Frei und radikal – Dortmunds gewichtige Beiträge zur Vagabundenliteratur

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann zur Geschichte der Vagabundenliteratur in der Weimarer Republik:

Zu Pfingsten 1929 fand in Stuttgart ein denkwürdiges Treffen statt. Gut 500 Obdachlose und „Tippelbrüder“ fanden sich zum „Ersten internationalen Vagabundenkongress“ auf dem Killesberg ein.

Gregor Gog, Gärtner, Vagabund und Dichter, vor allem aber Schüler von Gusto Gräser, dessen ökologisch-alternative Vorstellungen die 68-er Bewegung wieder entdeckte, hatte zu diesem Treffen aufgerufen. Hintergrund war, dass es in Deutschland durch die Weltwirtschaftskrise inzwischen über 450.000 Obdachlose gab.

Keine Bindung, kein System

In teils pathetischen, teils sachlichen Reden wurde nicht etwa die Not der Obdachlosen beschrieben und angeklagt, vielmehr wurde die Welt der Vagabunden als Alternative zur erstarrten, spießbürgerlichen Gesellschaft verstanden. Ihr Nein zur Gesellschaft hieß: keine Bindung, kein System, keine Autorität, ihr Ja dagegen bedeutete Selbstverantwortung, Persönlichkeit und Menschsein in freiem Sinne.

In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock. (Foto: Helfmann/Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

In Dortmund-Hörde erinnert heute eine Straße an den Künstler Hans Tombrock. (Foto: Helfmann – Creative Commons/Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/deed.en)

Letztlich ist ihre Ablehnung starrer Landesgrenzen auch eine Antwort auf den aufkommenden dumpfen Nationalismus. Die grenzüberschreitende Freiheit der Tippelbrüder, ihr Internationalismus also, stand gegen übersteigertes nationales Denken, dessen Gefährlichkeit sich bald zeigen sollte.

Grußtelegramme von Hamsun und Sinclair Lewis

Knut Hamsun und Sinclair Lewis schickten Grußtelegramme, Lewis mit der schönen Bemerkung, dass er gerade in den USA auf Wanderschaft sei und den Weg bis Stuttgart leider nicht schaffen könne. Es war ein Höhepunkt einer sozialen und künstlerischen Bewegung, die heute leider völlig zu Unrecht weitgehend vergessen ist.

Gregor Gog hatte zwei Jahre vorher den „Bruderschaft der Vagabunden“ gegründet und mit ihm eine literarisch-künstlerische Zeitschrift, die „Der Kunde“ hieß. Kunde ist ein Begriff aus dem Rotwelschen und bedeutet nichts anderes als Landstreicher. Etwa viermal im Jahr erschien diese Zeitschrift und enthielt Erzählungen, Gedichte und Grafiken von Künstlern, die sich auf Wanderschaft befanden. Heute ist sie eine Fundgrube der sozialen Kunst aus der Endphase der Weimarer Republik.

Selbst Hermann Hesse hat im „Kunden“ veröffentlicht, dessen „Knulp“ ja auch eine Vagabundengeschichte ist, freilich eine ohne soziale Einbettung, die für die Künstler um Gregor Gog aber typisch war. Gog tritt darin vor allem als Aphoristiker hervor: „Ob der liebe Gott den Betenden auch nur Kupfermünzen in den Hut wirft?“

In all seinen theoretischen Äußerungen zum Vagabundendasein aus jener Zeit wird deutlich, dass es Gog und seinen Kampfgefährten nicht um die Verbesserung des Sozialstaates geht, der mit Hilfsprogrammen die Obdachlosen inkludiert, sondern der Staat wird radikal abgelehnt. Er wird als Institution zur Sicherung des Reichtums in den Händen des Kapitals begriffen, Sozialprogramme sind da nur Augenwischerei. Nicht Inklusion, sondern Exklusion ist das Programm.

Hans Tombrock, ein Künstler aus Dortmund

Wichtig aus dem Kreis um Gog war der Dortmunder Maler Hans Tombrock, der später vor den Nazis fliehen musste, nach Schweden kam, dort Brecht kennen lernte und mit ihm Freundschaft schloss. In seinem Arbeitsjournal urteilt Brecht positiv über Tombrocks Malerei, die einem expressionistisch-düsteren Stil verpflichtet ist, gelegentlich bei Landschaftsbildern, die oft während seiner Wanderschaft (u.a. auf dem Balkan) entstanden, auch helle, fast impressionistische Züge bekommen kann.

Auch in Peter Weiß´ „Ästhetik des Widerstands“ taucht Tombrock in Diskussionszusammenhängen über den richtigen Weg gegen den Faschismus auf. Er hätte viel mehr Beachtung verdient, neulich aber wurde er in einer Ausstellung in den neuen Bundesländern endlich mal wieder gewürdigt. Tombrock schrieb auch kleine Erzählungen für den „Kunden“, darunter die bedrückende Geschichte einer hungernden Familie auf dem Balkan, die dem Tippelbruder Tombrock in ihrer Not die kleine, etwa zehnjährige Tochter zum Kauf anbietet. Tombrock gibt der Familie die Hälfte seines Geldes und beeilt sich, den Ort des Grauens so schnell wie möglich zu verlassen.

Mit Tombrock ist eine Zeitlang sein Dortmunder Freund, der Lyriker Paul Polte gewandert. Polte war später Mitglied in allen Gruppierungen der Arbeiterliteratur (BPRS, Gruppe 61, Werkkreis) und eine Art proletarischer Erich Kästner, der Zeit seines Lebens (die Monate der Wanderschaft ausgenommen) im Dortmunder Norden lebte, wo er in bester Luthertradition dem einfachen Volk aufs Maul schaute.

Wertvolles Material im Fritz-Hüser-Institut

Überhaupt spielten Künstler aus Dortmund eine beachtenswerte Rolle in der Vagabundenbewegung, die Maler Hans Bönnighausen, Hans Kreutzberger und Fritz Andreas Schubert kamen aus dieser Stadt. So ist es kein Wunder, dass das wohl umfangsreichste Material zur Vagabundenliteratur im dortigen „Fritz-Hüser-Institut“ lagert. Eine Wand des Instituts ist behängt mit Bildern von Tombrock.

Artur Streiter aus Berlin, Maler und Schriftsteller, muss noch erwähnt werden, weil er in seiner Berliner Zeit den Bezug zwischen Vagabundendasein und Boheme herstellte. Der Vagabund als die radikalste Form der Boheme, so hat er sich und seine Kampfgefährten verstanden. Auch der Lyriker Hugo Sonnenschein, der sich „Sonka“ nannte, hat literaturgeschichtliche Bedeutung erlangt. Er ist in fast jeder Nummer des „Kunden“ vertreten.

Die Vagabunden sind nicht immer „auf der Platte“ geblieben. Wenn sie sesshaft wurden, haben sie – wie Streiter – oft in anarchosyndikalistischer Tradition neue Lebensformen in Kommunen gesucht. Streiter gründete die Siedlung „im roten Luch“ östlich von Berlin.

Nazis verfolgten die Vagabunden als „Volksschädlinge“

Gergor Gog nahm eine andere Entwicklung. Nach einem längeren Besuch in der Sowjetunion schloss er sich der kommunistischen Bewegung an, verlor das Interesse an den Landstreichern und kämpfte nun den Kampf um die soziale Besserstellung der Arbeiterklasse. Sichtbares Zeichen ist die Umbenennung seiner Zeitschrift, die nicht mehr „Der Kunde“ hieß sondern „Der Vagabund“.

Mit Machtergreifung der Nazis wurden die Vagabunden sofort als „Volksschädlinge“ bekämpft. Schon im September 1933 führten die Nazis eine „Bettlerrazzia“ durch und verhafteten tausende Vagabunden, auch Gregor Gog. Tombruck emigrierte, sein Freund Polte wollte Dortmund nicht verlassen und fand sich prompt in der „Steinwache“ wieder, dem berüchtigten Gestapogefängnis.

Nach seiner Freilassung wegen schwerer Krankheit (Rückenwirbeltuberkulose) konnte Gog durch Vermittlung von Johannes R. Becher in die Sowjetunion fliehen, den Krieg überleben, danach aber nicht mehr zurückkehren. Nach schwerer Krankheit ist er 1945, gerade mal 54 Jahre alt, in Taschkent gestorben.

Wer die Geschichte der Vagabunden und ihrer Kunst kennt, wird die aufblühenden Obdachlosenzeitungen heute vielleicht in einem anderen Licht sehen. Spannende, auch bedrückende Sozialreportagen kann man dort finden und auch interessante Buchbesprechungen, oft aus ganz anderem Blickwinkel als bei bürgerlichen Feuilletons. Mit dieser Tradition im Hinterkopf kann es nicht mehr allein Mitleid sein, das zum Kauf anregt, sondern – sehr viel besser – eine gehörige Portion Respekt.




Von Wattestäbchen und anderen Tücken – Frank Goosen beim Festival Ruhrhochdeutsch

„Richtig erwachsen bisse erss, wenn de en ganzet Paket Wattestäbchen brauchss, um die Kotze Deiner Blagen aussem Kindersitz zu pulen“. Ein Freund klarer Ansagen und plastisch-drastischer Geschichten, die so krass wie wahr sind, sollte man schon sein, wenn man zum Festival Ruhrhochdeutsch geht. Seit Ende Juni steht wieder das schöne historische Spiegelzelt vor den Dortmunder Westfalenhallen.

IMG_20150808_184904Schon zum sechsten Mal bietet das Dortmunder Theater Fletch Bizzel dort einen umfassenden Querschnitt, vor allem durch die ruhrische Kabarettszene. Wiederkehrende Ensembleauftritte wechseln sich ab mit Gastauftritten lokaler Helden. Am vergangenen Wochenende philosophierte Frank Goosen über Durst und Heimweh, wobei der Durst wohl bei Temperaturen gefühlt wie kurz vorm dritten Aufguss überwogen hat. Für Goosen war es trotz fußballerischer Differenzen ein Heimspiel.

„Durst und Heimweh“ heißt sein neues Kabarett-Programm. Durst soll ja schlimmer sein als Heimweh, aber am schlimmsten ist für Goosen beides zusammen. Und zusammen kommt beides gerade für Ruhrgebietsmenschen meist, wenn man(n) sich auf Reisen begibt. Nun ist man ja gerade im Ruhrgebiet ständig unterwegs, Stillstand gibbet bekanntermaßen nur auffe 40. Müsste Herrn Goosen eigentlich sehr entgegen kommen, denn wie er gleich zu Beginn erklärte, fühlt er sich eh am wohlsten auf den Autobahnen des Reviers. „Flüsse und Berge trennen doch nur, Autobahnen verbinden“. Natur an sich ist ja eh völlig überbewertet, die ist ja nicht mal von Hand gemacht wie so eine ordentliche ruhrische Autobahn.

Zum Glück für den Zuschauer spielen Goosens Geschichten aber nicht nur auf der Autobahn. Aber vom Reisen erzählen sie. Seine Geschichten spielen überall und jederzeit, durch alle Lebensabschnitte. Los geht es mit den ersten Ferien, die bei Goosens vor allem mit „de Omma anne See“ führten. Nach Helgoland zum Beispiel, wo er die Grundregeln des Goosenschens Universums lernte: „Watt der Junge will, datt kriechta auch“. Logischerweise nicht ganz einfach für nachfolgende Reisebegleitungen. Bei den Klassenfahrten mit den üblichen weithin bekannten, über alle Generationen hinweg ähnlichen Nebenwirkungen ging es noch so halbwegs, aber der erste Urlaub mit Freunden und unterschiedlichen Vorstellungen war da schon schwieriger. Dies im übrigen ein Interrail-Urlaub, die nicht immer subtilen Erinnerungen teilt er wohl mit vielen seiner Generation.

Und dann der erste Beziehungsurlaub…. – nirgendwo zeigt sich mehr Konfliktpotential. Über all diese Stationen geht es im Programm zurück zu dem einzigen Urlaub, den man zweimal im Leben macht: dem Familienurlaub. In fortgeschrittenem Alter dann am anderen Ende der Befehlskette und vor der schwierigen Aufgabe stehend, einen Kompromiss zu finden zwischen Kinder-Bespaßung und Massentourismus-Allergie. Nicht nur Familie Goosen findet diesen Kompromiß zuverlässig im Staate Dänemark und deswegen war mir die Exkursion ins Dänenland, mitsamt den Tücken seiner ausgefeilten Mini- und Fußballgolfplätze auch eine ganz besondere Freude. Wirklich außerordentlich bedauerlich, dass wir nicht mehr in den Schulferien in den Urlaub müssen. Die Goosensche Performance im fliederfarbenen Strandstuhl des Grauens würde ich nur zu gerne einmal sehen.

Für uns traf es sich bei diesem Programm, dass wir an diesem Abend Urlaubsziel waren. Wir hatten Besuch von Freunden aus Bayern, die Herrn Goosen bisher „nur“ anhand seiner Bücher kannten und mehr als einverstanden damit waren, mit einem Live-Auftritt des Revier-Chronisten gleich mal die volle Dosis Ruhrpott verabreicht zu bekommen. Es passte gut, dass Frank Goosen zwischendurch immer wieder den „Jungen vonne Bochumer Alleestrasse“ durchschimmern ließ: „Da kommt mein wahres Niveau wieder durch“. Unsere Gäste waren begeistert, selbst an der Stelle, als es gegen bayrisches Klosterbräu-Bier ging, denn „Menschen, die keinen Geschlechtsverkehr haben, kann man ja prinzipiell nicht trauen.“ (Zugegeben, Herr Goosen hat es ein klein wenig weniger vornehm formuliert).

Dafür kann man den Programmen des Frank Goosen sicherlich immer trauen. Dem Buchautor sowieso, aber auch den Kabarettisten mit direktem Draht zum Publikum, den hat der gelernte Tresenleser einfach drauf. Für ihn braucht es nur ein wohlgesinntes Gegenüber, eine Bühne ohne störendes Gedöns und der Bochumer nimmt den ganzen Saal gestenreich, oft genug freihändig ausse Lameng realitätsnah erzählend mit, diesmal eben auf die Reisen seines Lebens.

Frank Goosens Termine und anderes auf seiner Homepage
Das Festival Ruhrhochdeutsch geht noch bis in den Oktober, weitere Infos auf Ruhrhochdeutsch.de

P.S. @ Herrn Goosen: Falls Sie den Gag mit dem Komasaufen doch nicht aufgeschrieben haben – ich glaub, ich krieg das noch hintereinander…




„In Pittsburgh roch es wie in Oberhausen“ – Wim Wenders‘ Fotografien in Düsseldorf

Foto: Wim Wenders/Courtesy Blain Southern

„Dust Road in West Australia“ (1988) (Foto: Wim Wenders/Courtesy Blain Southern)

Weit sind diese Landschaften, leer und von einem überdimensionalen Himmel überspannt: Die Handschrift des Filmemachers Wim Wenders drückt sich kongenial auch in seinen großformatigen Fotografien aus. Noch bis Mitte August ist die Ausstellung „4 REAL & TRUE 2“ des gebürtigen Düsseldorfers Wenders im Museum Kunstpalast in der NRW-Landeshauptstadt zu sehen.

Interessanterweise beobachtet Wenders „Menschenleere“ nicht nur in Weltgegenden wie dem Mittleren Westen der USA oder der australischen Wüste, die naturgemäß dünn oder gar nicht besiedelt sind. Er schafft diesen Eindruck auch in Fotos aus Japan oder Israel, in denen durchaus menschliche Ansiedlungen zu sehen sind, doch auch hier von Ferne, aus der Distanz.

Manchmal schlägt die Naturbetrachtung sogar ins Idyll um und nimmt Caspar David Friedrichsche Züge im Medium der Fotografie an. Die Landschaft selbst scheint zu sagen „Seht her, wie schön ich bin.“ Ganz ohne den Hinweis eines menschlichen Vermittlers, der dem Betrachter die Naturwunder erst erklären muss. Und so wirft man als Museumsbesucher einen ganz neuen und unverbrauchten Blick auf die Elblandschaft im Sommer oder die Morgendämmerung über dem See Genezareth.

Doch wohnt allen Bildern ebenso das narrative Element des Filmemachers inne, denn nahezu zu jedem gibt es eine Geschichte. „Der Weg nach Emmaus“ zeigt einen Pfad durch eine Gebirgslandschaft, sonst nichts. Trotzdem ist die Fotografie aufgeladen mit biblischer Geschichte, im Kopf des Betrachters laufen die Szenen der Begegnung von Jesus und seinen Jüngern ab, obwohl von ihnen auf dem Foto gar nichts zu sehen ist.

Ähnlich verhält es sich mit Wenders‘ Bildern von Ground Zero in New York: Die Sonne bricht durch die Wolken und beleuchtet zerstörte Hochhäuser und Krater im Boden; als Betrachter erinnert man sich sogleich an 9-11 und verknüpft die Ruinen unweigerlich mit der Tragödie der Terroranschläge. Absolut unheimlich sind Wenders‘ Bilder aus Fukushima nach der Reaktorkatastrophe, denn sie zeigen die unsichtbare radioaktive Strahlung als wellenförmige Linie auf der Fotografie. Wenders hat diese „Zerstörung“ der Fotos erst nach seiner Rückkehr aus Japan entdeckt.

In Armenien hat Wenders ein verlassenes und halb kaputtes Riesenrad fotografiert, das auf einem freien Feld steht. Hier erzählt erst der Gegenschuss die ganze Story: An der gegenüberliegenden Wand zeigt sein Foto eine verlassene russische Kaserne; mit den Soldaten ist auch ihr Vergnügungspark obsolet geworden.

Eine Entdeckung mit lokalem Bezug waren für mich die Wenders-Fotos aus einem Eisenbahntunnel in Wuppertal: Sie zeigen bunte Graffiti-Männchen – gemalt von den Zwillingen Os Gemeos aus Sao Paulo – deren leuchtende Gesichter in der Schwärze des Tunnel kontrastreich aufscheinen und irgendwie rührend wirken, als habe man die kleinen Gespenster bei ihrem geheimen Treiben im Dunkeln überrascht.

Und auch an das Ruhrgebiet denkt Wenders: In Schwarz-Weiß hat er eine (etwas trostlose) Straßenecke in Pennsylvania fotografiert, der Text dazu lautet: „In Pittsburgh roch es genauso wie in Oberhausen im Ruhrgebiet, wo ich aufgewachsen bin.“




Die Welt der Pilger – Ausstellung im Museum für religiöse Kultur in Telgte

Auf der Falkenburg bei Detmold gefunden: Ein "vera icon", ein Pilgerzeichen aus Rom aus dem 13./14. Jahrhundert mit dem Antlitz Christi. Leihgabe und Foto: Lippisches Landesmuseum Detmold.

Auf der Falkenburg bei Detmold gefunden: Ein „vera icon“, ein Pilgerzeichen aus Rom aus dem 13./14. Jahrhundert mit dem Antlitz Christi. Leihgabe und Foto: Lippisches Landesmuseum Detmold.

Was Telgte und seine Marienkapelle schon sind, kann das „Religio“ in diesem Jahr werden: eine Pilgerstätte. Jetzt ist im Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte die Ausstellung „Pilgerwelten“ zu sehen.

Die Ausstellung begleitet die Eröffnung eines neuen Teilstücks des Jakobswegs von Bielefeld bis Wesel. Die Federführung dieses Projekts hat die Altertumskommission des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). Die Deutsche St. Jakobus-Gesellschaft e.V. firmiert als Schirmherrin für die „Pilgerwelten“.

Für die Kuratorinnen Anja Schöne und Lena Mengers ist das Pilgern auch eine Reise zu sich selbst. Dementsprechend haben sie nicht nur Leihgaben aus dem Stiftungsbestand Preußischer Kulturbesitz, dem Jüdischen Museum Berlin, dem Kölner und dem Essener Domschatz zusammengetragen, wie etwa eine Handschrift mit dem Pilgerbericht des Ritters Arnold von Harff vom Ende des 15. Jahrhunderts aus dem Kloster Maria Laach.

Arnold von Harff kniet vor den Heiligen Drei Königen. Aus dem Pilgertagebuch des Arnold von Harff, Niederrhein, Handschrift von 1554. Leihgabe und Foto: Bibliothek der Abtei Maria Laach.

Arnold von Harff kniet vor den Heiligen Drei Königen. Aus dem Pilgertagebuch des Arnold von Harff, Niederrhein, Handschrift von 1554. Leihgabe und Foto: Bibliothek der Abtei Maria Laach.

Die Ausstellung fragt auch nach den Motiven, warum sich Menschen auf Pilgerfahrt begeben – weltweit sind es jährlich 350 Millionen –, wie sie pilgern und was das Pilgern mit ihrem Körper und ihrer seelischen Verfassung macht.

Für den umfangreichen Katalog haben die beiden Ausstellungsmacherinnen Pilger aller Weltreligionen nach ihren Motiven, Erfahrungen und Erlebnissen befragt. „Dabei lag der Fokus stets auf Westfalen“, unterstreicht Mengers.

Der Schwerpunkt liegt auf der Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela. Diese Reise zum Grab des Apostels Jakobus in den äußersten Westen der iberischen Halbinsel entwickelte sich seit dem 9. Jahrhundert und zog bereits zwei Jahrhunderte später viele Pilger aus ganz Europa an. Die Ausstellung folgt ihren Spuren. Zudem beleuchtet sie die praktische Seite des Pilgerns, so dass man sich anschließend gleich auf den Weg machen könnte. Denn: Zur besseren Anschaulichkeit ist der Herdfeuerraum im alten Teil des Museums zu einer echten Pilgerherberge mit echten Stockbetten umfunktioniert.

Der Weg der Jakobspilger von Bielefeld nach Wesel wird mit einer ökumenischen Andacht und einer gemeinsamen Begehung am Freitag, 8. Mai, ab 14 Uhr, eröffnet. Info: www.jakobspilger.lwl.org

Info zur Ausstellung und zum umfangreichen Rahmenprogramm, u. a. mit Radpilgern und einem Musical: www.museum-telgte.de

 




Tanzte man sur oder sous le Pont d’Avignon? – Was aus Hörfehlern entstehen kann

Zumindest in Europa kennt fast jede und jeder das Lied von der Brücke in Avignon, und sei es nur aus dem Vortrag der kleinen Mireille Mathieu. Dort auf der halben Brücke über die Rhône – in Frankreich ist dieser Fluss männlichen Geschlechts (Le Rhône) – wurde angeblich so gern getanzt, nämlich „sur le Pont“. In Wahrheit handelte es sich aber wohl um einen Hörfehler, der sich irgendwann eingeschlichen hat.

Die halbe Brücke von Avignon. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Die halbe Brücke von Avignon. (Foto: Hans H. Pöpsel)

Getanzt wurde nämlich ursprünglich unter den Bögen der Brücke, also nicht „sur“, sondern „sous le Pont d’Avignon“. Für die touristische Vermarktung ist das aber gleichgültig – und das Eintrittsgeld zum Betreten der Tanzfläche (auf der Brücke) kann sich sehen lassen. Solche veränderten Schreibweisen durch Hörfehler sind gar nicht so selten. Nehmen wir das Beispiel Japan: Die Japaner nennen ihr eigenes Land in lateinischer Schrift „Nippon“. Die Engländer aber als die ersten europäischen „Entdecker“ verstanden nicht „Nippon“, sondern (in Lautschrift) „Jeppen“, sie schrieben dementsprechend „Japan“, und die Franzosen machten daraus „Japon“.

Ähnlich erging es dem asiatischen Lande Mianmar. Weil der Name von den Einheimischen schnell gesprochen wurde, verstanden die Engländer nicht Mianmar, sondern Burma, aus dem später Birma wurde. Heute ist aus der britischen Schreibweise wieder in lateinischer Schrift die korrekte Bezeichnung Mianmar geworden.

Auch in Westfalen gibt es zahlreiche solcher Umdeutungen. Im Namen meiner münsterländischen Heimatgemeinde „Herzebrock“ zum Beispiel vermutete ich als Kind ganz selbstverständlich die romantische Geschichte von einem gebrochenen Herzen. Tatsächlich aber geht das Wort auf das althochdeutsche „horsabroich“ zurück, und Englischkundige sehen sofort, dass hier etwas vom Pferd erzählt wird, dem „Horse“ – eine sumpfige Pferdeweide war nämlich gemeint. Entsprechend entstand der Stadtname Essen natürlich nicht aus der Nahrungsaufnahme, ebenso wie Dortmund nicht der Ort war, in dem das Essen verschwand, obwohl sich die Restaurantszene heute sehen lassen kann.




Getanzte Lebensläufe – persönliche Eindrücke zwischen Litauen und Dortmund

Vom 8. Bis 12. Oktober fand in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, das internationale Tanzfestival AURA24 statt. Die Dortmunder Produktionsgruppe artscenico war dabei. Zusammen mit der Tanzcompagnie Aura wurde die Koproduktion „CVs – Curricula vitarum“ realisiert. Der Tänzer und Choreograph Paul Hess hat das Vorhaben mit einem internationalen Ensemble umgesetzt, das dort neu zusammengestellt wurde. Als verantwortlicher Koproduzent bin ich zum Festival und zur Premiere nach Kaunas gereist. Hier einige persönliche Eindrücke:

Koproduktion artscenico/Dortmund und Aura/Kaunas

Koproduktion artscenico/Dortmund und Aura/Kaunas (Foto: Rūta Taraškevičiūtė)

Die Zusammenarbeit mit Aura begann 2013 mit der Produktion „Heimat surreal“, die in Dortmund als Dreiteiler in der Schalthalle Phoenix-West, dem Rombergpark und am Kanal gezeigt wurde. Daraufhin wurde Paul Hess als Choreograph angefragt und eine Koproduktion vereinbart. Das Festival ist das renommierteste der freien Tanzszene in Litauen.

Thema in diesem Jahr war die Frage nach der Rolle des Maskulinen in der postmodernen Gesellschaft. „Unser“ Stück behandelt diese Frage quasi en passant. Das Rollenspiel beginnt in der Kindheit und zieht sich durchs Leben. Dazu ist die Sprache des Tanzes ein Mittel, das international barrierefrei verständlich ist. Neun Tänzerinnen und Tänzer aus Mexiko, Japan, Litauen, Brasilien und Italien bilden das neue Ensemble.

Ich besuche die Generalprobe und versuche, eine neutrale Haltung einzunehmen. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Wie weit greift die Befangenheit des Produzenten, die naturgemäß dazugehört? Ich nehme mir vor, nur zehn Minuten zu bleiben, um ein Premierenbesucher zu sein wie alle anderen: Offen und erwartungsvoll auf das Kommende harrend. Nach 40 Minuten sitze ich immer noch im Theatersaal der Universität Magnus. Der Theatersitz wird zum Sessel.

„Ich schaue sehr gerne zu“, merke ich. „Also wird es dem Publikum gefallen“, ist meine Schlussfolgerung. Ich stecke nicht in der Haut der Tänzer und des Choreographen, die an einem solchen Abend hypersensibilisiert sind und voll konzentriert. Das Werk ist vollbracht und doch wird es sich in Zukunft immer verändern. Das ist das Spannende an der darstellenden Kunst. Der Augenblick ist nicht wiederholbar, aber die Nuancen.

Foto Rūta Taraškevičiūtė

Foto Rūta Taraškevičiūtė

Premiere: Das Haus ist mit rund 400 Personen besetzt. Junges Publikum bildet die Mehrheit. Fast alles klappt. Man spürt die Anspannung. Die neun jungen Tänzer zeigen eine enthusiastische Performance mit vielen unterhaltsamen wie auch besinnlichen Sequenzen. Das Publikum applaudiert, Blumen werden gereicht, Gesichter und Körper entspannen sich bei Tänzern und Team.

Ich gebe die Zurückhaltung des professionellen Beobachters auf und freue mich bis drei Uhr morgens in der Bar der Galerie Urbana. Im nächsten Jahr kommt die Produktion ins Ruhrgebiet. Bis dahin ist für alle wieder ein weiteres Stück Lebenslauf vergangen, neue Erfahrungen kommen hinzu und wirken ins Stück hinein.

Entspannt schaue ich mir den Rest des Festivals an und finde es schade, dass es eine solche Veranstaltung zum Beispiel in Dortmund nicht mehr gibt. Ich erlebe ein abwechslungsreiches Programm mit unterschiedlichen Tanzkonzepten aus Schweden, Italien, Frankreich, Polen, Israel, Mexiko und Korea.

Es war ein guter Coup, zum Thema „Männer“ erstmals Gruppen aus Mexiko und Korea einzuladen. Es war erfrischend zu sehen, wie die Mexikaner mit dem Klischee der Machos spielten; eine geradezu umwerfend lebhafte Vorstellung der drei „Grouchos“ von Jaciel Neri & die Moving Borders mit Nosotros, die selbstironisch und witzig die Rolle des Mannes variieren. Das Publikum kam in Scharen und blieb anschließend in scharfer Partylaune mit Tequila und Tabasco-Snacks.

Internationaler kann es kaum sein. Hier zeigt sich die gelungene Umsetzung des artscenico-Konzeptes, internationale Kooperationen zu kreieren, die zwar die Welt nicht schöner machen, aber zumindest das Leben dort und die zeigen, dass abseits der unfassbaren Konfliktherde kreatives Miteinander nicht verloren geht.

„Welch ein salbungsvolles Fazit“, denke ich, während ich im Billigflieger sitze, der gleich in Dortmund landen wird. Back in reality, wieder ein Stück Lebensweg sinnvoll hinter mir lassend.




Unwiderstehliche Reize des Südens – die Halbinsel von Saint-Tropez

Der Süden zieht die Deutschen spätestens seit Goethes Italienreise immer wieder magisch an, und zu diesen Sehnsuchtsorten gehört für Mitteleuropäer auch die Côte d’Azur und dort besonders die Halbinsel von Saint-Tropez.

Nicht nur „Normalos“ wie wir machen dort gelegentlich Urlaub – seit seinen diversen Prozessauftritten weiß man auch von der Millionenvilla des ehemaligen Chefs des Essener Karstadt-Konzerns, Thomas Middelhoff, dort unten in Südfrankreich. Inzwischen hat er seinen Wohnsitz von Bielefeld ganz dorthin verlegt.

Das Dorf Ramatuelle über der Bucht von St. Tropez. (Foto: Pöpsel)

Das Dorf Ramatuelle über der Bucht von St. Tropez. (Foto: Pöpsel)

Zu den Orten auf der Halbinsel gehört jedoch nicht nur Saint-Tropez selbst, sondern auch die Orte Ramatuelle mit seinem schönen Strand Pampelonne und das Bergdorf Gassin zählen dazu. Ramatuelle hat für Franzosen und Deutsche zusätzlich einen besonderen Reiz, denn zum einen hat da der in Frankreich sehr bekannte Filmschauspieler Gérard Philipe gelebt. Er ist auch dort gestorben und auf dem Friedhof begraben, und sogar die kleine Grundschule des Ortes wurde vom Stadtrat nach ihm benannt.

Auch die Schauspielerin Romy Schneider wohnte zeitweise in ihrem Haus in Ramatuelle. Sie lebte zwar überwiegend in Paris, doch auch sie konnte sich dem Reiz des Südens nicht entziehen. Interessant ist, dass vor allem dort urlaubende Holländer sich gern an Romy als Sissi-Darstellerin erinnern. Herzensangelegenheiten sind wohl doch international gleich. Und Brigitte Bardot? Die wurde kürzlich 80 Jahre alt und lebt noch immer mit Katzen und anderen Tieren in ihrem kleinen Strandhaus am Rande von Saint-Tropez.




Auf dem Ruhri-Panoramaweg

Wenn man schon ein Ruhri ist (ob nun gebürtig oder eingesessen, wie meine Frau und ich), ist es wohl Pflicht, den Ruhri-Panoramaweg zu erwandern.

Auch wenn man dabei etwa fünf Stunden zügig unterwegs ist und auf und ab etwa 630 Höhenmeter dabei zu überwinden hat, dürfte das kein Hindernis sein.

Am Freitag vor einer Woche haben wir uns bei bestem Wanderwetter von unserer Ferienwohnung in Deutschlandsberg aus so etwa gegen 10 Uhr auf den Weg gemacht. Nach etwa 20 Minuten erreichten wir den „Klauseneingang“ und damit fast auch schon den Eingang zum „Ruhri-Panoramaweg“. Der „Klauseneingang“ ist zugleich auch der Eingang zum „Laßnitztalweg“, einem der schönsten Wanderwege, die ich kenne..

Der Ruhri-Panoramaweg nun ist, wie auf der Wanderkarte ausgewiesen, zunächst ein „steiler, schwieriger Fußweg mit großer Höhendifferenz überwiegend durch Wald mit herrlichen Ausblicken an einigen Stellen“. Zugute kam uns, dass der Boden auf diesem ruhigen, wenig begangenen Weg wegen der seit Tagen anhaltenden regenarmen Witterung recht trocken war. Immer wieder wurden steilere Passagen durch flachere abgelöst. So schlimm wie angekündigt war das alles nicht. Ich jedenfalls freute mich, dass ich noch einigermaßen gut zu Fuß bin und kaum aus dem Atem kam. Ganz wunderbar diese sonnendurchflutete Waldgegend, dieser abwechslungsreiche Weg mit zu entdeckenden schönen Pflanzen und Blumen.

Kurz vor Trahütten, mit 1000 m dem höchsten Punkt unserer Wanderung, gerieten wir auf die wunderschöne „Obstallee“, von der aus wir einen herrlichen Blick auf die ganze Gipfelkette hatten. Von dort aus nach Trahütten kommend, gelangten wir sehr bald auf den Alban-Berg-Weg, der seinen Namen ganz sicher deswegen bekommen hat, weil der große Komponist Alban Berg sich des öfteren in einer Villa dort in Trahütten aufgehalten hat und an Ort und Stelle zum Beispiel Teile der berühmten Oper „Wozzek“ und die Arie „Der Wein“ komponiert hat. Diese Villa ist heute noch wohlerhalten und hat den Namen Alban-Berg-Villa bekommen. Sie erinnerte mich vom Aussehen her ein wenig an das Thomas Mannsche Sommerhaus in Nida, ist aber wohl noch etwas geräumiger und stattlicher als dieses.

Inzwischen war die Mittagszeit längst gekommen und wir wollten im von der Wegbeschreibung her angepriesenen Dorftgasthaus etwas zu uns nehmen, vor allem aber etwas trinken. Da aber stellte sich heraus, dass dieses Gasthaus zwar noch da war, aber nicht mehr bewirtschaftet wurde. Und die nächsten Hotels und Wirtshäuser mindestens 3000 m entfernt. Zu Fuß, mitten in einer noch anhaltend langen Wanderung, wohl kein Klacks. Der als steil angekündigte Abstieg auf dem schmalen „Jägersteig“ stand ja noch bevor.

Indes: Unser knapper Essproviant reichte zum Glück noch aus. Und eine Bewohnerin eines der Trahüttener Häuser war auf unsere Bitte hin so freundlich, unsere leergetrunkene Mineralwasserflasche für uns mit Trinkwasser zu füllen. Und so machten wir uns wieder guten Mutes vom Alpenwanderweg 13 auf den Alpenwanderweg 14, alias den langen, aber durchaus wieder abwechslungsreichen Jägersteig, der uns zurück in die nicht oft genug zu besuchende Laßnitz-Klamm führte, die mich ein wenig an die junge Moldau mitsamt ihrer felsigen Umgebung erinnert, ja eigentlich wider Erwarten noch etwas schöner ist.

Im Ort Deutschlandsberg dann holten wir im für eine Einkehr empfehlenswerten Gasthaus Kollar – Göbl das uns in Trahütten entgangene Mittagessen als Abendessen nach und sagten uns, dass es wahrscheinlich ohnehin besser gewesen sei, unseren Weg mit nicht allzu vollen Mägen zurückzulegen.

Ach ja. Noch eins. Der „Ruhri-Panoramaweg“ hat natürlich mit unserem Ruhrgebiet namentlich nicht das Geringste zu tun, sondern mit der Steiermark. Das 2. Gehöft, an dem der Weg vorbeiführt, hat einmal einem Mann namens „Ruhri“ gehört und so hat der gesamte Weg diesen Namen erhalten.




Im Dickicht der Netze: Die Deutsche Bahn fällt auch beim ARD-Test durch

Warten auf den Zug: Aufnahme aus dem Hamburger Hauptbahnhof. (Foto: WDR/dpa/Bodo Marks)

Warten auf den Zug: Aufnahme aus dem Hamburger Hauptbahnhof. (Foto: WDR/dpa/Bodo Marks)

Es dürfte schwerfallen, ein Unternehmen zu finden, über das mehr geschimpft wird. Insofern konnte „Der Deutsche Bahn-Check“ (ARD) doch nur ins Schwarze treffen, oder?

Untersucht wurden (in gewohnt flotter Manier) Preise, Pünktlichkeit, Sauberkeit und Einhaltung der ziemlich vollmundigen Tempo-Versprechen. Wer glaubt denn wohl, die Deutsche Bahn hätte alle Prüfungen mit Bravour bestanden? Na, bitte. Vermutlich niemand. Und dabei wurden Themen wie der betrübliche Zustand vieler Bahnhöfe noch nicht einmal angeschnitten.

Rätselhaftes Preisgefüge

Vorwiegend junge Tester begaben sich für die Reportage ins Dickicht der Bahnnetze. Sie standen ratlos vor Fahrkarten-Automaten, wurden auch – nach langen Wartezeiten – bei persönlicher Beratung oft nicht schlauer und zahlten fast durchweg etliche Euros zu viel für ihre Tickets. Die wirklich günstigsten Angebote herauszufinden, ist offenbar derart schwierig, dass man von einem gezielten Versteckspiel sprechen kann. Prädikat fürs Preissystem: „undurchschaubar“.

Rechentricks bei Verspätungen

In Sachen Pünktlichkeit, so stellte sich heraus, schummelt die Bahn mit Statistiken. Mit allerlei Tricks wird die Zahl der Verspätungen heruntergerechnet. Für die einzelnen Reisenden sieht’s leider deutlich schlechter aus. Urteil zur Pünktlichkeit: „geschönt“.

Sodann der Sauberkeits-Check. Ergebnis: Die Toiletten sind weitgehend in Ordnung, allerdings herrschen wohl Hygienemängel in den Bord-Bistros. Besonders Salatproben ergaben bedenkliche Bakterien-Häufungen. Befund in Sachen Sauberkeit: „ausbaufähig“.

Auf vielen Strecken ausgebremst

Schließlich die Tempo-Versprechungen, die vor allem die angeblich superschnellen ICE-Züge in den Vordergrund rücken. Ein etwas unfaires Beispiel von einer Bummelstrecke im Allgäu (wo ein gemächliches Luftschiff schneller war als die Bahn) mal außer Acht gelassen, zeigten sich auch in dieser Hinsicht gravierende Mängel.

Ein frustrierter Lokführer stellte vertrauliche Unterlagen zur Verfügung. Demnach gibt es wegen des weithin maroden Schienennetzes immens viele Langsamfahrstrecken, auf denen nur noch Tempo 70, 40 oder gar 20 gefahren werden kann. Der schlechte Witz: Diese Bremsstrecken werden kurzerhand in den Fahrplan eingebaut, so dass sie rein rechnerisch nichts als Verspätung auftauchen. Der Langsam-Fahrplan wird ja einigermaßen eingehalten…

Und immer lockt das Auto

Gewiss: Es ist eine ungeheure Aufgabe, das weitverzweigte Bahnnetz in Betrieb und Schwung zu halten. Man ahnte es nicht nur beim Blick ins Frankfurter Netzzentrum. Auch dürfte es zahllose engagierte Mitarbeiter geben, an denen es nicht liegt, wenn einiges schiefgeht.

Aber: Mit dem gesamten System, so scheint es, stimmt es an manchen Ecken und Enden nicht. Vielleicht wäre ein Vergleich mit anderen Ländern noch erhellend gewesen.

Unerwünschte Folge jedenfalls: Viele Menschen fahren denn doch lieber Auto. Der eine oder andere Lokführerstreik wird diese missliche Situation nicht gerade entschärfen.




Lars Vilks „Nimis“: Kunstwerk aus Treibholz reizt seit Jahrzehnten die Staatsmacht

Wer kann schon von sich erzählen, dass er während einer Reise durch den Norden Europas in vier Ländern und vier Hauptstädten gewesen sei, er sich aber nur in zwei staatlichen, vollorganisierten Gebilden aufgehalten habe. Ja, das geht!

Man reist durch Schweden, besucht Stockholm, durchfährt Schonen und trifft am Kullaberg auf Ladonien und Nimis, dehnt die Fahrt auf Dänemark und Kopenhagen aus und streift dort durch ein Lebensquartier mit Namen „Christiania“ mit der Hauptstadt gleichen Namens.

Schweden und Dänemark sind ja den meisten durchaus ein Begriff, „Christiania“ ist jedem ein solcher, der Hippies, Hanf und Hausbesetzer noch in die ihnen zugeordneten Schubladen einsortieren kann. Ladonien hingegen kennen nur Kenner – und seit einer ausgedehnten Fahrt durchs schwedische Schonen auch ich. 1980 begann dort im Naturschutzgebiet Kullaberg in einer vom Festland aus schwer zugänglichen (oh ja) Bucht der Künstler Lars Vilks Treibholz zu sammeln und es mit unzähligen Nägeln zu einer bekletterbaren Monsterskulptur zu zimmern.

Sehr zur ungnädigen Wahrnehmung der örtlichen Behörden, die in dem artifiziellen Hammerschlag-Puzzle ein Gebäude witterten, was in einem naturgeschützten Gelände nicht sein darf. Das dem Gotte Thor vorbehaltene Schlaginstrument senkte sich also büokratischerseits über Lars Vilk, dem nun das zuteil wurde, was er vermutlich billigend in Kauf nahm: eine allerseits wachsende Aufmerksamkeit.

Behördlich wurden nun salvenweise Abrissverfügungen auf den Freiluftildhämmerer abgefeuert, die er mit wachsendem Fleiß und ständig neuen Ausbauten seiner Kunst, der inzwischen der Name „Nimis“ gegeben worden war, was aus dem Lateinischen hergeleitet wird und so viel wie „zu viel“ bedeutet.

Zwischenzeitlich, als Lars Vilks Fleißarbeit 15 Tonnen wog, hatte ein behördentreuer Stifter einen Brand gelegt, der große Teile von „Nimis“ einäscherte, was Lars Vilks Eifer aber zusätzlich befeuerte und ihn antrieb, beim Wiederaufbau die ursprüngliche Tonnage noch zu übertreffen. Um es vor dem unmittelbar bevorstehenden amtlichen Zugriff zu schützen, verkaufte er „Nimis“ an seinen Freund Joseph Beuys und nach dessen Tod an die Weltverhüller Christo und Jeanne Claude.

1996 trieb Lars Vilk den Kampf gegen Schonen und Schweden auf die Spitze, rief den Microstaat Ladonien aus, abgeleitet von Ladon (griechisch), einem mythologischen Drachen. Zuvor hatte er mit der Arbeit an „Arx“ (Festung) begonnen, einer wuchtigen Steinskulptur, zu der sich 1999 der 1,61 Meter hohe „Omphalos“ gesellen sollte.

Nun mussten sich Polizei und Ämter nicht nur mit „Nimis“ herum plagen, sondern auch noch „Arx“ (Das ist ein weiteres, nennenswertes Kunstwerk in der Nähe von Nimis in Form einer Skulptur aus mit Beton zusammengehaltenen Steinen, die ein abstraktes Buch verkörpern. Es wiegt 150 Tonnen, hat 352 Seiten und wurde sogar 1993 im schwedischen Verlag Nya Doxa veröffentlicht. Arx bildet den zweiten Teil der Verfassung Ladoniens.) und „Omphalos“ gesetzlich zu bekämpfen. Lars Vilk wurde schließlich verdonnert, „Omphalos“ in geeigneter Weise zu beseitigen, die beiden anderen Kunstwerke blieben allerdings verschont, bei denen hatte der Staat aufgegeben.

Zum 100. Geburtstag des Friedensnobelpreises am 10. Dezember 2001, so schlug Lars Vilk in der Folge vor, könne er ja „Omphalos“ in die naturgeschützte Luft der Skagerag-Küste jagen (natürlich mit Nobel’schem Dynamit), was amtlicherseits wenig Beifall fand. Dafür wurde ein Beschluss gefasst, der strengstens geheim gehalten wurde – und „Omphalos“ von staatssicherheitlichen Einheiten am 9. Dezember 2001 entfernt. Dabei nahm die Skulptur, die inzwischen an den Künstler Ernst Billgren verkauft war, Schaden, was den neuen Besitzer gehörig empörte. Er schenkte die vernarbte Kunst aber postwendend dem Moderna Museet, wo sie noch heute ausgestellt wird.

Der listige Lars Vilk ersuchte nun um die Erlaubnis, dem verlorenen Kunstwerk ein Denkmal setzen zu dürfen, die er auch erhielt, nur dürfe dieses Denkmal nicht höher als 8 Zentimeter groß sein. Das Kunstwerk-Denkmal wurde am 27. Februar 2002 seiner Bestimmung feierlich übergeben. Und der ungleiche Kampf endete mit der stöhnenden Aufgabe von Seiten der staatlichen Gewalt.

Ladonien existiert nach wie vor. Es fand seine Hauptstadt in „Wotan“, einem separat stehenden Turm des Gesamtkunstwerkes. 15.000 Einwohner ergab der jüngste Micozensus, allesamt Nomaden und nicht in Ladonien sesshaft. Die Landesflagge ist gekennzeichnet durch ein grünes Kreuz auf grünem Grund (für Grün-Fehlsichtige wird bisweilen auch das Kreuz mit zarten Weißstrichen in lybische Grün gemalt. Für 12 US-Dollar kann man sich einen Adelstitel beschaffen, Ministerien gibt es auch, Steuern werden in Form von Kreativität erhoben.

Ich könnte ja jetzt angeben und sagen: „Muss man gesehen haben!“ Hab‘ ich aber nicht, jedenfalls nicht mit eigenen Augen. Yannic, jung und enorm behende, kraxelte für mich durch „Nimis“, bestaunte den ungewöhnlichen Mut schwedischer Eltern, die es zuließen, dass geschätzte 12-Jährige Türme erklommen, die nicht einmal er bezwang und schwärmte noch lange von dem Kunstwerk, das über Jahrzehnte Heerscharen von Amtsgewaltigen beschäftigte.




Geld sucht Kunst: Moderne in Monaco

Foto: Sidney Guillemin/Villa Paloma

Foto: Sidney Guillemin/Villa Paloma

Kunst und Geld gehen ja oft fruchtbare Verbindungen ein; zumindest, wenn man die bildende Kunst betrachtet und über Rekordpreise für Richters, Koons und Hirsts staunt. Und wo könnte diese Beziehung augenfälliger als im Fürstentum Monaco?

Auf diesem ehemaligen Piratenfelsen, der im 20. Jahrhundert zum Steuerparadies der Reichen und Schönen aufstieg, ist zeitgenössische Kunst angesagt: In der Villa Paloma, die mit der Villa Sauber gemeinsam das Noveau Musée National de Monaco bildet, ist bis zum 2. November 2014 eine Werkschau von Gilbert&George aus einer umfangreichen Familiensammlung zu sehen – der Familienname wird allerdings nicht genannt.

Von der Terrasse der aufwändig renovierten weißen Villa blickt man aufs Meer. Innen sind die Kunstfreunde an diesem Vormittag rar, so dass einem der Kurator selbst eine Art Privatführung anbietet. „Wir haben unser Programm nicht bei Kreuzfahrtschiffen publik gemacht“, erklärt Cristiano Raimondi, „denn für solche Gruppen sind unsere Räumlichkeiten zu klein.“ Nun ja, vielleicht möchte man auch ein fachkundigeres Publikum anziehen?

Im Erdgeschoss sind die neuesten, buntesten und großformatigen Arbeiten des britischen Künstlerduos zu sehen, die Stockwerke darüber zeichnen chronologisch die künstlerische Entwicklung von Gilbert&George nach: Von ihren Anfängen im Swinging London der 60er Jahre, als sie (noch) zeichneten und Ihre ersten Performances fotografisch festhielten über ihre kritische Auseinandersetzung mit religiösen Symbolen bis hin zur Stilmarke der Popkultur. Tatsächlich sprach Gilbert sogar deutsch, denn er stammt aus Südtirol; den Briten George traf er dann 1967 an der St. Martin’s School of Art in London – seit nun fast 50 Jahren stehen sie für ein gemeinsames Werk.

Tourist vor Installation am Grimaldi-Forum. Foto: E.S.

Tourist vor Installation am Grimaldi-Forum. Kein Hirst, sondern ein Vorgänger-Modell von Subodh Gupta. Foto: E.S.

Vom botanischen Garten nahe der Villa Paloma hoch über der Stadt geht es mit einem „ascenseur public“ (öffentlicher Fahrstuhl) hinunter ins Hafenviertel. Dieses typisch monegassische Verkehrsmittel hilft auf angenehme Weise ein paar Höhenmeter zu überwinden und ist kostenlos, frisch geputzt und für alle da.

Unten im Grimaldi Forum zeigt ein weiterer reicher Sammler, der mit Luxusmarken sein Geld verdient, seinen Kunstbesitz: Die Pinault Collection beansprucht 4000 Quadratmeter und hier sind sie versammelt, die Jeff Koons und die Damien Hirsts, Werke von Paul McCarthy oder Takashi Murakami. „Artlovers“ heißt die Schau, die noch bis zum 7. September zu sehen ist und die ein knallrotes, glänzendes Riesenherz von Koons zum Emblem hat.

Eine Menge junges Volk ist unterwegs und schiebt die Sonnenbrillen in die Haare. Gleich am Eingang überdimensional große Skulpturen, die antike Statuen nachahmen – doch sie sind aus Kerzenwachs und auf ihren Köpfen brennen kleine Flammen; einer ist allerdings schon heruntergefallen und liegt zerschmolzen am Boden. Skurril auch das Werk „Dancing Nazis“ von Piotr Uklanski: Eine Wand voll Fotos von Schauspielern, die in Filmen Nazis spielten, dazu 80er Jahre Popmusik und Lichtorgel.

Kinder vor Koons. Foto: Artlovers/Grimaldi-Forum

Kinder vor Koons. Foto: Artlovers/Grimaldi-Forum

Kaum überquert man die Grenze nach Frankreich Richtung Menton, geht es auch kunstmäßig gleich gediegener zu: Das Musée Jean Cocteau zeigt bis 3. November 2014 „Cocteau, Matisse, Picasso“ und huldigt damit den drei „Säulenheiligen“ der Côte d’azur. Kommt doch hier kaum eine Ausstellung ohne leuchtende Farben von Matisse, Picassos Stiere oder Cocteaus Kirchenfenster aus.

Im Musée de Photographie im kleinen Bergdorf Mougins hängen schon wieder Fotos von Picasso im Streifenpulli an der Wand. Dabei wollten wir eigentlich die schwebenden Quallen auf den Fotos von Erwan Morere sehen. Das tun wir dann auch – und machen zum Schluss einen Kopfsprung ins Mittelmeer.




Radio-Legende: Als Carmen Thomas jede Woche mit dem Ü-Wagen aufkreuzte

Wer erinnert sich noch an diesen markanten Zeitpunkt der Radio-Geschichte? Es war vor beinahe 40 Jahren, am 5. Dezember 1974, als es erstmals hieß: „Hallo, verehrte Hörerinnen und Hörer. Hier meldet sich der Ü-Wagen, hier meldet sich Carmen Thomas.“

Zur Premiere der WDR-Sendung „Hallo Ü-Wagen“ wurde über Nikolausbräuche geredet – und darüber, ob man die Kinder über den Weihnachtsmann „belügen“ dürfe. Es waren halt die 70er Jahre, als manche meinten, alles in Frage stellen zu müssen.

Alle sollten mitreden dürfen

Carmen Thomas, die die Sendung bis 1994 moderierte, gehörte jedoch nicht zu den erbitterten Polit-Aufklärerinnen jener Jahre. Eher im Gegenteil. Bei ihr konnte alles zum Thema werden – und praktisch alle sollten mitreden dürfen. Mal angemessen ernst, mal leicht und locker.

Vom Live-Publikum umlagert: Carmen Thomas (links) in einer frühen Ausgabe von "Hallo Ü-Wagen". (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=XWH72RhFo8I)

Vom Live-Publikum umlagert: Carmen Thomas (links) in einer frühen Ausgabe von „Hallo Ü-Wagen“. (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=XWH72RhFo8I)

Carmen Thomas hielt die jeweiligen Experten stets dazu an, verständlich zu reden und möglichst jedes Fremdwort zu erklären, damit auch „ganz normale Menschen“ einbezogen wurden. Wie gesagt, es waren die 70er, und da musste es schon basisdemokratisch sein. Warum auch nicht? Viele Themen wurden erst dadurch richtig spannend, dass Menschen dabei waren und ernst genommen wurden, die sonst nirgendwo öffentlich zu Wort kamen. Velleicht fehlt uns eine solche Sendung heute…

Millionen hörten zu

Jeden Donnerstag machte Carmen Thomas mit dem Ü-Wagen „Violetta“ in einer anderen Stadt von Nordrhein-Westfalen Station. Durchweg folgte sie dabei den Themenwünschen der Hörer. In aller Regel passte die Örtlichkeit zum Gesprächsgegenstand. So stand man zum Beispiel an einem Obdachlosenasyl, als es um Nichtsesshafte ging. Die erste Liebe wurde beim Standesamt beredet, der Umgang mit Sterbenden am Friedhof.

Die ebenso großflächige wie kurzweilige Live-Sendung lief donnerstags von 9.20 bis 12 Uhr auf der populären Hörfunkwelle WDR 2 und hatte zu ihren besten Zeiten ein Millionenpublikum. Es war vermutlich die meistgehörte deutsche Radiosendung aller Zeiten. So mancher heftige Streit wurde da ausgefochten – und die Fachleute behielten beileibe nicht immer die Oberhand.

Als erste Frau eine Sportsendung moderiert

Das Themenspektrum der insgesamt rund 1500 (!) Sendungen umfasste buchstäblich Gott und die Welt. Da ging es um Arbeitslosigkeit, Brustkrebs oder Krankenpflege ebenso wie um den Orgasmus oder auch um Urin als ganz besonderen, segensreichen Saft – ein Thema, das Carmen Thomas später fast schon penetrant weiter verfolgte.

Mit dem Ü-Wagen wurde Carmen Thomas zur Pionierin des Mitmach-Radios, so wie sie zuvor (ab 3. Februar 1973) die erste Sportmoderatorin des deutschen Fernsehens war. Männliche Fußball-Betonköpfe verzeihen ihr bis heute nicht den läppischen Versprecher „Schalke 05“ (statt Schalke 04) im „Aktuellen Sportstudio“ (ZDF) von 21. Juli 1973. Die „Bild“-Zeitung hat einmal ihre Moderation schon vor Ausstrahlung der Sendung „verrissen“, so dass Carmen Thomas die blamable Ausgabe live in die Kamera halten konnte. Dafür hat sich das Boulevardblatt schäbig revanchiert.

Aus der Begabung gutes Geld gemacht

Zurück zum „Ü-Wagen“: Als Carmen Thomas die Sendung abgab, schoben die WDR-Gewaltigen sie auf die seltener gehörte Welle WDR 5 ab, noch dazu auf einen schlechteren Platz, samstags von 11.05 bis 13 Uhr. Da konnte sich die Thomas-Nachfolger Jan Seemann und Julitta Münch noch so sehr mühen – die Traumquoten von einst waren da nicht mehr zu holen. Am 18. Dezember 2010 kam die letzte reguläre Ausgabe ins Programm.

Mit Coaching (also vor allem Medientraining) hatte Carmen Thomas schon gegen Ende der 70er Jahre begonnen und dabei auch selbst jede Menge gelernt, wie sie heute sagt. Außerdem war’s ein weiteres „Standbein“ für alle Wechselfälle des Journalistinnen-Lebens.

Clever, wie sie nun einmal ist, hat sie aus ihrer Begabung zum Umgang mit Menschen später auch gutes Geld gemacht, indem sie 1998 in Engelskirchen eine Moderations-Akademie gründete. Hier berät sie auch Größen aus Politik und Wirtschaft über Möglichkeiten, ihre Wirkung zu steigern. Dies mag beim ersten Hinhören nicht mehr gar so basisdemokratisch klingen. Doch Carmen Thomas legt Wert auf die Feststellung, dass sie noch heute Menschen und Institutionen beratend zur Seite steht, wenn es eher der guten Sache als dem Konto nützt.

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Hier eine Liste aller „Ü-Wagen“-Themen von 1974 bis 1994 (bitte scrollen):
http://www.moderationsakademie.de/alle-themen-aus-20-jahre-hallo-u-wagen-mit-carmen-thomas/

Eine Reminiszenz an die „Ü-Wagen“-Sendung:

Ein Rückblick auf Carmen Thomas in den 70er Jahren:




Festspiel-Passagen V: Colmar im Elsass – Monumentale Musik in russischer Tradition

Er spielte in Colmar sein Schubert-Skrjabin-Programm: Evgeny Kissin. Foto: Bernard Fruhinsholz

Er spielte in Colmar sein Schubert-Skrjabin-Programm: Evgeny Kissin. Foto: Bernard Fruhinsholz

Einst war Colmar eine richtige Hauptstadt: Im Saal des „Koїfhus“ versammelten sich die Vertreter des Zehnstädtebunds. Seine Mitglieder unterstützten sich gegenseitig, um in den unruhigen Zeiten des späten Mittelalters ihre Rechte und Freiheiten zu sichern. Heute wird die elsässische Stadt einmal im Jahr zur Hauptstadt der Musik.

Das „Festival International de Colmar“ versammelt in knapp zwei Juli-Wochen Größen des Musiklebens zu einem weit über die Region hinaus strahlenden Zyklus von Konzerten. Und immer noch trifft man sich – wie vor 500 Jahren – in dem ehemaligen Zoll- und Warenlager im Zentrum der alten Stadt. Doch diesmal sind es die Liebhaber der Musik, die dort den Stellenwert der Musik im Reigen der Künste eindrucksvoll unterstreichen.

Das Festival rühmt sich der bedeutenden Künstler, die es für seine 27 Konzerte in seine ehrwürdigen Spielstätten holt. Nicht ohne Grund: Evgeny Kissin kam zwischen Klavier-Festival Ruhr und zwei Auftritten im schweizerischen Verbier in die großartige gotische Hallenkirche St. Matthieu; Grigory Sokolov spielte – wie vorher in Essen –  sein viel gerühmtes, faszinierendes Chopin-Programm. Und wenn Ensembles wie Prazak-, Schumann-, Sine Nomine- und Talich-Quartett zu hören sind und mit dem Moskauer Kopelman-Quartett eine russische Spitzenformation gastiert, ist das auch für den Kammermusik-Liebhaber ein Argument, ins Elsass zu fahren.

Ungestörte Mittelalter-Romantik: Fachwerkfassaden in Colmar. Foto: Werner Häußner

Ungestörte Mittelalter-Romantik: Fachwerkfassaden in Colmar. Foto: Werner Häußner

Colmar bietet Gelegenheit, Künstler zu erleben, die zumindest im deutschen Musikbetrieb nicht ständig und überall herumgereicht werden. Zum Beispiel der Pianist David Bismuth, Schüler der bei uns viel zu wenig bekannten Französinnen Anne Queffélec und Brigitte Engerer. Oder Boris Giltburg, der 2013 den Concours Reine Elisabeth in Brüssel gewann und jetzt einen Exklusivvertrag mit dem Label Naxos geschlossen hat. Oder die Cellisten Edgar Moreau, Alexander Kniazev und Pavel Gomziakov. Solche Begegnungen erweitern den Horizont und lassen Musiker entdecken, die vielleicht im hochgezüchteten internationalen Betrieb – aus welchen Gründen auch immer – nicht mithalten oder mithalten wollen, die aber mit überraschenden individuellen Aspekten in Ausdruck und Klang für sich einnehmen.

In jedem Jahr widmet sich das Colmarer Festival der Würdigung eines herausragenden Musikers. Begonnen hat diese Serie, als 1989 der russischer Geiger und Dirigent Vladimir Spivakov zum künstlerischen Leiter berufen wurde; Glenn Gould war der erste der auf diese Weise Geehrten. Im nächsten Jahr wird die französische Trompeten-Legende Maurice André (1933 – 2012) die geistige Präsidentschaft des Festivals einnehmen. In diesem Jahr stand der Name des großen russischen Dirigenten Evgeny Fjodorowitsch Svetlanov (1928 – 2002) über dem Programm. Er hat das ehemalige Staatliche Sinfonieorchester der UdSSR zu einem führenden Klangkörper entwickelt und mit ihm rund 2000 Einspielungen aufgenommen, war aber auch international rege unterwegs, so mit dem London Symphony Orchestra oder dem Het Residentie Orkest Den Haag.

Bei Warner Classics erhältlich: Evgeny Svetlanovs Mahler-Zyklus. Cover: Warner Classics

Bei Warner Classics erhältlich: Evgeny Svetlanovs Mahler-Zyklus. Cover: Warner Classics

Svetlanovs Liebe zum romantischen russischen Repertoire und zu einem prachtvoll-voluminösen Klangbild spiegelt sich in der Auswahl der in Colmar gespielten Werke: Da reiht Festival-Leiter Spivakov als Dirigent mit seiner Russischen Nationalphilharmonie Tschaikowsky an Rachmaninow, erinnert mit Mahlers Erster an die Verdienste Svetlanovs für die Mahler-Rezeption in Russland – unter anderem mit einer Gesamtaufnahme der Sinfonien. Auch streut er ein belcantoseliges Sängerfest ein, statt seiner Solistin Albina Shagimuratova die Gelegenheit zu geben, dem französisch und deutsch geprägten Publikum ein paar der ungehobenen Schätze der russischen Oper zu entdecken.

Wie es überhaupt – und das ist ein Manko dieser Art von Festivals – mit der Entdeckerfreude nicht immer zum Besten steht: Die beiden Eröffnungskonzerte des Orchestre National du Capitole de Toulouse unter Tugan Sokhiev etwa biederten sich in einer fast schon frivolen Art einem Publikum an, das man hemmungslos in seiner musikkulinarischen Lust bestätigt: Tschaikowskys Violinkonzert, Brahms‘ Zweite, Rimski-Korsakows „Scheherazade“. So mag man leicht Säle füllen, entwickelt aber kein künstlerisches Profil. Der von Svetlanov hoch geschätzte Komponist Nikolai Medtner etwa ist in ein Mittagskonzert mit Elena Filonova verbannt. Die Pianistin spielte Ausschnitte aus seinem Klavierzyklus „Vergessene Weisen“ – ein wohl unfreiwillig bezeichnender Titel.

Immerhin kam Evgeny Svetlanov auch mit einigen seiner Werke zu Wort. Der Dirigent verstand sich in der Tradition Gustav Mahlers nicht als gelegentlich komponierender Kapellmeister, sondern eher als dirigierender Komponist. Aus seinem reichhaltigen Œuvre erklangen in Colmar ein Streichquartett in D-Dur und die Variationen über ein russisches Volkslied für Harfe und Orchester. Bedauerlich ist, dass sich der außergewöhnliche Einsatz Svetlanovs für den Komponisten Nikolai Mjaskowski (1881 – 1950) im Colmarer Festival nicht niederschlug: Vor allem dessen nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Werke mit ihrem französischen Einschlag wären ein spannendes klingendes Dokument der musikalischen Verbindung zwischen den Völkern gewesen.

Vladimir Spivakov dirigierte den Großen Akademischen Chor Moskau in Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Vladimir Spivakov dirigierte den Großen Akademischen Chor Moskau in Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Für Liebhaber geistlicher Musik hatte das Festival an seinem Abschluss-Wochenende einen Höhepunkt parat: Der Große Akademische Chor Moskau sang Ausschnitte aus Tschaikowskys Liturgie des Heiligen Johannes Chrysostomus und aus Rachmaninows Vesper op. 37. Die Akustik der ehemaligen Jesuitenkirche Saint Pierre, einem schlicht gehaltenen Barockbau, begünstigte den tragenden Klang der prachtvollen Stimmen der Choristen, ließ die verfeinerte Dynamik wirken, die von schwebendem Pianissimo bis zum glanzvollen Forte wie aus einem Guss geführt war.

Der Chor hatte am folgenden Tag beim Finalkonzert einen weiteren beeindruckenden Auftritt in Rachmaninows „Die Glocken“ (op. 35), einer Tondichtung nach Edgar Allan Poe. Die symbolistisch aufgeladenen Bilder des Poems inspirierten Rachmaninow zu einer enormen, die satten Farben des großen Orchesters und des Chores ausbreitenden Komposition. Spivakov zähmte die gewaltigen dynamischen Wellen nicht; er ließ schon die „goldenen Hochzeitsglocken“ der zweiten Strophe so prächtig dröhnen, dass dynamische Entwicklungen nicht mehr möglich waren. Mussorgskys „Großes Tor von Kiew“ ließ grüßen, allerdings in einer pathetisch übersteigerten Monumentalarchitektur, wie sie in ihrer dramatischen Wucht auch dem Interpretationsstil Evgeny Svetlanovs entsprach.

Herrlicher Konzertraum mit überraschend klarer Akustik: Die gotische Hallenkirche St. Matthieu Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Herrlicher Konzertraum mit überraschend klarer Akustik: Die gotische Hallenkirche St. Matthieu Colmar. Foto: Bernard Fruhinsholz

Ähnlich erfüllt von Pathos und Bombast kommt Dmitri Schostakowitschs Festouvertüre op. 96 daher. Spivakov enthüllt mit seiner Interpretation den merkwürdig ambivalenten Charakter von Schostakowitschs Musik. Denn die Ironie, die man gerne hineindeutet, wird von solennen Bläserfanfaren weggefegt; auch das spritzige Thema, das ein Kritiker einmal „überschäumend wie eine soeben geöffnete Champagnerflasche“ beschrieben hat, trägt eher Soldatenstiefel als Kinderschuhe. Dabei kommt es aus dem „Kinderalbum“ op. 69 und trägt den Titel „Geburtstag“. Nun ja: Die Ouvertüre sollte zum 30. Jahrestag der Oktoberrevolution im Moskauer Bolschoi-Theater gespielt werden …

In der Neunten Sinfonie, die ein Siegesstück werden sollte, ist die Ironie so weit getrieben, dass sie selbst den nicht gerade auf Subtilitäten eingestellten Ohren der sowjetischen Musik-Offiziellen offensichtlich wurde. Schostakowitsch wurde daraufhin geächtet und schrieb erst nach dem Tode Stalins seine nächste Sinfonie. Dirigent Spivakov trat dem Stück nicht zu nahe, ließ die Russische Nationalphilharmonie ihre ganze Brillanz vorführen und setzte auf die unmittelbare Wirkung der absurd regelhaften fünf Sätze. Eine Offenbachiade mit dem Brokat-Faltenwurf einer Staatsrobe, die man als maliziöse Abrechnung mit den Erwartungen des sozialistischen Realismus und seiner falschen Klassizität lesen kann.




Highland-Games oder die Lust am Verkleiden

Allerorten finden sie in den letzten Jahren statt, die Mittelalter-Feste oder die Fantasy-Treffen, mit Menschen in den wildesten Verkleidungen, am liebsten aus alter Zeit. Neuerdings kommen an allen Ecken und Kanten sogenannte „Highland-Games“ hinzu, und gerade sie ziehen Unmengen an Zuschauern an.

Schottisches im Hülsenbecker Tal. (Foto: H.H.Pöpsel)

„Schottisches Leben“ auch hier im Hülsenbecker Tal.
(Foto: H. H. Pöpsel)

So ein schottisches Wettkampf-Ereignis konnte man am Wochenende – zum zweiten Mal – auch in Ennepetal erleben. Im ansonsten beschaulichen Hülsenbecker Tal ging es unter anderem mit Baumstammwerfen und Sackschlagen zur Sache. Lautstark angefeuert wurden die Kämpfer in ihren Schottenröcken von Fanclubs der Heroen ebenso wie von „normalen“ Zuschauern.

An den bedruckten T-Shirts der Mannschaften kann man erkennen, in wie vielen Orten es inzwischen solche Highland-Games gibt, ob in Lochtrup oder Rheken, in Borken oder Borgentreich. Offensichtlich gibt es ein ganzes Netzwerk dieser Gruppen. Natürlich muss eine ausreichende Biermenge bei den Spielen gesichert sein, und entsprechend stieg der Lärmspiegel im Laufe des Tages deutlich an – die Rehe und Füchse im benachbarten Wald konnte man nur bedauern. Übrigens, wer kein Bier mochte, der konnte auch auf edlen schottischen Whisky zurückgreifen.

Die Hinwendung zum angeblich ursprünglichen Leben und Kämpfen scheint eine partiell unaufhaltsame Entwicklung zu sein, angefeuert noch durch die fast allen Menschen eigene Lust am Verkleiden. Interessant wäre, zu erfahren, ob es in Köln und Düsseldorf auch diese Highland-Games gibt oder ob der Karneval auch solche Entwicklungen schlucken kann.




Rund um das neue Weltkulturerbe Corvey: Klosterlandschaft mit Leben erfüllt

Die Nachricht war lang ersehnt: Das westfälische Kloster Corvey, heute auf dem Stadtgebiet von Höxter, ist von der Unesco in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Als 39. Kulturstätte in Deutschland dürfen sich das karolingische Westwerk und die „civitas“ Corvey nun im Glanz des begehrten Titels sonnen. Seit 1999 standen die Reste der 822 gegründeten Benediktinerabtei auf der Warteliste.

Mit seinem 885 geweihten und im 12. Jahrhundert umgestalteten Westwerk, mit seiner reichen Geschichte und der barocken Klosteranlage – heute Schloss Corvey – ist das neue Weltkulturerbe wohl das bedeutendste, aber nicht das einzige Kloster im Raum zwischen Weserbergland und Teutoburger Wald. 28 monastische Stätten zählt die Region – von der Einsiedelei bis zu aktiven Frauenklöstern mit modernem spirituellem Leben. Das Netzwerk Klosterlandschaft Ostwestfalen-Lippe arbeitet seit Jahren erfolgreich daran, diese Orte der Kunst-, Kultur- und Glaubensgeschichte zu vernetzen und mit Leben zu erfüllen. Das Ziel ist, ein lebendiges Erbe zu gestalten: Klöster als Orte der Gemeinschaft, der inneren Einkehr, als Räume des Rückzugs und Oasen der Stille, aber auch als Bereiche des Glaubens und der Reflexion.

Um sich die Kirchen, Klöster, Gärten und Orte der Kultur zwischen Gütersloh und Höxter, Minden und Warburg zu erschließen, bietet sich der Sommer mit seinen zahlreichen Veranstaltungen an. In einer Broschüre hat das Netzwerk Klosterlandschaft zusammengestellt, was es an Musik und Kunst, aber auch an Freizeit und Kulinarik zu entdecken gibt.

Die 1180 fertiggestellte romanische Kirche kündet noch vom ersten Kloster der Benediktinerinnen in Gehrden, das bis 1810 bestand. Foto: Kulturland Höxter

Die 1180 fertiggestellte romanische Kirche kündet noch vom ersten Kloster der Benediktinerinnen in Gehrden, das bis 1810 bestand. Foto: Kulturland Höxter

Das vierte „Klosterfestival“ etwa füllt die Räume und Landschaften mit Musik – von Vorbarock bis Jazz. Die ehemalige Benediktinerinnen-Abtei Gehrden ist ein reizvoll gelegener Ort für den Auftakt am 25. Juli: Die um 1140 erbaute romanische Klosterkirche ist ein idealer Auftrittsraum für das Collegium Vocale aus Hannover, das unter Florian Lohmann das Eröffnungskonzert gestaltet. Anschließend taucht ein „Hörspiel“ den zauberhaften Ort in Licht und Klang.

Einen Tag später, am 26. Juli, dürfte die ehemalige Abteikirche Marienmünster die Freunde der Musik Johann Sebastian Bachs anziehen: An der 1738 erbauten Orgel von Johann Patroclus Möller spielt um 20 Uhr Harald Vogel (Bremen) Werke des Thomaskantors, um 22 Uhr singt und spielt das Ensemble Marescotti Musik des 14. bis 17. Jahrhunderts. Drei Mal stehen „Bach-Wanderungen“ im Programm. Die dreistündigen Wege durch die Landschaft enden jeweils mit einem Konzert in Corvey (27. Juli), Willebadessen (10. August) und Marienmünster (17. August). Im Abschlusskonzert am 30. August, 18 Uhr, singt der Deutsche Ärztechor Bach-Motetten in der früheren Abteikirche in Corvey.

Ein breit gefächertes Programm für Orgelfreunde bietet der „Herforder Orgelsommer“ zwischen 6. Juli und 31. August. Eröffnet wird er mit Händels „Dettinger Te Deum“ im Herforder Münster am 6. Juli, 18 Uhr. Meist sonntags folgen Orgelkonzerte, etwa mit „Orgelmusik aus Venetien“ (13. Juli) und – dem diesjährigen Thema „Hansestädte“ folgend – mit Musik aus Belgien, den Niederlanden, Skandinavien und dem Ostseeraum. Unter den Gästen sind Kathedralorganisten wie Hans Leitner (München), Ignace Michiels (Brügge) oder Markku Hietaharju (Turku).

Ein Besuch des Orgelmuseum in Borgentreich – zwischen Brakel und Warburg – und der größten Barockorgel Westfalens in der Pfarrkirche St. Johannes Baptist sollte für Orgelfreunde auf dem Weg liegen. Das dreimanualige Instrument mit 45 klingenden Registern wurde bis 2011 für 1,7 Millionen Euro restauriert. Das Wochenende 19./20. Juli lockt mit einem Konzert der „Musica fiata“ Köln, einem Festhochamt und der Besichtigung von Museum, Orgel und Kirche bei Rundgängen. Außerdem wird die erste CD-Aufnahme nach der Restaurierung vorgestellt.

In Corvey selbst dürfe das Gartenfest vom 1. bis 3. August zu einem vielbesuchten Dank- und Jubelfest anlässlich der Erhebung zum Weltkulturerbe werden. Ein Tipp für Jazz-Fans sind die Jazz-Tage Corvey & Holzminden von 18. bis 21. September. Und in Kloster Dalheim mit seinem LWL–Landesmuseum für Klosterkultur findet vom 1. bis 27. August das Kulturfestival „Dalheimer Sommer“ statt – mit Heinrich von Kleists „Der zerbrochene Krug“ im „Schafstall“, dem Eröffnungskonzert am 3. August mit Geistlicher Musik aus Italien, Spanien und Mexico oder einem Konzert zum 300. Geburtstag Carl Philipp Emanuel Bachs am 17. August in der Klosterkirche. Anziehungskraft über die Region südlich von Paderborn hinaus hat der Dalheimer Klostermarkt, der in diesem Jahr am 30. und 31. August stattfindet.




Familienfreuden auf Reisen: Der Engel im Clownskostüm

 

Die Versuchung ist groß - der Wille auch. (Bild: Albach)

Die Versuchung ist groß – der Wille auch. (Bild: Albach)

Sommer, Sonne, Strand – diesmal kein Klischee, sondern Realität: Wir sind auf Menorca! Und Fi gewöhnt sich langsam an die hiesige Lebensart.

Wir waren bewaffnet. Für den Flieger meine ich. Gefühlte 20 Pixi-Bücher, Handpuppen, Fruchtriegel, Windeln, Feuchttücher. Für jede Eventualiät gerüstet. Und was geschah? Fi ließ fröhlich die Beine in ihrem Sitz baumeln, kaute ihr Sandwich, lugte durch die Sitze zu dem Jungen vor ihr und schlief sogar irgendwann ein. Kind, wer hat Dich erfunden?

Vielleicht hat Fi geahnt, dass ein kleines Paradies auf sie warten würde. Der Eingang dazu entpuppte sich als Strandbar mit selbst hergestelltem Eis. Auch mit der Sorte SchokoLADE im Sortiment. Kleine Hände können eine Eiswaffel sehr fest umklammern. Und jeder der Strandspaziergänger, denen wir anschließend begegneten, musste grinsen angesichts dieses schokobärtigen Kindes, das aussah, als sei es kopfüber in flüssige Schokolade gefallen. Mal anders ausgedrückt: Der elterliche Wille, das Kind gesund und vielseitig zu ernähren und nicht mit Konsum zu überschütten, wird arg angekratzt, wenn einem nonstop andere Nachwüchse über den Weg laufen, die Eis schlecken, Pommes essen oder sonstwie von der Fast food Industrie als Werbeträger angeheuert wurden.

Auch der Gang in den Pool wird zur Abwehrschlacht: Wir haben einen Schwimmring und einen Eimer dabei. Fi sieht: Schwimmende Fische, Krokodile, Boote. Und lernt das Wort „kaufen“! „Auch Boot kaufen, auch Fisch kaufen“, lautet der Sirenengesang, dem man sich kaum entziehen kann. Hart bleiben kommt einem plötzlich grausam und so spielverderberisch puritanisch vor.

Fi jedenfalls passt sich schnell an die Umgebung an. Die spanischen Damen begrüßt sie schon mit „Hola“! Und erntete dass aufgeregte Gekreische und wilde Geküsse der Kellnerinnen anfangs noch einen entsetzten Gesichtsausdruck und einen Fluchtimpuls in den elterlichen Arm, streckt Fi jetzt bereits ihre Wange hin und verteilt selbst schmatzende Luftküsse.

Das größte aber ist eine Einrichtung, die wir wahrscheinlich sträflich missachtet hätten, wären unsere Nachbarn mit Tochter im gleichen Alter nicht so freundlich gewesen, uns darauf aufmerksam zu machen: die Mini-Disco! Menschen ohne Kinder dürften sich eher mit Grausen abwenden, wenn das kleine Animatoren-Team mit seinem Lautsprecher anrückt, die grellen Töne erklingen und die Kinder loshüpfen.Für Fi ist es der Himmel. Und der Engel darin ist in Form einer ansehnlichen Dame auf die Erde gekommen, die sich allabendlich in ein neues Clownskostüm wirft, die Lippen rot schminkt und einen Glitzerhut aufsetzt. Fiona kann den Blick nicht von ihr lassen, während ihre kleinen Beinchen auf und ab hüpfen. Und die Eltern? Die klatschen verzückt mit, das Eis für später in der Hand, das Gummiboot im Supermarkt nebenan in Gedanken schon gekauft.

Glück hat eben viele Gesichter.

 

Mehr über Nadine Albach unter www.medienwiese.tv




Die Landkarte der wechselnden Launen – „Deutschlandreisen“ von Helmut Krausser

Was erwartet man, wenn ein Schriftsteller vier Lesetourneen absolviert hat und dann ein Buch „Deutschlandreisen“ nennt? Wahrscheinlich doch Anmerkungen über den oder jenen Landstrich und seine Bewohner, womöglich auch Sticheleien oder gar vernichtende Urteile über gewisse Gemeinden.

Diese Erwartungen enttäuscht Helmut Krausser gründlich. Die Städte, in denen der Autor zwischen 2006 und 2012 zu Gast war, stiften ihn nur selten zu substanziellen Bemerkungen an. Und so wird Augsburg kurz abgefertigt, gibt es einen Ulk über Ulm, wird Stuttgart achtlos gestreift, Heidelberg en passant behandelt, Freiburg kurzerhand als belanglos abgetan. Köln ist hässlich, die Leute dort sind aber freundlich und bei Lesungen allzeit lachbereit. In Nürnberg läuft nichts Vernünftiges im Kino, Dresden findet der Autor kulissenhaft, Flensburg zauberhaft, Lübeck ist recht schön, weckt aber den Unmut über Thomas Mann. Und so weiter. Die Schönheitstrophäe trägt übrigens Potsdam davon. Und auch Wismar ist schmuck.

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Oft fällt Krausser zu den Städten lediglich ein, ob sie mit seiner eigenen Publikations- oder Aufführungsgeschichte zu tun haben. Beispiel: „Eisenach: Hier wurde nie etwas von mir aufgeführt, und es regnet. Wartburg durcheilt, Bachhaus gegrüßt, Lutherhaus links liegengelassen…“ Ein passender Titel für weite Strecken des Textes wäre gewesen: „Auf Ego-Trip durch Deutschland“. Nach der Lektüre ließe sich eine Landkarte der wechselnden Launen zeichnen. Der Klappentext erweist sich jedenfalls als Geflunker: „Krausser charakterisiert Städte aufmerksamer und sensibler als andere Autoren ihre Romanfiguren.“ Es sei denn, wir redeten von Heftchenromanen.

Doch natürlich erschöpft sich das Buch nicht darin. Krausser streut Kapitel aus seinen Münchner Poetik-Vorlesungen ein, die vom Pathos-Begriff handeln. Arg verkürzt gesagt: Angesichts grassierender Ironie solle man ruhig wieder mehr Pathos riskieren. Nicht zu viel nachdenken, keine Angst vor Kitsch haben, in allen Künsten lieber tonal, narrativ und figürlich schaffen als abstrakt. Darüber ließe sich immerhin debattieren.

Zwischendurch gibt’s häufig wohlfeile Rezensentenschelte, vor allem gegen die – so Kraussers Sicht – Dilettanten der landläufigen Opernkritik. Oder gleich ganz pauschal: „Im Journalismus sucht man gereifte Menschen leider oft vergeblich. Man gerät an böse, frustrierte, tyrannische Kinder, die glauben, ihnen gehöre die Welt.“

Vor allem nimmt es Krausser der Kulturjournaille übel, dass sie von seinem Buch über den nahezu vergessenen Komponisten und Puccini-Zeitgenossen Alberto Franchetti kaum Notiz nimmt oder es nicht als Entdeckertat würdigt. Furor auch auf diesem Felde. Über „Florian I.“ (Illies) heißt es: „Wie winzig er ist. Ich könnte auf ihn treten und sagen, es war ein Versehen.“ Und die „Zeit“ gilt ihm sowieso in Bausch und Bogen als pesudointellektuelles Revolverblatt.

Krausser selbst erlaubt sich steile Thesen und grässlich ignorante Urteile etwa über Brahms, Claude Chabrol, Bob Dylan oder Thomas Bernhard („Kaum ein Satz von diesem Homunculus, der nicht nach Scheiße schmeckt. Ein unglaublich dummer, ekelhafter Proll.“) und versteigt sich zu einem derartigen Satz ohne jede historische Rücksicht: „Irgendwann wird dieses von Schönberg und Konsorten ausgehende Intermezzo der Musikkultur von der Zukunft als gewissermaßen geisteskranke Zeit bezeichnet werden.“ Gewissermaßen. Geisteskrank. Der Ton macht die Musik.

Wir müssen uns aber wohl nicht darüber grämen, dass Ernst Jünger und Céline zu Kraussers literarischen Leitsternen zählen. Das politisch gegen ihn zu wenden, wäre sicherlich ungerecht. Auch Hemingway, Bukowski, Fallada, Friedo Lampe und Robert Gernhardt gehören ja erklärtermaßen in diese Reihe. Dass Krausser im Faschismus eine revolutionäre Idee sieht, die „nicht einfach als Biertischhybris sadistischer Idioten abgetan werden kann“, könnte allerdings schon Widerworte auslösen. Über Grass’ „Blechtrommel“ und deren Hauptfigur Oskar heißt es sodann: „Unerträglich. Heute geht dieses Gör wohl jedem auf die Nerven in seinem angemaßten Gutmenschentum.“ Dieses diffamierende Wort hat noch gefehlt. Und nach all dem fragt sich Krausser: „Warum polarisiert mein Werk?“ Ja, warum nur?

Aber hören wir auf damit, bevor Krausser auch hier gleich wieder eine Gedankenpolizei am Werk sieht, die seine schöpferischen Energien verkennt. Sein Buch enthält – neben mancherlei Ressentiments – denn auch durchaus anregende Passagen und Gedanken, die einem nachgehen. Hier eines von etlichen Beispielen, in denen Wahrheit und Weisheit walten und bei denen er sich nicht auf der Klaviatur vergreift: „…jeder macht, sofern er kann, mehr aus sich, als er ist, das ist begreiflich vor dem Nichts, das uns erwartet.“ Wo Krausser so ruhig und abgeklärt spricht, überzeugt er mehr als mit allem Geschrei.

Helmut Krausser: „Deutschlandreisen“. DuMont Verlag, 302 Seiten, 19,99 Euro.




Auf Zeche Zollverein – als Touristin im eigenen Revier unterwegs

Es hatte mich schon lange geärgert. Man besucht Paris, London, Barcelona – latscht durch halb Europa von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, aber das Weltkulturerbe vor der Haustür? Das kannte ich gerade mal vom Besuch eines Weihnachts-Oratoriums und und als Aufdruck auf meinem „Ruhrpott-Mädchen“ Shirt. Geht eigentlich gar nicht.

Die uns in diesem Jahr begleitende Ruhrtop-Card gab den Ausschlag, wir buchten eine Führung auffe Zeche Zollverein. Oder besser gesagt: inne ehemalige Kokerei vonne Zeche. Das ist der Teil des Areals, den man durch die Bilder der winterlichen Eisbahn auf der gefluteten alten Kohlenstrasse vor Industriekulisse kennt.

Auf dem Dach der Kokerei Zollverein

Natürlich kann man auch sich auch so auf Zollverein umsehen, aber wenn man es gerne etwas detaillierter hätte und noch dazu sich Bereiche anschauen und erlaufen möchte, die ansonsten nicht zu den öffentlich zugänglichen gehören, muss man schon einen Platz in einer der angebotenen Führungen buchen.

Zuerst geht es auf das Dach der Kokerei, von dem man einen guten Überblick nicht nur über das Areal Zollverein hat, sondern auch über weite Teile des Ruhrgebiets. Die Arena auf Schalke kann man sehen, den Gasometer Oberhausen und sogar den Chemiepark Marl. Die Halden, den Tetraeder natürlich und nicht zuletzt die sich noch in Betrieb befindliche Bottroper Zeche Prosper Haniel samt Kokerei.

Es ist ein eigenartiges Gefühl. Auf dem Dach der einst großen Kokerei stehend kann man schon gut sehen, wo die Natur sich ihr Recht zurückerobert, man fühlt sich wie auf den Spuren einer verlorenen Vergangenheit. Doch nur wenige Kilometer weiter qualmt eine große weiße Wolke, wie sie auch die Kokerei auf Zollverein lange Jahre ausgestoßen hat. Dort drüben ist die Vergangenheit noch Gegenwart. Leider aber auch dort wohl ohne Zukunft. Sozusagen ein Überblick über das Dilemma des Ruhrgebiets.

der Kohlebaum Treppauf, treppab neben Kohlestrassen, über Trassen geht es weiter mit der Führung. Zunächst auf der schwarzen Seite – dort, wo die Kohle gebacken und durch diesen (mir bisher en detail nicht bekannten Prozess) zu Koks verarbeitet wird.

Wir wurden begleitet von einer ausgesprochen sachkundigen jungen Frau, der deutlich anzumerken war, dass sie sich für die Thematik weit über die eigentliche Führung hinaus interessierte und die dadurch auch auf keine Frage eine Antwort schuldig blieb. Der Rückweg führt über die weiße Seite, dort wo das als „Abfallprodukt“ aus der Kohleverarbeitung gewonnene Gas geführt und zur Stromversorgung auf das eigentliche Zechenareal geleitet wurde. Spannend auch der Raum, in dem man lernt, welche Produkte und Güter auf Koks in der einen oder anderen Form angewiesen sind.

Doch natürlich – so einfach ist das mit dem Tourismus im eigenen Land nicht. Klar, es sind tolle Motive, die sich dem Auge bieten, doch so einfach begeistert man sich nicht für das, was heute als Industriekultur schön geredet wird. Es beschleicht einen das gleiche Gefühl, das hochkommt, wenn man um das Areal des Centro Oberhausen herum fährt und unvermutet das Bild vor Augen hat, wie es noch in den 80ern zu Zeiten der Gute-Hoffnungs-Hütte dort aussah. Das gleiche Gefühl, wenn man das Bergbaumuseum Bochum besichtigt. Eine beklemmende Mischung aus Trauer um das Vergangene und Angst um die Zukunft im Revier. Man kann die Route der Industriekultur noch so lobenswert finden, letzten Endes zeugt sie von Vergangenem.

Vergangene Arbeitsplätze vor allem. Man steht auf dem Dach von Zollverein und sieht die weiße Wolke aus Bottrop. Sie scheint zu sagen: „Seht her, das ist alles, was geblieben ist und viel mehr kommt da auch nicht nach.“ Und egal, ob man in Bochum durch alte Schächte kriecht oder auf Zollverein rumklettert, eine Frage kommt immer: Wie kommt es, dass soviel Kohle benötigt wird, soviel Kohle bei uns liegt und nichts mehr gefördert wird? Die Antworten darauf sind mannigfach, die eine – womöglich entscheidende mag die sein, dass unsere Kohle so tief liegt und so schwer zu fördern ist. Andernorts auf der Erde braucht man sie quasi nur zu pflücken.

Dennoch, es kommt immer auch die Antwort: Wir in Deutschland, wir produzieren zu teuer. Wegen der Löhne, der Sozialabgaben, man kennt das. Der Weltmarkt verlange Kohle zu niedrigen Preisen und andernorts kann man dieses Verlangen bedienen. Besonders zu teuer eben auch immer: die hohen Sicherheitsstandards hierzulande. Man hört sich das alles also an auf Zollverein, nimmt es bedrückt mit nach Hause und wenige Tage später hört man bestürzt von dem verheerenden Grubenunglück in der Türkei und sieht verzweifelte Demonstranten, die mit Gewalt daran gehindert werden sollen, für bessere Sicherheit zu demonstrieren.

Ich lasse das jetzt einfach mal so stehen. Denn das mulmige Gefühl, es bleibt mir. Was wäre, wenn es global akzeptierte Sicherheitsstandards gäbe? Wären dann die türkischen Bergarbeiter nicht heute arbeitend im Schacht und gäbe es dann vielleicht noch andere Arbeitsplätze auf Zollverein als die der Touristenführer?

Einen Überblick über die Angebote des Weltkulturerbes Zeche Zollverein gibt die Homepage http://www.zollverein.de/ Auch die Führungen kann man dort unkompliziert buchen.




Jörg Albrecht kann Abu Dhabi verlassen

Aufatmen: Jörg Albrecht darf aus Abu Dhabi ausreisen. Der Schriftsteller war wegen angeblicher Spionage festgehalten worden.

Heute morgen kam die Nachricht von Holger Bergmann, künstlerische Leitung Ringlokschuppen, und Thorsten Ahrend, Wallstein Verlag, sowie weiteren Künstlern über Change.org, wo sie eine Online-Petition für die Ausreise des Autoren verfasst hatten: Demnach hat Jörg Albrecht gestern, am 13. Mai, nachmittags geschrieben, dass er die Vereinigten Arabischen Emirate verlassen dürfe. Auch die ZEIT berichtet, dass laut Informationen des Göttinger Wallstein-Verlages und des Auswärtigen Amtes die Ausreisesperre aufgehoben worden sei.

In Ihrer Mail schreiben Ahrend, Bergmann & Co., dass Jörg Albrecht sich schon darauf eingerichtet hatte, „dass alles viel länger dauern könnte. Hat es aber nicht. Und das ist auch euch allen zu verdanken“. Über 6000 Menschen hatten demnach den offenen Brief unterzeichnet.

Jörg Albrecht war am 1. Mai zur internationalen Buchmesse in die Hauptstadt der Arabischen Emirate gereist. Dort wurde er einige Tage inhaftiert und durfte danach nicht ausreisen. Er hatte in einer Straße Fotos gemacht, in der auch Botschaften ansässig sind, und wurde deshalb der Spionage verdächtigt – siehe auch den ersten Bericht auf Revierpassagen.

Die Verfasser der Online-Petition schreiben weiter: „Erstmal holen wir jetzt Jörg hoffentlich vom Flughafen ab. Dann atmen wir auf. Ihr wart großartig! Danke, danke, danke für alles!“

Gute Heimreise!

P.S. mit kurzem Update: Anne Levy, die die Online-Petition mitinitialisierte, hat einen Tweet mit den Worten „united! #joergalbrecht #friendshipisthenewlove“ veröffentlicht, der auf ein Instagram-Foto mit Jörg Albrecht und seinen Freunden verweist.




Der Schriftsteller Jörg Albrecht wird in Abu Dhabi festgehalten – ein Hilferuf

Die Petition von Holger Bergmann und Thorsten Ahrend für die Ausreise von Jörg Albrecht auf change.org. (Screenshot von http://www.change.org)

Die Petition von Holger Bergmann und Thorsten Ahrend für die Ausreise von Jörg Albrecht auf change.org. (Screenshot von http://www.change.org)

Jörg Albrecht ist ein Sprachkünstler. Ein leiser, ein höflicher Mensch. Einer der zuhört, einer der viel überlegt. Einer, der voller spannender und bemerkenswerter Gedanken steckt. Und einer, der sich nicht im Eindimensionalen bewegt. Einer, der sich für andere Menschen, andere Kulturen interessiert, der neugierig und aufgeschlossen ist, reflektiert und respektvoll. So habe ich den mittlerweile in Berlin lebenden Jörg Albrecht in seiner Heimat Dortmund kennengelernt, bei Gesprächen und Interviews zu seinen Büchern und Theaterinszenierungen.

Jetzt sitzt Jörg Albrecht in Abu Dhabi fest. Der Vorwurf: Spionage. Eingereist war er als Gast der Internationalen Buchmesse. In einem Interview mit ZEIT Online berichtet er, dass er unmittelbar nach seiner Ankunft am 1. Mai in der Nähe seines Hotels Bauten fotografierte, die ihn architektonisch interessierten. Daraufhin wurde er festgenommen und inhaftiert.

ZEIT und NZZ schreiben, man habe ihn der Spionage verdächtigt, da er in einer Straße fotografiert habe, in der auch Botschaften seien. Den Berichten zufolge ist Jörg Albrecht zwar wieder aus der Haft entlassen worden, dürfe das Land derzeit aber nicht verlassen. In dem ZEIT-Interview sagt Albrecht, er fürchte, „bald psychisch“ einzubrechen, „da ich hier nun erst mal auf mich gestellt bin“.

Ein Alptraum.

Holger Bergmann und Thorsten Ahrend haben eine Online-Petition für seine Ausreise ins Leben gerufen. Hoffentlich haben sie schnell Erfolg.

 




Immer der Geige nach: Auf den Spuren der wunderbaren Hilary Hahn

Hilary Hahn (Foto: Michael Patrick OLeary)

Hilary Hahn (Foto: Michael Patrick OLeary)

Menschen, die ihrem Star hinterher reisen, jedes Konzert besuchen oder die Tourdaten ihres Lieblingspianisten auf Jahre im Kopf haben, sind mir bisher immer etwas seltsam vorgekommen. Die haben wohl zu viel Zeit, habe ich gedacht, wenn sie Konzertsäle in ganz Europa aufsuchten, nur um ihren angebeteten Musiker zu hören.

Bei der Geigerin Hilary Hahn könnte ich selbst fast schwach werden. Vor Jahren begleitete ich eine Freundin zu einem ihrer Auftritte und er kam mir irgendwie überirdisch vor. Ich weiß nicht mehr, was gespielt wurde, ich weiß nur noch, dass ich dachte: Diese zierliche, fast scheue Person produziert Töne, die nicht mehr von dieser Welt sind. Als nun ein Konzert von Hilary Hahn in meiner Heimatstadt Düsseldorf angekündigt wurde, wusste ich gleich: Da muss ich unbedingt hin. Dabei war mir völlig gleichgültig, welches Programm Hilary Hahn in der Tonhalle beim Konzert der Freunde und Förderer spielen wollte, eine „Sternstunde“ würde es für mich bestimmt werden.

Ich bin keine Musikkritikerin und möchte hier auch keine Rezension verfassen. Ich konnte auch gar nicht mitschreiben, weil ich bereits nach drei Takten mit den Tränen kämpfte, da Hilary die Geige so hoch und klar und sehnsüchtig singen ließ. Dabei weine ich nicht einmal bei Kitschfilmen, höchstens bei „Vom Winde verweht“.

Es sei allerdings verraten, dass Hahn das Konzert für Violine und Orchester von Johannes Brahms spielte begleitet vom HR-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi. Das Stück dauerte 38 Minuten. Hilary Hahn und ihre Geige verschmolzen zu einem Wesen. Ihr Oberteil glitzerte und ihr Rock schwang mit der Melodie. In all ihrer musikalischen Perfektion wirkte sie unprätentiös, vergnügt und beinahe sportlich. Dort, wo Brahms „Zigeunermusik“ zitierte, hüpfte sie ein paar Schritte über die Bühne und man spürte ihr Temperament, das durch Disziplin geformt, eine zielgerichtete Kraft in den Saal verströmte. Die Geige sang, die Geige tanzte. Energie und Gefühl befanden sich genau im richtigen Mischungsverhältnis. Das Publikum war äußerst gespannt und still, es gab Momente, da blieben sogar die sonst unvermeidlichen Huster aus.

Doch plötzlich, viel zu schnell, war der Spuk wieder vorbei, die Tonhalle jubelte bravo und die Teufelsgeigerin bekam einen Blumenstrauß. Pause und Signierstunde. Im zweiten Teil brauste dann Bruckners dritte Symphonie (Ich habe nicht ganz verstanden, in welcher Fassung) über die Köpfe hinweg und die Bläser machten sich deutlich bemerkbar. Aber das übertönte nur die Leere vorne auf der Bühne, wo die Geigerin gestanden hatte. Denn Hilary war schon weg.

Aber zum Glück kann ich am 13. Mai ins Dortmunder Konzerthaus reisen: Dort gastiert Hilary Hahn, begleitet von dem Pianisten Cory Smythe, u.a. mit Werken von Schönberg, Schubert, Telemann.




Der Lehrerausflug – ein kleines Drama in mehreren Akten

Es gibt Tage im Leben einer Lehrkraft, da wünscht sie (die auch ein Er sein kann) sich nichts sehnlicher, als einmal einer ganz normalen Berufsgruppe anzugehören, findet unsere Gastautorin Matta Schimanski:

Ach, wäre ich doch Bäckerin geworden – oder meinetwegen Vermessungsingenieurin. Nein, es sind nicht die Schüler, sondern die Lehrkräfte selbst, die hie und da diesen Wunsch entstehen lassen. Zur Erhellung dieser Behauptung möchte ich unseren letzten Kollegiumsausflug schildern; ich finde, geneigte Leserschaft, da müssen Sie jetzt einfach mal durch. Ich musste es auch.

Erst mal eine Prügelei schlichten

Es war an einem Donnerstagmorgen. Für einen Lehrerausflug gibt es selbstverständlich nicht frei; erst die Arbeit, dann das Vergnügen, wie schon weiland mein Opa selig gerne verkündete. Also begann der Schultag wie üblich.

Ist die U-Bahn schon weg? Kommt noch eine nach? (Foto: Bernd Berke)

Ist die U-Bahn schon weg? Kommt noch eine nach? (Foto: Bernd Berke)

Nach vier Stunden Unterricht und der Auflösung einer mittleren Schülerprügelei begaben sich alle Kollegen, die sich zu dieser mehrstündigen Veranstaltung in der Lage fühlten, also 30 an der Zahl, zum …er Bahnhof, um dort die Regionalbahn nach Köln zu besteigen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt traf das Orga-Team (bestehend aus einer weiteren Lehrerin und mir) der eine oder andere vorwurfsvolle Blick: „Es ist kalt!“ Nun ja, ich gebe zu, das war ein Schwachpunkt in der Planung.

„Die sind ja lauter als ihre Schüler“

Im zweistöckigen Zug teilten wir uns auf in Untensitzer und Obensitzer. Ich gehörte zu Letzteren, bereute meine Wahl aber bald, denn auch die Kollegen mit den besonders gut trainierten Stimmorganen saßen da. Als wir endlich in Köln ausstiegen, war die Erleichterung in den Gesichtern der Mitreisenden nicht zu übersehen, und ich hörte noch, wie eine Dame hinter mir zu ihrer Nebensitzerin sagte: „Die sind ja lauter als ihre Schüler!“ Peinlich, peinlich! Aber wenigstens hatte noch keiner eine Flasche Bier geöffnet (was sich ändern sollte).

Zuerst war eine Führung durch Kölns römische Unterwelt angesagt, die auch ganz gut ablief; nur vereinzelt gab einer den Besserwisser, und die meisten hörten auch zu. Aber danach ging ’s dann richtig los.

Wir hatten nicht verraten, wo es hingehen sollte, was schon im Vorfeld zu Irritationen und Gemecker bis hin zu Boykott-Ankündigungen geführt hatte, denn meine Mitstreiterin und ich sind ganz offensichtlich nicht vertrauenswürdig (wobei mir schleierhaft ist, was die anderen sich so vorgestellt haben).

Eine Frage der Pünktlichkeit

Nach einer halben Stunde „Freizeit“ war nun also Treffen auf der Domplatte und Weiterfahrt zur Überraschung verabredet. Nur, dass die Kollegen nicht kamen. Jedenfalls nicht alle. Die letzten drei – sonst Verfechter absoluter Pünktlichkeit – kamen 10 Minuten zu spät: Sie hatten noch im Café gesessen, mit ausgezeichnetem Blick auf den Treffpunkt und die sich dort im Nieselregen versammelnde Gruppe, die inzwischen wieder völlig durchfroren war. Die U-Bahn Nr. 18, die wir hätten nehmen müssen, war weg. Na ja, die nächste folgte bald, und wir hatten mit ein bisschen „Luft“ geplant, kamen also nur 7 Minuten zu spät zum gebuchten „Dinner in the Dark“.

„Im Dunkeln essen – das mach‘ ich nicht!“

Als wir unter großem Hallo (Jahahaa – die Überraschung!) das Restaurant betraten, schnauzte mich ein Kollege an: „Im Dunkeln essen – das mach‘ ich nicht! Dann fahre ich lieber wieder nach Hause!“ Sprach’s und verließ das Etablissement. Ich rannte gleich hinter ihm her und versicherte ihm, man müsse nicht unbedingt ins Dunkle gehen, man könne auch im hellen Gastraum bleiben. Dann schnell wieder rein und den Wirt gefragt, ob ich da nicht zu viel versprochen hatte. Hatte ich glücklicherweise nicht, also wieder raus und den Kollegen beschworen, doch wieder reinzukommen, was er dann auch tat. Und es fanden sich drei Damen, denen das Ganze ebenfalls nicht geheuer war und die mit ihm im Hellen blieben. Puh!

Handys aus – oder doch nicht?

Das Essen war ganz OK, und alles war so zubereitet, dass man es ohne Schwierigkeiten (jedenfalls ohne größere) auch ohne zu sehen zu sich nehmen konnte, also – wir haben nur geringfügig herumgesaut. Glauben wir zumindest. Es war tatsächlich stockdunkel, absolut schwarz. Der Kellner („Arthur“), der wohl blind ist, bediente uns souverän. Wer aufs Klo musste oder zu trinken nachbestellen wollte, musste ihn immer rufen, alleine aufstehen war tabu. Hätte man auch gar nicht gewollt, man wäre ja völlig orientierungslos gewesen.

Handys mussten aus sein, auch wegen der Display-Beleuchtung, wie in der Schule – und wie dort hielten sich nicht alle dran. Es ist erstaunlich, dass vor allem die Kollegen, die bei Schülern vehement auf unbedingte Einhaltung der Regeln pochen, das selbst nicht schaffen. Aber das war nur einmal ganz kurz. Ehrlich!

Die Witze, die der Kellner schon kennt

Jedenfalls war Arthur beinahe freundlich, und das Menü – man hatte die Wahl zwischen Rind, Geflügel, Fisch oder vegan – war beinahe heiß. Und nur eine Kollegin hatte ein Problem damit, sich etwas in den Mund zu stecken, das sie nicht sah. Alle anderen hatten Spaß und machten die üblichen Witze, über die Arthur schon lange nicht mehr lachen kann.

Als wir nach dem Essen auf die Straße kamen, regnete es richtig. Egal – die Bahn war ja nicht weit weg. Nur: Sie kam nicht. Wir standen im Regen, es wehte ein wilder Wind, man fror. Die Bahn kam immer noch nicht. Einer huschte schnell über die Straße zur Bude an der Ecke und holte ein paar Flaschen Bier – Fortsetzung des im Restaurant begonnenen Gelages.

„Wo gehen wir hin?“ – „Weiß nicht“

Auf einer Anzeigentafel erschien die Nachricht, dass die Strecke durch ein Auto auf den Gleisen blockiert sei und man auf Ersatzbahn oder -bus umsteigen solle. Man konnte in der Ferne auch das Blaulicht sehen. Also zogen wir durch den Regen über die große Kreuzung zum Bus, ach nee, lieber zu der anderen Bahn, ach nee – ja, wo sind die denn jetzt? Die einen waren hierhin, die anderen dorthin geeilt. „Wo gehen wir denn hin?“ „Weiß nicht.“ „Wer kennt sich denn aus?“ „Weiß nicht.“ „Wer hat denn gesagt …?“ „Weiß nicht.“ „Schluss – wir steigen jetzt hier in diese Ersatzbahn, hol‘ mal die anderen, die sind da an der Bushaltestelle.“ „OK.“

Schließlich saßen alle in der Ersatzbahn, allein sie fuhr nicht. Nach 10 Minuten hieß es: „Die 18 fährt wieder, steht auf der Tafel.“ Gut, alle wieder raus, rüber zur 18, die tatsächlich fuhr – uns vor der Nase weg! Wir waren nass, wir froren. „Na, dann nehmen wir eben die nächste.“ Aber sie kam nicht. Erneut blinkte in der Ferne ein Blaulicht. Nun wollten sich vier ausklinken, ein Taxi nehmen und auf eigene Faust zurückfahren; der Nicht-im-Dunkeln-essen-Woller war natürlich darunter. Da sie keine fünfte Person für ihr Gruppenticket fanden, blieben sie doch bei uns, mehr als missmutig.

Nur noch hysterisches Gelächter

„So, jetzt gehen wir zum Bus!“ Gesagt, getan, nur dass der Bus gerade abfuhr, als wir über die Kreuzung trabten. „Dann nehmen wir jetzt doch die Ersatzbahn, die steht ja noch da!“ Neues Bier an neuer Bude beschafft, dann zurückgeeilt, Leib und Leben beim Überqueren der belebten Straße riskiert, nur um die Ersatzbahn gerade abfahren zu sehen. Wir waren nass, wir froren, wir wollten ZURÜCK ZUM HAUPTBAHNHOF! Unser einziger Trost war, dass die SchönerTagTickets (!) bis 3 Uhr morgens des Folgetages gelten … Inzwischen hatten wir das Stadium erreicht, in dem man nur noch hysterisch über alles lacht. Wir müssen einen etwas befremdlichen Eindruck gemacht haben.

Irgendwo – irgendwie – irgendwann

Zu guter Letzt sind wir einfach in irgendeine Bahn gestiegen in der Hoffnung, sie werde schon irgendwohin fahren, und irgendwie würden wir irgendwann den Hauptbahnhof erreichen. Und so war es dann auch. Die freundliche Fahrerin erklärte uns, wo wir umsteigen mussten (und neues Bier holen konnten), und kaum waren wir losgefahren, kippte eine der Kolleginnen um. Super! War ja bis dahin ziemlich langweilig gewesen.

P.S.: Natürlich kamen wir am Ende mehr oder weniger wohlbehalten zurück nach …, zwei Stunden später als geplant, aber ohne größere Blessuren, und der wackeligen Kollegin ging ’s auch wieder besser.

Etliche waren ja sehr zufrieden mit der Veranstaltung, aber andere wieder nicht; einige hatten schon vorher an allem rumgemeckert. Wir fahren zu früh, wir fahren zu spät, wir fahren zu lang, wir fahren zu teuer, wir fahren ins Unbekannte (wie bedrohlich!) – ein bunter Strauß an qualifizierten Kritikäußerungen, ein Feuerwerk der guten Laune! Der nächste Lehrerausflug, das schwöre ich, wird von anderen organisiert!




Das neue Kurz-Sprech: „Kann das Müll?“

Vor einigen Tagen überraschte ich mich und meine Familie mit einer für alle ungewöhnlichen Frage: „Kann das Müll?“ Die Präposition „in“ und den Artikel „den“ hatte ich einfach geschlabbert, unbeabsichtigt, unbewusst. „Und so sprichst Du als Germanist“? empörte sich meine Gattin. Ja. Leider.

Verliert offenbar weiter an Einfluss: der Duden.

Verliert offenbar weiter an Einfluss: der Duden.

Werbung und Alltagshören hat wohl doch größeren Einfluss auf unser Sprechen als die Schulerziehung in Kindertagen. „So muss Technik“ schallt es uns – grammatisch falsch – aus dem Fernseher entgegen, und neulich in der Bahn von Düsseldorf nach Hagen hörte ich einen Jugendlichen in sein Handy rufen: „Nach Schule lauf isch Elberfeld“.

Spätestens seit dem Linguisten Noam Chomsky wissen wir aber, dass unvollständiges oder vom Soziolekt geprägtes Sprechen den gleich großen Kommunikationswert haben kann wie die gerühmte Hochsprache. Man muss sich nur von Vorurteilen befreien. Sprache ist immer in Bewegung, und was letztlich die Mehrheit der Sprachnutzer anwendet, das wird sich irgendwann auch als richtig durchsetzen. Da kann die Duden-Redaktion noch so sehr dagegen ankämpfen.

Übrigens hatten schon die alten Römer ein ähnliches Problem: Der gute Cicero, ein gebildeter Mann, ließ sehr gern Wortteile oder Hilfsverben weg und quält mit dieser Vorliebe noch heute so manchen Lateinschüler. „Lern isch Vokabeln später“, sagt sich der Kurz-Sprecher dann.




Der Flaneur braucht kein Ziel

In der Regel hat der Weg in der westlichen Leistungsgesellschaft ein Ziel. Man geht zur Arbeit oder zum Supermarkt, man muss Behördengänge erledigen, die alte Mutter besuchen, für den Halbmarathon trainieren, Schuhe kaufen oder wenigstens Brötchen holen. Auch die systematische Besichtigung historischer Innenstädte in artigen Gruppen oder mit Hilfe eines gedruckten Reiseführers ist durchaus üblich.

Der Flaneur (aus dem Französischen: flaner = umherstreifen, schlendern) braucht alle diese Gründe nicht, um stundenlang durch eine Stadt zu bummeln. Er hat keine Eile, er lässt sich treiben. Mal beobachtet er die Schwäne auf dem Stadtteich, mal lauscht er einem Straßenmusiker, mal trinkt er einen Espresso, sieht Passanten hinterher und lässt die Zeit vergehen. Ein Flaneur verfolgt keinerlei praktischen, wirtschaftlichen oder sportlichen Nutzen. Er sammelt Eindrücke.

Inspirationen suchen

Das ist für emsig arbeitende Menschen eher suspekt. Der kleine Müßiggang beim Cappuccino wird zwar mittlerweile akzeptiert, man darf mal Pause machen. Aber nicht zu lange, dann muss man wieder ins Büro. Oder wenigstens ins Sportstudio. Der Flaneur lächelt nur milde, grüßt flüchtig und schlendert weiter, um die nächste Ecke. Das ist seine liebste Beschäftigung. Für einen Faulenzer darf man diesen Charakter dennoch nicht halten, denn er registriert alles.

Flaneusen sind in der Kulturgeschichte nicht vorgesehen. Aber es soll sie geben... (Bild: Privat)

Flaneusen sind in der Kulturgeschichte nicht vorgesehen. Aber es soll sie geben… (Bild: Privat)

Viele Dichter und Journalisten verschafften sich flanierend ihre Inspirationen. Der Beschwörer des Unheimlichen zum Beispiel, Edgar Allan Poe, ließ den Ich-Erzähler seiner Novelle „Der Mann in der Menge“ (1838) nach langer Krankheit „an dem Bogenfenster des vielbesuchten Café D. in London“ Platz nehmen und das städtische Leben beobachten: „Das Gefühl der wiederkehrenden Kräfte hatte mich in jene glückliche Stimmung gebracht, die das Gegenteil von Langeweile ist, alle Sinne schärft, aufnahmefähiger macht… Alles, selbst Unbedeutendes, nötigte mir eine ruhige, forschende Teilnahme ab.“ Durch die dunstbeschlagenen Scheiben späht der Mann auf die Straße hinaus, Poe lässt ihn unermüdlich die Vorübergehenden beschreiben: die Herrschaften und Hausierer, die Bettler und Spieler, die Kuchenverkäufer und Trunkenbolde bis hin zu einem kleinen alten Mann, dessen satanisches Gesicht ihn derartig fasziniert, dass er ihm folgt – durch den Nebel der Nacht.

Kunst der Wahrnehmung

Flanieren, lernt man aus diesem Stück Literatur, hat nichts mit Dösen zu tun. Es verbessert vielmehr die Wahrnehmungsfähigkeit. „Flaneure sind Künstler, auch wenn sie nicht schreiben“, behauptet der holländische Schriftsteller Cees Nooteboom in einem Essay für die „Zeit“: „Sie sind zuständig für die Instandhaltung der Erinnerung, sie sind die Registrierer des Verschwindens, sie sehen als erste das Unheil, ihnen entgeht nicht die kleinste Kleinigkeit.“ Kein Riss im Parkhaus-Beton, keine Bausünde, keine Verwahrlosung. Und kein Vogelzwitschern im Gebüsch.

Hans Dieter Schaal, der jenseits der Szene arbeitende Architekt, Bühnenbildner, Dichter und Denker, fühlte sich von den Städten, die er besuchte, so vielfältig angeregt, dass er im Jahr 2009 seine „Stadttagebücher“ veröffentlichte. „Ich bin Erlebender und Beobachter“, schrieb Schaal im Vorwort: „Ich schaue mir die Gebäude, Straßen, Plätze, Märkte Fußgängerzonen, Malls und die Menschen an, lasse die Oberflächen auf mich wirken, spüre den Atmosphären nach. Manchmal überfällt mich die Angst, dann wieder fühle ich mich beglückt und bereichert.“ Knapp 700 eng bedruckte Seiten füllte Schaal mit Texten und selbst fotografierten Bildern.

Langsam gehen

Der Flaneur kann also auch besonders fleißig sein. Muss aber nicht. Er ist im Prinzip ein Zeitverschwender, gibt Nooteboom zu. „Wenn ich an all die Stunden – und allmählich Jahre – denke, die ich durch die Straßen der Welt geschlendert bin, dann hätte ich in dieser Zeit die gesammelten Werke von Hegel und Kant mit der Hand abschreiben können“, scherzt er. Stattdessen habe er „ein Buch gelesen, das nie zu Ende geht, ein Buch, dessen Kapitel und Buchstaben aus Gebäuden, Standbildern, Straßen, Autobussen und Menschen bestehen“.

Als „Lektüre der Stadt“ bezeichnete schon der Autor und Rowohlt-Lektor Franz Hessel (1880-1941) das Flanieren. In seinem Buch „Spazieren in Berlin“ feierte er 1929 das zweckfreie Schlendern: „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung.“ Allerdings registrierte Hessel in der geschäftigen Metropole auch misstrauische Blicke: „Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb.“ In Paris, wo Hessel vor dem Ersten Weltkrieg einige glückliche Jahre verbrachte, war das anders: Das Flanieren als Lebensart wurde dort im späten 19. Jahrhundert erfunden und von Autoren wie Marcel Proust („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“) gefeiert. Wie viele Bilder der Impressionisten zeigen, liebte man das zweckfreie Bummeln besonders, seit die französische Hauptstadt kein Labyrinth stinkender Gassen mehr war. Der Präfekt Georges-Eugène Baron Haussmann hatte großzügige Boulevards und lauschige Passagen angelegt – das ideale Terrain für den Flaneur, den Charles Baudelaire, Poet der „Blumen des Bösen“, als „Künstler, Mann von Welt, Mann der Menge und Kind“ beschrieb.

Melancholischer Voyeur

Nach Ansicht des deutschen Philosophen und Proust-Übersetzers Walter Benjamin (1892-1940) ist der Flaneur ein Süchtiger, ein melancholischer Voyeur, ein Detektiv und ein Verdächtiger zugleich. Benjamin widmete dem Phänomen sein unvollendetes „Passagen-Werk“, dessen Durcharbeitung allerdings nur strebsamen Geisteswissenschaftlern zu empfehlen ist. Alle anderen sollten einen leichten Mantel anziehen und einfach nach draußen gehen, in die Stadt, zum Flanieren.

Zitat:

„Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen.“
(Franz Hessel, Flaneur)

Und wo bleibt die Flaneuse?

Frauen haben offensichtlich immer was zu tun. Jedenfalls kennt die Literatur keine Flaneuse. So, wie sich die Männer bei der Arbeit entschlossen bis stur auf ein Ziel konzentrieren, sind sie auch in Sachen Müßiggang durch nichts abzulenken. Immerhin gibt es bei Marcel Proust den Begriff der „Passante“ (französisch: Spaziergängerin). Dabei handelt es sich um vorbeiziehende, flüchtige Figuren, die alle Blicke und Begehrlichkeiten flanierender Herren ignorieren. In der Gegenwart bahnt sich zum Glück eine Änderung an. In dem Flaneur-Büchlein von Stefanie Proske (siehe Buchtipps) wird zwischen vielen Männern auch die Berliner Schriftstellerin Christa Moog zitiert: „Ich spazierte zum Grab von Kleist.“

Buchtipps:

„Das Passagen-Werk“
„Man darf, ohne Einschränkung, von einem epochalen Werk sprechen“, befand die Züricher Zeitung. Alle klugen Menschen nicken verständig, wenn von Walter Benjamins „Passagen-Werk“ die Rede ist. Jeder, der über das Flanieren philosophiert, wird es zitieren. Dabei handelt es sich um eine fragmentarische, aber überaus umfangreiche Sammlung von Texten, die durchzuarbeiten nicht gerade ein Vergnügen ist. 13 Jahre lang, bis zu seinem Selbstmord im Exil 1940, arbeitete der 1892 in Berlin geborene Philosoph an seinem Hauptwerk, einem Buch über seine Lieblingsstadt Paris – und wurde niemals fertig. Der Titel leitet sich ab von einer reichlich trockenen Abhandlung über die Geschichte der im 19. Jahrhundert erbauten Passagen, jene überdachten Gassen für den flanierenden Genießer. Die zweibändige Textsammlung ist nur geeignet für Menschen mit entschiedenem Bildungswillen. (Walter Benjamin: Passagen-Werk. Edition Suhrkamp, 1354 Seiten, 29,90 Euro)

„Flaneure – Begegnungen“
Das rosarote, hübsch gestaltete Büchlein der Lektorin und Politologin Stefanie Proske ist so leicht, dass es der Flaneur ohne weiteres in die Tasche stecken kann. Und die Lektüre ist ein müheloses Vergnügen für ein Stündchen im Café, denn Proske hat einige kurze Beispiele aus der Flaneur-Literatur zusammengestellt. Das geht vom alten Pariser Charles Baudelaire, der „inmitten dieses in Kittel und Kattun gekleideten Volkes“ eine „große, hoheitsvolle Frau“ entdeckte, bis zum Wiener Karl Kraus: „Dagegen zog mich von jeher das Leben der Straße an…“ Ideale Lektüre für ein müßiges Stündchen im Straßencafé. (Stefanie Proske: Flaneure – Begegnungen auf dem Trottoir. Edition Büchergilde, 198 Seiten, 14,90 Euro)

„Stadttagebücher“
Als Bühnenbildner reiste der oberschwäbische Architekt, Zeichner und Autor Hans Dieter Schaal in viele Städte von Venedig bis Kuala Lumpur. Das Flanieren wird bei ihm auch immer zum Analysieren. Was er entdeckte und bedachte, sammelte Schaal in umfangreichen „Stadttagebüchern“, die mal historische Abhandlung, mal persönliche Anekdote sind. Man kann und muss das schwere, mit eigenen Fotos illustrierte Buch nicht komplett lesen – aber man kann dem Flaneur Schaal in die eine oder andere Stadt folgen. (Hans Dieter Schaal: Stadttagebücher. Edition Axel Menges, 647 Seiten, 79 Euro).




Flucht zum Jahreswechsel – München leuchtet

„Ich will zum Jahreswechsel raus“, sagen sich viele und verreisen, um den Wechsel ins Neue Jahr fernab mit Vorsätzen zu verbringen.

Den einen zieht es ans Meer, um über steife Brisen einen klar Kopf zu bekommen. Den anderen locken die Berge und der Schnee, um sich seiner vielen bunten Bilder zu entledigen, denen man täglich ausgesetzt ist. Viele reisen in eine Großstadt, um den Jahreswechsel als ganzheitliche Party zu erleben.  Durch einen Zufall war es bei mir München. Nicht deshalb, um dem fußballerischen Feind auf den Pelz zu rücken. Wenn man aus dem Revier kommt, gehört das Weben des Feindbildes FC Bayern zur Erziehung. Ich war schlichtweg Begleitung, also nicht nur vom eigenen Willen geleitet.

Flügelspiel in München

Flügelspiel in München

Tatsächlich stehe ich vor dem kleinen Fanshop in der Münchner City und ein post-weihnachtliches Gefühl überkommt den Gast aus Dortmund, mutet der Laden doch eher an wie die Geschäftsstelle des Weihnachtsmannes – alles in rotweiß. Und um die Ecke in einer Passage, vor einem Dirndlfachgeschäft, sitzt jemand an einem Flügel und spielt Rachmaninoff auf hohem Niveau. Es ist Silvester am Nachmittag und die Menschen eilen – schwer bewaffnet mit Plastiktüten und Koffern voller Wumm- und Bumm-Material – zu den jeweiligen Parties, um den letzten Balkankrieg akustisch nachzustellen.

Auf der Suche nach einem unspektakulärem Ort, landen wir „the night before“ in Schwabing im „Multikulti“, einem kleinen Lokal gegenüber vom „Lustspielhaus“, in dem sich Kabarettisten die Klinke in die Hand geben, wo zur Silvesternacht der urbayrische Barde Willy Michl aufspielt, von dem ich noch zwei Vinyls aus den 1970ern habe. Er ist der Begründer des bayrischen Blues und tritt heute in Indianerkleidung auf. Wollte man dabei sein, wäre man dicker bayrischer Luft ausgesetzt, umzingelt von urbayrischem Idiom, „lost in translation“. Und ausverkauft ist es sowieso.

Essen als Herausforderung

Im „Multikulti“ wird derweil das Essen serviert. Die Bedienung Olga aus Kiew sagt: “Ich komme aus dem buntesten Land Osteuropas“ und serviert uns gigantische Portionen auf ebensolchen Tellern. Mein „Krautwickel auf transsilvanische Art mit Sauerrahm, Kartoffeln und Speck“ wird von Koch Werner frisch hergestellt. Mutmaßlich hat er für diese Portion den kompletten Weißkohlkopf verwendet, ein mittelgroßes Schwein zerhackt, einen Sack Paprikapulver eingesetzt und ein paar Liter saure Sahne angehäuft. „Die letzte Herausforderung des alten Jahres“, denke ich und verputze schnaufend das zünftige Mahl.

Meine Begleiter haben es mit einem Haufen Wiener Kalbsschnitzeln und einer Lieferung Spaghetti mit allen Meeresfrüchten des Mittelmeeres zu tun, welches bekanntlich von München weniger weit entfernt ist als Dortmund. Am Nebentisch sitzt ein junges italienisches Paar mit ihrem dreijährigen Kind, das es mit einem „Kinderteller“ zu tun hat. In der Größe einer Kinderbadewanne breiten sich auf dem „Teller“ Rühreier für einen gesamten Kindergarten aus.

Steffi Graf, gemalt auf einer Rinderhaut

Hier will ich die Silvesternacht verbringen. „Ein Tisch ist noch frei, der kleine an der Tür.“ Die Einrichtung scheint aus den 70ern ins Jetzt gebeamt: Wände voll mit Gemälden, die Kunstsachverständigen Schaum vor den Mund jagen würden. Eins zeigt Steffi Graf, gemalt  auf einer Rinderhaut. Die Bestuhlung stammt durchweg von unterschiedlichen Omas.  Lampen, die vormals mal was anderes waren und Kerzenständer um Kerzenständer mit Kerzen. Im vorderen Bereich herrscht eine gediegene Wohnzimmeratmosphäre, im Raum hinten rechts laden kleinere Tische zu Tête-a-têtes, die kurze Theke ist mit ihrem Umfeld eine eigene Welt und hinten bedeckt ein buntes, wahrscheinlich handgesticktes Tuch einen Billardtisch. In der Ecke, hinter einem zusammengeknubbelten Vorhang, klemmt sich einer an einen Spielautomaten. Geradeaus geht’s zur Küche, rechts in die un-verzierten Toilettenräume. Unaufdringlich läuft das Album „A hard day‘s night“ von den Beatles.

"Multikulti" in Schwabing

„Multikulti“ in Schwabing

Für acht Uhr ist gebucht. Es soll live-Musik geben. Eine Seitenlehne des Sessels fällt aus ihrer Verankerung. Ich halte sie fest, als wäre sie ein Stück von mir. Die anderen Gäste sind schon da. Die Eingangstür vor uns wird naturgemäß auch als Ausgang benutzt. Es zieht. Diejenigen, die ich begleite, tragen ihre Mäntel auch am Tisch. Der Ausgang ist nah, falls es zu unerwarteten Tumulten kommt. Aber alles ist schön: Die Junge Münchener Generation am Nebentisch, der Vierertisch Pelzmantelschickeria, das stille Paar gegenüber. Im anderen Raum schön sortierte Vierergruppen.

Gibt es wirklich so große Forellen?

Nur an der Theke stehen ein paar abgerissene Anwohner, die schon um acht den Eindruck bestätigen, Bier sei ein Lebensmittel, und zwar von morgens bis abends. Auf dem abgedeckten Billardtisch stehen Sektflaschen, einige junge Dinger liegen oder sitzen schon querbeet. Es soll noch heiß werden in der Nacht ins kommende Jahr. Olga serviert die Forelle, die für jedes Seemannsgarn herhalten könnte. Gibt es Forellen in dieser Größe? Beim Pulpo hat man auf Fisimatenten verzichtet und ihn gar nicht erst in Einzelteile zerkleinert. Das wäre nur was für die Freunde der Häppchen-Kultur. Hier wird gegessen, auch, wenn die Teller erheblich die Größe des Tisches überschreiten. Aber man hat ja zwei Hände. Die beiden silberhaarigen Live-Musiker hocken mit ihren Gitarren vor der Theke und spielen ihre Jugend rauf und runter.

Die kaum angezogenen Mädchen und feierlich gekleideten Jungs am Nebentisch tauschen ihre Flüssigkeiten noch in Form von Getränken aus – sie spritzen Aperol on the rocks und Whisky/Cola . „Was ist Soda?“ fragt die mit dem offenen Oberteil. An der Theke plaudern sich die Einheimischen gegenseitig vom Hocker. Das Weißbier schäumt ihnen aus den Ohren. Ihre Haltung jedoch ist die von Lustknaben aus den Zeiten König Ludwigs.

Welch ein Aperol-Blick!

Die Zwei-Mann-Band spielt irgendwas von Rod Steward oder Keith Richards. Helles und Weißes an der Theke, Sekt am Billardtisch. Draußen donnern einem beim Rauchen die ersten illegalen Polenböller durch den Tinnitus. Nebel legt sich zwischen Lustspielhaus und Multikulti. Die ersten Plastiktüten werden im Lokal in Stellung gebracht – ready to be bombastic. Die junge Lady mit den schwarzen Haaren tänzelt an mir vorbei und wirft ihren Aperol-Blick in mein Gesicht. Ich lächle zurück und denke nichts. Die Tür geht auf und eine kleine Partygruppe stößt auf die andere. Drei weitere Sinnbilder jugendlicher Weiblichkeit. Wäre ich ein unzufriedener Rollatorschieber mit einer viel zu dicken Frau, würde mir die Fischsoße aus den Mundwinkeln rinnen. So aber bleibe ich cool wie ein 25-jähriger Golfspieler und starre bedenkenlos auf die Beine, die sich vor mir aufbauen, die High Heels in den Teppich gerammt.

Draußen herrschen gefühlte 5 Grad minus und vor mir sehe ich frostbeulenfreie nackte Beine mit dem Rocksaum auf meiner Augenhöhe.  „Früher war mehr Wolle“, höre ich mich denken und ziehe meine Handschuhe wieder aus.  Die Lady stöckelt weiter zu ihrer Freundesgruppe und legt sich mit einem Eimer Aperol an. „Die Uhr tickt“, fordern uns zwei der Girls auf, „gleich ist es soweit. Neujahr!“ rufen sie und erwecken uns damit aus dem Schlaf der Gesättigten. Gott sei Dank meinen sie nicht meine Lebensuhr. Nein, es sind anständige Einheimische.

Olga schiebt Biere nach und ist unerlässlich freundlich und das ist so echt, dass einem schwindelig wird. Die zwei alten Tanten in ihrer jungen Kleidung, zwei wandelnde Ü-50-Boutiquen, vergnügen sich am Vierer-Tisch mit ihren eisgrauen Männern, die aussehen, als hätten sie noch am Nachmittag einige Ausstellungen eröffnet. Silberringe, Silberhaare, Silberzähne und ein paar Meter weiter parken ihre Designer-Fahrräder. Wir werden herausgeschoben. Auf der Straße zwischen Multikulti und Lustspielhaus werden die Waffenarsenale in die endgültige Stellung gebracht. Ganze Batterien von Raketen aller Art werden in die Luft gejagt. Wer gewinnt? Und es kommen Menschen und umarmen mich, werfen mir Küsse an meine erkaltete Wange, auch die mit den Beinen greift mit frohen Grüßen in meine Souveränität ein.

„Ein Stadl is des“

Olga kommt und freut sich. Ich falle in meinen Sessel und versuche noch, ein Tanzbein zu greifen, aber es entschwindet mit Toni aus dem Nebenhaus in den Billardraum, wo sich die knapp gekleideten Sekttrinkerinnen vor der Böllerei versteckt hielten und nun Liebkosungen austauschen. Wir wechseln den Tisch. Das Lokal wurde umgeräumt, die ersten Jungen beginnen zu altern.  Die Schwarze hat dort einen Relief-Slip, wo in den 90ern noch das Geweih eingestanzt war. Das Böllerfestival draußen wird von den letzten Unentwegten aufrechterhalten. Nachdonnern mit Kollateralschäden an einzelnen Ohren und Mänteln. Die Damentoilette wird zum Lazarett umfunktioniert. Aperol wird zurückgeführt, Unverdautes bollert in die Keramik.

Die mit den Beinen kann sich auf diesen nicht mehr halten. „Sie ist das nicht gewohnt“, sagt der junge Mann mit dem Muskelshirt, der ihren Zickzackgang abfedert. An der Theke steht Andy Borg in einem langen eleganten Mantel und raunt: „Ein Stadl is des.“ Inzwischen laufen weitere Betrunkenen-Transporte per pedes. Wir verabschieden uns von Olga aus der Ukraine. An der Bahnstation treffen wir wieder auf die nackten Beine, die kreuz und quer laufen wollen. Aber der Gentleman hat alles im Griff und sagt: „Sie ist das nicht gewohnt.“

Wir verschwinden in der Dunkelheit des neuen Jahres. Hinter uns werden reihenweise Papierkörbe mit Aperol gefüllt. Am nächsten Tag schreibt die Abendzeitung, ein U-Bahnfahrer sei betrunken über ein Bein gefahren. Hoffentlich war es nicht eins der zwei nackten. Prosit Neujahr!




Familienfreuden auf Reisen: Die Visitenkarte des Weihnachtsmannes

Ach ja, die Sonne scheint, ich sitze im T-Shirt vor dem Laptop, die Blumen blühen – da kann man schon mal in Weihnachtsstimmung geraten. Zumindest suggeriert mir das mal wieder unser Supermarkt um die Ecke, bei dem es schon Lebkuchen und Spekulatius gibt. Das zumindest passt hervorragend zu unserem Reiseabschluss – denn Fi ist dem Weihnachtsmann begegnet.

Der Weihnachtsmann - der Spannung halber hier anonymisiert.

Der Weihnachtsmann – der Spannung halber hier anonymisiert.

Wenn ich an den Weihnachtsmann denke, ist neben dem üblichen Bart und der roten Kleidung eigentlich immer auch irgendwo Schnee im Bild, auch Tannengrün und ein paar leuchtende Weihnachtsbaumkugeln gehören dazu.

Die Realität sah anders aus, ganz anders. Wir stießen die Tür unseres Campingwagens auf und da stand er: Santa Claus – und bändigte unser Grillfeuer! Mit einem Pusterohr, ganz entspannt. Auch sonst stimmte einiges nicht an dem Bild: Santa trug ein gemütliches Karohemd und Jeans. Und er war mit Freunden da, die allesamt nicht wie Kobolde aussahen. Das, was allerdings am meisten von meiner Vorstellung abwich, war die Tatsache, dass der Weihnachtsmann Harley Davidson fuhr.  Die stand da, blitzblank leuchtend, und war nicht einmal rot.

Trotzdem gab es keinen Zweifel, dass es sich bei dem Mann an unserem Grill um den echten Weihnachtsmann handelte. Fi muss das sofort gespürt haben, denn sie war mucksmäuschenstill und schaute den bärtigen Herrn nur mit großen Augen an und ließ sich sogar von ihm den Kopf streicheln. „Ich habe etwas für Eure Tochter“, sagte der Mann verschwörerisch, „und Ihr müsst mir versprechen, dass Ihr es so lange aufbewahrt, bis sie groß genug ist, um es selbst zu lesen.“ Wir nickten gespannt.

Er kramte in seiner Hemdtasche. Und zog etwas Kleines hervor.

Eine Visitenkarte! Vom Weihnachtsmann!

Damit war auch bei uns Erwachsenen jegliches Misstrauen weggepustet. Zumal auf der Karte auch eine Liste mit seinen Lieblingssachen stand, die ich Euch hier nicht vorenthalten will. Also:

Lieblingsgetränk: Milch
Lieblingsjahreszeit: Winter
Lieblingstier: Rentier
Lieblingshobby: Kunst und Handwerk
Lieblingsfarben: Rot und Braun

Informationen, die Gold wert sind!

Santa lächelte uns freundlich an. „Ich sage den Kindern immer: So lange Ihr an mich glaubt, komme ich auch zu Euch.“ Wir nickten und prägten uns jedes Wort für Fi ein. Trotzdem schaute er uns prüfend an und meinte seufzend: „Wisst Ihr, manchmal ist es so, dass man nicht mehr an den Weihnachtsmann glaubt. Dann dauert es sehr lange, bis der Glaube zurückkehrt – meistens dann, wenn so ein Wunder geschieht, wie die Geburt eines Kindes.“

Wir schluckten und nickten erneut. Als er weg war, sahen wir noch lange in die glimmenden Kohlen.

Wir hatten den Weihnachtsmann wiedergefunden. Und Fi können wir eines Tages sogar seine Visitenkarte geben.




Globus am Abgrund, Rettung naht – Matthias Polityckis Roman „Samarkand Samarkand“

9783455404432Tim Bendzkos Song, wonach er nur noch die Welt retten muss, der könnte auch von Alexander Kaufner stammen.

Im fernen Usbekistan, genauer genommen in der sagenumwobenen Stadt Samarkand soll und will er eine Mission erfüllen, die da lautet: den dritten Weltkrieg zu beenden. Fürwahr, es ist kein angenehmes Leben mehr auf diesem Globus, seitdem sich die Machtverhältnisse einmal mehr verschoben haben. Nach Deutschland, der Heimat des Romanhelden, sind die Russen zurückgekehrt, radikale Muslime kämpfen mit Waffengewalt, aber es gibt noch eine Bundesregierung, wenn auch nicht mehr unter Kanzlerin Merkel. Gemäß dem Satz, dass der Islam zu Deutschland gehört, führt jetzt der Türke Mehmet Yalcin die Regierungsgeschäfte.

Die Art und Weise, wie Kaufner von all den Ereignissen erfährt, versinnbildlicht den Wandel der Welt: Gazprom-TV heißt der Sender, der alle anderen Medien verdrängt hat. Wie nun der Deutsche den blauen Planeten von dem Fluch des Krieges befreien soll, ist schon aberwitzig. Er soll das Grab von Timur, Nachfahre des Mongolenherrschers Dschingis Khan, ausfindig machen. Diesem Ort wird eine magische Kraft zugeschrieben, und zwar eine solche, die in diesen dunklen Zeiten Wunder wirken kann.

Autor Matthias Politycki lässt den Leser teilhaben an einer Expedition durch ein Land, das für Kaufner bei optimistischer Betrachtung eine Menge an Abenteuern bereithält. Schon allein der Name „Samarkand“, wo die Grabesstätte vermutet wird, versprüht einen Zauber, dem sich der ehemalige Gebirgsjäger nicht entziehen kann. Selbst als er feststellen muss, dass es neben dem illustren Samarkand, das seinen festen Platz an der Seidenstraße hatte, noch ein zweites Samarkand existiert, dem eher die Aschenputtelrolle zugedacht ist, lässt er von seinem Plan nicht abhalten. Er will das wahre Grab von Timur finden und das befindet sich nun mal in diesem wenig einladenden Ort.

Die Idee zu dem Buch kam Politycki schon 1987 in den Sinn, als er erstmals in Samarkand zu Gast war. Seinerzeit schien der Mauerfall noch in weiter Ferne zu sein, dafür hatte ihn die Faszination an Ort und Stelle ergriffen. Es sollte rund ein Vierteljahrhundert dauern, bis der Autor sich daran setzte und Kaufner auf Reisen schickte. Zwischenzeitlich kehrte er nach Samarkand zurück, verwarf erste Konzepte für das Buch, um nun eine spannende, mitunter auch sperrige Lektüre vorzulegen.

Befremdlich wird das Buch schon mal an solchen Stellen, in denen Gewaltexzesse beschrieben werden. Das Massaker von Köln, das nahezu alle Karnevalisten dahinrafft, ist wahrlich nichts für schwache Nerven. Wem solche Passagen zu brutal daherkommen, der wird durch die Fantasie des Autors entschädigt. Politycki zeichnet zwar eine düstere Zukunft, die jedoch noch längst nicht das Ende aller Tage sein muss. Wenn eine Zeitangabe aufhorchen lässt, dann ist es das Jahr, in dem der Schriftsteller seine Geschichte beginnen lässt: 2027. Bis dahin sind es gerade mal noch 14 Jahre.

Matthias Politycki: „Samarkand Samarkand“. Hoffmann und Campe, 397 Seiten. 22,99 Euro




Navigation ins Nirgendwo

Mit diesen obskuren Objekten, die Navigationsgeräte („Navis“) heißen, stehe ich seit jeher auf Kriegsfuß. Im Prinzip ist das ja eine famose Erfindung, die man sich früher gewünscht hätte. Allerdings habe ich damit im Lauf etlicher Jahre fast nur schlechte Erfahrungen gemacht.

Schon mehrere „Montagsgeräte“ haben mir den Nerv geraubt. Die Marke Becker (allenfalls zögerliche Zielfindung) kann ich demnach ebenso wenig empfehlen wie Navigon (seinerzeit unglaublich umständlicher Download von Aktualisierungen, erbärmlicher Support). Reiner Zufall? Bloßes Pech? Inzwischen längst verbessert? Mag sein.

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Doch der Fluch verfolgt mich weiter. Neuerdings ist es ein Apparat von TomTom, der wegen Bildschirmsalat und anschließendem Totalausfall bereits kurz nach dem Erwerb zweimal zur Reparatur eingeschickt werden musste, sodann im Rahmen der Garantie ausgetauscht wurde. Das neue Exemplar bringt nun keinerlei GPS-Empfang zustande, kann also nicht einmal feststellen, wo es sich befindet. Bei der Service-Hotline (wenn man sie denn nach langer Warteschleife erreicht) kenne ich mittlerweile fast alle Stimmen.

Liegt es an der Aura?

Inzwischen suche ich auch nach übersinnlichen Erklärungen fürs Dauerdesaster. Entweder besitze ich eine Aura, welche die Navis von ihrem eigentlichen Tun ablenkt, oder diese Technik ist – unabhängig vom jeweiligen Hersteller – immer noch nicht richtig ausgereift; was Multimilliarden-Geschäfte keineswegs ausschließt.

Eine ins absurde ragende Episode muss noch erzählt werden. Für einen Kurzurlaub ging’s neulich auf die Nordseeinsel Borkum. Vorsichtshalber haben wir nicht nur mein gerade frisch umgetauschtes TomTom-Gerät mitgenommen, sondern auch das Medion-Maschinchen meiner Frau. Doppelt abgesichert, ha! Da konnte ja wohl überhaupt nichts mehr schiefgehen.

Die Affäre mit der Fähre

Doch das erstgenannte Teil konnte just keine Satelliten-Signale empfangen und sich somit gar nicht erst positionieren. Ein Debakel. Also flugs das zweite Gerät angeworfen, das seltsamerweise eine kolossale Fahrtdauer von fast 7 Stunden bis zum Fähranleger in Eemshaven (Holland) vorhersagte. Normal wäre etwa die Hälfte.

Waren da etwa schon Seewege mit einberechnet worden? Egal. Es hätte uns jedenfalls sehr, sehr stutzig machen sollen. Leider haben wir uns trotzdem ohne Kartencheck auf die Wegführung verlassen – und sind geradewegs zum Anleger nach Emden geleitet worden, für den wir freilich keine Fähren-Reservierung hatten. Für eine Umkehr war es schon zu spät.

Kurzum: Wir haben unsere gebuchte Fähre verpasst und konnten in Emden nur noch als Fußgänger mitschippern, was auch schon ein Glücksfall war. Das Auto musste anderntags nachkommen. Während der Umbuchung hieß es bei der Reederei, dass derlei navigatorische Fehlleitungen zum falschen Fährhafen täglich vorkämen. Es war also alles andere als ein Einzelfall.

Suche nach dem Heiligen Gral

Soll ich nun weiter nach der klaglos funktionierenden Navigation suchen wie nach dem Heiligen Gral? Soll ich mich dabei in den Ruin und in den Wahnsinn treiben lassen?

Es empfiehlt sich wohl die reumütige Rückkehr zur guten alten Landkarte nebst Stadtplänen und der Befragung von Passanten via Seitenfenster. Doch wehe, wenn dann einer dämlich zurückfragt: „Haste denn keine Navi?“




Ein Sommer für Matisse: Nizza widmet dem Maler acht Ausstellungen

Fünf Spidermen fassen sich an den Händen und tanzen Ringelreihen. An wen erinnert bloß diese Tanzszene, die der in Dortmund geborene Künstler Martin Kippenberger so kühn aufs Papier gebannt hat? Genau: „La Danse“ von Henri Matisse ist das Vor-Bild für die ironische Collage und dass beide Künstler nun in einem Museum zusammentreffen, kein Zufall: Zum 50. Geburtstag des Musée Matisse zeigt Nizza unter dem Titel „Un été pour Matisse“ (Ein Sommer für Matisse) noch bis zum 23. September insgesamt acht Ausstellungen, die von dem berühmtesten Maler der Côte d’Azur inspiriert sind.

Musée Matisse, Nizza, Foto: E. Schmidt

Musée Matisse, Nizza, Foto: E. Schmidt

Von 1917 bis zu seinem Tode 1954 lebte und arbeitete Henri Matisse in Nizza, hier schuf er sein farbenfrohes, vom Licht der Küste durchdrungenes Oeuvre. Den Rundgang auf den Spuren des Malers beginnt man am Besten in der roten Villa auf dem Berg über Nizza im Stadtteil Cimiez, in der heute das Musée Matisse untergebracht ist. Hier widmet man sich zum Jubiläum dem Thema der Musik im Werk von Matisse, die ebenso wie der Tanz eine zentrale Rolle bei ihm spielte. Seine Bilder zeigen Instrumente und mehrfach Tochter und Sohn an Klavier und Geige. Ergänzt wird die Schau durch die dazu passenden historischen Instrumente. Im Untergeschoss lernt man die Vielseitigkeit des Meisters erst richtig kennen: Es finden sich Theaterkostüme und eine schwungvolle blaue Keramik, die Matisse zur Gestaltung eines Schwimmbads entworfen hat. Sein Enkel hat das gesamte Interieur kürzlich der Stadt Nizza geschenkt.

Das Sujet führt den Besucher ins nebenan gelegene Musée d’archéologie, einen kleinen modernen Zweckbau nahe der Ausgrabung einer römischen Therme. Als mondäner Badeort ging Nizza in die Tourismusgeschichte ein, hier widmet man sich dem Thema des Swimming-Pools in der Kunst und hat einige ganz hübsche Fotografien und Videos zusammengestellt, die einen ein wenig abkühlen. Doch es hilft alles nichts, wir müssen den Berg hinunter, ans blaue Meer. Die Straße führt vorbei am Hotel Regina, in dem Ende des 19. Jahrhunderts noch Queen Victoria mitsamt Hofstaat logierte. Später wurde das imposante Gebäude zum Grand Hotel, in dem Matisse von 1938 bis 1954 wohnte und sein Atelier hatte.

Palais Lascaris, Nizza, Foto: E. Schmidt

Palais Lascaris, Nizza, Foto: E. Schmidt

Unten, in der quirligen Altstadt, wird auf der Place Saint Francois gerade der Fischstand abgespritzt und die Fleischergesellen machen eine Zigarettenpause. Gleich um die Ecke liegt der Palais Lascaris, ein barocker Palazzo, der einen in schattiger Dunkelheit empfängt. Hier ist die Ausstellung „Matisse und die Jahre des Jazz“ untergebracht: Zwischen 1943 und 1949 schuf Matisse ein Künstlerbuch unter dem Titel „Jazz“: Sein schwebender Ikarus auf blauem Grund mit zackigen gelben Sternen ist weltweit bestimmt millionenmal nachgedruckt worden.

Wir wandern weiter in die gleißende Sonne entlang der berühmten Strandpromenade Boulevard d’Anglais zum Musée Masséna, das in einer herrschaftlichen Luxusvilla mit Meerblick residiert, die Victor Masséna d’Essling duc de Rivoli 1898 erbaute. Hier geht es um das Thema der Palme in der Kunst, ausgehend von Matisse, der den südlichen Sehnsuchtsbaum in verschiedensten Variationen immer wieder gemalt hat. Aber Picasso hat das auch nicht schlecht gemacht, wie man sieht.

Der Rückweg über die Rue de France verführt profanerweise zum Sandalenkauf mit viel zu hohen Absätzen, in denen ich die Stufen zum Musée d’Art Moderne et d’Art Contemporain (MAMAC) kaum mehr hochsteigen kann. Doch die Mühe lohnt, denn oben heißt es freundlich „Bonjour Monsieur Matisse“ und die Kuratoren haben eine beeindruckende Auswahl an moderner Kunst zusammengetragen, die den Einfluss des stilbildenden Meisters des 20. Jahrhunderts auf seine Nachfahren augenfällig werden lässt. Von Roy Lichtenstein über Jean-Michel Basquiat und Niki de Saint Phalle bis hin zu Martin Kippenberger ist einiges von Rang und Namen vertreten.

Aufmerksame Leser haben vielleicht mitgezählt: Wir haben nur fünf von acht Matisse-Ausstellungen geschafft. Leider mussten wir dann die schmerzenden Füße ins Meer hängen. Wer alle acht an einem Tag absolviert, soll sich bitte bei mir melden, aber ich brauche Beweise. Der Flug Düsseldorf-Nizza dauert nur anderthalb Stunden.

Infos: matisse2013.nice.fr




Familienfreuden auf Reisen: Die Sache mit Axel

Fiona hat wochenlang nichts mit anderen Babys zu tun gehabt. Und das, wo sie sonst einmal pro Woche mit der Pekip-Spielgruppe und beim Babyschwimmen alles zum Einstürzen bringt.

Trotzdem waren die Wochen alles andere als langweilig. Fiona hat riesige Redwoods bestaunt, Oregons bewegte Küste stumm bewundert, mit lustigem Gebrabbel einen Berg nach dem anderen besungen und sogar quietschend einen Schneespaziergang (!) mit uns gemacht (Normens Kommentar für andere Wandernde: „We brought our own sound system.“) Aber Babys? Immer nur in Tragehilfen verpackt oder aus der Ferne, in ihrem Kinderwagen, so dass maximal ein sehnsüchtiges Winken drin war. Wochenlang keine adäquate Unterhaltung. Und dann kam Axel.

Keine anderen Babys weit und breit. (Foto: Normen Ruhrus)

Keine anderen Babys weit und breit. (Foto: Normen Ruhrus)

Normen und ich waren durch unser Frühstück – French Toast mit Würstchen und Omelette, oh yeah! – abgelenkt, aber Fiona sah ihn schon aus dem Augenwinkel. Braunes Haar (zumindest der Ansatz), braune Augen, todschicke Latzhose und geringeltes Oberteil. Was für ein Mann (to be). Axel! Dass Fi’s Patenonkel (auf Englisch viel cooler „Godfather“) auch so heißt, war sicher ein gutes Entrėe. Fi schien sich in ihrer Blümchenjacke aufzusetzen.

Das wiederum blieb von Axel nicht unbemerkt. Sehnsüchtige Blicke aus dem Augenwinkel, schüchternes Winken? Axel war kein Mann der subtilen Annäherung. Um ehrlich zu sein: er ließ einfach einem Sabberfaden freien Lauf.

Kaum rückten wir die beiden näher aneinander, berührten sich die Babystühle, gab es einen Mini-Urknall: „Jadaddada!“ eröffnete Fi die Konversation. „Bababababa!“ stimmte Axel gut gelaunt zu. Für uns das Signal: Was auch immer wir in dem Urlaub tun würden, Grimassen, Lieder, die Eröffnung von Bergen, Seen und Tieren – es würde immer nur die zweite Wahl bleiben. Keine Chance gegen Axel. Finger berührte Finger, Hand landete auf der Nase, Finger im Auge… – die Liebe war kurz, aber heftig.

Lange noch winkte Fi Axel hinterher als wir das Café verließen. Und wir summten leise: „Bye, bye, Mister American Pie!“

P.S.: Falls sich jemand über unsere Aufenthaltsdauer wundern sollte – Kolumnen kann man auch aus der Erinnerung schreiben :-)!




Tanz mit der Waldfee: artscenico-Projekt im Dortmunder Wald

Foto: dman

Foto: dman

Natürlich ist darstellende Kunst immer flüchtig. Wer an verschiedenen Tagen das gleiche Theaterstück sieht, wird niemals exakt das gleiche sehen. Die Inszenierungen von artscenico allerdings sind besonders flüchtig. Denn die Dortmunder Künstlergruppe um Rolf Dennemann setzt nicht nur Menschen, sondern vor allem Orte in Szene.

Sie macht die Besucherinnen und Besucher zum Teil der Performance. Sie produziert Bilder, die man anhalten möchte, weswegen man hilflos zur Smartphone-Kamera greift. Und sie sorgt für eine fast exklusive Einmaligkeit des Kunst-Erlebnisses: Selten sind artscenico-Produktionen häufiger als vier, fünf Mal zu sehen. Wer dabei war, kann noch lange davon erzählen.

Industrierelikte und Hotelzimmer, Bauernhöfe und Schrebergärten hat artscenico bereits inszeniert. Am vergangenen Wochenende ging es in den Evinger Süggelwald, der, wie die Ankündigung verrät, seinen Namen den Schweinen verdankt, die die Bauern früher in den Wald trieben. „4rest“ ist ein Tanzprojekt in der rauen Natur, ein Spaziergang, der den Besuchern im weichen Licht der Dämmerung eine Ahnung von den Geheimnissen des Waldes vermittelt. Konzept und Choreografie stammen von der Kölner Choreografin und Tänzerin Photini Meletiadis.

Eine Frau im leuchtend Grünen Kapuzenpullover mit einem aus Korb geflochtenen Spiel-Ball lockt die Besucher in den Wald, wirft ihren Ball – und scheucht damit eine Gruppe Waldwesen auf, die blitzschnell davonschwirren. Wer sind sie? Und wohin? Die Spurensuche beginnt, angeleitet von der elfenhaften, milde lächelnden Frau in Grün – eine Vermittlerin zwischen den Welten, die die Aufmerksamkeit bald auf eine Lichtung, bald auf einen besonderen Baumstamm lenkt. Immer wieder hält sie an, horcht in den Wald – und der Zuschauer hört erst den Kuckuck rufen und sieht dann eines dieser scheuen Wesen in sicherer Entfernung im Dickicht hocken. Die eine scheint ihr Baby zu schaukeln. Eine andere ist offenbar auf Nahrungssuche. Eine dritte verfängt sich in einem Netz – oder webt sie es? Die Zuschauer flüstern, das Laub raschelt, die grüne Fee lächelt, der Wald kühlt und tut gut.

Foto: dman

Foto: dman

Mehr und mehr verlieren die Waldwesen ihre Scheu, kommen näher, scheinen neugierig auf die vielen Besucher, die nun zum Teil der Inszenierung werden: Einige bekommen aus Wald-Fundstücken liebevoll gefertigte Puppen geschenkt. Andere werden zu Bäumen geführt, um sie zu berühren und zu umarmen. Dann nehmen sich alle an die Hand, werden von den Wesen weitergeführt und stehen plötzlich vor einem gedeckten Tisch: Es gibt Weintrauben, Kirschen, Kokosnuss und Wasser aus Paprika-Bechern.

Offenbar sind die menschlichen Besucher nun im Wald akzeptierte Gäste, sie werden bewirtet und dürfen die harmonisch fließenden, fast symbiotischen Tänze der vier Frauen (Photini Meletiadis, Susanne Grau, Geraldine Rosteius, Kathrin Wankelmuth) auf offener Wiese anschauen. Es geht noch tiefer ins Gehölz, zu riesigen Pilzen an Baumstämmen oder versteckten, überraschend sonnendurchflutete Lichtungen, in denen plötzlich die gelb gewandtete Waldfee wie ein Engel erscheint und die Zuschauer fast blendet.

Kein Wort wird gesprochen, kein Konflikt aufgebaut und gelöst, keine Geschichte erzählt. Oder doch: Die von der Schönheit und Harmonie des Waldes, der in dieser Inszenierung nicht die Bühne bildet, sondern quasi das Drehbuch, zumindest die Regieanweisungen liefert. Der Spaziergang endet in einem Gehege, aus dem Steeldrum-Klänge kommen. Die Besucher dürfen eintreten und sind dem Tanz der Naturwesen nun ganz nah. Die Choreografin hat eine Tanz-Sprache des Waldes entwickelt, die sie sich bei Feen abgeschaut haben muss: Behutsam, aber auf der Hut, eingebunden in die Gruppe, aber jeder für sich.

Ein traum-hafter, phantastischer und Phantasie anregender Abend – der leider niemals wiederholt werden wird…




Familienfreuden auf Reisen: Wie wundersam!

Camping in Reih und Glied (Foto: Normen Ruhrus)

Camping in Reih und Glied (Foto: Normen Ruhrus)

Fünf Wochen verreisen! So viel Zeit, so viele wundervolle, herrlich schräge, freundlich skurrile Menschen – die sich besonders zwischen Zelten und Campern zu versammeln scheinen.  Und wenn man mit einem so süßen Baby wie Fiona auf dem Arm auf einem Campingplatz umherläuft, ist das fast eine Garantie, auch mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Da war zum Beispiel jene freundliche Frau in ihren Mittfünfzigern. Normen saß gerade spielend draußen mit Fiona auf der Picknickdecke, als sie ihn ansprach und schnell auch die Frage stellte, wo wir denn herkämen. Als Normen antwortete „Aus Deutschland“, überlegte sie kurz, um sich dann zu erkundigen, wo das denn genau sei. Die Auskunft „in Europa“ kommentierte sie mit einem „Oh, das hatte ich mir beinahe schon gedacht.“

Mülltonnen-Alarm!
Am Lake Tahoe war es, wo wir erstaunt beobachteten, dass plötzlich eine Armada von Ranger-Fahrzeugen mit Blaulicht und Martinshorn an uns vorbeiraste. Der Campingplatz war eigentlich extrem ruhig und dieser Ausbruch an Hektik machte uns neugierig: Ein kleiner Brand in einer Mülltonne war es, der den Alarm ausgelöst hatte. Als die gesamten Ranger von Lake Tahoe versammelt schienen, fehlte nur noch einer: Der „Host“, einer jener zumeist im Rentenalter befindlichen Herren und Damen, die bei freiem Logis Unbedarften Auskunft erteilen und Hilfestellung leisten. Dieser spezielle Host nun brauste (soweit möglich) in einer Art Golfcaddy an uns vorbei, mit bitterernster Miene, den Ort des Unglücks fest im Blick, die Amerika-Fahne eifrig flatternd. Und anscheinend war ihm sein Dasein auf dem Platz bislang allzu ruhig vorgekommen  – denn er hatte ein ganzes Bündel voller Holzscheite aufgeladen, vielleicht, um das Feuer noch ein wenig dramatischer zu gestalten.

Toilettenteppiche
Campen, zumal dauerhaftes, scheint zudem wie unter einem Brennglas persönliche Marotten zu offenbaren: Bei einer Zwischenübernachtung trafen wir auf einen Campingplatz, bei dem doch tatsächlich Teppiche vor den öffentlichen Toiletten lagen – mitsamt Bordüre an der Wand und kleinen Vorhängen vor den Fenstern. Dass der Besitzer außerdem gern abends seine Gäste mit einer Lok umherfuhr – wen wundert’s. Als ich dieses besondere Vergnügen für Fiona in Betracht zog und fragte, was es denn bei der Lokfahrt so zu sehen gebe, schaute er mich erstaunt an und meinte: „Na, den Campingplatz!“

An einem anderen Ort trafen wir auf eine Art Pleasantville des Campers, wo Bingo & Bibelstunde zum wöchentlichen Vergnügen gehörten. Und morgens, pünktlich um neun Uhr, wurde die CD für die Wassergymnastik eingeschaltet, die am Ende der Stunde auch brav plärrte: „Hope we’ll see us again!“

Klopf, klopf machte es derweil eines nachmittags: Ein freundlicher älterer Herr stand vor uns, Milch und Kakao in der Hand. Er wolle jetzt mit seiner Frau nach Alaska fahren, da habe er dafür keine Verwendung mehr – ob wir nicht…?

Ein wenig unheimlich wurde es uns allerdings, als wir in der Nähe des Olympic National Park an einem äußerst gepflegten Campingplatz eintrafen: Hier war alles picobello, der Rasen frisch gemäht, die Linien auf dem Parkplatz noch glänzend weiß und alles so ordentlich, wie sonst nur in Doris Day-Filmen. Der Ranger, nachdem er gemerkt hatte, dass ich keine Amerikanerin bin, sprach äußerst langsam mit mir, unterstrich die Erklärung des Reservierungsvorgangs, indem er mir einen Zettel mit dem Wort „Reserved“ vor die Nase hielt und verzog bei all dem keine Miene. Dass sein Name auch noch dem des Mannes ähnelte, der damals Polanskis Frau Sharon Tate ermordete, ließ uns regelrecht frösteln. Als er am nächsten Tag erneut sorgsam den Rasen auf seiner Mähmaschine trimmte, versteckten wir Fiona vorsichtshalber vor seinen Blicken.

Fernsehen wird draußen erst schön
Die Tendenz zu Größenrekorden gibt es auch bei Campern: Unsere siebeneinhalb Meter halten zwar trefflich als Fionas Abenteuerspielplatz her, sind aber regelrecht lächerlich im Vergleich zu den Gefährten, mit denen viele  Amerikaner anrücken und die an Tourbusse von Rockbands erinnern. Mit diesen Ungeheuern passen sie natürlich in keinen kleinen Naturpark, sondern nur auf jene teuren privaten Plätze, die zwar eher unattraktiv, dafür aber mit jeglichem Komfort ausgestattet sind. So sahen wir eine Familie die, umgeben von Wald, Spielplatz und Swimmingpool, all dies missachtete, zwar ein Feuer anzündete (unerlässlich!) – dafür aber lieber einträchtig von draußen auf den Flachbildfernseher sah, den man selbstverständlich aus dem Camper herausfahren konnte.

Herrlich skurril mögen es einige Hundebesitzer. Freundlichst unterhielten wir uns mit unseren Nachbarn auf einem idyllischen Campingplatz in Washington (nicht DC), ein älteres Ehepaar, das schon 48 von 50 US-Staaten bereist hatte. Doch eben jene Leute, die gerade noch interessante Details zum amerikanischen Bildungssystem preisgegeben hatten, ließen uns an jener seltsamen Szene teilhaben: Der Mann sagte zu seiner Frau, er mache noch einen kleinen Spaziergang und ging los. Die beiden Dackel aber, die sie dabei hatten, durften nur zusehen – von einem kleinen Gitterparcours aus, der extra für sie errichtet wurde.

Heute haben wir diese Liebe zur Eingrenzung dann in puristischer Reinform erlebt: Wir fuhren umher, einen Stellplatz suchend. Dabei sahen wir eine Frau und einen Mann. Sie lächelten uns freundlich an, das Feuer knisterte neben ihnen fröhlich. Um sie herum aber, da glänzte, recht  eng gefasst  – ein hüfthoher Stahlzaun. Ohne Hund wohlgemerkt.

Ach ja, vielleicht, wer weiß, ist es neben der Naturnähe genau das, was Campen ausmacht: Diese wundersamen, herrlichen Begegnungen.




Kennedys frühe Deutschland-Reisen: Seine Berlin-Rede hatte eine lange Vorgeschichte

Der Besuch von US-Präsident Barack Obama ruft nicht nur Erinnerungen an den legendären Auftritt von John F. Kennedy wach, dessen Aufenthalt in Berlin sich in diesen Tagen zum 50. Mal jährt. Er bietet auch einmal mehr Anlass, die Rede des damaligen Hoffnungsträgers historisch einzuordnen und zu analysieren.

Dass die vier Worte „Ich bin ein Berliner“, mit denen Kennedy Geschichte schrieb, mehr waren als nur ein momentaner oder spontaner Ausdruck von Solidarität mit den Menschen in der geteilten Stadt, versucht Oliver Lubrich in seinem neuen Buch dem Leser nahezulegen. Es handelte sich, so betont der Professor für Neue deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Uni Bern, wahrlich nicht um den ersten Besuch von JFK in Deutschland, sondern Kennedy hatte während seiner Reisen in den 30er und 40er Jahren eine ganze Reihe von Eindrücken gesammelt. Diese spiegeln sich in Briefen und Tagebüchern wider, die nach Aussage von Lubrich jetzt erstmals vollständig in deutscher Übersetzung veröffentlicht werden.

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Wer allerdings nun auf ausführliche und weitreichende Betrachtungen über Deutschland, den Krieg, Nazi-Regime und Wiederaufbau hofft, der wird den aufwändig gestalteten Band wohl eher enttäuscht zur Seite legen. Kennedy berichtet zwar über seine drei Reisen in den Jahren 1937, 1939 und 1945, doch insgesamt betrachtet, sind es nur wenige Passagen und die mitunter auch noch in knappen, kurzen Sätzen. Gleichwohl sollte Kennedy mit einigen Einschätzungen und Prognosen richtig liegen, wie es Herausgeber Lubrich in seinen ausführlichen Erläuterungen hervorhebt. Gleichwohl sind auch Aussagen zu finden, die irritierend wirken.

Kennedys erste Begegnung mit Deutschland, ein Jahr nach den Olympischen Spielen in Berlin, war Teil einer Europareise, die ihn unter anderem nach Oberammergau, München und Köln führte. Gemeinsam mit einem Studienfreund unternahm er wohl vor allem auf Geheiß des ehrgeizigen Vaters Joseph P. Kennedy die Tour durch Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland. Tiefgreifende politische Betrachtungen sucht man hier vergebens, bis auf wenige und dann auch eher schwierige Passagen. Nachdem er seinen Herbergsbesitzer als „großen Hitler-Fan“ bezeichnet hat, schlussfolgert er: „Es besteht kein Zweifel, dass diese Diktatoren im eigenen Land aufgrund ihrer wirkungsvollen Propaganda beliebter sind als außerhalb“. Munter erzählt JFK von weiblichen Bekanntschaften und vom Besuch im Nachtclub. Doch zum Tagesablauf des Katholiken gehörten nicht nur amouröse Abenteuer, sondern auch ein klar strukturiertes Kulturprogramm. Beindruckt war er unter anderem vom Kölner Dom, „Glanzstück der gotischen Architektur“.

Als sich Kennedy zwei Jahre später erneut auf den Weg über den großen Teich macht, hat er zunächst einmal das Ziel, für seine Abschlussarbeit an der Harvard-Universität zu forschen. Das Münchner Abkommen von 1938 lieferte die Blaupause, will sich doch JFK, dessen Vater inzwischen zum amerikanischen Botschafter in Großbritannien ernannt worden ist, mit der Nachgiebigkeit der Demokratien befassen. Kurz vor Kriegsbeginn weilt er unter anderem in München, Berlin, Danzig und Warschau. Seine politischen Reflexionen sind inzwischen aber weit intensiver als noch beim Besuch 1937, wie aus einem Brief an den Freund, mit dem er die erste Deutschlandtour unternahm, hervorgeht. Kennedy gibt seiner Sorge Ausdruck, dass das NS-Regime Polen in die Rolle des Aggressors drängen könnte. Und tatsächlich: Beim Einmarsch am 1. September 1939 bezichtigt die NS-Propaganda den polnischen Staat unter anderem, den Sender Gleiwitz überfallen zu haben.

Beim dritten Besuch ist der Krieg vorbei, Kennedy arbeitet als Journalist für den Medienunternehmer Hearst und hat Gelegenheit, die Potsdamer Konferenz (17. Juli bis 2. August 1945) aus nächster Nähe zu erleben und Hitlers Berghof auf dem Obersalzberg zu besuchen. Er schreibt aber nicht nur seine politischen Einschätzungen nieder, wie etwa, dass die Russen wohl in Deutschland eine eigene Sowjetrepublik gründen wollen, er berichtet auch über die Eindrücke aus dem völlig zerstörten Berlin. „In manchen Straßen ist der Gestank der Leichen überwältigend- süßlich und ekelerregend“. Besonders geißelt Kennedy, dass russische Soldaten in großer Zahl deutsche Frauen vergewaltigen. Überhaupt sei der Umgang der Sowjetarmee mit der deutschen Bevölkerung so, „wie es die Propaganda vorhergesagt hatte“.

Verstörend wirken indes die Sätze Kennedys ganz am Ende seines Berichts, als er noch einmal auf Hitler zu sprechen kommt. „Sein grenzenloser Ehrgeiz für sein Land“ hätten ihn zwar zur Bedrohung für den Weltfrieden gemacht, aber „er hatte etwas Geheimnisvolles“. Es sei, so meint Kennedy, „der Stoff, aus dem Legenden sind.“ Der Herausgeber des Buches liefert für die Worte eine Erklärung, über die jeder Leser selbst urteilen sollte: Die Aufzeichnungen seien im Eindruck des Obersalzbergs entstanden und damit vor einer überwältigenden Naturkulisse…

Festhalten lässt sich gewiss, dass Kennedy schon bei seiner ersten Reise von der Schönheit deutscher Landschaften und Städte als auch von dem Leben der Menschen angetan war, wie es seine Aufzeichnungen bezeugen. Wahrscheinlich lässt sich mit dieser Begeisterung auch die kleine Episode erklären, mit der Kennedys Besuch 1963 in Deutschland endete. Im Gespräch mit dem damaligen Kanzler Konrad Adenauer kommt die Sprache auf die politische Großwetterlage und die schwierigen internationalen Bedingungen in Zeiten des Kalten Krieges. Kennedy erzählt nun das, was er am Vorabend bereits dem hessischen Ministerpräsident gesagt hatte. Seinem Nachfolger, also dem nächsten US-Präsidenten, werde er eine Mitteilung hinterlassen mit der Aufschrift „Bei Mutlosigkeit öffnen“. Darin stehen, so Kennedy, dann nur drei Worte: „Geh nach Deutschland“.

Oliver Lubrich (Hg.): „John F. Kennedy – Unter Deutschen“. Aus dem amerikanischen Englisch von Carina Tessari, mit einem Geleitwort von Egon Bahr. Aufbau-Verlag, 256 Seiten, 22,99 Euro.




Wie ein Werk von Keith Haring fester Bestandteil in Pisas Stadtkultur wurde

Kleine Menschen vor einem gewaltigen Kunstwerk.

Kleine Menschen vor einem gewaltigen Kunstwerk.

Ich nahm Maß, nahm alle meine beschränkten Begabungsressourcen beisammen (so viele habe ich bei der Gabe des Fotografierens nicht) und nahm einen veritablen Keith Haring auf – in die Serie meiner Aufnahmen, die ich nach einem Besuch in Pisa heim brachte.

Und in diesem Moment nahm ich wieder einmal an, was mir vor vielen Jahren mein ehrlich bewunderter Lehrer Ewald Linka nahe brachte: die Gedanken von Walter Benjamin zum Thema „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. In unregelmäßigen Abständen werden diese in meinen persönlichen Gedanken immer wieder mal sehr handfest und regelrecht erspürbar. Denn die Aura, über die Benjamin schrieb, sie umgibt nur wenige Werke, denen ich in meinem bisherigen Leben begegnete.

„Tutto Mondo“ heißt das gewaltige Mauerbild, das überwältigend bunt und ebenso überwältigend detailreich die Giebelwand eines Wohnhauses im Schatten der „Chiesa di Sant‘ Antonio Abate“ in Pisa bedeckt. 1989 wurde dieses Kunstwerk in monatelanger Arbeit geschaffen. Keith Haring, dessen furioses Leben schon am 16. Februar 1990 enden sollte, dirigierte, inspirierte und koordinierte. Eine wachsende Zahl von Studentinnen und Studenten halfen dem stets freundlichen Meister. Viele von ihnen nächtigten nach ermüdender Tagesarbeit in der benachbarten Kirche. Von dort kam auch ein großer Teil des Caterings. Das klassische Pisa traf offen wie so häufig in seiner Geschichte auf eine neue Zeit – die Piazza dei Miracoli mit Dom und Schiefem Turm an dem meistbesuchten Punkt und Popart am entgegengesetzten Punkt der Innenstadt.

Ein junger Pisaner Student hatte kurz zuvor in New York einen Haring bestaunt und den ihm unbekannten Herrn neben ihm seine uneingeschränkte Bewunderung ausgedrückt. Es kam beim Richtigen an, denn der Herr war Haring in persona. Alsbald heckten der junge Pisaner und der schillernde Metropolenkünstler den Plan zu „Tutto Mondo“ aus. Und sie setzten ihn auch um, schnell und ungeduldig. Haring wusste längst um das enge Maß der Zeit, die ihm noch bleiben sollte. Pisas Behörden zeigten sich speditiv und kaum bürokratisch, was in Italien entgegen aller Vorurteile keineswegs normal ist. Pisas Bürger waren wie immer gastfreundlich und hilfsbereit. Und so gelang in einem wunderbaren Zusammenspiel aller Beteiligter Keith Harings letztes öffentliches Kunstwerk in einer Stadt, die eigenwillig solitär ist: uralt, hochmodern, tiefgläubig, tolerant-weltoffen, pisanisch eben.

Damit auch jedermensch weiß, dass hier alles authetisch ist, spendierte die Kommune ein Hinweisschild.

Damit auch jedermensch weiß, dass hier alles authetisch ist, spendierte die Kommune ein Hinweisschild.

Und so stolz die Pisaner auf ihre ruhmreiche Geschichte sind, so ebenbürtig bis überlegen sie sich Florentinern, Luccesern oder auch den weiter entfernten Römern fühlen, so stolz sind sie auch auf dieses einmalige Kunstwerk, das nicht nur in seinem unverwechselbaren Duktus ein veritabler Keith Haring ist, sondern auch seine ganz persönliche Botschaft offenbart: Mitten im oberen Bereich des Wandbildes zerschneidet eine riesige grüne Schere eine knallrote Schlange – und zuversichtlich kringelt sich aus den beiden Hälften des Tieres je eine der weltweit bekannten AIDS-Schleifen.

Der letzte öffentliche Haring prägt längst das Stadtbild, er stieg empor auf der endlosen Route der vielfältigen Stadtkultur, ist Sinnbild eines ebenso intellektuellen wie proletarischen Kondensationskernes in Italien: tolerant, weltoffen und unerschütterlich selbstbewusst. Diese freundliche Eigenschaft bekam einst auch Silvio Berlusconi zu spüren, als er – noch Staatsoberhaupt – in einem vornehmen und kulinarisch wertvollen Pisaner Restaurant mit seiner Entourage speisen wollte. „Wir bedauern, aber alle Plätze sind schon besetzt, riservato!“ So scholl es dem sprachlos dreinschauenden Möchtegern-Cäsar entgegen. Als der verdattert darauf hinwies, dass doch so viele Plätze frei seien, gab es die ultimative Antwort: „Scusi, aber die sind reserviert für Neger und andere!“ Wortlos verließ Berlusconi das Lokal, eilte über die Stadtgrenzen Pisas und sodann noch flotter hinaus aus der Toscana. Ab nach Rom.




Familienfreuden auf Reisen: Polka Dots!

Modisch ganz weit oben.(Foto: Albach)

Modisch ganz weit oben.(Foto: Albach)

Sicher, das Geschlecht eines Babys zu bestimmen, ist nicht einfach. Schon in Deutschland musste ich mehrfach erklären, dass es sich bei Fi um ein Mädchen handelt. Aber die Taktrate, mit der die Amerikaner sie für einen Jungen halten, macht mich doch stutzig.

Immerhin, die Rezeptionistin in San Francisco, einmal eingeweiht, begrüßt Fiona fortan mit breitem Grinsen und großem Enthusiasmus für die „polkaaaa dots!“, die ihre kleinen Lederschlappen zieren. Die gefallen auch der Dame in dem winzigen Fischrestaurant-Verhau an einem kleinen Hafen von Oregons Küste. Doch auch sie hält Fiona für einen Jungen. Mit Rotweinglanz in den Augen, noch im Kostüm von dem Kirchenbesuch, erzählt sie selig von ihrer Gemeinde und der Aufregung, die sie einmal ausgelöst hat, als sie einmal einem weiblichen Baby eine Leggins angezogen hat, das daraufhin alle für einen Jungen hielten. „Aber sie hat doch auch Kleider?“, fragt sie mit besorgtem Blick auf Fi, die fröhlich die wackeligen Wände auseinander nimmt. Als ich nicke, wirkt sie beruhigt. Sie zahlt und steht unsicher auf ihren riesig hohen Stilettos auf. Wir stellen uns vor, wie sie an den Hafenarbeitern vorbei schwankt oder vielleicht angeschwipst in ihr Auto steigt und zu dem Hotel braust, das sie in dem Ort führt.

Als wir schließlich in einem Disney-Store landen, werden all meine emanzipativen Alpträume wahr. Auf den Bügel hängen glitzernde, paillettenbewehrte Prinzessinnenkleider, eines schimmernder als das andere. Gut, dass Fiona lieber verzückt der Dame lauscht, die mit ganzem Körper und Stimmeinsatz nahezu sämtliche Charaktere aus dem neuesten Monster-Animationsfilm vormacht. Uns sind die Schlafanzüge auch lieber, auf denen steht „Mommy’s little Monster“. Die Kassiererin begrüßt Fi daraufhin natürlich mit „Hi, guy!“

Als wir rausgehen, erleben wir, wie kleine Mädchen kreischend auf die Kleider losrennen. Wir ahnen: die Zeit, in der Fi für einen Jungen gehalten wird, ist nur eine Schonfrist.




Familienfreuden auf Reisen: Verrückte Hühner

San Francisco versus Normen mit Kinderwagen. (Foto: Albach)

San Francisco versus Normen mit Kinderwagen. (Foto: Albach)

San Francisco wurde nicht für Kinderwagen gebaut. Ganz sicher nicht. Kaum wagen wir uns in die spannenden Gebiete der Stadt vor, wird es anstrengend.

Sportlicher Kinderwagen hin oder her, ich gebe ziemlich schnell auf und an Normen weiter. Der ächzt und stemmt sich mit seinem ganzen Körper gegen Fionas Porsche, um die gefühlten 90 Grad. Steigung zu packen. Wir sehen Autos die berühmte Lombard Street hinab fahren, Fiona lallt fröhlich unter ihrem Regenschutz und Normen kommt ins Schwitzen. Wir suchen Erfrischung in einem Café, Fi sucht Erleichterung. Wickeltisch? (Was heißt das bloß auf Englisch?) Fehlanzeige. Wir entwickeln Wickelfindigkeit und schaffen den Wechsel auf einem halbem Quadratmeter vor dem Klo.

Später, an Fishermans Wharf, zeigt Fi wenig Gespür für die vom Lonely Planet vorgeschlagenen Sehenswürdigkeiten und bestaunt statt der strunzenden Seelöwen die herrlich im Wasser glitzernde Sonne.

Dabei zeigt sie durchaus so etwas wie Tierliebe oder zumindest Interesse. Gut, den Elchen, die wir in den Redwood State Parks sehen, kann sie nur aus der Ferne zuwinken – was mehr an unserer Zurückhaltung liegt als an ihrer. Aber der Riesenameise, die an ihrer Picknickdecke vorbeikrabbelt, will sie am liebsten direkt hinterher. Und der lustige blaue Vogel mit Punkerfrisur erntet Applaus. Unser Zusammenzucken bei jedem knackenden Ast im Wald nimmt sie hingegen verwundert zur Kenntnis – die Propaganda, wonach überall Bären lauern, die selbst auf unsere Brötchenkrümel scharf sind, lässt Fi kalt.

Erstaunt beobachtet Fi allerdings den schrägsten Tierbesuch: ein kleiner Vogel fühlt sich durch unseren Camper so gestört, dass er aufgeregt auf unserer Motorhaube entlang hüpft und die Spiegel angreift. Noch beim Einschlafen hören wir ein rhythmisches toctoctoc. Radkappe gegen Vogel, Eins zu Null.




Familienfreuden auf Reisen: Die mauen Herren

Ankommen! Und das möglichst gut. Das war eigentlich der einzige Gedanke, der uns antrieb beim Abflug. Dass unsere Reise in die USA mit Fiona zu einer ganzen Reihe von seltsamen Begegnungen mit mauen und merkwürdigen Herren werden würde, konnten wir ja nicht ahnen.

Startschuss war schon am Gate. Ein kleiner, wohlproportionierter Herr mit Lupe in der Hand fragte uns mit unnachgiebiger Miene und Ungeduld im Blick, ob wir unser Gepäck a) selbst gepackt und b) jemand anders dazu Zugang gehabt hätte. Fi schaute den Herren ebenso erstaunt an, wie wir beide.

Trotzdem schafften wir es in den Flieger. Obwohl wir fast eine Stunde bis zum Abflug warten musste und die arme Fiona schrie wie am Spieß, sagte der ältere Herr in der Reihe hinter uns später zu mir, wir würden einen sehr guten Job machen und tätschelte meinen Kopf. Als Fi eingeschlafen war, war ich geneigt, seinen Worten Glauben zu schenken – vor allem, als die Landung ohne befürchtete Druckausgleichsschreie erledigt war. Elf Stunden Flug – wir hatten es geschafft!

Oder zumindest fast. Uns stand noch der immigration process bevor. Der Herr mit der schnittigen Frisur (gerade wie ein Lineal) und dem dazu stark kontrastierenden Armtattoo sagte, kaum, dass er einen Blick auf uns geworfen hatte: „Guten Abend!“ und demonstrierte fortan sein bestes Deutsch. Da wundert man sich nach elf Stunden Flug schon. Bereitwillig erzählte er, dass er in Deutschland stationiert gewesen war. „In Bad Tölz. Aber ich bin nicht der Bulle von Tölz! Dafür fehlen mir ein paar Kilos.“ Breites Lachen. Waren wir wirklich gerade in Amerika angekommen?

Der asiatische Taxifahrer, der uns nahezu alle unsere Gepäckstücke einladen ließ, bevor er meinte, dass das wohl doch nicht passe, wunderte uns da schon kaum noch. Als wir schließlich, die Augen kaum noch auf haltend, in unserem Hotel ankamen, schien es kein Geringerer als der Bruder von Forest Whitaker zu sein, der uns die Tür aufhielt und uns herzlich willkommen hieß. Fiona goutierte alles mit einem königlichen Winken.

Die seltsamste Begegnung bescherte uns allerdings ihre Schlafstätte: Als wir um ein Babybett baten, klopfte wenige Minuten später ein Herr an unsere Zimmertür: Schwarzer langer Mantel, Sonnenbrille, Goldkette – und vor allem zwei Uhren, so groß wie Joghurtbecher, in strahlendem Gold, besetzt mit unzähligen, glitzernden Diamanten. In der einen Hand hielt er: Fionas Babybett! Er, der sonst sicher eher unliebsame Klienten zurechtstutzte oder kruden Geschäften seinen Segen gab, ächzte nun beim Zusammenbauen des kleinen Bettchens. Ein Bild, das uns in unsere Träume begleitet hat.




Familienfreuden auf Reisen

Es geht ein Sonderflug nach San Francisco. (Bild: Albach)

Es geht ein Sonderflug nach San Francisco. (Bild: Albach)

Jetzt geht es also los. Auf große Reise. Ganz ernsthaft. Was haben wir uns da angetan?

Ok, das war jetzt wieder so ein kurzer Schreckgedanke – aber eigentlich freue ich mich tierisch. Denn: Wir fliegen gleich los, nach San Francisco. Unsern Traum erfüllen. Fünf Wochen wollen wir mit Fi durch die Gegend cruisen, hoch bis nach Seattle, auf dem Weg viele Nationalparks, die nicht so bekannt sind, aber so klingen, als würde man sie nie wieder vergessen. „Schuld“ an diesem Vorhaben ist ein munteres Pärchen, das wir vor Jahren in Australien mit ihrem Baby getroffen haben und das uns vorschwärmte, dass man seine Elternzeit kaum besser verbringen könne als mit so einem Trip. Stimmt eigentlich, dachten wir. Und da war der Floh im Ohr.

Hinter uns liegen jetzt einige Monate der schrägsten Reisevorbereitungen, die ich bisher erlebt habe. Dem Herrn im Reisebüro dürften noch heute die Ohren klingeln von all unseren Fragen. Seinen Vorschlag, ein neun (!) Meter langes Wohnmobil zu nehmen statt des jetzigen, stolzen siebeneinhalb Meter langen – weil günstiger – haben wir trotzdem abgelehnt. Ich sah uns schon kurvenreiche Nationalparks durchfahren, beobachtet von sich Tatzen reibenden Bären, die sich auf den nächsten leckeren Snack in der Dose freuten.

Weitaus weniger einfach war die Frage, ob unser Kindersitz im Flugzeug zugelassen wäre. Der erste Anruf bei der amerikanischen Fluglinie brachte die Bekanntschaft eines jungen Amerikaners, der seine (mäßigen) Deutschkenntnisse strikt an mir ausprobieren wollte und schlussendlich vorschlug, ich könne das sicher googeln. Beim zweiten Versuch, direkt bei der amerikanischen Hotline, wurde mein Mann Normen mit den munteren Worten abgespeist: „If it’s approved by the Germans, it’s ok!“ Na, da scheint der Ruf der Deutschen ja noch gut zu sein…

Letzte Woche habe ich dann eine mir bislang unbekannte Form der „ich muss horten“-Panik erlebt: Mindestens eine halbe Stunde stand ich vor dem Babynahrungs-Regal im Drogeriemarkt meines Vertrauens und überlegte, ob jeweils ein Glas Schinkennudeln und Bio-Kalb mit Karotte reichen würden. Als ich mit einer zum Bersten gefüllten Tasche nach Hause kam, rieb Normen sich die Augen, als wäre er in Alices Wunderland. Behutsam erklärte er mir, dass wir sicher auch in den USA Babynahrung bekämen, was ich ihm nach Vorlage diverser Supermärkte in San Francisco Downtown auf Google Maps auch glaubte (obwohl ich doch im Internet noch einmal recherchiert habe, ob die angebotenen Gläschen auch wirklich ohne Zusatzstoffe auskommen). Tja, als Ma lernt man sich selbst neu kennen…

Jedenfalls sind die Koffer gepackt, der Bauch fliegt jetzt schon – und Fiona erlebt gleich den ersten Flug ihres Lebens!

 




Rauchzeichen, später: Andreas Rossmann erkundet das Ruhrgebiet

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Andreas Rossmann, Foto: Anna Wolfinger

Sein Revier beginnt hinter der Ruhrtalbrücke, von auswärts mit dem Auto kommend. Hier fährt der NRW-Feuilletonkorrespondent in einen wichtigen Sektor seines Berichtsgebiets ein. Kunst und Kultur dieser Region sind Gegenstand seiner Reportagen und Rezensionen, die er seit über 20 Jahren für die FAZ verfasst. Nun hat Andreas Rossmann eine Auswahl davon unter dem Titel „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr“ als Buch im Verlag der Buchhandlung Walther König herausgebracht.

Der „Reiseführer fürs Handschuhfach“ ist illustriert mit Schwarzweiß-Fotografien aus dem Archiv von Barbara Klemm, entstanden zwischen 1974 und 1999, die dem Paperback einen eigenwilligen Retro-Charme verleihen. Gegliedert ist der Band nach Städten von B wie Bochum bis W wie Waltrop. Selbst versierte Ruhrgebietsbewohner können beim Nachbarn noch Neues entdecken.

„Der Rauch verbindet die Städte“ schrieb Joseph Roth 1926, doch seit er sich zum großen Teil in frische Luft aufgelöst hat, wo ist da das verbindende Element dieser zerklüfteten, postindustriellen und mit zahlreichen Kulturinstitutionen besiedelten Region? Was macht sie aus und wo scheitert sie? Mit großer Sympathie für ihre rauen Seiten und einem Scharfblick, der sich nicht scheut, zwischen Qualität und Kitsch zu unterscheiden, beschreibt Rossmann auf seiner Expedition im Land der aufgegebenen Fördertürme und Industriebrachen die Auswirkungen des vielbemühten Strukturwandels auf die kulturelle Identität des Ruhrgebiets.

Wenn es sein muss, macht sich der Kritiker auch zu Fuß auf den Weg, um auf Halden zu klettern oder Landmarken abzuwandern: „Oben angekommen, sieht der Wanderer sich einem unbekannten Ort ausgesetzt. Doch erst im dialektischen Umschlag vollendet sich die Kunst der Landmarke: Sobald der Besucher dem Hochpunkt, den sie einnimmt, den Rücken kehrt, eröffnet sich ihm ein Panorama des Ruhrgebiets, das auf den nur von hier aus möglichen zweiten Blick seine Zerrissenheit und Unfertigkeit, sein Pathos und seine Grandeur offenbart: Seine ,andere‘ Schönheit“, schreibt Rossmann.

Die Textstelle zeigt, was das Buch ausmacht: Der intellektuell-literarische Blick auf eine Kunst, bei der sich der Ruhrgebietsmensch oft weigert, sie als seine eigene oder für ihn geschaffene wahrzunehmen. Die er mitunter misstrauisch beäugt wie beispielsweise Serge Spitzers Spirale auf dem Kennedyplatz in Essen, die viele Bürger „weg haben“ wollten, weil sie sie hässlich fanden. Nach dem Motto: Das alte Eisen, da haben wir früher mit malocht, das soll jetzt Kunst sein?

So führt denn auch Rossmanns Lesung im Lehmbruck-Museum in Duisburg unweigerlich zu einer Diskussion unter den Zuhörern um das Selbstverständnis des Reviers und seiner Bewohner. Ist es nicht Zeit, endlich mit dem Montanindustrie-Kitsch Schluss zu machen? Ein Zuhörer fragt: Warum werde nicht mal die Architektur der Ruhruniversität Bochum als einem der größten Arbeitgeber der Stadt gewürdigt statt immer Zeche Zollverein, die überall als mediales Wahrzeichen herhalten müsse? So regiere das Klischee, das auf die Vergangenheit verweise und Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Strukturwandel in der Gegenwart verhindere.

„Warum wohnen Sie eigentlich nicht im Ruhrgebiet, sondern in Köln?“, möchte eine andere Zuhörerin von Rossmann wissen. Sie selbst ist gebürtige Kölnerin, die es unfreiwillig ins Revier verschlagen hat. Der Autor begründet dies mit seinen Anfangszeiten als Kultur-Kritiker, als er sich strategisch günstig zum WDR positionieren wollte. Einer seiner ersten Ruhrgebietsbesuche führte ihn allerdings zu einem Bewerbungsgespräch als Dramaturg ans Theater Dortmund. „Die haben mich zum Glück aber nicht genommen“, gibt er selbstironisch zu.

Doch vielleicht ist ja gerade eine Fernbeziehung in diesem Fall nicht das schlechteste: Mit ein wenig Abstand liebt es sich neugieriger, man teilt nicht den langweiligen, zuweilen schäbigen und profanen Alltag. Die angebetete „Metropole“ bleibt interessant, ihre Veränderungen aufregend, ihre Kapriolen energiestiftend – vor allem, wenn man sich schon so lange kennt.

Andreas Rossmann: „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr. Ruhrgebiet: Orte, Bauten, Szenen. Mit Photographien von Barbara Klemm. Verlag der Buchhandlung Walther König, 260 Seiten, 14,80 Euro




„Zügig ins Jenseits“: Kurzkrimis rund ums Bahnfahren

Zügig.CoverDer Dortmunder hat es bekanntermaßen gerne spannend – nicht nur beim Fußball. Der Spannung verschrieben hat sich folgerichtig der in der Stadt des Champions-League-Halbfinalisten ansässige Grafit Verlag, der jetzt mal wieder eine neue Sammlung von Krimi-Kurzgeschichten herausgegeben hat.

„Zügig ins Jenseits“ nimmt sich all jener an, die während des Schienenverkehrs auf die schiefe Bahn geraten sind. Ort der Geschehnisse ist im vorliegenden Band die Deutsche Bahn. Klar, denn das Unternehmen Zukunft Deutsche Bahn ist ja mehr als fahren. Und vom Wetter reden sie auch nicht. Manch einem mögen beim Anblick der bekannten Werbeslogans gelegentlich die Gesichtszüge entgleisen und mörderische Gedanken kommen.

Immer gut für einen Erregungstumult

Der Ärger über verspätete Züge, ausgefallene Klimaanlagen oder besonders uncharmante Zugbegleiter wächst sich hierzulande gerne zu bemerkenswerten Erregungstumulten aus. Fünfzehn in dem Thema bewanderte Krimiautoren sind nun auf diesen Zug aufgesprungen und quer durchs deutsche Schienennetz gereist. Mitgebracht haben sie abgefahrene Geschichten aus den Abgründen des Zugverkehrs. In dieser Anthologie bleibt keiner verschont: nicht die grölenden Fußballfans, nicht die lümmelnden Berufsjugendlichen, nicht die picknickenden Ehepaare. Auch geraten die Piccolöchen der Keglern öfter unter die Räder.

Der Autorin Nicola Förg reicht die schnarrende Stimme einer Zugbegleiterin, um die arme Frau schnellstens zur Endstation Jenseits zu expedieren. Edgar Franzmann bereitet der BO-Ru-SSI-AAA und einem Sheriff im Ruhestand einen großen Bahnhof, Ella Theiss entzündet in Hamburg eine bombige Fontäne und Stephan Hähnel liest im Beschwerdemanagement auch das Kleingedruckte.

Tempo zwischen Bummelzug und ICE

Manche Geschichten entfalten sich mit dem gemächlichen Thema eines Bummelzuges, wieder andere rasen mit dem mörderischen Tempo eines ICE auf ihr kriminelles Ende zu. Roger M. Fiedler stellt die Weichen für seinen „Zeigersprung“ auf gelungene Satire und ihm gelingt es, zu erklären, was wir immer schon wissen wollten: Theorien sind die Ursachen aller Pannen.

Auch ganz Aktuelles kommt nicht zu kurz, Welpenhändler aus Duisburg möchte man nach der Lektüre nicht unbedingt sein. Und dass die sich neu etablierende Gruppe der Samstagspendler, welche sich das Recht, am Samstag vier Mitfahrer auf ihr Monatsticket mitnehmen zu dürfen, regelmäßig versilbern lassen, nicht ungefährlich lebt, dürfte nach der Lektüre von Niklaus Schmidts Geschichte auch klar sein. Klar wird dem Leser auch so einiges Wissenswerte aus dem Streckennetz, denn als kleine Kulanz ist jeder Geschichte eine „Wussten sie schon, dass…“-Frage“ mit Antwort vorgeschaltet.

Noch eine Besonderheit: Nicht alle Geschichten sind verbrecherisch, eine erzählt von der Liebe. Für „Drück mich jetzt!“ erhielt Alexandra Trudslev den Förderpreis des Literaturpreises Ruhr, sowie sicherlich die Zustimmung vieler Leser, die sich gleich ihrer Heldin schon an störrischen Fahrkartenautomaten abgearbeitet haben.

Fazit: Ohne Zugzwang gut geeignet, sich die Zeit auf Reisen angenehm zu vertreiben und so dazu beizutragen, ein vielbeschworenes Versprechen der Deutschen Bahn einzulösen: Urlaub von Anfang an.

„Zügig ins Jenseits. Mörderische Geschichten für Bahnfahrer“. Grafit Verlag, Dortmund. 224 Seiten. 9,99 Euro.