei – wenige Tage nach furchtbaren Angriff auf das Olympische Dorf. Und das war gut so, denn das Gerücht stellte sich schnell als solches heraus.

Joachim Fuchsberger war einer der zentralen Menschen in der Unterhaltungskunst für eine ganze Generation. Altwerden ist nichts für Feiglinge, lautet der Titel eines seiner Bücher. Er war kein Feigling, wurde alt und blieb bis ans Lebensende ein schaffensfroher Mann.

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Trailer zu „Der Hexer“: http://www.youtube.com/watch?v=89GmTX1SuE8




Mit Geschmack und Sentiment: Klarinettenmusik von Iwan Müller

Naxos CD 8.572885Ein anderer hätte alles hingeworfen: Da verbessert ein Deutsch-Balte namens Iwan Müller die Klappentechnik der Klarinette, schafft so ein Instrument, das auch in entlegenen Tonarten spielbar ist. Er gründet eine Klarinettenfabrik, stellt seine „clarinette omnitonique“ dem Pariser Conservatoire vor. Doch die Kommission dieser so einflussreichen wie konservativen Musik-Institution lehnt es ab, das Instrument einzuführen. Man fürchtet, der Charakter der Tonarten könne beeinträchtigt werden. Die Firma Müllers geht in Konkurs.

Doch Müller gibt nicht auf. Seine Konzertreisen sind gleichzeitig Werbefeldzüge: Mit selbst geschriebener, virtuoser Musik offeriert er die Möglichkeiten seiner chromatischen Klarinette, kann in Kassel, Berlin, Wien und London überzeugen. 1825 veröffentlicht er eine Klarinettenschule; mit Georg Wilhelm Heckel, einem begabten Instrumentenbauer aus Wiesbaden, baut er eine Serie von Musterklarinetten. Die „Müllerklarinette“ ist die Urmutter der heutigen „deutschen“ Klarinette.

Den Komponisten – und Virtuosen – Iwan Müller stellt eine kurzweilig anzuhörende CD der Firma Naxos vor: Die Klarinettisten Friederike Roth und Wenzel Fuchs spielen, begleitet von der Pianistin Erika Le Roux oder im Verein mit dem Berolina Ensemble Kammermusik des erfinderischen Weber-Zeitgenossen. Im gleichen Jahr 1786 geboren, hört man bei Müller den empfindsam-kantablen Tonfall des Romantikers, mehr noch freilich die Einflüsse der Belcanto-Oper des beginnenden 19. Jahrhunderts. Müller war Solo-Klarinettist unter anderem an der Pariser Oper, bevor er seinen Lebensabend am Hof von Schaumburg-Lippe in Bückeburg, an der Ostgrenze zu Westfalen, verbrachte. Dort starb er 1854.

Müllers Musik gehört zu jener später verpönten Art von Virtuosenmusik, die – zu schwer für den Dilettanten – vor allem der anspruchsvollen Unterhaltung und der Präsentation der spieltechnischen Raffinesse eines Solisten diente. Einen Mozart oder gar Beethoven wird man in seinen beiden Klarinettenquartetten aus dem Jahr 1820 nicht entdecken – aber das macht auch nichts: Müller entwickelt seine Melodien mit einem aparten Charme, der auch heute noch mit Vergnügen zu hören ist.

Ein Werk wie die „Scène romantique“ erinnert in seinem ersten Satz, „Adagio con espressione“, an Leidens- und Traumszenen aus der Oper; eine Polonaise wie „Le château de Madrid“ gibt der Klarinette reichlich Gelegenheit, wie eine Primadonna aufzutreten. Verzierungen, Rouladen, Sprünge, chromatische Eintrübungen, weite Legatobögen: Der stets mit leuchtend-brillantem Ton spielenden Klarinettistin Friederike Roth wird nichts geschenkt.

Auch die Pianistin Erika le Roux pflegt die theatralische Geste, ohne sich allzu sehr vom Sentiment zu distanzieren oder es überbetont zu denunzieren. Solche Musik will mit Geschmack und Sensibilität gespielt sein – und die Musiker, einschließlich der Streicher des Berolina Ensembles (David Gorol, Andreas Mehne, Martin Smith), pflegen diese Tugenden.

Fast möchte man meinen, im „Souvenir de Dobbéran“ für zwei Klarinetten und Klavier höre man das rhythmische Stampfen der Dampf-Schmalspurbahn, die heute noch Bad Doberan mit der „großen Welt“ verbindet – aber von diesem modernen Verkehrsmittel hatte Müller noch keine Ahnung. Eine CD, die an einem dämmrigen Nachmittag oder zu einer Tasse Tee mit Vergnügen hören lässt – und die ein Fenster in eine musikalische Kultur öffnet, die uns heute nur noch in Bruchstücken bekannt ist.

 

Iwan Müller: Souvenir der Dobbéran. Clarinet Quartets Nos. 1 and 2, Naxos 8.572885




Von der Lust am Werden: Schubert-Symphonien mit Pablo Heras-Casado

Zu den unseligen Traditionen in der Musikrezeption gehört, dass seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert der historische Belang zunehmend zum Qualitätskriterium erhoben wurde: Nur noch, was strukturell tiefgründig war, was als Fortschritt eingeschätzt wurde und was im hegelianischen Sinne den Zeitgeist voranbrachte, war es wert, dauerhaft zur Kenntnis genommen zu werden.

Vor diesem – tief im Unterbewusstsein der sich wahrhaft gebildet wähnenden Schicht weiter wirksamem – Kriterium musste vieles verblassen: vom „wälschen Tand“ angefangen über vermeintlich Epigonales und Kleinmeisterliches bis hin zu skurrilen Seitensträngen der Entwicklung. Und natürlich auch Erzeugnisse aus den Lehrjahren der wahrhaft Großen: Wagners für Bayreuth unwürdige Frühopern etwa schieben vor allem Wagnerianer immer noch halb geringschätzend, halb peinlich berührt zur Seite.

Auch für unbestrittene Meister wie Franz Schubert gilt das selektive Prinzip: Seine Opern? Fehlanzeige! Seine Lieder? Von den Hunderten, die er geschrieben hat, sind ein paar Dutzend bekannt. Und seine Symphonien? Von denen war schon der alte Brahms überzeugt, sie sollten besser „mit Pietät bewahrt“ als veröffentlicht werden. Der Konzertbetrieb schließt sich dieser Ansicht in der Praxis bis heute mehrheitlich an: Von der „Unvollendeten“ und der „großen“ C-Dur-Symphonie abgesehen sind sie selten auf den Programmen anzutreffen.

Franz Schubert, Symphonie Nr. 3 & 4, Pablo Heras-Casado, Freburger Barockorchester, Harmonia Mundi HMC 902154

Franz Schubert, Symphonie Nr. 3 & 4, Pablo Heras-Casado, Freburger Barockorchester, Harmonia Mundi HMC 902154

Das könnte sich ändern: Schuberts frühe Symphonien sind in letzter Zeit mehrfach neu und aufregend frisch eingespielt worden – und eine der besten Platten neuen Datums ist die Aufnahme der Dritten und der Vierten mit dem Freiburger Barockorchester unter Pablo Heras-Casado. Der spanische Dirigent, der sich bei Verdi ebenso zu Hause fühlt wie in der Barockmusik oder im 21. Jahrhundert, will nichts in diese Versuche des jugendlichen Komponisten hineingeheimnissen: Er bringt sie als frisch-pointierte Zeugnisse der Zeit. Die Dritte ist im Frühsommer 1815 entstanden, die Vierte im April 1816, beide für ein Orchester aus Liebhabern und Profis, das im privaten Rahmen spielte.

Haydn grüßt, Mozart hopst

So hört man in der „Adagio maestoso“-Einleitung der D-Dur-Symphonie (D 200) den erhabenen Stil von Schuberts Lehrer Antonio Salieri; das lebhafte Brio des Allegro könnte aus einer komischen Oper der Zeit stammen. Haydn grüßt von seinem Schreibtisch, wie er an einer seiner Ideen tüftelt; Mozart hopst mit tanzfreudigem Rhythmus und federnden Bläsern um die Ecke. Schließlich grüßen auch schon die Rouladen und Crescendi, mit denen Gioacchino Rossini die Wiener in einen süchtig machenden Taumel versetzte.

All diese musikalischen Zeitaspekte, die Schubert auf versierte und zum Teil schon sehr eigenwillige Weise verarbeitete, macht Heras-Casado mit dem phänomenalen Freiburger Barockorchester hörbar: mit vibrierender Energie zumal in den Vivace- und Presto-Sätzen, mit eleganter Leichtigkeit der Bläser, mit energischen, aber nicht überdrehten Tempi, mit exakter Artikulation, mit Pfiff im Rhythmus und mit klaren, schroffen Akzenten, Sforzato-Einwürfen oder vehement-kantigem Pauken-Donner. Eine tragfähige, aus dem Geist einer undogmatischen, „historisch informierten“ Aufführungspraxis belebte Alternative zur legendären Aufnahme von Schuberts Dritter (und Achter) unter Carlos Kleiber.

Pablo Heras-Casado war 2011 anlässlich seines Debüts bei den Essener Philharmonikern sogar als Nachfolger für Stefan Soltesz im Gespräch. Seine Karriere weist weiter steil nach oben: Am 2. April hatte er sein Debüt beim New York Philharmonic Orchestra; im März leitete er erstmals das Philharmonia Orchestra London. Erst am 16. März war er mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra zu Gast in der Essener Philharmonie. 2014/15 wird Heras-Casado an der Met Bizets „Carmen“ dirigieren; im Juli steht er beim Festival von Aix-en-Provence bei Mozarts „Zauberflöte“ am Pult.

In der Region gastiert Heras-Casado im Rahmen seiner Tournee mit dem Freiburger Barockorchester am 13. April in der Kölner Philharmonie. Auf dem Programm stehen die drei Konzerte für Klavier, Violine und Cello von Robert Schumann.

Franz Schubert, Symphonies Nos. 3 & 4, Freiburger Barockorchester, Pablo Heras-Casado, Harmonia Mundi, HMC 902154




Ansichten eines Hörbuchjunkies (8): Der Hundertjährige, bei dem es nie langweilig wird

Jonasson_Jonas_Der_Hundertj_hrige_der_aus_dem_Fenster_stieg_und_verschwandNun kommt das 100-jährige Chaos auch als Film: Jonas Jonassons Erstling, der mich als Hörender platt machte. Das muss ich sehen.

Allan Karlsson soll zum so sehr besonderen Anlass seines 100. Geburtstages ein Fest im Altenheim von Malmköpping gegeben werden, eine Vorstellung, der Allan nur ungern und missvergnügt entgegen sieht. Und so fasst der ungewöhnlich rüstige ältere Herr einen wegweisenden Entschluss. Er öffnet das Fenster seines Altenwohnraumes, zwängt seine Gestalt trotz zugegebenermaßen rostiger Gelenke durch die Öffnung und entweicht in eine ihm fast unbekannt gewordene Freiheit. Wie der Titel schon sagt: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“.

Und dann beginnt eine Handlung, deren Absurdität nur einer übertreffen kann, der Autor Jonas Jonasson selbst, was er auch mit dem Nachfolgewerk „Die Analphabetin, die rechnen konnte“ tat. Doch noch sind wir bei Allan, der seine bewegungsallergische Gestalt hinaus in die nahe Ferne bewegt und an einer Bushaltestelle die erste Begegnung mit menschlichen Wesen der Gegenwart hat. Mit einem jungen Mann, der Allan bittet, mal kurz auf seinen Trolleykoffer aufzupassen, während er sich im WC erleichtern will.

Gutmütig willigt der alte Mann ein, klettert aber, als der Jüngling nicht schnell genug zurückkehrt, in den pünktlich eintreffenden Bus Richtung Strängnäs und entschwindet, mit Koffer und Inhalt, der aus sehr viel Geld besteht, wie sich später herausstellt.

Nun beginnt sich um Allan, während er sich immer weiter vom behaglichen Altenheim entfernt, ein Freundeskreis zu scharen, der seinesgleichen sucht. Es beginnt mit dem 70-jährigen Forstdieb Julius Jonsson, bei dem der gutherzige Kofferdieb einkehrt und alsbald wieder von dem ihn wütend verfolgenden Jüngling eingeholt wird, den die beiden Greise aber ungewollt nach kurzem Kampf einfrieren, weil sie vergessen, die Kühlung im Gefrierraum abzustellen, in den sie den Ganoven, Mitglied einer Rockerbande, einsperren.

Der sich zufällig erweiternde Freudeskreis gewinnt Julius, den Langzeitstudenten, hinzu, den ehemaligen Imbissbudenbesitzer Benny Ljungberg und die einsam auf ihrem Hof lebende Gunilla Björklund, auch „die Schöne Frau“ genannt, die eine aus einem Zoo in Växjö entflohene Elefantendame namens „Sonja“ ständig mit sich führt. Später gesellen sich noch der Rockerbandenchef und der ermittelnde Polizeibeamte dazu, der eine, weil er seinen Kindheitsfreund in der schrillen Gesellschaft wiedertrifft, der andere, weil er die Nase voll hat vom Leben des Beamten.

Zwischen die krassen Ereignisse rund um den wachsenden Kreis irrer Neuzeitgenossen streut Jonasson die Rückblenden auf das lange Greisenleben, vom begabten Jung-Sprengmeister, über den beiläufigen Geistesblitzer, der das Manhattan-Projekt in Los Alamos rettet und zum besten Kumpel von Harry Truman wird, mit Zwischenstation in China, wo er Maos Frau vor den bösartigen Attacken der Chiang Kai-chek-Gattin bewahrt bis zum Gefängnis in Teheran, wo Allan den staatsbesuchenden Churchill von einem fiesen Attentat bewahrt. Ach ja, und Stalin trifft er auch…

Episch breit und nie breit getreten, keine Sekunde langweilig, bunt und schrill wandert die Geschichte durch die Jahrzehnte, geleitet von einem zunächst beschränkt wirkenden Helden, dessen unbedarfte Art ihn stets die direktesten Wege gehen lässt, und der dabei über Brücken läuft, die kein anderer erkennt. Beiläufig zupfen Jonassons Figuren schier allem, was hohen Rang oder historischen Wert hat und an Institutionen, die mehr um ihrer selbst als wegen ihres gesellschaftlichen Gewichts existent gehalten werden, jede erdenkliche Maske der Seriosität ab.

Peter Weis‘ sonores Organ erzählt über 13 Stunden lang, als sei es sein eigenes Leben…

Jonas Jnasson: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“. Gelesen von Peter Weis. 13 Stunden und 25 Minuten. Der Hörverlag.

Kinostart: 20. März 2014 (u. a. Camera und Cinestar (Dortmund) / UCI, Union und Casablanca (Bochum) / Cineworld (Lünen) / Schauburg (Gelsenkirchen) / CinemaxX und Lichtburg (Essen))




Pete Seeger: Die Stimme der Minderheiten und Unterdrückten ist verstummt

Wenn Joan Baez‘ Stimme wie eine Freiheitsglocke mit „We shall overcome“ aus dem Getümmel eines Ostermarsches klang, wenn Bob Dylan elektronisch verstärkt klampfte und sein Vorbild ihm den Stecker rauszog, wenn Bruce Springsteen mit ihm gemeinsam Musik zu Ehren des ersten schwarzen Präsidenten der USA machte und beide offenbar Hoffnungen in Barack Obama setzten – und wenn der große Woody Guthrie nur mit ihm zusammen „The Alamac Singers“ gründen wollte, dann fiel stets sein Name: Pete Seeger, der viel Verstand und Musikalität, politische Integrität, unbeugsamen Widerstandsgeist und das Krächzen seines 5-saitigen Banjos gegen jeden Zeitgeist  setzte, ist im Alter von 94 Jahren in einem Krankenhaus seiner Geburtsstadt New York gestorben.

Er war Soziologiestudent in Harvard, brach aber gelangweilt ab, um sich einer lebenslangen Leidenschaft zu widmen, der Musik seines Heimatlandes. Es begann damit, dass er amerikanischer Volkslieder und Blues aus den Südstaaten sammelte. Und er nahm sein Banjo zur Hand, spielte eigene Lieder und machte die ersten Schritte dorthin, wo er bis zu seinem Tode seine Aufgabe sah: Unterdrückten, Ausgebeuteten und Minderheiten eine laute und allerorts in den USA und darüber hinaus vernehmbare Stimme zu verleihen.

In der Tradition seines Freundes Woody Guthrie wurde er der Großvater der Folkmusik und sah in ihr ein Werkzeug, das gegen Machthaberei und für Bürgerrechte eingesetzt werden konnte. Und seine – heute würde man sie vielleicht „Follower“ nennen – Weggefährten und „Jünger“ tun es ihm nach.

Pete Seeger unterstützte Henry A. Wallace, den demokratischen Präsidentschaftskandidaten von 1949. Vergebens, wie wir wissen, denn statt des integren Wallace kam Harry Truman an die Macht, dessen Intellekt eher als ergänzungsbedürftig anzusehen war. Pete Seeger weigerte sich 1955 standhaft, vor dem Tribunal-Herren McCarthy und dessen „Komitee gegen unamerikanische Umtriebe“ auszusagen, was ihm eine Haftstrafe von 10 Jahren einbrachte; nur eines musste er absitzen. Aber darauf wurde er 17 Jahre lang boykottiert. Kein kommerzielles US-Medienunternehmen wollte ihm mehr eine Bühne geben.

Also schuf er sich selbst seine Öffentlichkeit, gemeinsam mit Theodore Bickel, der mit ihm das Newport Folkfestival auf Rhode Island anregte und zum Leben erweckte. Dort drehte er auch dem jungen Bob Dylan den „Saft ab“, was dazu führte, dass dessen Nuschel-Gesang gar nicht mehr beim Publikum ankam und der arme Kerl ausgebuht wurde. Pete Seeger meinte später kleinlaut, dass er doch nur Bob Dylans Lyrik verständlich werden lassen wollte, die durch die brüllende elektronische Beschallung nicht mehr zu verstehen war.

Bis ins hohe Alter blieb Pete Seeger, übrigens Neffe des Lyrikers Alan Seeger, musikalisch und damit politisch aktiv, hob für den Umweltschutz seine Stimme, stritt stets für Menschenrechte und war zur Stelle, wenn es darum ging, Solidarität mit denen zu zeigen, die geknechtet wurden. Pete Seeger war der Denker, der Philosoph und der sammelnde Bewahrer ganzer Musik- und Musikergenerationen. Die Themen seiner Lieder werden wohl nie ihre Aktualität verlieren. Bye, Pete.




TV-Nostalgie (7): „Beat Club“ – Endlich gab’s die heiß ersehnten Klänge…

Haben wir je eine TV-Sendung heißer herbeigesehnt? Bestimmt nicht! Wir waren ja gerade im richtigen Alter dafür. Und der „Beat Club“ kam (ab 25. September 1965, samstags zunächst von 16.45 bis 17.15 Uhr) zwar reichlich verspätet ins verschnarchte deutsche Fernsehen, aber irgendwie doch gerade noch rechtzeitig. Yeah!

Seither gehört Uschi Nerke, die im Monatsrhythmus all die Auftritte und Filmeinspielungen immerzu munter präsentierte, zu den unvergänglichen Ikonen des Mediums. Mit den Jahren trugen sie und die zeitweise unvermeidlichen Go-Go-Girls dann etwas knappere Röcke.

Schon ein paar Tage her: Uschi Nerke präsentiert den "Beat Club" - © Radio Bremen/ARD - Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=VMzoVYcJHyQ

Schon ein paar Tage her: Uschi Nerke präsentiert den „Beat Club“ – © Radio Bremen/ARD – Screenshot aus http://www.youtube.com/watch?v=VMzoVYcJHyQ

Am Anfang war es brav und bieder

Die Jugendlichen, die da anfangs zur „Beatmusik“ tanzten, wirkten äußerlich noch ziemlich brav und bieder. Auch die Bands traten zumeist noch im adretten Anzug auf. Die „Warnung“, die der noch junge Ansager und spätere Tageschau-Sprecher Wilhelm Wieben der Premieren-Sendung vorausschickte („Sie aber, …die Sie Beatmusik vielleicht nicht mögen, bitten wir um Ihr Verständnis…“), war im Grunde herzlich überflüssig. Doch viele ältere Menschen regten sich damals trotzdem auf.

Rotierende Spiralen

Nicht nur die Musik wurde (vor allem ab 1967) „progressiver“, sondern auch Design und Darstellung. Der „Beat Club“ war ein Feld, auf dem man die damals noch sehr begrenzten technischen Möglichkeiten phantasievoll ausreizen konnte – bis hin zu psychedelischen Experimenten mit allerlei rotierenden Spiralen und Spiegelungen. Natürlich wurde dabei gelegentlich auch Unsinn verzapft. Doch es zeigte sich so manches Stück vom wandelbaren Zeitgeist.

Ausgebrütet wurde all das beim kleinen Sender Radio Bremen, federführend beim „Beat Club“ war der Redakteur Mike Leckebusch, damals eigentlich Jazzfan. Jetzt kommt ein Name ins Spiel, mit dem Sie bei Jauchs Millionenquiz Chancen hätten: Gerhard Augustin. Gerhard Wer? Nun, der Mann war damals – als einer der ersten seiner Zunft in ganz Deutschland – Plattenaufleger in einem Bremer Club und brachte Leckebusch auf die Spur der Beat- und Rockmusik. Augustin stand bei den frühesten Folgen auch mit vor der Kamera.

Bärenstarke PR-Show

Zugegeben: In den ersten Sendungen zählte vor allem die gute Absicht, es traten eher zweit- und drittklassige Bands auf. Der allererste Titel war übrigens – hätten Sie’s gewusst? – deutschsprachig: Die Bremer Lokalband Yankees brachte ihr Liedchen „Halbstark“ („Oh Baby, Baby, halbstark…“) zu Gehör. Fortan waren deutsche Töne allerdings verpönt.

Als jedoch die Plattenindustrie allmählich merkte, welches Werbepotenzial hier schlummerte, traten immer mehr wirkliche Größen des Geschäfts im „Beat Club“ auf, darunter etwa die Rolling Stones, die Who oder Jimi Hendrix. Uschi Nerke hätte sich nie erlaubt, bei ihren Ansagen auch nur einen Hauch von Kritik einfließen zu lassen. Nüchtern und bei Licht besehen, war der „Beat Club“ lupenreine PR-Jubel für die Musikindustrie.

Atemlose Aufnahmesitzungen

Das ändert nichts daran, dass dort oft bärenstarke Musik zu erleben war. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie wir (falls solche vorhanden waren) die Tonbandgeräte angeworfen und atemlos mit dem Mikro vor dem Fernsehlautsprecher gehockt haben – in der innigen Hoffnung, dass niemand geräuschvoll ins Wohnzimmer kam…

Heute hingegen gibt’s einen eigenen Internet-Kanal für nostalgische Musik aus der Bremer Kultsendung. Auch sind alle 83 Folgen bis zum Ende im Dezember 1972 auf DVDs zu erwerben. Und überhaupt: Jetzt sind fast alle Wellen und Netze so mit Rock und Pop angefüllt, dass es wahrlich genügt.

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Hier die Ansage zur allerersten Sendung und ein paar weitere Schnipsel: http://www.youtube.com/watch?v=VMzoVYcJHyQ




Ansichten eines Hörbuchjunkies (7): München tut dem Franz Eberhofer gar nicht gut

Tja, nun hat es auch Franz Eberhofer aus Niederkaltenkirchen bei Landshut d‘erwischt. Der bodenverhaftete Kriminale, der mit dem dörflichen Freundeskreis in engstem Kontakt und dem Birkenberger, Rudi in schier Ehepaar ähnlicher Beziehung komplizierte Fälle löst, die sich Autorin Rita Falk ausgedacht hat, er hat einen klaren Durchhänger. „Sauerkrautkoma“ heißt der fünfte Eberhofer-Krimi, und in ein solches verfiel der Plot des Romans zeitweilig. Kurz: Hätte ich keinen seiner Vorgänger gehört, fände ich das Hörbuch recht unterhaltsam. Da ich aber alle vier dieser Niederkaltenkirchen-bei-Landshut-Saga genussvoll zu mir nahm und mich bisweilen tränenlachend bei meiner gesellschaftlichen Umgebung zum Deppen machte, ist mein heuriges Urteil: Ganz nett, aber diesmal wie alle anderen auch.

Franz Eberhofer, der ja mittlerweile als die Allzweckgeheimwaffe Bayerns im Kampf gegen vor lauter Dummheit nachgerade geniale Rechtsbrecher gilt, wird von der übergeordneten Behörde versetzt. Im heimatlichen Niederkaltenkirchen bei Landshut ist er den hohen Damen und Herren zu schade, er soll München mit seinen ermittlungstechnischen Alleingängen (natürlich gemeinsam mit dem Rudi) zur Gauner freien Zone machen. Daheim wird’s derweil von dem Simmerl (weltbester Metzger und Leberkäs-Bäcker) sein Bub‘ gerichtet.

Und kaum an der Isar, da landet unverhofft eine weibliche Leiche im Kofferraum von dem Papa sein Auto, das zuvor beim Familienbesuch in der Landeshauptstadt vom Parkplatz geklaut worden war. Rätsel über Rätsel, die natürlich vom Franz in gewohnter Weise gelöst werden.

In gewohnter Weise? Na, eben nicht. Der Franz passt nicht nach München. Der kann so was nur in Niederkaltenkirchen bei Landshut. Zu wenig Schrulliges vom kiffenden Papa, zu wenig Köstliches aus der Küche der Oma, die immer nur dann was hört, wenn sie beschlossen hat, das auch zu wollen. Zu wenig vom Freundeskreis (Metzger Simmerl, Wirt Wolfi, Klempner Flötzinger), dafür etwas zuviel von der Susi, die zu ehelichen sich der Franz nun doch entschlossen hat. Na, vielleicht nicht von der Susi, aber von den ganzen Hochzeitsvorbereitungen. Es fehlt dem „Koma“ eindeutig an der Authentizität des bayerischen Dorfes und seiner verrückten Gemeinschaft. Es fehlt dem Münchner Eberhofer eindeutig am anarchischen Ermittlungsgeschehen. Und es fehlt dem Krimi-Plot vollkommen die schräge Note und der „Och-Effekt“, den seine Vorgänger  auszeichneten.

Was ist nur aus der fröhlichen Gesellschaft geworden, die einst die Susi aus Italien zurück holte. Wo sind die verbalen Sticheleien zwischen dem Franz und seinem unfehlbaren Bruder Leopold, dem nun auch noch Eheweib Panida nebst Töchterchen abhanden zu kommen drohen. Wo bleiben die unvergleichlichien Szenen, in denen Franz seine Oma durch die Weltgeschichte kutschieren muss, weil die doch dringend die Sonderangebote des wohnortnahen Einzelhandels einsammeln muss.

Rita Falk ist diesmal arg in den Trott der handelsüblichen Krimi-Autoren gestolpert, was dem fünften Fall nicht gut tat. Aber, ich gebe ja die Hoffnung nicht auf. Der sechste wird hoffentlich kommen, dann erfahre ich sicher, was auch dem kurz vor knapp nun doch nicht verheiratetem Paar geworden ist, das der Lamborghini-Fahrer mit der von ihm entführten Susi anstellt, was Oma zum Trost ihrem Enkel zubereiten wird und woran der Birkenberger Rudi sich beim ermitteln diesmal den Magen verdirbt.

Und vielleicht hat’s den Franz dann auch wieder nach Niederkaltenkirchen bei Landshut zurück verschlagen, denn er ist und bleibt kein rechter Großstadtermittler.




„Pimmel ab“ oder: Was Vierjährige hören sollen

So manches Mal habe ich mich schon gefragt, wie die Altersangaben auf Büchern, CDs, Spielen oder Puzzles für Kinder zustande kommen.

Inzwischen glaube ich, dass dabei wohl vielfach auf gut Glück verfahren wird. Nicht selten werden babyhaft leichte Aufgaben erst ab 6 Jahre ausgeschildert. Andererseits gibt es gelegentlich auch den umgekehrten Fehlgriff.

Vor mir liegt eine Hörspiel-CD mit einer Produktion des Berliner Grips Theaters: „Bella, Boss und Bulli“ erzählt die Geschichte des Mädchens Bella, das murrend in ein anderes Stadtviertel umziehen muss, weil die allein erziehende Mutter dort Arbeit gefunden hat. Bella lernt dort zwei höchst unterschiedliche Jungen kennen: Bulli war schon mal im Erziehungsheim, Boss wird vom livrierten Chauffeur im Benz zur selben Schule gebracht. Mit solchen Kontrasten erzählt es sich natürlich besser. Also geschenkt, ob es realistisch ist, dass alle drei Kinder in derselben Gegend wohnen und in eine Schulklasse gehen.

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Im weiteren Verlauf der Geschichte kommt es zu „Erpressungen im schulischen Umfeld“, um es mal vornehm auszudrücken. Ein größerer Junge hat Bulli beim Diebstahl beobachtet und droht nun, ihn zu verpfeifen – falls er ihm nicht hier mal fünf, dort mal zehn Euro gibt.

Das alles wird gekonnt als Hörspiel aufbereitet (Text: Volker Ludwig) und mit zündenden Liedern (Musik: Birger Heymann) garniert. Gewohnte Grips-Qualität eben. Nicht nur gut gemeint, sondern auch gut gemacht. Kinder ab 7 oder 8 können hier auf unterhaltsame Weise was lernen. Beispielsweise, wie man Erpressern das Handwerk legt.

Doch darum geht es hier nicht. Der Patmos Verlag, in dem die CD erschienen ist und der übrigens traditionell vorwiegend religiöse Bücher herausbringt, nennt das Ganze ein „Hörspiel ab 4 Jahren“. Also haben wir die Platte guten Glaubens für unsere Tochter gekauft, die in einigen Tagen 4 wird. Auf dem Cover deutet nichts auf eine sonderlich ruppige Gangart hin.

Heute haben wir die CD zusammen angehört. Recht unvermittelt wird da ein Junge von einem anderen bedroht: „Geld her – oder ich schneid‘ dir den Pimmel ab!“ Und dergleichen weitere Nettigkeiten. Ich muss zugeben, dass ich ein wenig in Erklärungnot geraten bin.

Wahrscheinlich gibt es Leute, die das ganz dool großstädtisch, „cool“ oder prima punkig finden und wegwerfend sagen, ein solch rauher Tonfall komme spätestens in der Grundschule ohnehin zum Zuge. Ich kann auch sagen, wie ich die Altersangabe finde: ungemein dämlich und unverantwortlich. Angesichts des sonstigen, schwer katholisch geprägten Verlagsprogramms sollten die Zuständigen sich vorsehen, dass sie nicht weitere Punkte für die Vorhölle sammeln.




Paul Kuhn ist tot: Viel mehr als „Der Mann am Klavier ohne Bier auf Hawaii“

Seinen ersten Fernsehauftritt hatte er als Achtjähriger während der Berliner Funkausstellung 1936. Er bespielte schon damals recht virtuos das Akkordeon. Anfang des Jahres 2013 sollte er, der noch hochbetagt täglich auf den Klavierstuhl kletterte und die Tasten anschlug, als wäre er gerade mal 17, auf Tour gehen. Er musste aber absagen, weil es wichtiger war, ihm einen Herzschrittmacher ans Herz zu legen.

Im März feierte er dann den 85. Geburtstag und lächelte wie immer verschmitzt in Kameras. An diesem Wochenende starb Paul Kuhn, der „Mann am Klavier“, der „auf Hawaii kein Bier findet“, der Count Basie als seine musikalische Basis betrachtete, wenn er sich als Bandleader definieren sollte, und Art Tatum als sein Vorbild, wenn er das Klavier bejazzte. Ausnahmsweise titelte heute die BILDende Zeitung mal etwas Zutreffendes: Sie schrieb von der „Jazz-Legende“ Paul Kuhn.

Was war nicht alles Gutes aus dem Landessieger Akkordeon Hessen-Nassaus des Jahres 1936 geworden. „Paulchen“ sammelte Ehrungen wie andere Briefmarken – und das in aller Stille, weil die meisten seiner Fans ihn eben nur mit dem „Mann am Klavier“, der auf „Hawaii kein Bier“ findet, gleichsetzten.

Schon 1953 wurde er als  Jazzpianist Nr. 1 in Deutschland gekürt. 1971 erhielt er die Goldene Kamera für seine Fernseharbeiten („Pauls Party“), 1976 den Deutschen Schallplattenpreis, 1976 die Hans-Bredow-Medaille für Verdienste um den Rundfunk, 2002 die German Jazz Trophy für Verdienste um die Jazzmusik, 2003 war er Klavierspieler des Jahres, 2003 erhiel er die Goldene Europa für sein künstlerisches Lebenswerk und 2010 den ECHO Jazz für sein Lebenswerk als Pianist, Dirigent und Komponist.

Der kleine Paul Kuhn, dessen Lächeln so gutmütig ansteckend wirkte, er war ein großer Künstler, konnte viel mehr als munter verswingte Big-Band-Medleys dirigieren, viel mehr als Schlagerchen intonieren und viel mehr als seine Frau Ute Mann mit ihren Singers begleiten. Er machte großartige Unterhaltungsmusik, sorgte mit seinen Freunden und Kollegen wie Greetje Kauffeld, Max Reger und Hugo Strasser dafür, dass die Unterhaltung musikalisches Niveau behielt und er weckte auch schon früh das Interesse sogenannter „ernsthafter“ Künstler. Mit Walter Richter und Hanns Lothar spielte er „Biedermann und die Brandstifter“, das war schon 1958. In der Tragikomödie „Schenk‘ mir Dein Herz“ war er an der Seite von Peter Lohmeyer zu sehen, das war noch 2010. Er spielte sich selbst, einen betagten Pianisten, der nach den ersten Tönen, die er den Tasten entlockt, offenbar in einen Jungbrunnen purzelt…

Tony Lakatos, Gary Todd, Willi Ketzer spielten mit ihm und das noch in Zeiten, da er wirklich erst auf dem Klaviersessel zur einstigen Beweglichkeit zurückfand. Niemand, der mit ihm Musik machte oder auch nur mal zu einer Session mit ihm stieß, hätte je ein Wort gefunden, das ihn unsympathisch hätte wirken lassen.

Und meine Jugend hat er streckenweise begleitet. Ich muss allerdings gestehen, dass es dabei weniger sein grandioser Jazz-Stil war (den lernte ich erst sehr viel später kennen). Aber seine Stimme war‘s, die eigentlich so gut wie keine war, aber genau das war es wohl. Nun wird er nicht mehr „den Mann am Klavier“ spielen und das „Bier auf Hawaii“ vermissen. Eine Stimme, ein Muntermacher, ein Gut-Laune-Lächeln, ein freundlicher kleiner Mann und großer Musikant mit so charakteristisch liebenswerten Lücken im Gebiss, der die Nachkriegszeit bunt erscheinen ließ, lebt nicht mehr. Tschüß Paul, du Berliner aus Wiesbaden.




Ansichten eines Hörbuchjunkies (6): Willst du boxen, Känguru?

Eines Tages steht ein Känguru vor der Wohnungstür. Artig fistelt es eine Begrüßung und stellt sich vor als neuer Nachbar. Und los geht’s.

Marc-Uwe Kling, der Pickel bekommt, wenn ihn jemand Kai-Uwe (nach: von Hassel, Minister im Kabinett Adenauer) ruft, abenteuert mit dem neuen Gefährten durch eine Umwelt, die wenig bis nichts mit den beiden Anarchisten anfangen kann, die weder Herrn Klings Weltsicht („Mein Vater hatte immer die helle Freude daran, ,Kling Glöckchen, klingelingeling …‘ Weihnachten zu spielen!“) versteht, geschweige denn teilt, die aber ebenso wenig an den schnodderig vorgetragenen Einsichten des namenlosen Kängurus erkennen kann, dass es als Alter Ego von Marc-Uwe selbst aus seinen angeblichen Vietcong-Erfahrungen noch Lehren für die Gegenwart zieht. Marc-Uwe skeptisch: „Kängurus werden doch höchsten 15 Jahre alt.“

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Die „Känguru-Chroniken“ des Kreuzberger Kiez-Kenners sind ein Fest, für die Zuhörer, die live mitmachten (es handelt sich um eine mitgeschnittene Lesung) wie für Buchhörer. „Das Känguru-Manifest“ ist ebenfalls ein Fest. Und auch bei dessen Mitschnitt gab es hörbar faszinierte Menschen im Publikum, die den Raum mit Tränen des schallenden Lachens fluteten und teilweise auch schon mehrfach Marc-Uwe Klings skurrilen Begebenheiten zuhörten, denn manche brüllen lachend los, obwohl der Gag erst im letzten Satz der Szene aufgeblättert wird. Kurz: Känguru und Kling rocken jeden Raum.

Der Autor, dessen Beute an überflüssigem Wissen bisher schon enorm ist, studierte Philosophie, gewann nachhaltige Erkenntnisse dadurch, dass er das Studium mehrfach abbrach und wieder aufnahm, legte noch Theaterwissenschaften dazu und sorgte dafür, dass die Freie Universität Berlin sich selbst nicht zu ernst nahm. Die Stories um seine Bekanntschaft mit dem Känguru entstammen einem Podcast, der wöchentlich über „Radio Fritz“ läuft. Man staunt, was dem Mann so alles einfällt, das man lieber dem Beuteltier in den Mund legt, damit es Klartext spricht, während Marc-Uwe selbst noch versucht, gesellschaftfähig zu bleiben.

Je absurder, desto besser; je unwahrscheinlicher, desto lautstärker; je irrealer, desto eindringlicher – Känguru kann sich eben alles leisten, weil es wie „Harvey“ (der weiße Hase in Mary Chase’s Bühnenstück) nur ganz auserlesenen Zeitgenossen leibhaftig werden kann – genauer gesagt: ausschließlich Marc-Uwe Kling. Oder so völlig abgedrehten Zuhörern wie mir, die mitleidig belächelt werden, weil sie mal wieder auf dem Bahnsteig warten und glucksend in sich hinein lachen, ohne dass den Nebenstehenden einsichtig wäre, warum diese Person sich vor Lachen gerade wegwirft.

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Kängurus boxen gern, so der Volksglaube. Marc-Uwe Klings Känguru auch. Die roten Boxhandschuhe findet es blitzschnell, wenn es darum geht, pöbelnden Nazis, gröhlenden Fußballfans in bierseliger Patriotenlaune oder nervigen Vertretern uniformierter Staatsmacht auf die Nasen zu hauen. Wenn es aber gezielt nach einem speziellen Beutelinhalt sucht, dann gärt die Vermutung, dass es sich bei Känguru um ein Weibchen handeln könnte, mindestens aber um ein Tier mit einseitigem Hormon-Überschuss. Dann findet es eine komplette Lkw-Umzugsladung, bis es zum begehrten Kern gelangt. Gerne auch mal Gegenstände, die ihm von Marc-Uwe, mit dem es längst eine Wohnung teilt, geliehen worden waren.

Eigentlich wollte das Känguru ja nur Eierkuchen machen, als es da so überraschend vor der Türe stand und sich als neuer Nachbar vorstellte, doch ihm fehlten die Eier. Wenig später stellte es fest, dass Mangel an Mehl herrsche, klar, gerade erst umgezogen. Dann sollten es noch ein paar Tropfen Milch sein und später etwas Butter oder so. Schließlich öffnet Marc-Uwe die Türe und deutet wortlos in die Küche zum Gasherd. Känguru hat nur ein knappes „Danke“ übrig und beginnt zu braten. Kurze Zeit darauf balgen die beiden schon energisch darum, wer die Lufthoheit über die TV-Fernbedienung hat. Es ist der Beginn einer festen Beziehung, einer andauernden Freundschaft.

Ach ja, hoffentlich geht das noch weiter, denn der dritte Teil, „Die Känguru-Offenbarung“, steht noch an. Sollte dann etwa Schluss sein?

Marc-Uwe Kling (Autor und Vorleser): “Die Känguru-Chroniken” (4 CDs), „Das Känguru-Manifest“ (4 CDs). Hörbucher (erschienen bei Hörbuch Hamburg/Downtwon), je 14,99 €.