Als man sich noch für „richtig links“ halten wollte

Kinners, heute erzählt Euch der Boomer-Opa ein klitzekleines bisschen von früher. Keine Angst, es werden nur ein paar Schlaglichter sein. Und nur die fernen Echos wahrer Klassenkämpfe. Wie denn damals im Revier überhaupt nur der Widerhall aus den wirklichen Metropolen zu vernehmen war.

Icke, wa?! Wie man halt „damals“ aussah. (Foto: Norbert Hell)

Als ich studiert habe, hatte man gefälligst „links“ zu sein, was immer das wirklich heißen mochte. Wir waren uns jedenfalls fraglos sicher – und es schien ja in dieser Hinsicht auch noch wesentlich übersichtlicher zu sein als heute. Freilich sinnierte schon damals Botho Strauß in Gestalt seiner Lotte im Stück „Groß und klein“: „In den 70er Jahren finde sich einer zurecht…“

Bevorzugte „Quelle“ bzw. Hilfsmittel für jegliche Interpretation waren jedenfalls damals bei den Bochumer Historikern die blauen Bände der Marx-Engels-Ausgabe. Es herrschte unter den Studierenden (die damals noch Studenten geheißen wurden) weithin die Auffassung, alle geschichtlichen Geschehnisse jedweder Epoche müssten damit abgeglichen werden. Umso pikierter war ich, als ich eines Tages einen Brief von Karl Marx an seine Geliebte zu lesen bekam, der mit dieser Anrede begann: „Viellieb!“ Das wollte mir süßlich-kitschig vorkommen und sich so gar nicht zu seinen politischen Einsichten fügen. Ach, Gottchen!

Ein unerbittlicher „Anarchist“

In jenen seltsamen Zeiten gerierte sich ein Altersgenosse vehement als „Anarchist“. In einer stundenlangen hitzigen Wohnzimmer-Debatte ließ er sich nicht erweichen. Er hätte am liebsten alles in die Luft gesprengt, wie er posaunte. Wir anderen waren hingegen der Ansicht, dass er damit erst recht die volle Staatsgewalt gegen uns alle entfessele. Schließlich suchte ich den Kompromisslosen zu besänftigen, indem ich ihn zum Abschied herzhaft mit „Rot Front!“ grüßte. Er aber dröhnte, vollends unversöhnlich: „Schwarz Front!“ Wüsste gerne, was später aus ihm geworden ist. Vielleicht denn doch noch eine Gestalt auf der allseits abgesicherten Beamtenlaufbahn? Ist aber auch piepegal. Kaum jemand, der sich nicht angepasst hätte.

Den Hass auf die Bourgeoisie fühlen

Unwesentlich später war man schon auf die damals so genannte „Neue Sensibilität“ verfallen, die längst nicht mehr so harsch politisierte, sondern in Sanftmut und Milde daherkam, gleichsam auf Samtpfoten. Dennoch ließ ich mich bei irgend einer obskuren Splittergruppe für ein ganzes Wochenende auf eine „trotzkistische Schulung“ ein. Es blieb beim einmaligen Besuch, wie ich denn überhaupt nie dauerhaft Partei ergreifen mochte. Wer zweimal bei denselben sitzt, bekommt schnell den Verstand stibitzt. Gut, wa? Von mir. Ganz spontan.

Dem unerträglichen Trotzkisten-Präzeptor, der keinen Widerspruch duldete, sondern nur von oben herab dozierte, wagte ich die Frage zu stellen, ob denn bei ihnen alles nur rational vonstatten gehe oder ob man irgendwann auch Gefühle zeigen dürfe. Er, vollends am Sinn der Frage vorbei: „Ja klar, den Hass auf die Bourgeoisie!“ Aha. Zur Erholung vom stundenlangen Gefasel durften wir dann nachmittags Fußball spielen. Immerhin. Man war nicht nur ein Tor, man schoss auch eins. Harr, harr.

Durften die Beatles Mao schmähen?

Man war, so cirka zwischen 16 und 24 Jahren, dermaßen verblendet, dass man die Mao-Bibel reichlich unkritisch memoriert hat. Sogar den vor- und nachmals so verehrten Beatles nahm man die Zeilen aus dem Song „Revolution“ übel: „But if you go carrying pictures of chairman Mao, you ain’t gonna make it with anyone anyhow…“ Wie? Was? Nö, die Stones waren auch nicht viel mutiger, siehe ihren resignativen Text über den „Street Fighting Man“: „But what can a poor boy do except to sing for a Rock’nRoll Band, cause in sleepy London town there’s just no place for a street fighting man, no!…“

Jetzt mal gar nicht zu reden von Bettina Soundso, in die ich mich für einige Monate verguckte, weil sie (die es mit dem MSB Spartacus hielt) mir so heroisch wie eine zweite Rosa Luxemburg vorkam. Hach. Später ward sie wahrhaftig Geschichts-Professorin. Aber wie sie damals ihren Haarvorhang herunterlassen konnte, um dahinter gewichtig zu reflektieren! Überhaupt erwies sich das unentwegte Politisieren gelegentlich als „Liebes“-Beschleuniger, wahrscheinlich aber auf längere Sicht noch öfter als zerstörerisch.

„Deutscher Herbst“: Polizei in der Pizzeria

Zeitsprung: Aus dem „Deutschen Herbst“ um 1977 habe ich unter anderem in Erinnerung, wie die Polizei mit Maschinenpistolen im Anschlag eine Pizzeria enterte, in der wir friedlich beisammen saßen. Wiederum einige Jahre später suchte mich ein Mann vom Verfassungsschutz zu Hause in meiner kurzzeitigen WG auf, um mich nach einem Schulfreund auszufragen, der die Beamtenlaufbahn einschlagen wollte. Aber da waren wir schon in den öden 1980ern gestrandet. Und es gab überhaupt nichts zu beichten.

 




Bis die Kriegsgewalt bröckelt – Alexander Kluges Bilderatlas „Sand und Zeit“

Da haben wir also wieder ein Buch vom inzwischen 93-jährigen Polyhistor Alexander Kluge, der stets die entferntesten Dinge produktiv zusammen bringt und hellsichtig Funken aus seinen Blickwechseln schlägt.

Diesmal beginnt die fruchtbringende Gedankenreise bei den akuten Verheerungen im Gazastreifen, wo vieles nicht einfach „nur“ zerstört wurde, sondern schier zu Sandkörnern zerriebene Wüstenei geworden ist. Vielfach erwogen wird in der Folge, ob dem allfälligen Krieg und der Gewalt Einhalt zu gebieten sei – ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort des geschundenen Erdenrunds.

Damit wären die beiden Pole des Bandes „Sand und Zeit“ schon einmal benannt. Das zu Sand zermalmte Land kehrt später – gründlich verwandelt – im Kinder-Sandkasten und sodann in „Sandkasten-Spielen“ der Militärstrategen wieder. Auch werden einzelne Sandkörner physikalisch vermessen und mikroskopisch betrachtet. All das gipfelt in einem wesentlich aus Sand bestehenden Kunstwerk von Anselm Kiefer, das wiederum Ingeborg Bachmann seine Inspiration verdankt. Alles kann mit allem zusammenhängen, wenn man es denn recht zu betrachten weiß.

Auf der Suche nach Gegenkräften

Gewisse Gegenkräfte zur Kriegsgewalt, so scheint sich ahnungsvoll zu zeigen, dürften beispielsweise in dennoch abgetrotzten glücklichen Augenblicken liegen. Während der altgriechische Zeitgott Kronos alles fressen will (sogar die eigenen Kinder), verkörpert Kairos den geglückten Moment als kaum minder scharfes Gegengift. Eine vage, aber immer neu mit Zuversicht zu nährende Hoffnung kennzeichnet dieses Motto zu Beginn: „Die einzige Verlässlichkeit in zerrissener Zeit beruht auf der Beobachtung, dass auch die kriegerische Macht stolpert…“ Alle noch so imposanten Imperien der Geschichte, so ein zentraler Befund, stürzen irgendwann, nichts ist von ewiger Dauer. Ein Gedanke, bei dem einem – allem waltenden Elend zum Widerspruch – warm ums Herz werden könnte.

Kluge ruft kreuz und quer verschiedenste historische Szenarien auf – von der deutschen Nachkriegs-Trümmerzeit samt Wiederaufbau über altägyptische und altrömische Verhältnisse (Punische Kriege = Rom vs. Karthago), den jetzigen Ukraine-Krieg, die Kreuzzüge, den Krimkrieg (ab 1853), die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs und den (wenn überhaupt möglich) noch schlimmer wütenden Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, die Religionskriege, die in den Westfälischen Frieden von 1648 mündeten… Die Phänomenologie so vieler Waffengänge umfasst auch die seltene, vorbildliche Großzügigkeit generöser Sieger, die den Besiegten nach deren Kapitulation zunächst freies Geleit und fortan freie Entfaltung gewähren – beispielhaft erfasst in Velázquez‘ berühmtem Gemälde „Die Übergabe von Breda“.

Immer wieder neue Perspektiven

Geschildert und ausgiebig bildlich dargestellt (auch mit „virtuellen Kameras“, also KI-Hilfe) werden sowohl das große Ganze als auch gleichsam herangezoomte Nahansichten. Da gibt es erschütternde Bilder, die die brüllende Maschinerie des Krieges so vergegenwärtigen, wie es eben geht. Beim Lesen sollte man diese Illustrationen keinesfalls schnell überblättern, sie erheischen nachdrücklich Aufmerksamkeit. Derlei rasche und harsche Perspektivenwechsel, so Kluge im vorsichtig bilanzierenden Nachwort, können die Kontraste der Zeitläufte besser erfassen als reine Texte. Daher nennt er sein Buch im Untertitel „Bilderatlas“. Ein anregendes Vorbild ist ausdrücklich Aby Warburgs legendäre, größtenteils verschollene „Kriegskartothek“ zum Ersten Weltkrieg gewesen. Technisch auf der Höhe, bietet Kluges Buch übrigens auch (teilweise filmische) Ergänzungen an, die man mit Hilfe abgedruckter QR-Codes ansteuern kann.

Einen freien Erzählraum erzeugen

Alexander Kluge muss nicht nur über eine riesige Bibliothek und die Erfahrungen eines langen Lebens, sondern auch unendlich viele „Zettelkästen“ oder eben Datensammlungen verfügen, denen er immer wieder entlegene (und gleichzeitig prägnante) Beispiele entnimmt, so etwa, wenn es um die letzten Kriegstage rund um das Volkswagenwerk oder die zeitgleiche Kapitulation einer deutschen Munitionsfabrik geht.

Es ist Kluge um die Schaffung eines „freien Erzählraumes“ zu tun, um den Konjunktiv als Möglichkeitsraum. Erst im beherzten Sprung auf die andere Seite, in eine andere Zeit, sei es denkbar, die tendenziell verarmten Ausdrucksweisen unserer Tage zu überwinden. Bei Beschwörung des Überblicks kehrt Kluge verbal zu seiner Frühzeit zurück, indem er die hohe Zirkuskuppel als Bild aufruft. Wir erinnern uns an seinen Filmtitel „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“. Gegen alle Ratlosigkeit geht er im gesegnet hohen Alter immer noch und erst recht an – wie einst Elias Canetti unverdrossen gegen den Tod focht. Das darf und muss man heldenhaft nennen.

Alexander Kluge: „Sand und Zeit“. Bilderatlas. Suhrkamp, 168 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 25 Euro.

 




Peppa Pig, die KI und der Rest

Familienaufstellung der kunterbunten Schweinchenfamilie, wie sie von der Firma Simba Toys hergestellt wird (von links): Mama Pig, Peppa Pig, George, Papa Pig. Mittlerweile ist noch das Baby Evie hinzu gekommen. (Foto: Bernd Berke)

Alle Welt schreibt und/oder podcastet über Künstliche Intelligenz (KI, anglophon bekanntlich AI abgekürzt). Jetzt hatte ich auch so ein kleines, aber bezeichnendes Erlebnis damit. Wie auf diesem Felde üblich, war es gleichermaßen faszinierend und erschreckend.

Es ging mir darum, eine bestimmte Szene (fröhliches Mädchen auf der Waage bei der Kinderärztin) mit dem berühmten Comic-Schweinchen Peppa Pig („Peppa Wutz“) darzustellen. Meines Wissens existierte eine solche Szene im Peppa-Kosmos noch nicht. Also habe ich mal bei ChatGPT angefragt, ob sich da was machen ließe…

Frau Mümmel als Kinderärztin

Und siehe da: Die wohl bekannteste aller KI-Apps ließ sich nicht lange lumpen. Zwar bat sie um ein paar Minuten „Bedenkzeit“, weil es gerade eben so viele Bildanfragen gebe. Doch nach ca. 3 Minuten hatte sie es und legte eine Zeichnung vor, die man kaum oder gar nicht von anderen, originalen Peppa-Kreationen unterscheiden konnte. Tatsächlich stand Peppa frohgemut auf der Waage – und neben ihr die zünftig mit Stethoskop und anderen Insignien ausgerüstete Kinderärztin, verkörpert von „Frau Mümmel“, der stets in mancherlei Rollen schlüpfenden Häsin.

Was würde Boris Johnson sagen?

Selbstverständlich werde ich das erstaunliche Resultat hier nicht ausbreiten, denn ich möchte – anders als offenbar die KI-Betreiber – partout nicht mit dem bislang üblichen Urheberrecht in Konflikt geraten. Täuschend ähnlich das Personal, täuschend ähnlich (oder vielmehr: frappierend gleich) der Stil. Selbst für kleine und große Fachleute absolut verwechselbar. Keine nennenswerte Distanz oder eigene „Schöpfungshöhe“, wie die Juristen sagen. Was wohl der erklärte Peppa-Fan Boris Johnson, Ex-Premierminister von Großbritannien, dazu sagen würde? Vermutlich ließe sich der Politclown etwas immens Schnoddriges, halbwegs Witziges einfallen. Doch was hülfe es?

Urheberrecht? Muhahaha!

In ähnlicher Weise, wenn auch jeweils mit etwas anderem Drall, hätte sich die besagte Szene nach Art anderer Figuren nachbilden lassen, beispielsweise mit Loriotschen Knollennasenmenschen, nach Asterix-Art, nach „Peanuts“-Vorbild oder im Stile eines US-Undergroundzeichners wie Robert Crumb oder Gilbert Shelton. In allen Fällen wären Urheberrechte eklatant verletzt worden.

Es scheint so, als hätte sich schon der bloße Gedanke des Urheberrechts weitgehend erledigt; ganz gleich, ob Text, Bild oder Video betreffend. Wie will man das jemals wieder einfangen und zurückholen? Überdies ist vermutlich auch die einstmals bedeutsame Unterscheidung zwischen echt und unecht, zwischen wahr und falsch obsolet. Längst schon eine Binse, ich weiß. Aber wenn jetzt schon die niedlichen Schweinchen gefälscht werden…




„Es musste etwas besser werden“ – Jürgen Habermas und die Pflicht zur Vernunft

„Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohende Regression aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv. Daher bin ich mit der Bezeichnung ,Philosoph und Soziologe‘ ganz zufrieden.“

So äußert sich Jürgen Habermas in einem neuen Buch, in dem er über die Motive seines Denkens, die Umstände, unter denen es sich entwickelte, und die Veränderungen, die es im Laufe der Jahrzehnte erfuhr, Auskunft gibt.

Debatten und Diskurse beispielhaft geprägt

Dass der inzwischen 95-jährige Intellektuelle, der mit seinen Beiträgen und Büchern wie kein anderer die politischen Debatten und wissenschaftlichen Diskurse in Deutschland geprägt hat, mit dieser Selbstbeschreibung tiefstapelt, weiß er natürlich auch. Denn Habermas war nie nur ein „Philosoph und Soziologe“, der sich im universitären Elfenbeinturm verschanzt und von oben herab seine neuesten Erkenntnisse zu gesellschaftlichen Transformationen, kulturellen Phänomenen und kommunikativen Strategien verkündet.

Ob als Hochschullehrer in Frankfurt und Heidelberg oder als Autor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Sich mit sozialwissenschaftlichen Argumenten und historischen Erkenntnissen in die aktuellen Debatten einzumischen, war stets sein größtes Bestreben, die Europäische Einigung sein größter Wunsch und die Abwehr rechtsnationaler Tendenzen der innerste Antrieb des enzyklopädisch gebildeten Großintellektuellen, der sich in jungen Jahren in einer von Alt-Nazis beherrschten Universitätslandschaft durchsetzen musste.

„Es musste etwas besser werden“, sagt Habermas (so auch der Titel des Buches), „und es lag an uns, ob sich die Welt zum Besseren verändern würde.“ Uns, das sind seine aus dem Exil heimgekehrten Kollegen von der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule: Adorno, Marcuse, Horkheimer, aber auch seine linksliberalen Mit-Studenten Karl-Otto Apel, Ernst Tugendhat und Michael Theunissen.

Wider die bleierne Zeit der Restauration

Im Gespräch mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos umkreist Habermas die Anfänge seiner wissenschaftlichen Biografie und die bleierne Zeit der bundesrepublikanischen Restauration, in der Habermas und sein Konzept einer auf die Demokratisierung der Gesellschaft und die Formulierung einer vernunftgeleiteten Kommunikation ausgerichteten Sozialwissenschaft wie ein Fremdkörper wirkte und als linksradikal diffamiert wurde.

Dabei hatte Habermas längst den ollen Marx neu interpretiert, auch Freuds Psychoanalyse und vor allem die US-amerikanischen Forschungen zur Linguistik und Sprechakt-Theorie in sein Werk einbezogen, Bücher verfasst, die heute legendär sind: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, „Erkenntnis und Interesse“, „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“, „Theorie des kommunikativen Handelns.“

Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Im kollegialen Diskurs schreitet Habermas die wichtigsten Stationen seines Lebens und zentrale Begriffe seines Denkens ab, plädiert eindringlich für das Projekt der Europäischen Einigung, fordert ein entschlosseneres Handeln zur Verhinderung der Klimakatastrophe, kommentiert den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine, mahnt Israel, bei seinem gerechtfertigten Krieg gegen den Terror der Hamas die zivilgesellschaftlichen Maßstäbe zu beachten, erinnert an die „Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft“. Habermas hat recht. Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Jürgen Habermas: „Es musste etwas besser werden.“ Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos. Suhrkamp, 254 Seiten, 28 Euro.




Fröhlicher Feminismus der Frühzeit: Stummfilme beim Dortmunder Frauen Film Fest

„Aufräumen“, dass die Bude wackelt: anarchisch-chaotische Szene aus dem französischen Stummfilm „Cunégonde reçoit sa famille“ (1912). (Frauen Film Festival IFFF Dortmund + Köln / Filmmuseum EYE, Amsterdam)

Vor rund 110 bis 120 Jahren sah die Frauenbewegung im Kino noch etwas anders aus. Da war es wohl schon ein gewisses Wagnis, wenn eine Frau – gern gemeinsam mit Freundinnen – den Männern ein Schnippchen schlug. Oft ging’s dabei frisch, fröhlich und frei zu. Diesen Eindruck vermitteln jedenfalls die ausgewählten Stummfilme, die beim Internationalen Frauen Film Fest IFFF in Dortmund (diesmal wieder Hauptort) und Köln (Nebenspielstätte) gezeigt werden. Ein paar Beispiele fürs muntere Treiben der historischen „Komplizinnen“, wie sie beim Festival heißen:

Die Herrschaften sind fort, vor allem der reiche Sack von Hausherr, diese Witzfigur. Das geplagte Dienstmädchen Cunégonde bekommt derweil Besuch von hauptsächlich weiblichen Verwandten. Gemeinsam räumen sie jetzt endlich mal „so richtig“ auf in der komfortablen Wohnung. Danach steht alles knietief unter Wasser – und sämtliches Porzellan liegt zerschlagen am Boden. Anarchie! Klassenkampf! Frauenaufstand! („Cunégonde reçoit sa famille“ – Kunigunde empfängt ihre Familie, Frankreich 1912).

Oder so: Vier lebenslustige junge Damen wollen ein Bad im See nehmen, da kommt ein lachhafter Schutzmann angehumpelt, um es ihnen zu verbieten. Sie schubsen ihn kurzerhand ins Wasser. Siehste wohl, haha! („Bain forçé“ – Erzwungenes Bad, Frankreich 1906)

Wahlweise auch so: Junge Frau bekommt Hausarrest von einer grotesken  Gouvernante. Doch mit einigen Verkleidungs-Tricks und indem sie männliche Dienstleute becirct, lotst die Eingesperrte ihre Schulfreundinnen zu sich, mit denen sie sich prächtig amüsiert – freilich immer in Gefahr, entdeckt zu werden. („The Classmate’s Frolic“ – Spaß mit Klassenkameradinnen, USA 1913)

Frauenpower mit männlicher Beihilfe erleidet der beleibte Galan, der einer Postangestellten nachstellt und einfach nicht locker lassen will. Der unangenehme Patron wird schließlich am Schalter so abgefertigt, dass er ein für allemal Ruhe gibt. Wenigstens schon mal bei dieser Frau. („Les Demoiselles de PTT“ – Die Mädchen von der (Postgesellschaft) PTT, Frankreich 1913)

Weitaus rabiater geht es zu, wenn Madame Plumette schlechte Laune hat. Dann haut sie allen Leuten was „vor die Mappe“, tritt gar einen Kerl gnadenlos in den Rinnstein und wirft zwei Diebe aus dem Fenster. Am Ende wird sie jedoch überwältigt. („La fureur de Mme Plumette“ – Die Wut der Madame Plumette, Frankreich 1912)

Technisch geradezu futuristisch mutet schließlich diese Story an: Wissenschaftler experimentiert so intensiv mit Bildtelefon (!), dass er seine Geliebte vernachlässigt. Deren Freundin verkleidet sich als Mann und macht – als vermeintlicher Liebhaber seiner Verlobten – den Erfinder bis zum Wahnsinn eifersüchtig. („Love and Science“ – Liebe und Wissenschaft, Frankreich 1912)

Das mag insgesamt recht harmlos anmuten, doch finden sich in den kurzen Geschichten etliche Ansätze zu weiblicher Widerspenstigkeit und zum Eigensinn. Sie mussten sich „nur noch“ entfalten. Die dazu nötige Energie war bereits vorhanden. Dafür sorgten zumindest die lebendigsten und kreativsten Ururur-Großmütter heutiger Frauen. Eine stolze Tradition, fürwahr. Überdies tauchen in mehreren Filmen am Rande schemenhaft Szenen weiblicher Drangsal und Dienstbarkeit auf, die noch den frohsinnigsten Szenenfolgen einen ernsthaften Rahmen geben. Da wird klar, wogegen es zu rebellieren galt.

Mit solchen Stummfilmen – die erwähnten dauern zwischen zwei und 14 Minuten – verhält es sich darstellerisch allerdings so: Da musste halt kräftig chargiert werden, um zwischen erläuternden Schrifttafeln die Intention vollends deutlich zu machen. Jede mittlere Gewissensnot wird zum wahnwitzig händeringenden Auftritt; wird jemand aus dem Zimmer geschickt, reckt sich der hinaus weisende Arm dermaßen, dass ein heftiger Wink mit dem Zaunpfahl dagegen eine Petitesse ist. Gut, wenn die daraus erwachsende Komik gezielt und freiwillig eingesetzt wird. Dann haben diese dramaturgischen Notwendigkeiten noch heute ihren speziellen Reiz. Interessant wäre es übrigens, auch deutsche Streifen jener Zeit zum Vergleich zu sehen. Vielleicht ein andermal.

Die überwiegend französische Stummfilmauswahl stammt aus dem reichen Fundus des Amsterdamer Filmmuseums EYE. Sie wird unter dem Titel „Komplizinnen“ am Samstag, 22. April, um 18 Uhr im Dortmunder Kino „SweetSixteen“ (Immermannstraße 29) gezeigt. Der „Cunégonde“-Film gehört zur Langen Filmnacht mit 17 Kurzfilmen von 1912 bis 2023 – am Freitag, 21. April (ab 20 Uhr, ebenfalls im „SweetSixteen“).

Das gesamte Festival, dessen Vorläufer (in Dortmund hieß die Chose anfangs „femme totale“) vor nunmehr 40 Jahren Premiere hatten, dauert bis zum 23. April und gliedert sich in zahlreiche Sektionen, weit über die Stummfilme hinaus (Spielfilmwettbewerb, Panorama, Filmlust queer, Programm für Kinder und Jugendliche etc.). Um bei all dem nicht den Überblick zu verlieren, braucht es viele weitere Informationen. Es gibt sie hier:

www.frauenfilmfest.com

 




Ruhrgebiet – Traumgebiet: „Urbane Künste Ruhr“ wollen ab Mai wieder Orte der Region verwandeln

Durch Schaum überfluteter und verwandelter Stadtraum: Stephanie Lüning „Island of Foam“ (Schauminsel), Version XIV, 2021, in Linz/Österreich. Ob es bei der Aktion in Essen-Steele ähnlich zugehen wird? (Foto: © Violetta Walkobinger)

Noch ist alles im Wachsen und Werden, doch es lässt sich schon im Ungefähren darüber reden: Bei einer Online-Pressekonferenz gab es jetzt einen ersten Überblick zu neuen Projekten von „Urbane Künste Ruhr“. Sie befassen sich vom 5. Mai bis zum 25. Juni mehr oder weniger direkt mit dem Generalthema „Schlaf“.

Damit wird die 2019 gestartete und 2021 fortgesetzte Trilogie „Ruhr Ding“ enden, deren erste Ausgaben „Territorien“ und „Klima“ in den Blick genommen haben. Allesamt dehnbare Themenfelder, fürwahr.

„Schlaf“ also. Unter diesem Losungswort sollen sich diverse Orte im Ruhrgebiet als traum- oder auch alptraumnahe Gelände erweisen, wenn nur erst Künstlerinnen und Künstler ihnen beigekommen sind. Manche Stätten haben freilich auch so schon einigermaßen surreale Anmutungen. Wer es gerne in Zahlen hat, bitte sehr: 19 künstlerische „Positionen“ werden an 22 Standorten „sichtbar“, um im modischen Jargon zu bleiben.

Britta Peters, Leiterin von „Urbane Künste Ruhr“, bezeichnet den Schlaf als universelles Thema. In der Tat: Es ist – wie vordem schon Territorien und Klima – im Grunde dermaßen ausufernd, dass es beliebig werden könnte. Allerdings wird der Schlaf sozusagen regional und lebensweltlich verankert, nämlich auf Zeiten, Rhythmen und Schichten der Arbeit bezogen, wie sie im Revier einmal üblich waren und längst im vielfachen Wandel begriffen sind. Peters und ihre Assistenz-Kuratorin Alissa Raissa Danscher haben dabei abermals auf eine mindestens gleichberechtigte, wenn nicht überwiegende Präsenz von Künstlerinnen Wert gelegt. Warum auch nicht?

Verschiedene Zonen des Reviers

Nachdem 2019 vorwiegend die mittlere Schiene des Ruhrgebiets (u. a. mit Dortmund, Bochum, Essen und Oberhausen) den Anfang machte und 2021 der Norden (mit Gelsenkirchen, Recklinghausen, Herten und Haltern) folgte, geht es diesmal vor allem südwärts: nach Mülheim, Witten und Essen-Steele. Wo sind bei all dem Hagen, Hamm oder z. B. die Kreise Unna oder Ennepe-Ruhr geblieben? Nun, das Ruhrgebiet ist wohl doch zu weitläufig, um jede Ecke zu „bespielen“.

Ein Dreh- und Angelpunkt der neuen „Ruhr Ding“-Ausgabe ist Mülheim, wo einst der Filmemacher und Sammler Werner Nekes nachmals ruhmreiche Künstler wie Christoph Schlingensief (Oberhausen) und Helge Schneider (just Mülheim) „entdeckt“ und gefördert hat, woran Britta Peters aus- und nachdrücklich erinnert.

Es mag also einen langjährig wirksamen Geist des Ortes geben, an den sich anknüpfen ließe – mit ausgesprochen internationalem Horizont, was die Biographien der Mitwirkenden angeht. Nun also ein paar Projekt-Beispiele, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit. Es sind lauter Vorhaben, die sich noch nicht vollends konkretisiert haben:

Projekte in Mülheim/Ruhr

Unter Ägide des preisgekrönten Filmemachers Michel Gondry (geb. 1963 in Versailles) können Leute in der Alten Dreherei zu Mülheim ihre eigenen Filme – drehen. Genre und Gestaltung nach Gusto. Die Resultate erweitern ein bestehendes, bei ähnlichen Aktionen u. a. in New York, Tokyo und Paris entstandenes Archiv um eine Revier-Perspektive.

Katarina Jazbec, Künstlerin und Filmemacherin vom Jahrgang 1991 aus Slowenien, hat sich mit harten Arbeitswelten in einem Hagener Steinbruch und einem Duisburger Stahlwerk befasst. Nik Nowak (geb. 1981 in Mainz, in Berlin lebend) verwandelt einen Übersee-Container unter der Mülheimer Konrad-Adenauer-Brücke in eine Klangskulptur. Viron Erol Vert (geb. 1975, aufgewachsen in Norddeutschland, Istanbul und Athen) will einen typischen Ruhrgebiets-Kiosk mit Farben und Spiegelungen in ein Kunstwerk zwischen Alltag und Traumwelt transferieren.

Projekte in Essen-Steele

„Ruhr Ding“ gastiert auch im Essener Stadtteil Steele, der in den 1960er und 70er Jahren brutal autogerecht umgebaut wurde. Auch hier bezieht sich ein Künstler auf die regionale Kiosk-Kultur: Wojciech Bakowski (geb. 1979 in Posen) entwickelt eine Installation im Inneren einer „Bude“. Ins ehemalige Wertheim-Kaufhaus von Essen-Steele begibt sich unterdessen Nadia Kaabi-Linke (geb. 1978 in Tunis, aufgewachsen dort und in Kiew, lebt in Berlin). Ihre Installation zielt auf optische Unendlichkeits-Effekte. Auch die Fassade des einstigen Kaufhauses wird künstlerisch bearbeitet – von Kameelah Janan Rasheed (geb. 1985 in East Palo Alto). Sie will auf der „Außenhaut“ des Gebäudes die „architektonischen und historischen Schichtungen des Stadtraums“ (Ankündigungstext) freilegen. Gleichfalls in Steele erkundet die polnische Künstlerin Alicja Rogalska Zusammenhänge von Architektur und sozialem Leben – insbesondere aus Frauensicht.

Besonders spektakulär verspricht die – ebenfalls in Essen-Steele angesiedelte – Performance von Stephanie Lüning (geb. 1978 in Schwerin) zu werden. Lüning ist dafür bekannt, öffentliche Plätze mit bunten Schaumbergen zu überfluten – auch für Kinder ein Hauptspaß, wie Aufnahmen früherer Aktionen zeigen.

Projekte in Witten

Dritter Hauptort des Geschehens ist die von anthroposophisch inspirierter Uni und Klinik mitgeprägte Stadt Witten. Auch deshalb erhebt sich hier nach Ansicht der Kuratorinnen die Frage nach der Zukunft des Körpers in der digitalisierten Welt.

Melanie Manchot (geb. 1966 in Witten) hat mit der Filmkamera Frauen bei ihrer nächtlichen Arbeit beobachtet: Pole-Dancerin, Bäckerin, Türsteherin, Reinigungskraft. Schon kurze Probe-Sequenzen lassen einen eindrücklichen Film erwarten, der in der Wittener WerkStadt gezeigt werden werden soll. Zugleich bekommt Melanie Manchot eine Einzelausstellung im Märkischen Museum der Stadt Witten.

Joanna Piotrowska (geb. 1985 in Warschau) bringt eine Körper-Choreographie in Schaufenster-Vitrinen der früheren Wittener Galeria Kaufhof. Nora Turato (geb. 1991 in Zagreb/Kroatien) stattet den idyllischen „Schwesternpark“ in Witten mit einem Klang-Parcours aus. Das Wiener Theaterkollektiv „God’s Entertainment“ versieht derweil den örtlichen Saalbau mit einer großen Raumskulptur in Form eines Oktopus‘ und assoziiert die kantige Form des Gebäudes mit einem Kreuzfahrtschiff.

Zu hoffen wäre, dass sich einige (einstweilen noch etwas nebulöse) Versprechen und Konzepte einlösen und dass sich der etwaige Eindruck verflüchtigt, hier sei eine mehrjährig eingeschworene Gruppe am Werk, die „ihr (Ruhr)-Ding“ nach Belieben macht, ohne gar zu sehr auf breitere Wirksamkeit zu achten. Wir lassen uns gern überraschen.

Urbane Künste Ruhr: „Ruhr Ding: Schlaf“. 5. Mai bis 26. Juni 2023. Ausstellungen und Aktionen im öffentlichen Raum in Mülheim/Ruhr, Essen-Steele, Witten (dazu als nördlicher „Satellit“: Gelsenkirchen-Erle).

Nähere Infos:

www.urbanekuensteruhr.de

 

 

 

 




Pläne im Museum Folkwang: Digitale Abenteuer, Ideen für Krisenzeiten

In der digitalen Welt: Rafaël Rozendaal „much better than this, 2006″, Multimedia-Installation, Times Square, New York City, 2015. (© Rafaël Rozendaal / Upstream Gallery, Amsterdam)

Das Jubiläumsjahr neigt sich dem Ende zu: Essens Museum Folkwang besteht seit 100 Jahren und hat den Anlass vielfältig begangen, u. a. mit der opulenten Kunstschau „Renoir, Monet, Gauguin“, aber auch mit etlichen Festivitäten und Aktionen im Stadtgebiet, worauf Folkwang-Direktor Peter Gorschlüter besonderen Wert legt – ebenso wie auf Nachhaltigkeit, die sich neuerdings in Photovoltaik auf den Flachdächern des Museums manifestiert.

Derart viel „Wumms“ (sagt man heute manchmal so) wird es 2023 wohl nicht geben können. Derweil erfordert es einige Phantasie, um sich Details zum einen oder anderen Projekt überhaupt vorzustellen.

Da wäre etwa eine Ausstellung des Niederländers Rafaël Rozendaal (21. April bis 20. August 2023), der in New York lebt und als Digital-Künstler von sich reden macht. Als eines der ersten Institute wagt sich das Museum Folkwang dabei aufs Terrain der „NFT“-Kunst, die sich aus der ihrerseits nicht leicht zu begreifenden Blockchain-Technologie herleitet und sich noch im Pionierstadium befindet.

Die Abkürzung NFT steht für „Non Fungible Token“ (ungefähr: „nicht austauschbare Wertmarke“) und bezeichnet digitale Dateien, denen vertragsähnliche Merkmale implementiert werden, so dass die entsprechenden Kunstwerke nicht frei im Netz schweben, sondern als Besitz existieren, der eindeutig zugeordnet werden kann. Einstweilen klingen die Pläne etwas kryptisch, so werden im Museum „Transit-Räume“ eingerichtet. Lassen wir uns überraschen, was sich hinter all dem verbirgt und wie es zu vermitteln ist. Thomas Seelig vom Folkwang-Leitungsteam (Spezialgebiet: fotografische Sammlung) findet jedenfalls, dass sich die Museen zur aufkommenden NFT-Kunst positionieren sollten, es betreffe ja auch die Zukunft ihrer Sammlungs-Tätigkeit. Wir werden sehen.

Henri Matisse: „Icare“ (Ikarus), Blatt 1 aus dem Portfolio „Jazz“ (1947), Druckgrafik, 42 x 65,5 cm (© Succession H. Matisse / VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Beinahe konventionell mutet demgegenüber eine Ausstellung an, die wiederum mit drei berühmten Künstlernamen umschrieben wird: „Chagall, Matisse, Miró – Made in Paris“. (1. September 2023 bis 7. Januar 2024). Aber was heißt in diesem Kontext schon konventionell? Diese und andere Künstler erprobten seit Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls neuartige Strategien, die ihrer Zeit voraus waren. Es geht um Mappenwerke, Editionen und Künstlerbücher, deren Urheber auf weite Verbreitung (Fernziel: „Kunst für alle“) abzielten. Im Vordergrund steht Druckgraphik, die u. a. durch Zeitschriften in hohen Auflagen verbreitet wurde. Herausragende Beispiele sind Henri Matisse mit seiner Scherenschnitt-Mappe „Jazz“ oder Marc Chagall mit einem Zyklus um die antiken Gestalten „Daphnis und Chloé“. In jenen Jahren wurden, zumal in Paris, immer mehr auf künstlerische Druckgraphik spezialisierte Werkstätten gegründet, die unternehmerisch arbeiteten und Gewinn anstrebten. Vereinzelt existieren sie bis heute. Auch dieser Aspekt soll ausführlich dargestellt werden.

Die vielleicht aufwendigste Ausstellung des nächsten Jahres erfordert wiederum Vorstellungsvermögen, sie heißt „Neue Gemeinschaften“ (ab 24. November 2023) und blickt zurück auf utopische Lebensentwürfe in den Künsten und sozialen Bewegungen der letzten 120 Jahre. Vielleicht sind ja Energien zu entdecken, die auch in der heutigen Krisenzeit Impulse geben können. Es erhebt sich also die gewaltige Frage, wie wir künftig leben wollen, ohne den Planeten weiter zu zerstören.

Der Reigen beginnt mit frühen Lebensreform-Ideen (Stichwort Kolonie Monte Verità) im erhofften Einklang mit der Natur. Ferner geht es um die kristalline Bauweise der Architektur-Gruppierung „Gläserne Kette“ in den 1920er Jahren, um die Hippie-Kultur der späten 1960er Jahre, um „Afro-Futurismus“ und um Überwindung des Menschen-Zeitalters („Anthropozän“). Ganz recht: Was all das zu bedeuten habe, wird sich – so oder so – wohl erst vollends in der Ausstellung zeigen können. Die Pläne klingen nach geistigem Abenteuer und nach tastender Suche.

Übrigens wird auch noch in diesem Jahr eine bemerkenswerte Ausstellung eröffnet: Am 2. Dezember beginnt im Museum Folkwang eine Retrospektive zu Helen Frankenthaler (1928-2011), die als eine Leitfigur der Farbfeldmalerei und des Abstrakten Expressionismus gilt.

Weitere Infos, auch zu Plänen der fotografischen Abteilung:
www.museum-folkwang.de

P. S.: Und wie wappnet sich das Museum gegen Attacken mit Kartoffelbrei und sonstigen Substanzen? Mit Taschenkontrollen – und mit weiteren Maßnahmen, die man nicht öffentlich ausposaunt. Außerdem, so heißt es, stehe man im vertrauensvollen Dialog mit Klima-„AktivistInnen“.




Wenn die Weltseele kocht – Phantasien über „Das Zuhause“

Wenn ein Buch „Das Zuhause“ heißt, so lässt sich alltagsnaher Lesestoff erhoffen. Doch der Philosophie-Professor Emanuele Coccia enttäuscht derlei Erwartungen. Er geht stets aufs Ganze und vermischt alles mit allem, bis einem der Kopf schwirrt.

Das Zuhause steht bei Coccia für eine Sphäre, die sich von der Öffentlichkeit und den Städten absetzt, in der die Welt überhaupt erst bewohnbar wird, mithin für einen allgemeinen, recht diffusen Glückszusammenhang, der immer erst noch entstehen muss.

Weitschweifig schildert der Denker, wie er 30 internationale, um nicht zu sagen globale Umzüge hinter sich gebracht hat und schlussfolgert: „Selbst in Momenten des intensivsten Nomadentums werden wir wieder zu einem Zuhause.“ So genau wollten wir es gar nicht wissen.

Sodann führt er seine wildwüchsigen Gedanken spazieren durch Gefilde der Liebe, des Badezimmers, der Schränke und der Mode, der sozialen Medien, der Haustiere, der Wälder und Gärten oder der Küche. Ganz gleich, wo er hindenkt, immerzu wird daraus eine allumfassende Behauptungs-Prosa, in der es jeweils ganz schnell um die gesamte Weltseele an sich geht, mit der er sich halt auszukennen beliebt. Typisch steiles Zitat von Seite 96: „Jedes Zuhause ist ein Akt kosmetischer Chirurgie, eine Alien-Invasion, die exterritoriale Taschen auf dem Planeten erzeugt. Es ist ein Vulkan, der in der alternativen Raumzeit einer nicht-irdischen Realität ausbricht. Das macht das Zuhause zu einem außerirdischen Ort..“  Tja.

Übrigens gehören nach Coccias Ansicht alle Betten auf die Straßen gestellt, auf dass in der Welt ein permanentes Erwachen sei. Und das Schreiben? Ist eine Droge! Es wirkt sich „auf den Geist so ähnlich aus wie eine Nuklearbombe auf den Körper.“ Damit das mal klar ist. Da sehnt man sich als Lesender freilich nach feineren, leiseren Tönen.

Aber wenn es um die Küche und ums Kochen geht, dann wird uns dieser Philosoph doch wohl bei unserer sinnlichen Alltagserfahrung packen? Nun ja, wie man’s nimmt. Zitat von Seite 142: „Es ist das allen Lebewesen innewohnende Feuer, das die Welt kocht. (…) Jede Interaktion mit Lebewesen ist eine Form des Kochens und der Weitergabe von Licht. Jede Erfahrung ist eine Art, zu kochen und uns von der Welt kochen zu lassen. Jeder lebende Körper ist eine Küche der Welt.“ Genug! Wir kapitulieren.

Solche verquasten Passagen erweisen sich auf Dauer als Zumutung, ja, als unerträgliches Geschwätz. Das ganze alchemistische Geraune läuft vage darauf hinaus, dass alles mit allem verschmelzen werde – nicht zuletzt durch das Internet. Mitunter wird die Suada auch unfreiwillig komisch; beispielsweise, indem Coccia sich erinnert, dass er in Berlin eine Dusche in der Küche hatte und diesen Umstand als Beispiel für Weltgestaltung nach dem Muster der menschlichen Anatomie beschwört. Auch sonst hat er es nie eine Nummer kleiner. Sein Weltwirbel muss immer neue Metamorphosen hervorbringen. Widerhall überall. Epochal, planetarisch, universal. So ungefähr.

Eingestreut werden eher banale Erkenntnisse wie jene, dass Identität eine Dauerbaustelle sei oder (Coccia wuchs mit einem Zwillingsbruder auf) dass das gesamte Universum durch zwillingshafte Beziehungen miteinander verbunden sei. Ganz ehrlich: Da lässt sich Karl Valentins erhabenen Weisheiten à la „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“ bedeutend mehr abgewinnen.

Emanuele Coccia: „Das Zuhause. Philosophie eines scheinbar vertrauten Ortes“. Hanser Verlag, 160 Seiten. 22 Euro.

 




„Alles geben“: Der Fußballer Neven Subotić und seine Abkehr vom rauschhaften Luxusleben

Ganz ehrlich: Dies Buch gehört eigentlich nicht zu der Sorte, die ich getreulich Seite für Seite und Zeile für Zeile durchackern würde. Querlesen tut’s auch. Doch dabei zeigt sich, dass der Fußballer Neven Subotić (unterstützt von der Journalistin Sonja Hartwig) zumindest die Stoffsammlung für eine Art „Entwicklungsroman“ vorgelegt hat, der allerdings keine Fiktion ist, sondern mitten im (un)wirklichen Leben spielt und vielsagend „Alles geben“ heißt.

Neven Subotić, geboren 1988 in Banja Luka (heute Bosnien und Herzegowina) und von Haus aus serbischer Staatsbürger, kommt im Vorfeld des Jugoslawien-Kriegs mit seinen Eltern nach Süddeutschland. Der extrem arbeitsame (und fußballerisch ehrgeizige) Vater schuftet in etlichen Jobs, um die Migranten-Familie über Wasser zu halten.

„Ich bin ein Arbeiter. So wie meine Eltern.“

Als die „Duldung“ in Deutschland fraglich wird, brechen die Subotićs in die USA auf, wo in Salt Lake City und später Tampa ein gänzlich anderes Leben beginnt als in der Provinz bei Pforzheim. Doch Neven bleibt auch dort lange ein Außenseiter in eher kümmerlichen Verhältnissen – nicht nur, was die sportliche Ausrüstung anbelangt. Er und seine Schwester müssen familiär mithelfen, mal beim Klavier-Schleppen, mal beim Putzen oder wobei auch immer. Irgendwann zieht der Jugendliche ein erstes Zwischenfazit seines Lebens, es kennzeichnet später auch seine Präsenz auf dem Fußballplatz: „Ich bin ein Arbeiter. So wie meine Eltern.“

Immer mehr geraten nun fußballerische Belange in den Blick. Im Laufe eines Europa-Trips darf er tatsächlich bei der Jugendabteilung des Edel-Clubs Ajax Amsterdam vorspielen – einstweilen noch ohne Erfolg. Doch sein Kampfgeist ist geweckt. Bald darauf geschieht einer der an Wunder grenzenden Zufälle (oder war’s doch schicksalhafte Bestimmung?): Überraschend, fast wie aus dem Nichts, gehört Neven Subotić auf einmal zu den 40 besten Nachwuchsspielern der Vereinigten Staaten. Qualität setzt sich durch.

Glücksfall Jürgen Klopp – in Mainz und Dortmund

Gleichsam noch heute mit großen Augen staunend, registriert Neven Subotić seinen rasanten sportlichen und sonstigen Aufstieg: In Mainz trifft er – noch so ein Glücksfall – erstmals auf Jürgen Klopp, dem er fortan die entscheidenden Impulse verdankt (und der auch ein warmherziges Vorwort zu diesem Buch beigesteuert hat). Der charismatische Trainer nimmt ihn später mit zu Borussia Dortmund, 2011 und 2012 erringt das Team die deutsche Meisterschaft. Zusammen mit Mats Hummels bildet Neven Subotić beim BVB das jüngste und alsbald beste Abwehr-Duo der Liga (Sportjournalisten-Schnack: „Kinderriegel“). Man ahnt, dass die Titelgewinne auch mit menschlicher „Chemie“ zu tun hatten, die Klopp wie kaum ein zweiter Trainer anzuregen und zu nutzen weiß.

Im Rausch der Erfolge und des großen Geldes kann sich der ärmlich aufgewachsene Neven Subotić nun alles leisten, alles erlauben: ein sündhaft teures Domizil, den Cadillac und ähnliche Premium-Fahrzeuge, exzessiv lange Partynächte und Gelage, serienweise schöne Frauen, die er jeweils schnell wieder fallen lässt.

Stiftung für Brunnenbau in Äthiopien

Irgendwann jedoch befällt ihn Scham über dieses halt- und sinnlose Leben ohne jede Verantwortung. Nicht häufig, aber zuweilen eben doch gibt es diese Geschichten der gründlich geläuterten Menschen (berühmteste, gar zu hoch gegriffene Beispiele: Buddha oder der Heilige Franziskus), die ob der Ödnis eines rauschhaften Lebens in Saus und Braus irgendwann ins tiefe Nachdenken geraten sind und sich zur Umkehr entschlossen haben.

Von Subotićs Umkehr handelt die zweite Hälfte des Buches. So wie er auf dem Platz alles gegeben hat, setzt er sich mit seiner 2012/13 gegründeten Stiftung für eine der ärmsten Weltregionen in Äthiopien ein. Hauptanliegen ist der dort bitter notwendige Brunnenbau, also die Verwirklichung des Menschenrechts auf sauberes Wasser. Dieser Aufgabe widmet Neven Subotić längst einen Großteil seiner Zeit und Kraft – und fragt sich doch, nahezu selbstquälerisch, ob er wirklich von sich behaupten kann, er würde „alles geben“.

Wie ein Mensch im Büßergewand

Eine Angabe taucht immer wieder auf, nämlich die der Quadratmeter, auf denen Neven Subotić nach und nach gewohnt hat; zunächst auf beengten 17 Quadratmetern eines Mainzer Dachgeschosses, dann auf auch noch recht bescheidenen 45 Quadratmetern, danach immerhin auf 80 qm. Kaum war er Stammspieler bei Borussia Dortmund, diente man ihm ein Riesenhaus mit 220 Quadratmetern und allen Schikanen an. Und heute? Lebt er mit Freundin auf 90 Quadratmetern und findet, das sei eigentlich zu viel. Manchmal klingt er wie jemand, der sich mönchisch kasteien möchte, wie ein Mensch im Büßergewand. Vor allem aber sagt er, wollte man es biblisch formulieren: Folget mir nach! Das andere Extrem zu seinem früheren Luxusrausch.

Fest steht, dass Neven Subotić, abseits von allen oberflächlichen Image- und Marketing-Fragen, auf seiner Sinnsuche ausgesprochen authentisch und sympathisch wirkt. Nur sehr wenige Fußballspieler erlangen diesen menschlichen Reifegrad. Es wäre schön, wenn sich sein Beispiel auf andere Millionäre jeder Couleur auswirken könnte, nicht nur auf prominente Kickerkollegen. Dass Subotić bei den Fans, insbesondere natürlich den schwarzgelb orientierten, für alle Zeit einen dicken Stein im Brett hat, ist ohnehin klar.

Neven Subotic (mit Sonja Hartwig): „Alles geben“. Kiepenheuer & Witsch, 272 Seiten. Mit einem Vorwort von Jürgen Klopp und einigen Farbfotos. 22 Euro.

 

 




Eine frühere Kirche als Backstube und Sauna? – Das gibt es nur bei „Urbane Künste Ruhr“

Hier soll tatsächlich einmal gebacken und sauniert werden: Innenraum der ehemaligen Kirche St. Bonifatius in Gelsenkirchen-Erle. (Foto: Heinrich Holtgreve)

Was unter dem Label „Urbane Künste Ruhr“ in manchen Ecken des Reviers passiert, darüber lässt sich ohne Anschauung offenbar nur vage reden. Das hat sich abermals bei der heutigen Jahrespressekonferenz zum vielfältigen Projektbündel gezeigt. Fünf Statements waren angesagt – übrigens ausnahmslos von Frauen. Da hieß es erst einmal: den Überblick gewinnen, den zur Gänze vielleicht gerade mal die Insiderinnen haben.

Es war die einleitende Rede von künstlerischen Positionen, bei denen es letztlich um die zentrale Frage gehe: „Wie wollen wir leben?“ Ach so. – Anschließend rauschte die künstlerische Leiterin Britta Peters rasant durch Bisheriges und Künftiges. Fotografische Impressionen sollten gehabte künstlerische „Interventionen“ unter dem Generaltitel „Ruhr Ding“ vergegenwärtigen – zu den Globalthemen „Territorien“ (2019) und „Klima“ (2021). Im Vorgriff wurde verraten, dass das Leitthema für 2023 „Schlaf“ laute. Darunter kann man sich einstweilen alles oder nichts vorstellen. Wird schon werden.

Denn beim wolkig Globalen darf es ja nicht bleiben, im Gegenteil. Alle künstlerischen Äußerungen sollen regional und lokal verankert sein, sollen sich an konkreten Orten des Ruhrgebiets beweisen – ob nun als Installationen, Performance-Darbietungen oder artverwandte Aktionen.

Im Laufe der letzten Jahre haben die Projekte eine Wanderung vollzogen, es begann in der nördlichen Emscherzone und hat sich über die Mitte des Reviers gen Süden bewegt. Im Prinzip bleibt keine Stadt ausgespart. Und was es da nicht alles gibt: den zusehends anwachsenden „Emscherkunstweg“; den „Wandersalon“ als – Zitat – „mobiles Diskursformat“ (Gespräche, Lesungen, Konzerte etc.); Residenzprogramme, mit denen Künstler*innen (bei „Urbane Künste Ruhr“ ist der gender-gerechte Glottisschlag die Regel) ins Revier geholt werden. Und so fort. Insgesamt stehen jährlich 3,7 Millionen Euro bereit, um das Revier künstlerisch zu durchdringen. Auch mit der Ruhrtriennale besteht eine Kooperation.

Monumental und doch anheimelnd alltagsnah

Gut und schön. Und was gibt es in diesem Jahr? Nun, im Mittelpunkt steht ein ziemlich monumentales und doch anheimelnd alltagsnah anmutendes Vorhaben der in Belgrad geborenen und in New York lebenden Künstlerin Irena Haiduk, die 2017 mit der Aktion „Spinal Discipline“ auf der Kasseler documenta für Aufsehen sorgte. Für „Urbane Künste Ruhr“ hat sie die Anfangsgründe eines Projekts skizziert, das womöglich eines Tages in Dauerhaftigkeit überführt werden kann. In der (1964 erbauten und nun eigens angemieteten) ehemaligen Kirche St. Bonifatius zu Gelsenkirchen-Erle will Irena Haiduk eine raumgreifende Situation schaffen, die die Tätigkeiten des Backens und des Saunierens verbindet; auf welche Weise, das soll sich erst noch zeigen. Denn mit der geplanten Eröffnung Anfang Juni 2022 beginnt die Sache erst so richtig. In etlichen Workshops und Begegnungen soll sich das Konzept konkretisieren und eventuell in eine feste Einrichtung münden. Der Titel „Healing Complex“ dürfte auf leibseelische Heilsamkeit durch Genuss hindeuten, auch eine soziale Komponente und die allüberall beschworene Nachhaltigkeit werden mitgedacht, so dass vielleicht gar die Abwärme des Backens für Sauna-Hitze sorgen könnte. Der Phantasie sind zunächst kaum Grenzen gesetzt, die Realisierung steht auf einem anderen Blatt. Idealerweise würden Kunst und Leben ineinander übergehen. Bevor wir es vergessen, sei nüchtern festgestellt: In der ehemaligen Kirche arbeitet bereits ein gewerblicher Bäckereibetrieb.

Und so ufert Kunst, teilweise an verschwiegenen Orten der postindustriellen Landschaft, zuweilen aber auch in den Zentren, nach und nach geradezu aus. Vieles bleibt, etwa in Form von Skulpturenparks, erhalten. Manches muss im Lauf der Zeit einer Revision unterzogen und restauriert oder verändert werden. Anderes existiert nur temporär und flüchtig. Das Revier, so lässt sich inzwischen sagen, wird allmählich mit einem Netz von Kunst überzogen, wird mit Kunst durchsetzt. Es gibt Schlimmeres.

Freilich hilft alles Gerede nichts: Statt sich verbal im Irgendwie und Irgendwann zu verlieren, müssen sich die Leute halt an die entsprechenden Orte begeben, vielleicht auch selbst zum imaginären Teil mancher Kunst-Werke werden. Ideen zur Tourenplanung und weitere Hinweise finden sich auf der Homepage der „Urbanen Künste Ruhr“.




Gar nichts ist gewiss – die rätselhaften „Weltgeist“-Bilder des René Schoemakers

Selbstporträt des Künstlers als Bezwinger des rosaroten Panthers – René Schoemakers‘ Gemälde „Der böhse Paul“, Acryl auf Leinwand 180 x 120 cm, 2019/2020 (Bild: © René Schoemakers)

Da schau her: Dieses rosarote Stofftier ist doch Paulchen Panther! Und der Mann, der ihm mit einem (total verpixelten) Spielzeug-Schwert den Kopf abgeschlagen hat, ist offenkundig der Künstler und hat dieses stellenweise bluttriefende Bild gemalt. Sein gar nicht so triumphales Ganzkörper-Selbstbildnis changiert zwischen Grau und Pink. Was sollen wir davon halten?

Im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte bleibt man mit diesem und vielen anderen rätselhaften Bildern zunächst ohne Hilfestellung. Die Arbeiten haben Titel, die aber nicht vorgezeigt werden. Also wird man sogleich aufs genaue Hinschauen verwiesen. Aber das allein nützt nicht viel. Denn man muss zusätzlich parat haben, dass die rechtsradikale NSU-Mörderbande ausgerechnet die Panther-Figur in einem Bekennervideo verwendet hat. Doch selbst danach ist man nur bedingt schlauer, zumal auch noch ein Frauenakt zum Panther-Ensemble gehört. Etwas mehr Aufklärung halten Katalog und Internet-Auftritt bereit.

Irritationen und sinnliche Schauwerte

Der in Kleve geborene und in Kiel lebende Künstler René Schoemakers zieht in seine stupend fotorealistisch, geradezu altmeisterlich gemalten Bilder (2011 hat er den Cranach-Preis erhalten) gar viele Sinn-Ebenen ein, die sich auch stilistisch verzweigen. Irritierend sind die zahllosen Brüche und Widersprüche, die Ironisierungen, Verschiebungen und Verfremdungen, die Variationen und Überlagerungen. Hier ist nichts gewiss. Sobald man den Sinn eines Bildes halbwegs zu erhaschen glaubt, scheint der Künstler schon wieder ein paar Ecken und Hirnwindungen weiter zu sein. Es ist kompliziert. Doch die Ausstellung lockt auch mit sinnlichen Schauwerten.

Schoemakers hat nicht nur Kunst, sondern auch Philosophie studiert. Er denkt sich mancherlei Vertracktes aus. Doch wenn er vor der Leinwand steht, sagt er, sei er völlig spontan. Dann gehe es nur noch um die Wirkung des Bildes – und sonst um gar nichts mehr. Allerdings bereitet er jedes Werk penibel vor, oftmals mit dreidimensionalen Modellaufbauten als Vorlagen.

Der Schrecken kommt harmlos und clownesk daher

So kommt es beispielsweise, dass wir – als sei’s eine Dokumentation vom Tatort – die blutigen Spuren des rechtsradikalen Münchner Oktoberfest-Attentats von 1980 sehen, freilich wie mit Spielzeug bühnenhaft nachgestellt. Eine bestürzende Mischung aus vermeintlicher Harmlosigkeit, Nüchternheit und namenlosem Schrecken. Hier kann überall Gewaltsamkeit lauern, zuweilen auch seltsam verquickt mit Clownerie. Totenköpfe können hier aus Lego-Bausteinen bestehen oder als Papier-Faltungen herumliegen. Anspielungen auf Terrorismus werden auch schon mal mit dem Playboyhäschen-Logo unterlegt.

Rund 70 Arbeiten auf etwa 170 Leinwänden, nicht in Öl, sondern Schicht für Schicht mit schnell trocknender Acrylfarbe ausgeführt, sind in der Dortmunder Werkschau zu sehen. Die ungleichen Zahlen erklären sich daraus, dass Schoemakers eine Vorliebe für Triptychen hat, also für dreiteilige Bilder nach dem fernen Vorbild christlicher Altäre. An einem anderen Ende des Spektrums finden sich Schautafeln nach Art von Gebrauchsanweisungen oder Flugblättern, die freilich inhaltlich alles andere als simpel sind.

Gewagte Darstellung mit Bezug zum Massenmörder Anders Breivik: das Katalog-Cover mit René Schoemakers‘ Gemälde „Anders (Mummenschanz)“, Acryl auf Leinwand 160 x 120 cm, 2019. (Bild: © Foto René Schoemakers)

Christian Walda, stellvertretender Museumsdirektor und eigentlich Kurator der Ausstellung, sagt, Schoemakers habe ihm weitgehend die Aufbauarbeit abgenommen. Walda begibt sich auf die philosophischen Fährten, die der Künstler gelegt hat. Der setzt sich gedanklich und malerisch mit dem Idealismus und seinen Weiterungen (oder auch Verengungen) auseinander. Im Gefolge Hegels – die Schau trägt den hegelianisch inspirierten Titel „Weltgeist“ – seien  bloße Ideen vielfach übermächtig geworden und hätten sich gegen jegliche Realität durchgesetzt. Daraus seien die verschiedensten Ideologien mitsamt ihrem Gewaltpotential erwachsen.

Allmachts-Phantasien aus dem Idealismus

Die Allmachts-Phantasien, die sich darin verbergen, nehmen in der Historie und in Schoemakers‘ Bildern diverse Gestalt an. Hier gibt es einen Raum, in dem etwa Porträts von Martin Luther, des Islamisten Pierre Vogel und des US-Rechtsaußen Steve Bannon einander zugesellt werden – ergänzt um etliches Beiwerk. An anderer Stelle heißt es im Goebbels-Brüllton und in Frakturschrift: „Wollt ihr die totale Metapher?“ Mindestens ebenso abgründig ist solcher „Mummenschanz“: Eine Frau steckt in der Phantasie-Uniform, in der sich der rechtsextreme Massenmörder Anders Breivik gefallen hat. Dieselbe Frau posiert ebenso frontal mit Militärklamotten, Knarre und Theater-Schnurrbart – als „Karl-Heinz“ von der rechten „Wehrsportgruppe Hoffmann“.

Schoemakers scheint, allem Gedankenreichtum zum Trotz, kein Grübler zu sein. Für einen Mann vom Jahrgang 1972 hat er sich staunenswert jung erhalten, vielleicht just durch intellektuelle Wendigkeit. Seine Frau und fünf Kinder stehen ihm immer wieder Modell. Welch ein spezielles „Familienalbum“! Es hält seine ansonsten divergierenden Kunstwelten zusammen.

Seine Bilder lassen einen mit ihrer Überfülle möglicher Bezugspunkte nicht in Ruhe. Sie leisten Widerstand gegen Interpretation. Doch wer sie sieht, will ihnen zwangsläufig Sinn verleihen. Keine leichte, aber eine lohnende Übung.

René Schoemakers: „Weltgeist“. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. Noch bis zum 9. Januar 2022.

https://weltgeist-mkk.de

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Der Beitrag ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de




Durch Apps die Welt beherrschen – Dave Eggers konstruiert mit seinem Roman „Every“ eine digitale Dystopie

Sie heißen „TellTale“ und „TruVoice“, „OwnSelf“ und „HappyNow“, „Should I“ und „Friendy“: nur einige von unzähligen kostenlosen Apps, die demnächst jeder Mensch auf seinem Smartphone hat. Sie machen aus dem Leben ein Rundum-Sorglos-Paket. Helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und uns ständig selbst zu optimieren.

Viel mehr noch: Sie beraten uns beim Einkauf, reduzieren das Überangebot und verbannen umweltschädliche Produkte. Sorgen dafür, dass unser CO2-Fußabdruck kleiner wird und wir durch bewussten Verzicht und Ressourcen schonendes Handeln das Klima retten. Verraten uns, ob wir glücklich sind und vermeintliche Freunde uns nur etwas vorflunkern. Sie hören mit und sprechen mit uns, sie wissen, was wir denken und fühlen und geben uns Ratschläge, welche Wörter diskriminierend und tunlichst zu vermeiden sind. Eine App („WereThey?“) kann ermitteln, ob unsere Eltern immer gut zu uns waren, eine andere („FictFix“) ist behilflich, unsympathische Figuren aus Romanen zu entfernen. Mit „EndDis“ können Archivare unangemessene Bilder und Texte für immer löschen.

So sieht sie aus, die schöne neue Welt, die da draußen wartet, nur ein paar Monate oder Jahre entfernt. Oder ist sie vielleicht schon da? Gibt es überhaupt noch ein „Draußen“? Wozu sollten die Menschen noch vor die Tür gehen, wenn ihnen alles ins Haus geliefert wird, wenn sie Urlaubsreisen nur noch per Video-Guide mit dem Smartphone machen, sie auf der Straße oder in der U-Bahn jeden Unbekannten mit einer App taxieren können, ob er ein Vergewaltiger oder Mörder ist?

Alle Konkurrenten geschluckt

„StayStil“ heißt eine zig-millionenfach benutzte App, die von „Every“ entwickelt wurde, dem digitalen Mega-Monopol: größte Suchmaschine, größter Social-Media-Anbieter, größter Software-Entwickler, größtes Onlineversandhaus der Welt. „Every“ hat alle Konkurrenten geschluckt und kauft jede Woche unzählige Start-Ups dazu. Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft: alles Schnee von gestern. „Every“ kontrolliert die Gedanken und die Wünsche. Natürlich auch die Politik. Wer Kritik an „Every“ übt, digitale Regulierungsmaßnahme fordert und die Freiheit des Individuums anmahnt, wird über die sozialen Netzwerke sofort in die Hölle des Vergessens verbannt.

Gegen die gefährliche Machtfülle von „Every“ war die Zukunftsvision von „Circle“ nur ein ein harmloses Vorspiel: der sektenartige „Circle“ ist, so will es Autor Dave Eggers, von „Every“ einverleibt und ausgespuckt worden worden. Weil auch in der realen Welt alles noch viel schlimmer gekommen ist, als er es in seiner (allein im deutschsprachigen Raum über 600.000 Mal verkauften) „Circle“-Science-Fiction prophezeite, hat er jetzt seinen futuristischen Horror weitergedacht, das lockere Fäden-Logo von „Circle“ zum kompakten „Wollknäuel“ verdichtet, aus dessen Zentrum uns ein Auge anstarrt. Es registriert und bewertet alles. Wahrscheinlich auch die Lektüre des Romans.

Nur ein Abklatsch von Orwell und Huxley

Dass wir von Seite zu Seite genervter und gelangweilter sind, wird dem alles sehenden Wollknäuel nicht gefallen. Aber was sollen wir machen: Ein Ziegelstein-dicker Roman, der sich anschickt, Orwells analoge Alpträume ins digitale Zeitalter zu verlegen und uns vor dem endgültigen Sieg von Huxleys furchterregend schöner neuer Welt warnt, kann nur ein matter Abklatsch werden. Vor allem, weil Eggers keine Figuren aus Fleisch und Blut erfindet, die einen mitleiden lassen, keine Handlung, die einen emotionalen Schock entfacht oder einen intellektuellen Denkraum aufschließt, keine Sprache, die einen fasziniert und betört und zum Durchhalten animiert. Stattdessen nur Digital-Talk, endloses Gequassel über neue Apps und weitere Möglichkeiten, den Terror der Transparenz auf die Spitze zu treiben und den gläsernen Menschen zu kreieren, der sich in einer chaotischen, von der Klimakatastrophe Welt bedrohten Welt nach Ordnung und Sicherheit sehnt und bereit ist, seine Freiheit aufzugeben und an „Every“ abzutreten.

Doch wer ist „Every“, was will der neue digitale Welt-Herrscher? Wie könnte man seine Macht brechen und das Monstrum zerstören? Delaney Wells, ehemalige Försterin und unerschütterliche Technikfeindin, will das herausfinden, den Konzern unterwandern und vernichten. Sie schleust sich ins System ein, wird Mitarbeiterin bei „Every“, dessen Zentrale auf einer Insel in der Bucht von San Francisco liegt. Sie füttert die Firma mit Ideen, regt neue Apps an, von denen sie hofft, sie würden die User zum Widerstand anregen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Den Menschen gefällt es, von „Every“ in jeder Lebenslage beraten und bespielt, beschützt und beglückt zu werden: „Geheimnisse sind Lügen“ lautet eine der „Every“-Parolen. Weg also mit allen Geheimnissen, Unsicherheiten und Unwägbarkeiten.

Bevölkert von seelenlosen Mutanten

Glauben Delaney und ihr verträumter Computer-Freund, der zottelige Späthippie Wes Kavakian, wirklich, „Every“ von innen heraus zerstören zu können? Dass es bei „Every“ eine „Widerstandsgruppe“ geben könnte, die nicht schon längst erkannt und infiltriert wurde? Wo Apps herrschen, brauchen keine Bücher und Menschen bei einer Temperatur von Fahrenheit 451 verbrannt werden. Aber natürlich platzen in diesem literarisch völlig substanzlosen Roman alle Träume von einer besseren Welt und enden in der digitalen Dystopie.

Hätte der vom technischen Firlefanz zugleich faszinierte wie erschrockene Autor nicht über unzählige Seiten Dutzende Apps erfunden und beschrieben, wäre ihm vielleicht ein spannender, aufrüttelnder Roman gelungen, bevölkert nicht von digitalen Mutanten, sondern von richtigen Menschen. Keiner, sagt einmal ein „Everyone“, die für das Kürzen und Aktualisieren von Literatur zuständig sind, will einen Roman lesen, der länger ist als 577 Seiten. Hätte fast gepasst. Mit Dank, Inhalt, Hinweis zum Autor und auf den von ihm gegründeten Verlag McSweeey´s sind es denn doch leider ein paar Seiten mehr geworden.

Dave Eggers: „Every“. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Zimmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 583 S., 25 Euro.

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Dave Eggers und seine Vetriebskanäle

Die Bücher von Dave Eggers, geboren 1970, werden viel und kontrovers diskutiert. Sein Roman „Der Circle“ war weltweit ein Bestseller. Der Roman „Hologramm für den König“ war für den National Book Award nominiert, für „Zeitoun“ wurde ihm der American Book Award verliehen. Die Originalausgabe von „Every“ erscheint in den USA nur in dem von Eggers gegründeten unabhängigen Verlag „McSweeney´s“. Bei Amazon und anderen Handelsketten ist er zunächst nicht verfügbar. Taschenbuch, E-Book und Hörbuch erscheinen einige Wochen später im amerikanischen Verlag Vintage und werden dann auf allen Kanälen verkauft. Da die britische Ausgabe schon jetzt im deutschsprachigen Raum verfügbar ist, kann auch Kiepenheuer & Witsch den Roman vertreiben. (FD)

 




Reisen durch ein fantastisches Universum: Vor 100 Jahren wurde Stanislaw Lem geboren

Als Science-Fiction-Autor wollte er sich nicht gerne bezeichnen lassen, aber auf diesem Feld hat sich Stanislaw Lem einen unsterblichen Namen gemacht. Vor 100 Jahren, am 12. September 1921, im damals noch polnischen Lemberg geboren, hat er originelle Werke voll Humor und visionärer Kraft geschrieben, die laut Wikipedia in 57 Sprachen übersetzt und über 45 Millionen Mal verkauft wurden.

Die Werke von Stanislaw Lem erscheinen im Suhrkamp-Verlag, so auch der Roman „Die Stimme des Herrn“. (Cover: Suhrkamp Verlag)

Zu seinen bekanntesten Büchern zählt der Roman „Solaris“, der drei Mal verfilmt und von Michael Obst, Detlev Glanert und Dai Fujikura auch zum Opernstoff erkoren wurde. Stanislaw Lem hatte gerade begonnen, Medizin zu studieren, als die Deutschen in Lemberg einmarschierten. Während des Krieges gelingt es ihm, seine jüdische Herkunft zu verschleiern; er arbeitet als Mechaniker und Schweißer für eine deutsche Firma. Bis auf Vater und Mutter wurde seine Familie Opfer des Holocausts. Wehrmacht und Rote Armee, Sowjets und Deutsche: Die Erfahrung willkürlicher Gewalt und der zerstörerischen Katastrophe der Besatzungszeit in Polen prägten ihn.

1946 zieht er aus seiner nun sowjetisch besetzten Heimat nach Krakau und studiert weiter. Da er sich weigert, im Abschlussexamen Antworten im Sinne der stalinistischen Ideologie zu geben, fällt er durch und geht, da er nicht als Arzt arbeiten kann, in die Forschung.

In dieser Zeit beginnt seine schriftstellerische Arbeit. 1946 erscheint in einer Zeitschrift „Der Mensch vom Mars“. Lem spricht darin bereits Themen an, die in späteren Werken bedeutsam werden sollten: Das Wesen vom Mars ist eine Kombination aus einem organischen Gehirn und einer atomgetriebenen Maschine, ungeheuer fremdartig, ohne Gefühl und Empathie, aber nicht bösartig. Die Menschen, die es untersuchen, haben jedoch kein Interesse an der Persönlichkeit des Außerirdischen; es gelingt ihnen keine dauerhafte Kontaktaufnahme.

Unbegreiflich andersartige Intelligenz

Diese Unfähigkeit, mit unbegreiflich andersartigem Leben, mit unverständlicher Intelligenz umzugehen, ist auch in „Solaris“ ein bestimmendes Thema. Dort umfließt ein riesiges Wesen wie ein Ozean einen ganzen Planeten. Ewig alleine, versucht es, mit den Menschen in Kontakt zu treten, die es entdeckt haben und die seit Generationen versuchen, das offenbar denkende Plasmameer zu erforschen. Lem verweigert sich in diesem wie in anderen Romanen einfachen Lösungen, aber die offen bleibende, dennoch sehr bewegende Begegnung des Psychologen Kelvin mit dem Wesen deutet den utopischen Moment eines Kontakts an.

Mit dem in viele Sprachen übersetzten Roman „Die Astronauten“ gelingt Lem 1951 ein Erfolg, der es ihm ermöglicht, als freischaffender Autor zu leben. Das Buch erschien drei Jahre später in der DDR auf Deutsch als „Der Planet des Todes“. Eine Expedition zur Venus entdeckt dort die Reste einer aggressiven Zivilisation, die sich selbst vernichtet hat, bevor sie ihren Plan, alles Leben auf der Erde auszulöschen, in die Tat umsetzen konnte. „Wesen […], die sich die Vernichtung anderer zum Ziel setzten, tragen den Keim des eigenen Verderbens in sich – und wenn sie noch so mächtig sind“, schreibt Lem über sein Buch, das er später selbst als „naiv“ bezeichnet hat.

Nachdenken über technologischen Fortschritt

Aber die gesellschaftlichen Probleme und Visionen, die Lem auch in Romanen wie „Eden“ (1959) oder dem Zukunfts-Szenario „Fiasko“ (1986) in fantastische Welten überträgt, fesseln den Leser und lassen über die Folgen unseres zivilisatorischen und technischen Fortschritts nachdenken. Lem nimmt schon früh etwa mögliche Folgen neuer Kommunikationstechnologien in den Blick. Über die Epoche der Neuro- und Gentechnologie und die Verbindung von Mensch und Maschine sagt er in einem Interview kurz vor seinem Tod 2006: „Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir ein bisschen graut.“

Stanislaw Lem hat es virtuos verstanden, ungewöhnliche philosophische Fragen, Probleme der technologischen Entwicklung und kühne Gedankenexperimente in seine Art von „Science Fiction“ einzubeziehen. Doch er ist auch Autor von geradezu prophetischer Sachliteratur wie der „Dialoge“ (1957) oder der „Summa technologiae“ von 1964, in der er sich bereits mit „virtual reality“ und Nanotechnik beschäftigt.

Zwischen 1982 und 1988 lebt Lem nicht im krisengeschüttelten Polen, sondern als hochgeachteter Autor in Berlin und Wien. Seine Kurzgeschichten, Anthologien und Romane finden in den siebziger und achtziger Jahren in beiden Teilen Deutschlands breite Resonanz, so etwa die „Robotermärchen“, der „Futurologische Kongress“ oder „Der Unbesiegbare“. Figuren wie der Raumfahrer Ijon Tichy, der Pilot Pirx oder die beiden skurrilen Robot-Konstrukteure Trurl und Klapaucius bevölkern sein Universum, in dem Humor und Satire nicht zu kurz kommen, aber auch – wie in der Erzählung „Terminus“ – bisweilen eine kaum zu fassende, unheimliche Atmosphäre entsteht, die Lem selbst so beschreibt: „Obwohl in dieser Erzählung keine Gespenster vorkommen, sind sie dennoch da.“

Persönliche Empfehlungen? Unheimlich und faszinierend zugleich, wie in „Der Unbesiegbare“ unscheinbare, harmlose Maschinenteilchen zu einer unüberwindlichen Macht zusammenwachsen. Höchst amüsant und geistreich, wie in den „Robotermärchen“ ein Elektrodrachen besiegt wird. Wen heute bei „Alexa“ oder „Siri“ im smart durchdigitalisierten Home leises Unbehagen befällt, sollte unbedingt mit der dümmsten vernunftbegabten Waschmaschine der Welt Bekanntschaft schließen. Immer wieder ins Nachdenken führend, wie fremdartig Lem außerirdisches (intelligentes) Leben erfindet und beschreibt, etwa in „Solaris“. Und eine bittere Abrechnung mit der menschlichen Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen ist „Die Stimme des Herrn“, spröde zu lesen, aber ein Buch, das den Verstand fliegen lässt.




Sonneborn steigt in den Wahlkampf ein – mit 99 launigen Ideen und einigen „Bonustracks“

Es ist angeblich Wahlkampf – und da führt man sich schon mal ein politisch angehauchtes Büchlein zu Gemüte. Angehaucht? Naja, schon durchdrungen.

Der mittlerweile weithin bekannte Martin Sonneborn („& seine politische Beraterin“, Claudia Latour) stemmen „99 Ideen zur Wiederbelebung der politischen Utopie“. Ausweislich des Covers ist hier das Kommunistische Manifest durch Streichung von „munist“ das komische Manifest geworden. Man ist schließlich der Satire verpflichtet, so ungefähr vom Geiste der „Titanic“.

Und was steht drin? So allerlei. Und es scheint, als werde hier nichts, aber auch gar nichts ernst genommen – vielleicht erst einmal ein ratsamer Zugriff in diesen Zeiten. Alle bestehenden Parteien (außer Sonneborns „Die Partei“, versteht sich) seien überflüssig, heißt es sogleich. Alles nur öde Realisten, die unentwegt öde Realpolitik betreiben. Auch die Grünen kommen in dieser Hinsicht nicht besonders gut weg. Im Laufe der Lektüre wird sich zeigen, dass eben doch ein paar grundlegende Forderungen erhoben werden, die nicht nur spaßig gemeint sind.

Vorschläge gibt’s, die nicht ganz von der Hand zu weisen sind: Wenn die Regierenden schon so viele Aufgaben an teure Berater auslagern, warum dann nicht gleich zwischen den Beratern wählen? Außerdem (kleine Auswahl): resolute Mütter ins Parlament! Überhaupt: mehr Berufe in den Bundestag! Vakzin-Patente freigeben! Minister durch preiswertere Osteuropäer ersetzen! Tempolimit sofort! Komplette Abschaffung des Adels! Facebook & Co. „fairstaatlichen“! Schulunterricht erst ab 10 Uhr! Keine Bankenrettung mit Steuergeld! Vor allem aber: bedingungsloses Grundeinkommen! Weg mit der Schufa! Armut verbieten, Reichtum hart besteuern!

Klingt ziemlich radikal im Sinne von „an die Wurzel(n)“ gehend, oder? Verabreicht werden die meist knackig kurzen Lektionen ausgesprochen launig, ein mehr oder weniger kalauerndes Wortspielchen (statt GroKo etwa „GroKo Haram“) ist allemal drin. Über die praktische Umsetzung der Utopie muss man sich als Satiriker ja nur bedingt Gedanken machen. Das wäre ja öde Realpolitik.

Wer die auf dem Titel verheißenen „99 Ideen“ absolviert hat, ist mit dem Buch noch nicht durch. Es folgen nämlich noch „33 Bonustracks“ von ähnlichem Kaliber. Noch ein paar Kostproben: Die Menschen für Theaterbesuche bezahlen – nach dem Vorbild der alten Griechen! (Soll gegen Verblödung helfen). Weg mit dem Massentourismus! Jedwede Religion sei Privatsache! Cannabis legalisieren, Privatisierungen rückgängig machen, Chaos Computer Club (CCC) soll für die Digitalisierung zuständig sein! Wenn Christian Lindner das liest, fällt er vom neoliberalen Glauben ab. Oder auch nicht.

Genug! Man muss das beileibe nicht alles unterschreiben, aber insgesamt hat das Buch etwas Erhellendes und Anregendes. Endlich mal beherzter Klartext in diesem bislang so müden Wahlkampf. Bleibt aber wahrscheinlich auch herzlich folgenlos.

Kleine Nebenbemerkung: Joseph Beuys wird als vermeintlich vorbildlicher Erz-Demokrat nach meinem Empfinden zu bruchlos gepriesen. Neuerdings wird sein Schaffen doch in anderen Kontexten und durchaus kritischer diskutiert. Nachvollziehbar hingegen die Loblieder auf Wikileaks und das umtriebige, leider so früh verstorbene Kreativ-Genie Christoph Schlingensief. Jammerschade, dass er nicht mehr ins Geschehen eingreifen kann.

Martin Sonneborn (& seine politische Beraterin): „99 Ideen zur Wiederbelebung der politischen Utopie“. Kiepenheuer & Witsch (KiWi-Taschenbuch). 192 Seiten, 10 Euro.




Wie die Kunst auf die Industrialisierung reagierte – „Vision und Schrecken der Moderne“ in Wuppertal

Conrad Felixmüller: „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ (1927). Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Mit einem Stipendium ausgestattet, hätte der Künstler Conrad Felixmüller nach Rom reisen können, doch er hat sich fürs Ruhrgebiet entschieden und dort – beispielsweise – das Ölbild „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ (1927) gemalt. Felixmüller war sichtlich fasziniert vom gigantischen Industriebetrieb, dessen stählerne Kolosse geradezu erhaben aufragen. Sein Bild kündet visionär vom Werden einer neuen Zeit.

Ganz anders zeigt Hans Baluschek die Folgen der Industrialisierung im Revier, so etwa mit seinem Bild „Arbeiterinnen (Proletarierinnen)“ von 1900. Viele, viele Frauen verlassen bei Schichtende das Werksgelände, sie kommen auf die Betrachtenden zu. Die elend gleichmacherischen Lebensumstände haben ihnen einen Großteil ihrer Individualität geraubt, nur noch bei näherem Hinsehen nimmt man kleine Unterscheidungs-Merkmale wahr. Ansonsten sind sie zur gesichtslosen Masse geworden. Ebenfalls ärmlich, aber schon selbstbewusster wirken einige Jahre später Baluscheks „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“ (1913).

Hans Baluschek: „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“, Aquarell, 1913 (Deutsches Bergbau-Museum, Bochum)

Zwischen solchen Gegensatz-Polen und etlichen Nuancen mehr bewegt sich die Wuppertaler Ausstellung „Vision und Schrecken der Moderne“, die vor allem mit Eigenbesitz des Von der Heydt-Museums (aber auch prägnanten Leihgaben, z. B. aus dem Dortmunder LWL-Industriemuseum) aufwartet, künstlerische Antworten auf die Industrialisierung in den Blick fasst und mit wenigen Ausläufern bis in die Gegenwart reicht.

Die Öffnungszeiten der Schau stehen unter Corona-Vorbehalt. Derzeit (Stand 26. März) bleibt das Museum vorerst weiter geöffnet – siehe auch den Nachspann dieses Beitrags. Auf jeden Fall gilt: vorher informieren!

Zurück zur Ausstellung, die sich durch acht Räume im ersten Obergeschoss zieht und im Rahmen einer Zoom-Videokonferenz von Beate Eickhoff (im Kuratorinnen-Team mit Antje Birthälmer und Anna Storm) vorgestellt wurde. Also kann ich leider noch nicht aus unmittelbarer Anschauung berichten.

Carl Wilhelm Hübner: „Die schlesischen Weber“, 1844 (Kunstpalast Düsseldorf)

Der einstweilen virtuelle Rundgang beginnt u. a. mit Carl Wilhelm Hübners Gemälde „Die schlesischen Weber“ von 1844, das eine Szene am Vorabend des berühmten Weberaufstands vergegenwärtigt. Fabrikant Zwanziger und sein Sohn mäkeln über die angeblich schlechte Qualität der angelieferten Heimarbeits-Tuchware, werfen sie achtlos zu Boden oder aschen gar verächtlich mit der Zigarre darauf ab. Verzweifelte Heimarbeiter und ihre Familien sind zu sehen, aber auch zwei Männer rechts im Hintergrund, die offenbar schon den Aufstand im Sinn haben. Ein historisch bedeutsamer Moment, der auf die Entstehung des Proletariats und des Sozialismus vorausweist. Aus derselben Zeit stammt Wilhelm Kleinenbroichs Bildnis „Kölnische Zeitung (Der Proletarier)“ von 1845. Dem Arbeiter kommen nach der Lektüre eines Artikels über die Gesindeordnung die Tränen. Es sieht aus, als könnte er alsbald einen Entschluss zur Gegenwehr fassen.

Kein Geringerer als Friedrich Engels (am 28. November 1820 im späteren Wuppertaler Ortsteil Barmen geboren), sonst eher der Literatur als den bildenden Künsten zugeneigt, hat übrigens just Hübners Weber-Bild gekannt und sehr geschätzt. Die ganze Ausstellung hätte ja auch im November des „Engels-Jahres“ 2020 beginnen sollen, woraus aber wegen Corona nichts wurde. Immerhin kann die Dauer der Schau nun bis zum 11. Juli 2021 verlängert werden. Die Leihgeber zeigen sich geduldig.

Einleitende Akzente setzen auch einige Arbeiter-Skulpturen, deren Urheber sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch an antiken Vorbildern ausrichten und traditionelle „Helden der Arbeit“ (bevorzugt Schmiede) darstellen. Bisweilen werden auch kräftige Arbeitsmänner nach dem Vorbild eines Adonis gestaltet. Zu nennen wären etwa Bernhard Hoetgers „Tauzieher“ (1902) oder Wilhelm Lehmbrucks „Steinwälzer (Die Arbeit)“ (1904). Hier waltet ein ganz anderer Geist als etwa in den Schriften von Marx und Engels, die den ausgebeuteten Proletarier nicht als Heros, sondern eher als zerlumpte, verzweifelte und nicht selten dem Alkoholismus verfallene Figur gesehen haben.

Bemerkenswert die schon von ziemlich zahlreichen Schloten durchsetzten Industrie-Landschaftspanoramen von Elberfeld und Barmen (Wuppertals Vorläufer als „Das deutsche Manchester“), die allerdings noch als herkömmliche Idyllen aufgefasst sind. Gesellschaftsporträts des regionalen Großbürgertums zeigen zudem, dass die höheren Herrschaften hierzulande zwar wahrlich im Wohlstand lebten, aber noch längst nicht so mit ihrer Habe prunken konnten wie die Pendants im industriell avancierten England.

Und so geht es weiter durch die Jahrzehnte, mit sehenswerten Arbeiten etwa von Marianne von Werefkin oder Max Beckmann („Die Bettler“, 1922); mit Bildern der furchtbaren Not von Käthe Kollwitz, Max Klinger und Heinrich Zille; mit bissig-aggressiven Anklagen von Georg Scholz („Industriebauern“, 1920) und Otto Dix (Blätter aus der Mappe „Der Krieg“), der die Industrialisierung des Krieges in aller Drastik ins Bild setzt, beispielsweise mit gespenstischen Gasmasken.

Carl Grossberg: „Der gelbe Kessel“, 1933 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Ganz anders dann ein neusachliches Bild wie „Der gelbe Kessel“ (1933). Der Künstler Carl Grossberg hat es keineswegs auf soziale Verwerfungen abgesehen, sondern offenkundig Auftragskunst im Sinne einer Ästhetisierung industrieller Apparaturen verfertigt. Noch einmal mit gänzlich verschiedenem Ansatz gingen die „Kölner Progressiven“ zu Werke. Die bekennenden Marxisten gaben sich im Dienst der sozialistischen Utopie ausgesprochen abgeklärt, emotionslos und unsentimental. Sie arbeiteten an einer stark vereinfachten, allgemein verständlichen Bildsprache des neuen Industrie-Zeitalters, die bei Gerd Arntz in flugschriftentauglichen Piktogrammen gipfelt (z. B. „Fabrikhof“, 1926). Doch wirken diese gewollt modernen Menschen nicht auch reichlich steril und gar zu „bereinigt“?

Berühmte Positionen der Industrie-Fotografie (Albert Renger-Patzsch, Bernd und Hilla Becher) dürfen in diesem Kontext nicht fehlen, sie setzen die industriellen Bauwerke geradezu skulptural in Szene, allerdings auf ganz unterschiedliche, mal monumental imposante, mal nüchterne Weise.

Schließlich die nur spärlich vertretene Gegenwartskunst. Hier knüpft Andreas Siekmann an die erwähnten Piktogramme von Gerd Arntz an. Einfach ist zwar die Bildsprache, einigermaßen kompliziert sind jedoch die konstruierten Zusammenhänge und Hintergedanken. Im Spätkapitalismus sind die Verhältnisse eben nicht einfacher geworden.

„Vision und Schrecken der Moderne“. Industrie und künstlerischer Aufbruch. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Bis 11. Juli 2021.

Vorerst weiter geöffnet

Update: Nach jetzigem Stand (26. März) bleibt das Museum vorerst geöffnet. Die Stadt Wuppertal will die „Notbremse“ – trotz einer Corona-Inzidenz von rund 170  – (noch) nicht ziehen und stützt sich auf eine Test-Strategie, sprich: Zutritt zu Geschäften („Click & Meet“) und Museen ist mit negativem Schnelltest vom selben Tag möglich.

Im Falle der weiteren Öffnung (Online-Tickets mit Zeitfenster, bitte unbedingt erkundigen): Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12 Euro. Katalog 24,50 Euro.

Telefon: 0202/563-6231

www.von-der-heydt-museum.de

 




Bedeutsam wie eh und je: George Orwells „Farm der Tiere“ gleich in zwei neuen Übersetzungen

„Kein Tier soll seinesgleichen je tyrannisieren. Schwach oder stark, schlau oder schlicht, wir sind alle Brüder. Kein Tier soll je ein anderes töten. Alle Tiere sind gleich.“ Mit diesem Schlachtruf beginnt der Aufstand der Tiere gegen die Unterdrückung der Menschen. Doch schnell gerät die Revolution aus dem Gleis.

Die Manesse-Ausgabe (Übersetzung: Ulrich Blumenbach). (© Manesse)

Statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gibt es Terror, „Säuberung“ und Diktatur auf der „Animal Farm“, auf der die Schweine die Macht ergreifen und alle anderen Tiere versklaven: George Orwells „Farm der Tiere“ ist ein böses Märchen, eine Abrechnung mit der stalinistischen Pervertierung des Sozialismus. Jetzt sind gleich zwei neue deutsche Übersetzungen des 1945 veröffentlichten Romans erschienen.

Weltliteratur von gnadenloser Präzision

Wenn wir die „Farm der Tiere“ nur als wütende Abrechnung eines frustrierten Sozialisten mit der Einparteien-Diktatur Stalins lesen und hinter jedem Tier nur das Abbild eines realen Menschen suchen, dann bräuchte es wohl auch keine neue Übersetzung. Aber die „Farm der Tiere“ ist ein großes Stück Weltliteratur: perfekt konstruiert, sprachlich schillernd, politisch visionär, zeitlos aktuell. Orwell zeigt uns mit gnadenloser Präzision, wie schnell die schönsten Träume zerplatzen, die buntesten Wunschbilder von skrupellosen Demagogen in ihr Gegenteil verkehrt werden, wie Populismus funktioniert und Propaganda die Hirne vernebelt, wie sich Angst und Anpassung ausbreiten, wenn Gehirnwäsche und Säuberungswellen jeden Widerstand im Keim ersticken und Verschwörungstheorien die Wirklichkeit ersetzen.

Natürlich steht der fiese Eber „Napoleon“ für Stalin, das kluge Schwein „Schneeball“ für Trotzki, das arbeitssame Pferd „Boxer“ und der duldsame Esel „Benjamin“ stehen für die gutgläubige Arbeiterklasse, die blutlechzenden Hunde für die Geheimpolizei, die blökenden Schafe für das leicht manipulierbare Fußvolk: aber sie sind nicht nur Fabelwesen, sondern stimmige Archetypen, prägnante Charaktere, die uns glaubhaft von Machtmissbrauch und Lüge, Verrat und Mord erzählen. Es ist der wohl wichtigste politische Roman des letzten Jahrhunderts und zugleich das Buch der Stunde, das sprachlich immer geschliffen und geschärft und auf den neuesten Stand gebracht werden sollte.

Die dtv-Ausgabe (Übersetzung: Lutz-W. Wolff). (© dtv)

Als Kritik an Stalin in England verpönt war

Orwell hatte eigene Erfahrungen mit dem langen Arm Stalins und war der Überzeugung, dass der Sozialismus nur zu retten ist, wenn man bereit ist, Fehler einzugestehen und die Sowjetunion rücksichtslos zu kritisieren: „Seit gut einem Jahrzehnt habe ich den Eindruck“, schrieb Orwell in einem Essay, „dass das jetzige russische Regime überwiegend böse ist, und ich bestehe auf dem Recht, das laut zu sagen, auch wenn die UdSSR unser Verbündeter in einem Krieg ist, in dem ich unseren Sieg herbeisehne.“

Genau das aber war das Problem: Die meisten englische Intellektuellen, Verleger und die Politiker wollten keine Kritik an Stalin zulassen, niemand mochte den Verbündeten verärgern, man hatte sich wehrlos der sowjetischen Propaganda ausgeliefert und wollte von Säuberungen und Schauprozessen nichts hören.

Orwell wusste, wovon er sprach. Als Freiwilliger hatte er am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen und in einer trotzkistischen Miliz gegen die Faschisten gekämpft. Aber der Einfluss Stalins reichte bis nach Barcelona und führte dazu, dass alle Trotzkisten von ihren sowjettreuen Mitkämpfern verfolgt, vertrieben, ermordet wurden. Orwell konnte sich in letzter Minute nach England retten, doch keiner wollte ihm glauben, niemand wollte seinen Augenzeugenbericht „Hommage an Katalonien“ lesen, und auch als er seinen Roman „Farm der Tiere“ seinem Verleger zeigte, lehnte der auf Anraten der Zensurbehörden ab, ihn zu drucken. Orwell war geschockt von der intellektuellen Feigheit in England und wollte den Roman auf eigene Faust im Selbstverlag herausbringen, doch dann war der Heiße Krieg vorbei und wurde schnell zum Kalten Krieg – und der Roman konnte endlich erscheinen.

Eine Fassung ist deutlich eleganter

Es ist Geschmacksache, welche der beiden neuen Übersetzungen man bevorzugt, manche mögen es exakt, andere poetisch, mache bestehen auf Worttreue, andere schätzen den freien Umgang mit der Vorlage. Man muss nicht gleich tief ins sprachliche Unterholz des politisch komplexen Romans kriechen, es reicht schon, sich den ersten Absatz anzusehen, also den letzten friedlichen Moment, bevor der Aufstand der Tiere losbricht.

In der Version von Lutz-W. Wolff liest man: „Mr Jones von der Manor Farm hatte die Hühnerställe für die Nacht abgesperrt, aber er war zu betrunken, um daran zu denken, die Auslaufklappen zu schließen. Der Lichtkreis seiner Laterne tanzte von einer Seite zur anderen, als er über den Hof schwankte und an der Hintertür seine Stiefel abschüttelte. Er zapfte sich noch ein letztes Bier vom Fass in der Spülküche und machte sich auf den Weg nach oben ins Bett, wo Mrs Jones bereits schnarchte.“

Bei Ulrich Blumenbach heißt es dagegen: „Mr. Jones von der Herrenfarm verriegelte die Hühnerställe zur Nacht, er war so betrunken, dass er vergaß, die Klappen zu schließen. Der Lichtkegel seiner Laterne sprang hin und her, als er über den Hof torkelte, an der Hintertür die Stiefel abstreifte, sich am Fass in die Spülküche ein letztes Bier zapfte und die Treppe hoch ins Bett ging, wo Mrs. Jones schon schnarchte.“

Die Fassung von Ulrich Blumenbach ist eleganter, moderner, flüssiger als die etwas holzige und beflissene von Lutz-W. Wolff. In der Ausgabe von dtv schreibt Ilija Trojanow ein Vorwort, reist in Gedanken auf die schottische Insel, auf der Orwell zurückgezogen lebte und am Roman schrieb. Trojanow macht einen Nachfahren von Esel Benjamin ausfindig und diskutiert mit ihm über die Revolution, die für viele Beteiligte im Gulag endete: Der Kunstgriff soll keck und witzig sein, ist aber selbstverliebt und nervig.

Einfühlsames Nachwort von Eva Menasse

Beim Manesse-Verlag (Blumenbach-Übersetzung) verfasste Eva Menasse ein Nachwort,  sie stellt sich ganz in den Dienst des Buches, beschreibt einfühlsam die Faszination des Romans, die Leiden des Autors und die zeitlose Aktualität des tierischen Märchens. Während dtv noch viele Anmerkungen und eine Zeittafel mit Lebensdaten und Werken von Orwell auflistet, präsentiert der Manesse-Verlag zwei spannende Aufsätze: einen Essay über die von Selbstzensur und Opportunismus bedrohte Pressefreiheit sowie einen subversiven Text, den Orwell für eine ukrainische Ausgabe verfasst hat.

Doch für welche Aufgabe man sich auch entscheidet: Wenn die Tiere mitansehen müssen, wie ihre schweinischen Anführer wieder mit den verhassten Menschen gemeinsame Sache machen, hat der Roman nichts von seinem Schrecken verloren,: „Die Geschöpfe draußen sahen von Schwein zu Mensch, von Mensch zu Schwein und wieder von Schwein zu Mensch, aber es ließ sich schon nicht mehr sagen, wer was war.“ Da kann einem angst und bange werden.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Nachwort von Eva Menasse. Manesse Verlag, München 2021, 192 Seiten, 18 Euro.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Vorwort von Ilija Trojanow. dtv, München 2021, 192 Seiten, 20 Euro.




Es wimmelt die Revier-Kultur – und alles ist so wunderbar

Für den ersten Überblick: Einleitende Doppelseite des Bandes, auf der es noch nicht so wimmelt, wie auf den nachfolgenden. (Bild: © Klartext-Verlag / Junior Klartext / Zeichnung Jesse Krauß)

Ah, Wimmelbücher! Die enthalten doch jene klein- bis kleinstteilig gezeichneten Tableaus, auf denen man immer und immer wieder noch etwas Neues, bisher Unbeachtetes entdecken kann. So auch im Band „Unterwegs im Ruhrgebiet“, der sich im Untertitel „Das große Wimmelbuch der Ruhr-Kultur“ nennt und vor allem (aber nicht nur) Kinder ansprechen soll.

Blättert man ein wenig auf den 22 großen Pappseiten hin und her, wird einem schon bald klar, dass etwaige Mängel der Region konsequent ausgespart sind: Hier wird geschwelgt – in Fülle und Vielfalt der Kulturstätten sowie in touristischen Attraktionen des Reviers. Dazwischen tummeln sich zuhauf die wunderbaren, stets vergnügten und allzeit kreativen Menschlein, die hier gut und gerne leben. Da könnten die Leute aus Stuttgart und München ganz schön neidisch werden. Von Berlin ganz zu schweigen.

Die Attraktionen liegen hier ganz nah beieinander

Natürlich rücken, um derlei Wow-Effekte zu erzielen, die lohnenden Locations ganz eng zueinander, da befindet sich die riesige Essener Weltkulturerbe-Zeche Zollverein beispielsweise direkt neben dem gleichfalls gigantischen Oberhausener Ausstellungsort Gasometer und dem LWL-Archäologiemuseum in Herne. Das ist nicht so ganz realistisch. Zwar gibt es in dieser Region wirklich etliche kulturelle Anziehungspunkte. Doch in Wahrheit muss man sich, um diese Orte hintereinander zu erreichen, mit oft unzureichenden Nahverkehrsplänen und mangelhaften Verbindungen herumschlagen; es sei denn, man zöge den Stau auf der A 40 oder der A 42 vor. Okay, das war jetzt nicht falsch, aber gemein – und für Kinder wohl erst mal zweitrangig (abgesehen vom notorischen Rücksitz-Gequengel „Wann sind wir endlich da-haa?!“).

Ein Ansatzpunkt der genregemäß detailfreudig gezeichneten und kolorierten Szenarien (fleißiger Urheber: Jesse Krauß) ist die kunterbunt illuminierte „Extraschicht“ als alljährliche Leistungsschau zur Revierkultur. Da waren natürlich bis tief in die Nacht Sonderbusse unterwegs und alles war ganz prima in der problemfreien Zone Ruhrgebiet.

Im Geiste des Regionalverbands Ruhr

Die kurzen Begleittexte dürften dem städteübergreifenden Regionalverband Ruhr (RVR) ausnehmend gut gefallen. Das Verbandsgebäude nimmt denn auch in den Zeichnungen einen prominenten Platz als planerisches Hauptquartier ein. Auch hierzu könnte man etwas anmerken, aber lassen wir das an dieser Stelle. Statt dessen zitieren wir diese Lobhudelei: „Der Regionalverband Ruhr ist das, was die elf Städte und vier Kreise der Metropole seit 1920 zusammenhält. Herzlichen Glückwunsch zum 100. Geburtstag!“

Nur zur Klarstellung: 1920 hieß das Gebilde noch nicht Regionalverband Ruhr, sondern anfangs noch Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk und von 1979 bis 2004 Kommunalverband Ruhrgebiet. Egal. Das interessiert draußen im Lande die Wenigsten, vor allem nicht die Kinder; auch dürften die es nicht gar so aufregend finden, dass RVR-Verbandsdirektorin Karola Geiß-Netthöfel auf einem Bild dem Bundespräsidenten Steinmeier (sicherlich vor Corona!) die Hand reicht. Oder ist das nur eine Halluzination? Auch nicht so wichtig.

Titelseite des besprochenen Buches (Bild: © Klartext-Verlag)

Das Ruhrgebiet erscheint hier generell als das, was es immer noch nicht ist: als vereinigte „Ruhrstadt“, von der man beim RVR seit vielen Jahren träumt. Freilich: Der Regionalverband und die Funke-Mediengruppe (zu der wiederum der Klartext-Verlag gehört) residieren in Essen – und so erscheint diese Stadt auch hier als Kraftzentrum des gesamten Reviers. Folglich hat etwa das Kreativ- und Museumszentrum „Dortmunder U“ im Osten des Ruhrgebiets einen vergleichsweise kleinen Auftritt. Aus der Essener Perspektive ist halt auch das Schalke-Hemd mal wieder näher als der BVB-Rock. Apropos Religion: Dem Essener Ruhrbistum ist eine eigene Doppelseite gewidmet. Halleluja!

Riskante Fahrt durch Gelsenkirchen-Ückendorf

Vom spezifischen Reiz eines Wimmelbuchs haben wir unterdessen noch gar nicht gesprochen. Hier kann man sich auf Bildersuche begeben. Welche Orte und Gebäude erkennt man? Welche Figuren oder Konstellationen tauchen auf verschiedenen Seiten wiederholt auf? Gibt es etwa „running gags“ oder sonstige Kreuz- und Querbezüge? Wo haben sich lustige Tiere versteckt? Und so fort. Na, dann sucht mal schön!

Nicht alles ist unbedingt nachahmenswert. Was soll man zum Beispiel vom tollkühnen Skater halten, der auf äußerst schmaler Spur zwischen Bus und Straßenbahn dahersaust? Und was ist mit dem Mädchen, das am Metallgeländer turnt und dabei fast vor den Linienbus tritt? Geht’s denn in der Bochumer Straße von Gelsenkirchen-Ückendorf „in echt“ so riskant zu?

Am Ende ist das Ganze ein utopisches Projekt

Das generelle Erscheinungsbild ist jedenfalls bis in die Einzelheiten durchweg positiv: Das Revier ist demnach durchzogen von veritablen Radfahrer*innen-Autobahnen, herrlich durchgrünt und reich an sauberen Gewässern aller Art, vom Baldeneysee bis zum lieblich renaturierten Emscher-Fluss. Bewohnt wird die kulturgesättigte Gegend von lauter genuss- und lesefreudigen Menschen, zudem ist sie ein Hort von Bildung und Wissenschaft, doch auch der musealen Besinnung – nicht zuletzt aufs eigene Erbe der allerdings gründlich überwundenen Zechen- und Stahl-Ära. Dazu urige Stadtviertel, quicklebendig urbane Quartiere – was will man mehr?

Ach, wer in dieser menschenfreundlichen, ökologischen, gewiss klimaneutralen Stadtlandschaft wohnen könnte! Wenn doch das Revier tatsächlich durchweg ein solch bunter Abenteuerspielplatz der Lebensfreude wäre! Insofern erweist sich das Buch im Grunde als utopisches Projekt. So könnte es vielleicht sein, wenn… Ja, wenn.

Jesse Krauß  (Illustrator) / Melanie Kemner (Herausgeberin): „Unterwegs im Ruhrgebiet. Das große Wimmelbuch der Ruhr-Kultur“. Klartext-Verlag, Essen. 22 großformatige Seiten, jeweils ganz- oder doppelseitige Illustrationen mit kurzen Texten. Pappband, 16,95 Euro.




Die Rettung des Planeten kann auch aus Poesie erwachsen: Andri Snær Magnasons aufrüttelndes Buch „Wasser und Zeit“

Wenn ein Thema dieser Zeit global und entsetzlich entgrenzt genannt werden kann, dann das wohl dringlichste überhaupt: der Klimawandel. Es ist denn auch viel mehr als ein „Thema“ unter anderen, es geht ja um die ganze Existenz des Planeten und unseres Daseins.

So darf es auch nicht verwundern, dass der isländische Autor Andri Snær Magnason für sein streckenweise aufrüttelndes Buch eine geradezu verwegene Mixtur anrührt, indem er beispielsweise vorzeitlichen und immer noch nachwirkenden Bezügen zwischen seiner karstigen Heimat und dem Himalaya nachspürt. Dermaßen auffällig erscheinen ihm landschaftliche, spirituelle und mystische Querverweise, dass es kein Zufall mehr sein könne, sondern höherer und tieferer Sinn darin liegen müsse, der jede dürre Schulweisheit übersteigt oder jedenfalls überhöht. Nicht nur mit Daten, sondern auch und vor allem mit Dichtung lasse sich vor Augen führen, wie schön das Verlorene war und wie ernst die jetzige Situation ist.

„Mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite“

Der ungemein vielseitige Schriftsteller Magnason (Kinderbücher, Theaterstücke, Lyrik, Romane, Sachbücher), der auch schon mal bei der Präsidentschaftswahl seines Landes kandidiert hat, findet, dass wir noch gar keine adäquate Sprache gefunden haben für die drohenden Katastrophen, die ihn wiederum an die altisländischen Vorstellungen vom Ragnarök (Weltuntergang) gemahnen. Elemente der geistesgeschichtlich überlieferten „Romantik“, Naturanbetung und beseeltes Erzählen scheinen nach seiner Ansicht hierbei entschieden weiter zu führen als nur rationale Betrachtungen oder prognostische Berechnungen. In poetischer Diktion wird ein Gletscher-Erlebnis vollends überwältigend, so heißt es etwa in einem Text des Romantikers Helgi Valtysson: „Und dein Selbst verschmilzt wie eine bebend erklingende Saite mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite…“ Für Magnason ist es keine Frage mehr, dass dieses Gefühl und seine natürliche Grundlage bewahrenswert sind. Freilich ließe sich das alles auch als Esoterik denunzieren, aber es gibt ungleich Wichtigeres zu tun.

Nach einer passenden Sprache suchen

Traditionelle isländische Sprechgesänge, noch von den Großeltern des Autors überliefert, korrespondieren mit einer damals noch recht intakten Natur, vor allem mit den mächtigen Gletschern, die nun längst dahinschmelzen; ein höchst beunruhigendes Phänomen, das abermals auf die Himalaya-Region bezogen wird, wo das Leben vieler Millionen Menschen vom alljährlichen Zyklus des Gletscherwassers abhängt. Wasser und Zeit…

An einem etwas anders gelagerten Beispiel sucht Magnason zu erläutern, wie Menschen ihre Lage gar nicht begreifen können, wenn sie keine passenden Worte für akute Zustände haben. So habe schon um 1809 der dänische Abenteurer Jørgen Jørgensen den Isländern erzdemokratische Freiheitswerte und Unabhängigkeit gepredigt, doch das Volk habe überhaupt nicht gewusst, wovon er da redete – und sei der dänischen Fremdherrschaft hörig geblieben.

„Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe“

Das Buch führt in die Frühzeit der isländischen Gletscherforschung in den 1930er Jahren, die wiederum verwoben wird mit der Familiengeschichte des Autors, welche auch in andere Bereiche ausgreift. Wer kann schon von sich sagen, dass ein Großvater in die USA ausgewandert ist und dort als Arzt sowohl den Schah von Persien als auch Andy Warhol operiert hat? Wer kann mit Fug behaupten, ein Onkel sei weltweit ein Pionier bei der Rettung nahezu ausgerotteter Krokodile gewesen? Wie heißt es doch auf Seite 139 so allgemeingültig: „Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe…“

Was einem zwischendurch wie bloße Abschweifung erscheinen mag, markiert in Wahrheit wohl die Spannweite der möglichen und (prinzipiell jedem zugänglichen) Lebenserfahrung, die eben potentiell auch rückwärts bis zu den Vorfahren und vorwärts bis zu Kindern und Enkeln reicht. Auch schon vor ergänzender Lektüre begründet dies eine Verantwortlichkeit für den Zustand der Welt. Die fassbare Dimension der Zeit umgreift mehr als das eigene Leben. Diese Einsicht bewirkt, dass man über sich und seine Generation hinausdenkt; dass man gewahr wird, wie sehr die Erde sich seit den Ahnen geändert hat, welche Verluste bereits eingetreten sind. Das Schicksal der Erde dreht sich derweil nicht mehr um zigtausend Jahre, es steht – so der glaubhaft erschreckende Befund – Jahr um Jahr mehr auf dem Spiel, ist vielleicht schon bald unwiderruflich besiegelt.

Welch eine Bürde für die Nachgeborenen!

Von immer neuen Seiten beleuchtet der Autor die gigantische Bedrohung. Gelegentlich scheint das Buch thematisch etwas auszufransen, doch nimmt es auch immer wieder die Hauptspur auf. Der Zufall (oder die Fügung?) wollte es, dass Magnason mehrfach Gespräche mit dem Dalai Lama führen durfte, dessen Weisheit in allen Dingen mit staunenswerter Zuversicht einhergeht, wie denn überhaupt gegen Schluss des Bandes einige Entwicklungen und Forschungen anklingen, in denen Lösungsansätze stecken könnten. Doch es geht eben nicht nur um Forschung, sondern zuallererst um Haltung und Entschlusskraft. Und Magnason ist überzeugt: Die jetzt heranwachsende ist die letzte Generation, die die Erde retten kann. Welch eine Bürde!

Andri Snær Magnason: „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Insel Verlag, 304 Seiten, 24 Euro.

 




Von Unna aus ein wenig die Welt verändern – Nachruf auf den vielseitigen Theatermann Peter Möbius

Peter Möbius (1941-2020). (Foto: Thomas Kersten)

Gastautor Horst Delkus mit einem Nachruf auf den Theatermann, Autor und Grafiker Peter Möbius, den älteren Bruder des legendären Rocksängers Rio Reiser („Ton Steine Scherben“). Peter Möbius hat vor allem in Unna und Dortmund gewirkt.

Ist das nicht der Bruder vom Rio? Ja, er war es. Rios großer Bruder, der mich da vor rund neun Jahren in meinem Büro bei der Wirtschaftsförderung des Kreises Unna aufsuchte. Die Kollegin outete sich als große Verehrerin von Rio Reiser: Das ist mein Lieblingsmusiker. Peter hat es gefreut.  War doch eine solche klammheimliche Liebe von notwendigerweise kapitalfreundlicher Wirtschaftsförderung zu dem exorbitant kapitalkritischen Möbius-Bruder eine ausgesprochen ungewöhnliche.

Was es mit „Hermann von Unna“ auf sich hat

Peter holte damals irgendwelche Unterlagen ab. Es ging um „Hermann von Unna, eine Geschichte aus der Zeit der Vehmgerichte“. Erzählt von Benedicte Naubert, die diesen Roman 1788 (!) veröffentlichte. Die Handlung ist simpel, aber der Roman förderte Unnas guten Ruf Anfang des 19. Jahrhundert in ganz Deutschland: Das Städtchen Unna hat ein wichtiges Salzwerk Königsborn; berühmter  aber ist es durch den viel gelesenen Vehmgerichts-Roman: Hermann von Unna!, schrieb 1834 ein gewisser Carl Julius Weber in seinen „Brief(n) eines in Deutschland reisenden Deutschen“.

Der Roman ist von nicht allzu großer literarischer Qualität. Aber sein Stoff wurde selbst in Schweden und Dänemark aufgegriffen und zu einem Theaterstück umgewandelt. Zu einem Schauspiel in fünf Akten. Mit Chören und Tänzen.

Feuer und Flamme für ein spezielles Vorhaben

Mehr als 200 Jahre später war dieser Stoff für den leidenschaftlichen Theatermann Peter Möbius eine Steilvorlage. Er schrieb mir: „Die Texte der Arien und Chöre sind grauenvoll: „Reim Dich , oder ich fress Dich“. Interessant dagegen sind die musikalischen Regieanweisungen, die Bemerkungen, wo und wie Tanzeinlagen und musikalische Überbrückungen in diesem Schauspiel vorgesehen waren. Du fragst Dich, wie es an der Zeitenwende vom Achtzehnten zum Neunzehnten Jahrhundert zu dieser Modewelle kommen konnte, die sich schwärmerisch dem Mittelalter hingab? Heute, bei uns, nennt man das Ostalgie, wenn die Ossis von vergangenen Zeiten schwärmen (…). Wenn die vertraute Wirklichkeit im Umbruch ist, verklärt sich die Vergangenheit. Das war auch in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert so (…) Das Buch ist ein herrliches und kluges Plädoyer für die Flucht in eine fassbare Fantasiewelt, wenn die Wirklichkeit unfassbar geworden ist. Mehr dazu und was das mit dem Schauspiel „Hermann von Unna“ zu tun haben könnte, ein andermal.“

Peter hatte Feuer gefangen für dieses Projekt. Als ich ihm nachts schrieb, ich hätte endlich die Partitur gefunden für diese Oper, kam seine Antwort prompt. Am nächsten Morgen, kurz nach fünf Uhr: Deine Nachricht beflügelt mich, das Stück abzuschreiben und mit Reinhard Fehling über das Projekt zu reden. Ich kenne sonst niemanden, der so ein musikalisch-theatralisches Vorhaben fachkundig betreuen könnte. Doch das Projekt „Hermann von Unna“ wurde nach diesem kurzen Strohfeuer von uns beiden auf Eis gelegt, nicht weiter verfolgt. Ich bedaure es noch heute.

Argwöhnisch beobachteter Nachlassverwalter

Kennengelernt haben Peter und ich uns Mitte der neunziger Jahre, als ich wirtschaftsförderlich bei der Kreisstadt Unna anheuerte. Peter war für mich von Anfang an mehr als „der große Bruder von Rio“, dem Sängerpoeten, mit bürgerlichem Namen Ralph, dem jüngsten der drei Möbius-Brothers. Und der bekannteste. Als Rio am 20. August 1996 starb, gab es Berlin wenige Tage später zu seinem Abschied ein „Konzert der Freunde“. Ich wäre gerne hingefahren, konnte aber nicht. Aus beruflichen Gründen. Peter schenkte mir den Konzertmitschnitt. Zwei CDs mit Rios Liedern, gesungen von den Rest-„Scherben“, Ulla Meinecke, Marianne Rosenberg, Herbert Grönemeyer und anderen.

Peter wurde mit seinem Bruder Gert Rios Nachlassverwalter. Kein leichter Job, argwöhnisch beobachtet und verbunden mit viel Kritik von Rios ehemaligen Weggefährten und Fans aus der Ton-Steine-Scherben-Zeit. Zum Beispiel dafür, dass sie ein Zeile aus dem Kassenschlager „König von Deutschland“ an einen Elektronikkonzern verkauften, um damit das Rio Reiser-Haus in Nordfriesland als Begegnungsstätte für zwei weitere Jahre finanzieren zu können. Nachlassverwalter war nun weiß Gott nicht der Traumjob dieses Multitalentes, dem es –  das Schicksal vieler Allrounder – leider nicht vergönnt war, mit nur einem Werk oder nur einer Begabung, den ganz großen Durchbruch und die damit verbundene Anerkennung  als Künstler zu erreichen.

Schon mit 16 Jahren Bühnenbild-Assistenz bei Heinz Hilpert

Geboren wurde Peter 1941 in Berlin. Sein Vater war Ingenieur für Kartonverpackungen bei der Siemens AG; da er immer wieder mal versetzt wurde, musste die  Familie mehrmals umziehen. Peters Bruder Gert erinnert sich in seinem Buch „Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser“: „Während ich Lehrling bei der Versicherung war, hatte Peter, nachdem er bei der privaten Kunstakademie März in Stuttgart eingeschrieben gewesen war, mit sechzehn Jahren schon einen Job als Bühnenbild-Assistent am Göttinger Stadttheater, damals noch unter der Intendanz von Heinz Hilpert. Nach seiner Rückkehr nach Schmiden [bei Stuttgart; HD] bewarb er sich bei der Stuttgarter Kunstakademie die Professor Gerhard Gollwitzer, dem Bruder des progressiven Theologen Helmut Gollwitzer und wurde sofort ohne Prüfung aufgenommen.

…und auch noch ein hochbegabter Schauspieler

Die Folge war, dass Rio und mir dieser Bruder immer unheimlicher wurde. Dann bekam er auch noch eine kleine Rolle in dem Film von Frank Wisbar „Hunde, wollt ihr ewig leben“, einem kritischen Stalingradfilm. Mehr ging damals in unserer Familie nicht. Wir alle stürmten das Dorfkino in Schmiden, um zu prüfen, wie künstlerisch nachhaltig unser Familienmitglied den von Kugeln durchsiebten Reichswehrsoldaten darzustellen in der Lage war. Natürlich waren wir einhellig der Meinung, dass Peter das großartig gemachte hatte, und natürlich waren wir felsenfest davon überzeugt, dass er auch in Zukunft andere Rollen glaubwürdig darstellen würde. Eine Schauspielausbildung, diesen teuren Quatsch, so unser Vater, hätte Peter nicht nötig. Von Null auf hundert war er nun nicht nur ein begnadeter Maler, sondern auch ein hochbegabter Schauspieler – am besten Filmschauspieler.“

Später studierte Peter an der Akademie für Bildende Künste in Stuttgart, wo er mit Andreas Weißert Theater spielte. Wohl prägend waren für Peter die jungen Jahre in Nürnberg. Hier gründete er das Comic Teater, auch damals schon ohne „h“ geschrieben. Mit sechs anderen jungen Leute, die sich von der Nürnberger Kunstakademie kannten, zog er im Mai 1965 mit Traktor, einem umgebauten Bauwagen und 30 selbst angefertigten Masken und Kostümen einen ganzen Sommer durch Franken und Oberbayern.

Ohne erfolgreiches Theaterspiel kein Abendbrot

„Doktor, Tod und Teufel“ hieß das Stück, das sie auf Dorfplätzen und Märkten spielten. Eine harte Schule für das Comic Teater: „Wir mussten so spielen, dass das Publikum blieb. Sonst hätten wir kein Abendbrot gehabt. Denn gesammelt wurde erst zum Schluss“, erinnert er sich später in einem Interview.

Politisch prägend für Peter war – wie für viele seiner Generation – der  2. Juni 1967: Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration am Ku’damm gegen den Schah von Persien. Peter war bei dieser Demonstration dabei. So wurde aus ihm ein Achtundsechziger. Als Andreas Weißert 1975 in Dortmund Oberspielleiter wurde, holte er Peter Möbius vom Theater am Turm, wo er bei Rainer Werner Fassbinder spielte, nach Dortmund.

Bundesweit beispielloses Engagement in Unna

In Dortmund wurde Peter Möbius Leiter des Kinder- und Jugendtheaters. Mit seiner Comic-Truppe inszenierte er 1975 „FeuerZirkus“  und „Die Struwwelpeter Revue“, Stücke die er selbst geschrieben hatte und zu denen Rio Reiser mit den Scherben die Musik machte. Die agile Truppe wurde in Dortmund gekündigt – man unterstellte ihnen Kontakte zu den Möchtegern-Stadtguerilleros vom „2.Juni“, einer RAF-ähnlichen Gruppierung.

Die Stadt Unna hatte damals den Mut, sie über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme einzustellen, der ersten für eine Schauspielertruppe bundesweit. Mit dem Hoffmans Comic Teater (HCT) bekam Unna die kritische Masse an Akteuren, die Unna als Kulturstadt geprägt haben. Peter war der Motor und Spiritus Rector. Dabei waren unter anderem Hartmut Hoffmeister, Ingeborg Wunderlich, Andy Koch, Rio Reiser, Martin Paul, Uta Rotermund, Claudia Roth und etliche andere. Daraus entstanden sind zahlreiche kulturelle Einrichtungen, die bis heute das kulturelle Leben von Unna prägen: der Kinderzirkus Travados, das Werkstatt Theater Unna (seit 1999 das „Narrenschiff“), das soziokulturelle Zentrum Lindenbrauerei, das Stadtspielwerk und die Jugendkunstschule, zu deren 40jährigem Jubiläum Peter noch eine viel beachtete Laudatio hielt.

Rio Reiser lieferte oft die Songs zu Peters Projekten

Peters Stärke lag vor allem darin, künstlerische Projekte mit Breitenwirkung zu entwickeln. Immer wieder dabei: sein Bruder Rio Reiser, der zu vielen Projekten die Songs lieferte. Zu diesen Projekten gehörte das „Ruhrschrei-Festival“ unter der Liedbachbrücke in der Massener Heide, die „Märzstürme“ (1981), eine „große Freiheitsrevue“ zur Erinnerung and die Märzrevolution 1920 im Ruhrgebiet, die Unnaer Stadtoper „Wasser des Lebens“ (1989), das Musical „Die Braut der Brüder“, aufgeführt bei den Ruhrfestspielen 1995 sowie seine letzte große Inszenierung „Das Tor zum Paradies , „ein musikalisches Portrait in sieben Bildern“ über den streitbaren Prediger und Komponisten heute noch bekannter Choräle, Philipp Nicolai (1997).

Mit den „Märzstürmen“ zog das Hoffmanns Comic Teater durchs Ruhrgebiet. Zur Vorbereitung interviewte man noch Zeitzeugen, die von den Greueltaten der präfaschistischen Freikorps-Truppen im Ruhrgebiet berichteten. Rio Reiser schrieb dazu wunderbare Lieder. Ton Steine Scherben machte die Musik. Der Schreiber dieser Zeilen kann sich noch heute gut an die Aufführung in einem Zirkuszelt vor dem Dortmunder Stadthaus am heutigen Friedensplatz erinnern. Damals dabei unter anderem, als rotbackige Krankenschwester, die heutige Grünen-Politikerin Claudia Roth und die Dortmunder Kabarettistin Uta Rotermund.

Die Geschichte des inzwischen legendären Hoffmans Comic Teater wollte Peter immer aufschreiben. Ob er es noch geschafft hat, weiß ich nicht. Immerhin gab es 2018 in Unna noch eine Ausstellung: „51 Jahre Hoffmanns Comic Teater 1965 – 1981. Spuren und Impulse einer aufsässigen Künstlerbande“. „Dario Fo“, sagte er einmal, „das war unser Vorbild.“

Grafik und frühe Computer-Experimente

Peter Möbius war nicht nur Theatermann mit Leib und Seele, sondern auch ein hervorragender Grafiker. Er gestaltete etliche Programmhefte für das Summertime-Kulturprogramm in Unna, das er ebenfalls inspiriert und künstlerisch betreut hatte. Ein anderes Projekt von Peter, Jahre später, konnte leider nicht realisiert werden: Ein Computerspiel, das er in unzähligen Stunden in den neunziger Jahren am Computer entwickelte. Mit magischen Bildern und einer phantastischen Geschichte, alles am Computer mühevoll „gezeichnet“. Grafikprogramme gab es damals noch nicht. Daraus sollte eine CD entstehen. Diese Silberlinge kamen damals gerade auf  und waren so „in“ wie heute das Streamen. Ich konnte im den Kontakt zu einem Produzenten von CDs vermitteln. Der spezialisierte sich allerdings, wie sich dann herausstellte, mehr auf Pornos. Die waren marktgängiger. Das Projekt verschwand im digitalen Nirwana.

Einer, der sich ins politische Geschehen einmischte

Peter betätigte sich auch als Filmregisseur. 1990 war er als Autor und Koregisseur (mit Uwe Penner) von „Türmers Traum“. Der Film war ein Beitrag zur 700jährigen Geschichte der Stadt Unna. Mit rund 300 Mitwirkenden, darunter viel Volk, einigen Kommunalpolitikern, sowie Roman Marczewski, dem  heutigen Präsidenten des Ruhrgebiets-Karnevals Geierabend, und Cäcilie Möbius, Peters Tochter, heute Schauspielerin beim Theater Narrenschiff und anderswo. 1997 drehte Peter ein TV-Porträt seines Bruders Rio Reiser: „Ich bieg’ dir den Regenbogen – ein biografischer Dokumentarfilm“.

Als politischer Mensch mischte sich Peter Möbius immer wieder ein in das politische Geschehen seiner Wahlheimat Unna. Das brachte ihm nicht nur Freunde. Er war Mitgründer der Alternativen Liste in Unna, der GAL. Schrieb ein lesenswertes Memorandum zur Weiterentwicklung der Kulturpolitik in Unna, das leider viel zu wenig Beachtung fand. 2008 war er Mitinitiator eines Bürgerbegehrens. Verkleidet als Kommerzienrat, schlug er mit einer Glocke Alarm gegen den Abriss historischer Bausubstanz in Unnas historischer Innenstadt und ihren vermeintlichen Ausverkauf an Investoren. Der Mann mit Hut und Weste wusste, wie man Theater für`s Volk macht.

Peter Möbius starb in der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag, am 13. April, im Alter von 78 Jahren an einer Krebserkrankung.




„Maschinen wie ich“ – Ian McEwan zeigt uns, dass Roboter auch nur Menschen sind

Charlie Friend ist Anfang Dreißig, Geld verdient er so schnell, wie er es wieder verliert. Derzeit zockt er von Zuhause aus mit windigen Transaktionen an der Börse.

Weil er sich seit Kindertagen für Elektronik und Informatik begeistert, hat er seine letzten Ersparnisse ausgegeben, um einen der ersten frei verkäuflichen Androiden zu bekommen: Roboter, die aussehen und denken wie Menschen und die alles können, was wir können. Nur vielleicht etwas besser, schneller und kompromissloser. Denn sie schlafen nie, durchforsten in Windeseile das Internet, verknüpfen Datenberge und schließen Wissenslücken. Sie helfen, wo sie nur können, sind lernfähige, selbstständige Wesen, voller Empathie und Güte. Sind die Maschinen vielleicht sogar die besseren Menschen?

Der britische Bestseller-Autor Ian McEwan, bekannt für Geschichten, die zwischen makabrer Situations-Komik und subtiler Existenz-Philosophie irrlichtern, hat jetzt mit „Maschinen wie ich“ sein literarisches Meisterstück vollbracht: einen Roman, der elegant und lässig zwischen Vergangenheit und Zukunft jongliert und ein abgründiges Szenario entwirft, in dem der verlogene und fehlbare Mensch konkurriert mit der rechthaberischen und gradlinigen Vernunft der Maschine, ein Wettstreit, den er kaum gewinnen kann. Es sei denn, er zertrümmert sein künstliches Ebenbild. Aber ist das dann nur Maschinenstürmerei oder nicht vielleicht doch, weil die Maschine auch nur ein Mensch ist, Mord?

Er duldet kein Unrecht, das Böse ist ihm verhasst

Adam, Charlies neues Spielzeug, ist viel mehr als nur ein Produkt Künstlicher Intelligenz. Adam hilft nicht nur beim Abwasch und trägt klaglos den Müll vor die Tür. Er verschafft mit seinen rasanten digitalen Verbindungen seinem Besitzer auch satte Gewinne an der Börse. Nachts, wenn Charlie friedlich schläft oder sich mit seiner Freundin Miranda vergnügt, zieht Adam sich den gesamten Shakespeare rein und schreibt hunderte Haikus: eine Intelligenzbestie mit literarischem Feingefühl und sexuellen Bedürfnissen, der einwilligt, als Miranda Lust hat, mit ihm zu schlafen.

Der perfekte und liebenswerte Roboter hat nur ein Problem: Er hat hohe moralische Standards und anspruchsvolle ethische Prinzipien. Er duldet kein Unrecht, das Böse ist ihm verhasst. Die Gesellschaft kann für ihn nur funktionieren, wenn Verfehlungen und Verbrechen gesühnt und bestraft werden. Da kennt er keine Gnade. Deshalb wird er dafür sorgen, dass Miranda, die er doch eigentlich inniglich liebt, ihre Schuld begleichen muss. Denn sie hat, um die Vergewaltigung und den Selbstmord einer Freundin zu rächen, dem Täter eine Falle gestellt und ihn mit einer Falschaussage ins Gefängnis gebracht.

Wenn die technischen Helfer verzweifeln

Als Miranda jetzt selbst hinter Gittern verschwindet, rastet Charlie aus und schlägt seinem Androiden den Schädel ein. Die unsterblichen Überreste der Maschine bringt er zu Alan Turing, dem mathematischen Genie und Vordenker der digitalen Moderne, der einst den Geheimcode der Nazis knackte, aber nach dem Krieg wegen seiner Homosexualität verfemt und als Verbrecher abgestempelt wurde.

Turing starb 1954. Doch bei Ian McEwan hat er überlebt und inspiriert die jungen Computer-Nerds noch immer. Warum auch nicht: Denn obwohl von drohender Klimakatastrophe und bevorstehendem EU-Austritt der Briten die Rede ist, sind wir nicht im Hier und Heute oder in der nahen Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Wir schreiben das Jahr 1982: Die Beatles haben sich nach 12 Jahren Trennung wieder zusammen gefunden, ihr neues Album wird überall gespielt, John Lennon, der doch eigentlich seit zwei Jahren Tod ist, singt eine neue Hymne auf die friedensbringende Kraft der Liebe. Das ist auch nötig, denn Maggie Thatcher ist Premierministerin und führt einen Krieg um die Falkland-Inseln, von dem die britischen Truppen – anders als in der Wirklichkeit – geschlagen und gedemütigt wieder nach Hause kommen.

Was heißt hier schon „Wirklichkeit“?

Aber was ist schon die Wirklichkeit und der Tod, wenn Geist und Materie sich vermischen, Maschinen das Denken übernehmen und versuchen, die Menschen zu verstehen und zu verbessern? Dass die Maschinen an der Machtübernahme vielleicht scheitern, weil sie die menschliche Kommunikation in ihrer Mehrdeutigkeit nicht entschlüsseln können, weil Halbwahrheiten und Notlügen ihrem auf Ja und Nein, Gut und Böse, Recht und Unrecht programmiertem Hirn fremd sind; dass vielleicht die Maschinen an den Menschen verzweifeln und sich, zu Tode betrübt, selbst abschalten, ist nur eine der vielen Möglichkeiten, die der ebenso humorvolle wie melancholische, mal lächelnd in die Zukunft, mal kopfschüttelnd in die Apokalypse schauende Autor für uns parat hat.

Ian McEwan: „Maschinen wie ich“. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich. 416 Seiten, 25 Euro.

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  • Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt in London.
  • Für sein umfangreiches Werk hat er vielen Auszeichnungen erhalten, den Booker-Preis genauso wie den Shakespeare-Preis, immer wieder wird er auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt.
  • Viele seiner Romane wurden verfilmt: „Abbitte“ (mit Keira Knightley), „Am Strand“ (mit Saoirse Ronan), „Kindeswohl“ (mit Emma Thompson).



Trotz eher geringfügiger Titelchancen: In Dortmund grassiert mal wieder das schwarzgelbe Fußballfieber, denn vielleicht…

Vor ziemlich genau 8 Jahren wurde eine Hausfassade in Dortmund meisterschaftsgerecht umgestaltet. (Foto: Bernd Berke)

In jenem Moment noch unvollendet: Vor ziemlich genau 8 Jahren wurde diese Dortmunder Hauswand meisterschaftsgerecht umgestaltet. (Foto: Bernd Berke)

Jetzt dreht man hier in Dortmund schon wieder durch. Zumindest stehen viele Leute kurz davor. Denn rein theoretisch hat der BVB noch Chancen auf den Gewinn der Deutschen Fußballmeisterschaft. Für Schalker kurz erläutert: Dat is‘, wennze die Schale kriss‘.

BVB-Geschäftsführer Watzke wird mit dieser fast übermütigen Einlassung zitiert: „Meine Hoffnung wird jeden Tag größer. Ich bin selber ganz verwundert, weil ich eigentlich Skeptiker bin.“ Er habe, so Watzke demnach weiter, das „Gefühl, dass wir vor großen Dingen stehen“. Er könne es auch nicht erklären. Tja, wer kann das schon?

Unterdessen heißt es bereits, dass die Stadt Dortmund zu etwaigen Meisterfeiern mindestens rund 200.000 Fans erwarte (im verwöhnten München wären es wahrscheinlich gerade mal ca. 20.000 Versprengte, wenn überhaupt). Auch hat man hier bereits die Strecke für einen Autokorso ausgeguckt und abgesteckt: Start wäre am Sonntag um 14:09 Uhr, der Lindwurm der Freude würde sich vom Gelände der Westfalenhütte via Borsigplatz bis zum Ziel am Hohen Wall durch die Gegend winden. Nun gut, so etwas will ja wirklich von längerer Hand geplant sein. Aber es wirkt schon ein wenig vermessen, darüber zu reden. Man sollte es überhaupt nicht beschreien, da bin ich abergläubisch. Nicht schon vorher grölen: „Ey, hömma, Meista!“

Wenn schon, dann so richtig schweinemäßig ungerecht!

Zwischenzeitlich hat die Mannschaft des BVB ja so manches getan, um ihre Titelchancen zu vergeigen. Neun Zähler Vorsprung waren unversehens und erstaunlich rasch dahingeschmolzen. Tiefpunkte waren die grottigen Spiele ausgerechnet gegen Bayern und Schalke. Da hat Trainer Lucien Favre ganz traurig geguckt.

Doch unverhofft ist Borussia Dortmund noch einmal auf zwei Punkte an die Bayern herangekommen – bei ungleich schlechterem Torverhältnis. Bekanntlich muss man am morgigen letzten Liga-Spieltag bei der anderen Borussia in Gladbach antreten, für die es noch um etwas geht (Teilnahme an der Champions League), während Bayern die zuletzt so wechselhaften Frankfurter empfängt, die gleichfalls noch gut Punkte gebrauchen können (wg. Teilnahme an der Europa League oder gar an der Champions League). Den Münchnern reicht jedenfalls ein schnödes Unentschieden. Doch ihr etatmäßiger Torwart Manuel Neuer fällt aus – und es brodeln die Gerüchte um eine Entlassung von Trainer Kovac. Psycho!

Hoffentlich entscheidet nicht irgend ein dubioser Video-„Beweis“ über Wohl und Wehe, ein aus unerfindlichen Gründen zurückgenommener Elfmeter, ein erst aberkanntes und dann doch noch anerkanntes Törchen, ein angebliches Abseits, ein harmloses Foul mit anschließender „Schwalbe“, ein vermeintliches Handspiel („An-ge-schos-sääään! – Wo soll er denn hin mit der Hand?“). Wenn schon, dann soll’s aber so richtig schweinemäßig ungerecht zugehen, damit man hernach alles auf den Schiri schieben kann. Ganz wie früher. Hach. Und wenn wir schon bei Ungerechtigkeiten sind: Nicht unbedingt die Besseren sollen gewinnen (gähn!), sondern die Richtigen, hoho. Keine Widerrede jetzt!

Jeder Aspekt der bevorstehenden „Endspiele“ wird nun um und um gewälzt. Ungemein wichtige Sportredakteure schreiten derzeit mit breiter Brust und dicker Hose durch die Medienhäuser. Soooo spannend war das Finale der Liga seit Jahren nicht mehr. Und sie haben es schon immer gewusst.

Lindner und Özdemir setzen auf Schwarzgelb, Kühnert nicht

BVB-Kapitän Marco Reus ist nach seiner Rot-Sperre wieder dabei – und vielleicht hat Jadon Sancho erneut seine genialischen Momente. Der Junge hat in der gesamten Bundesliga die meisten erfolgreichen Dribblings bestritten. Darauf hätte man auch ohne Statistik gewettet.

Apropos wetten. Jetzt wurden wieder Politiker und sonstige Promis ‚rauf und ‚runter befragt, auf wen sie denn tippen. Für ein Boulevardblatt ist eine sinistre „Wahrsagerin“ angetreten. Außerdem gerade gelesen: Christian Lindner setzt auf „seinen“ BVB (der Mann sitzt im Wirtschaftsrat des Vereins, trotzdem hat man ein mulmiges Gefühl, wenn er Schwarzgelb so höchstpersönlich für sich vereinnahmt), Cem Özdemirs Hoffnungen gehen in dieselbe Richtung. Aber nix mit rot-gelb-grün. Denn Kevin Kühnert hält es mit Bayern München. Der soll bloß aufpassen, dass er nicht auf einmal enteignet wird! Das geht manchmal ganz flott – und schon is‘ der Ball wech…




Aufruhr in der Provinz: Das Jahr 1968 in Westfalen

„1968 in Westfalen“: Der Buchtitel lässt aufhorchen, stehen doch Sauer- und Münsterländer ebenso wie Bewohner von Bergmannssiedlungen im Revier nicht gerade in dem Ruf, Rebellionen anzuzetteln. Folglich müsste es doch eigentlich vor 50 Jahren ganz ruhig geblieben sein, als in Frankfurt, Hamburg, München und Berlin Studenten in Scharen mit der Parole „Unter den Talaren Muff aus 1000 Jahren“ auf die Straße gingen.

Der Historiker Thomas Großbölting von der Uni Münster betreibt in dem Band nun eine Spurensuche. Er will rekonstruieren, was das Jahr 68 im Westfalenland nun wirklich ausgemacht hat. Herausgekommen ist dabei weit mehr als eine simple Chronik von Ereignissen, sondern die prägnante und zugleich einordnende Darstellung eines Umbruchjahres mit seinen Folgewirkungen für die Provinz. Großbölting ist übrigens der Ansicht, dass Dortmund oder Münster seinerzeit eher Mittel- als Großstädte gewesen seien.

Vom kurzen und vom langen ’68

Auch in Westfalen riefen die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg und des charismatischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, das Attentat auf den Studentenführer Rudi Dutschke sowie die Massaker der US-amerikanischen Soldaten in Vietnam massive Reaktionen hervor. Die Menschen versammelten sich in großer Zahl zu Gedenk- oder auch Gebetsstunden, auch kam es zu offenen Protesten gegen Rassismus, Diskriminierung und das militärische Vorgehen der USA in Indochina.

Nachdem Großbölting gleich zu Beginn seines Buches erklärt hat, 1968 könne nicht rein als Jahreszahl verstanden werden, sondern sei vielmehr Chiffre für Widerstand, Proteste und Revolte, geht er auf die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge und Entwicklungen jener Zeit ein. Dabei kommt er zu einer aufschlussreichen Unterscheidung. Der Wissenschaftler spricht von dem „kurzen“ und dem „langen“ 1968.

Er meint damit einerseits die eher ereignisorientierte Ebene. Die beginnt für ihn bereits am 2. Juni 1967 mit dem Tod von Benno Ohnesorg, den während der Demonstration gegen den Besuch des persischen Schahs der Polizist Karl-Heinz Kurras erschoss. Diese Phase endet mit der Verabschiedung der Notstandsgesetze Ende Mai 1968 im Bundestag – gegen alle Widerstände in der Bevölkerung.

Nachhaltige Veränderung der Gesellschaft

Andererseits – und das ist dann die Langversion – hat 1968 zu nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen geführt. Nach Darstellung des Historikers sind „ökologisches Bewusstsein, Gleichstellung von Mann und Frau, die Akzeptanz verschiedener Formen von Sexualität, Friedensorientierung, Emanzipation und Partizipation“ heute nicht nur Teil des Mainstreams, sondern man definiere damit auch die „Loyalität zum System“.

An diesen Umwälzungen und speziell an dem „kurzen“ 1968 haben traditionelle Unistädte wie Münster mit den Studierenden ihren Anteil, aber ebenso die dazu im Vergleich noch sehr jungen Hochschulen in Ruhrgebiet. Dass es überhaupt zur Gründung der Unis in Dortmund, Bochum oder Bielefeld kam, steht im engen Zusammenhang mit dem Bildungsnotstand, der nicht nur in Deutschland, sondern in der damaligen westlichen Welt in Folge des Sputnik-Schocks ausgemacht wurde. Sputnik hieß der erste Satellit, den die Sowjetunion ins Weltall geschickt und damit im Westen Bedrohungsängste ausgelöst hatte. Mit der Forcierung von Bildung wollten nun die Industriestaaten im Wettlauf mit den Russen deutlich punkten.

Bildungsnotstand als Keim der Kritik

Bildungsnotstand und Kritik am Bildungssystem sollten allerdings auch zum Thema der Studierenden werden. Ihr Aufbegehren in Westfalen entsprang aber vor allem universitären Anlässen, wie beispielsweise in Bochum als Protest gegen eine geplante Univerfassung. Oftmals ging es allerdings auch um politischen Ereignissen, unter anderem bei der wohl größten Aktion in Münster mit über 2000 Beteiligten, die den damaligen Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger bei einem Besuch der Stadt mit Sprechchören ob dessen Nazi-Vergangenheit empfingen.

Nun ist das Buch aber nicht nur lesenswert, weil es aufzeigt, dass auch Studierende in Westfalen es verstanden, auf die Straße zu gehen, sondern es beschreibt auch das gesamte Ausmaß von Aufruhr in Westfalen und darüber hinaus. Wenn man so will, blieb kaum eine gesellschaftliche Gruppe verschont, auch die Kirchen nicht. Beim Katholikentag in Essen gab‘s Debatten am laufenden Band und eine bis dahin kaum gekannte Heftigkeit der Kritik an den Kirchenoberen. Schüler und Lehrlinge machten Front gegen zu hohe Busfahrpreise, Jugendliche forderten mehr Jugendzentren. In Bochum oder auch in Münster machten Aktivistinnen von sich reden, die die traditionelle Rolle von Mann und Frau in Frage stellten und damit die Emanzipationsbewegungen nach vorne brachten.

Als Rudi Dutschke mit Johannes Rau diskutierte

Dass es in diesen stürmischen Zeiten auch Momente gab, die von Sachlichkeit geprägt waren, macht der Autor am Beispiel einer Debatte in der Wattenscheider Stadthalle deutlich. Im Februar 1968 diskutierte dort der damalige Fraktionschef der NRW-SPD (und spätere Bundespräsident) Johannes Rau mit Rudi Dutschke, der sich nach Meinung von Beobachtern nicht als radikaler Studentenführer präsentierte, sondern eher als „parteipolitischer Konkurrent der SPD“.

Wer nun wissen möchte, wo denn eigentlich der Protest seinen Ausgang nahm, den nimmt Großbölting mit auf einen Besuch in den USA Mitte der 60er Jahre, als Studierende sich für Redefreiheit auf dem Campus einsetzten, Woodstock zur Legende wurde, Schwule und Lesben, Native Americans sowie Vietnamkriegsgegner Demonstrationen organisierten. Apropos USA: Großbölting nutzt die letzten Zeilen des Buches, um eindringlich darauf hinzuweisen, dass die heutige Liberalität, die zweifellos 68 zuzuschreiben ist, keineswegs eine Selbstverständlichkeit darstellt.

Thomas Großbölting: „1968 in Westfalen. Akteure, Formen und Nachwirkungen einer Protestbewegung“. Ardey Verlag, Münster. 172 Seiten, 13,90 €.




Der Roboter, dein Freund und Helfer – Abteilung „Neue Arbeitswelten“ in der Dortmunder DASA umgekrempelt

Die Drohne (bzw. der Lastencopter) mit dem schönen Namen "Papillon", entworfeb und erzeugt vom Remscheider Designbüro Reichert, ausgestellt in der Dortmunder DASA. (Foto: Bernd Berke)

Die Drohne (bzw. der Lastencopter) mit dem schönen Namen „Papillon“, entworfen und erzeugt vom Remscheider Designbüro Reichert, ausgestellt in der Dortmunder DASA. (Foto: Bernd Berke)

Hier auf dem Tisch liegt eine geradezu filigran wirkende, offenbar ungemein wendige Drohne als zukunftsträchtiges Transportmittel; dort drüben summt ein 3-D-Drucker, der wie von Zauberhand neue Gegenstände hervorbringt – von der Vase bis zur Porträtbüste des Erfinder-Genies Leonardo da Vinci. Beispielsweise. Sind das schon Boten, die die Zukunft ankündigen?

Bald werden solche Geräte wohl auch vermehrt in den Privatbereich vordringen. Es scheint fast so, als erwarte uns eine rundum schöne neue Welt, derer wir uns nur noch leichthändig bedienen müssen.

Doch gemach! Gar so unproblematisch verhält es sich denn doch nicht mit den künftigen „Neuen Arbeitswelten“. Werden da nicht viele Arbeitsplätze verschwinden, wird es nicht wieder einmal etliche Verlierer der Modernisierung geben? Und überhaupt: Wie wird sich das Menschenbild verändern?

Das Thema sollte einen jedenfalls interessieren. Einesteils aus generellem Interesse an den Zeitläuften – und überdies ganz besonders, wenn Kinder im näheren oder nächsten Umkreis leben, deren weitere Lebenswege einem sehr am Herzen liegen.

Vorläufer war schon 18 Jahre alt

Mithin hat sich die Dortmunder Arbeitswelt Ausstellung (DASA) ein (ge)wichtiges Thema ausgesucht. Sie hat es auch bisher schon behandelt, freilich auf dem Stand der Hannoverschen Weltausstellung Expo aus dem Jahre 2000. In Sachen Zukunftsschau ist das eine Ewigkeit. Jetzt aber ist der entsprechende Teil der Dauerausstellung nach gründlichem Umbau erst einmal wieder auf aktuellem Stand, sofern sich das überhaupt sagen lässt. Vielleicht gibt’s ja morgen schon wieder die nächste Kehrtwende, die einstweilen allenfalls in avancierten Forschungsstätten oder in der Science-Fiction-Literatur erwogen wird.

Schon das Ausstellungs-Design wirkt nun ungleich luftiger und leichter. Was bisher recht düster, ernst und erdenschwer daherkam, sieht jetzt allseits durchlässig und transparent aus. Eine zu solcher Offenheit passende Grundannahme der vom Zürcher Architekturbüro Holzer Kobler eingerichteten Abteilung lautet, dass wir die Zukunft, die ohnehin kommt, mit einiger Zuversicht in die Hände nehmen und gestalten sollen. Ende offen.

3-D-Drucker bei der Arbeit: Es entsteht eine Vase. (Hersteller Membino GmbH, Elmshorn / Foto: Bernd Berke)

3-D-Drucker bei der Arbeit: Hier entsteht eine Kunststoff-Vase. (Hersteller Membino GmbH, Elmshorn / Foto: Bernd Berke)

Die Visionen von (vor)gestern

Der Rundgang beginnt mit Zukunfts-Vorstellungen von gestern, genauer:  technischen und gesellschaftlichen Utopien, wie man sie sich in den letzten 150 Jahren ausphantasiert hat. Eine gar hübsche, teils frappierende, teils bizarre Galerie aus rund 200 Bildern ist dabei herausgekommen. Visionen sondergleichen. Die wenigsten sind so eingetroffen wie ehedem gedacht. Und doch müssen solche Zukunftsträume sein. Der Mensch möchte halt wissen, wo es langgeht. Auch wenn er oft pfeilgerade daneben zielt. Wenn’s nach manchen Vorhersagen gegangen wäre, so würden wir zum Beispiel allesamt unter Wasser leben oder – jeder mit eigenem Fluggerät – ständig durch die Lüfte schweben.

Bloß vorsichtig mit den Prognosen sein

In der DASA hat man drei Megatrends ausgemacht, die fraglos unsere Zukunft bestimmen werden: demographischer Wandel, Globalisierung, Digitalisierung. Große Schlag-Worte. Fragt sich „nur“ noch, wie sich diese Tendenzen auswirken werden. Auf dem prognostischen Glatteis bewegt sich die Ausstellung allerdings nur ganz vorsichtig, keinesfalls kühn. Man hat das Ganze „modular“ aufgebaut, so dass auf etwaige Trendwenden schnell mit neuen Objekten reagiert werden kann. Das ganze soll Labor-Charakter haben und den einen oder anderen Impuls setzen, aber bloß keinen festen Vorgaben folgen. So bleibt es hie und da auch ein wenig vage.

Die Technik und das menschliche Maß

Zwischendurch ertönen fiktive „Stimmen aus der Zukunft“, denen man – unter Akustik-Würfeln sitzend – entspannt als Hörstücken lauschen kann. Hauptsächlicher Themenstrang: Was wird die abermals entfesselte Technik der „Industrie 4.0“ mit dem Menschen machen? Außerdem tragen Schauspieler per Video individuelle Stellungnahmen zur Wertedebatte und zur Folgenabschätzung vor. Hier geht es eben nicht bloß um die Fortschreibung technischer Tendenzen, sondern mindestens ebenso sehr ums menschliche Maß. Wäre das schön, wenn die Wirtschaftslenker solchen Vorstellungen folgen würden!

Visionärer Bildschirm-Blick in eine Fabrik, in der Roboter der neuesten Generation zu Werke gehen. (DASA / Foto: Bernd Berke)

Visionärer Bildschirm-Blick in eine Fabrik, in der Roboter der neuesten Generation zu Werke gehen. (DASA / Robert Bosch GmbH / Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Die aus kubischen Grundformen entwickelte, farbenfrohe Ausstellungs-Architektur (Statements: „Die Zukunft wird bunter“ / „Die Zukunft wird femininer“) besteht aus vier Themen-Inseln, allesamt offenbar dicht am Puls der gegenwärtigen Zeit. Da kann man – vorerst in virtuellen Szenarien – Entwürfe von Industrie-Robotern der neuesten Generation besichtigen, die innig mit den Menschen interagieren, ja hie und da mit beinahe mit ihnen zusammenwachsen, sich ihnen jedenfalls sensorisch anbequemen. Der Roboter, dein Freund und Helfer. Ein fast schon wieder etwas gestrig-mechanisch anmutendes „Exo-Skelett“ (verleiht den Muskeln ungeahnte Zusatzkräfte) ist auf diesem Felde nur der Anfang.

Noch’n Anlauf zum „papierlosen Büro“

Da gibt es einen futuristischen Bildschirm-Arbeitsplatz aus lauter Displays, wie er gerade erst als Pilotprojekt auf den Weg gebracht wird. Aber bitte sehr, nehmen Sie schon mal Platz, hier nimmt erneut der Traum vom völlig papierlosen Büro Gestalt an. Ja, lachen Sie nur, Sie werden schon sehen! Für „digitale Nomaden“ gibt es derweil einen besonders robusten Laptop, der noch im entlegensten Winkel der Welt mit Sonnenenergie betrieben werden kann. Auch geht es um jene digitalen Mikrojobs, die für erbärmliche Cent-Beträge jederzeit und überall ausgeführt werden können – derzeit vorzugsweise in Indien, wo man von solchen Winz-Löhnen einigermaßen existieren kann.

Federleichte Flug- und Rolldrohne, made in Dortmund

DASA-Kurator Peter Busse mit der in Dortmund entwickelten Flug- und Rolldrohne "Bin:Go". (Foto: Andreas Wahlbrink/DASA)

DASA-Kurator Peter Busse mit der in Dortmund entwickelten Flug- und Rolldrohne „Bin:Go“. (Foto: Andreas Wahlbrink/DASA)

Ein staunenswertes Stück ist quasi „nebenan“ in Dortmund entwickelt worden, beim Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik: Diese ballförmige, federleichte Drohne namens „Bin:Go“ segelt nur bei Bedarf über Hindernisse hinweg, ansonsten rollt sie sanft daher und verletzt niemanden. Stellt man sich das massenhaft auf unseren Straßen und Plätzen vor, mutet es allerdings schon ein wenig gespenstisch an. Doch vorerst ist das Ding wohl vor allem zwischen Großregalen unterwegs. Das Runde muss eben ins Eckige.

Eine weitere Drohne, übrigens auch weitgehend aus dem 3-D-Drucker geschlüpft, ahmt mit ihren Strukturen den biologischen Knochen- und Sehnenbau nach, ihre Glieder sind innen wabenartig hohl, daher wiegt sie bei einiger Spannweite nur 30 Kilogramm, übt aber gleichwohl kräftigen Schub aus.

Der Avatar mit der gelben Hose

Das Ganze soll Laborcharakter haben. Und so können Besucher an interaktiven Zwischen-Stationen ihre Auffassungen einbringen und sich schließlich als Avatare mit bestimmten Haltungen zur Zukunft entwerfen. Welche Gesellschaft dabei herauskommen könnte, zeigt sich auf einem großen Bildschirm, der die Daten und Figuren kombiniert. Wer etwa beim Koordinaten-Resultat „H 8“ landet, gilt als optimistisch. Lustige Zuordnung: Wer bei der Befragung am Touchscreen Kulturinteresse bekundet, bekommt als Avatar sogleich eine gelbe Hose verpasst. Finde den Zusammenhang…

Wer rastet, der rostet. Kaum ist die Abteilung „Neue Arbeitswelten“ fertig umgekrempelt, kommt die nächste dran: „Helfen und Heilen“ zur Zukunft von Medizin und Pflege schließt jetzt für zwei Jahre und soll 2020 runderneuert wieder öffnen.

DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25. Dauerschau, Abteilung „Neue Arbeitswelten“. Geöffnet Mo-Fr 9-17, an Wochenenden und Feiertagen 10-18 Uhr. Standard-Ticket 8 Euro, ermäßigt 5 Euro. Tel.: 0231 / 9071-2479

www.dasa-dortmund.de

 




(Fast) alles über „Kunst & Kohle“: 17 Museen in 13 Revier-Städten stemmen Mammutprojekt zum Ende der Zechen-Ära

Schwarz. Schwarz. Schwarz. Es ist, in mancherlei Schattierungen bis hin zu diversen Grauwerten, der beherrschende „Farb“-Ton dieses wahrlich ausgedehnten Ausstellungsreigens.

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation "Die Trinkenden" im Museum Ostwall im Dortmunder "U". (Foto: Bernd Berke)

Weiße Nymphen am Fuße einer Kohlehalde: Blick auf Alicja Kwades Installation „Die Trinkenden“ im Museum Ostwall im Dortmunder „U“. (Foto: Bernd Berke)

Hie und da erscheint die Finsternis schon im Titel: Schlichtweg „Schwarz“ lautet er im Bochumer „Museum unter Tage“, „Reichtum: Schwarz ist Gold“ heißt es derweil im Duisburger Lehmbruck-Museum. Anderwärts dominiert das Schwarz jedenfalls die verwendeten Materialien oder wird durch vielfältige Kontraste und sozusagen durch Legierungen anverwandelt. Wirklich kein Wunder, denn es geht ja im gesamten Revier um „Kunst & Kohle“.

Der Ausstellungssommer 2018 hat durchaus fordernden Charakter. Kulturbeflissene müssen sozusagen alles geben (bekommen dafür aber auch etliches geboten): In den letzten Tagen eröffneten eine raumgreifende Schau zur Geschichte des Steinkohle-Bergbaus in Essen und ein fünffach aufgefächertes Friedens-Projekt in Münster. Wir berichteten jeweils. Hier und jetzt aber geht es um eine weitere Unternehmung, die sich aufs Ende des deutschen Bergbaus bezieht und insgesamt alles andere von den Dimensionen her in den Schatten stellt: Gleich 17 Ausstellungshäuser in 13 Städten des Ruhrgebiets vereinen ihre Kräfte just zum revierweiten Ereignis „Kunst & Kohle“, das an den meisten Orten bis zum 16. September dauert.

Hilfreiches Netzwerk der RuhrKunstMuseen

Ohne das gemeinsame Netzwerk jener 20 „RuhrKunstMuseen“, die seit 2008 – damals im Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres 2010 – zunehmend kooperieren, wäre der Kraftakt so nicht möglich gewesen. Auf diese Strukturen ließ sich aufbauen, als es darum ging, das weitläufige Themenfeld in aller Vielfalt, Breite und Tiefe darzustellen. Das Ganze soll natürlich auch touristisch beworben werden. Die nicht nur insgeheime Hoffnung: Wer für die Kunst ins Revier kommt, wird hier vielleicht auch ein bisschen „Kohle“ ausgeben.

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Einige Museumsdirektor(innn)en des Reviers und Vertreterinnen der Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Gruppenbild vor dem bereits teilweise verhüllten Herner Schloss Strünkede: Direktor(inn)en diverser Kunstmuseen des Ruhrgebiets und Vertreterinnen der beteiligten Stiftungen. (Foto: Bernd Berke)

Sprachspielchen beiseite. Schon seit 2011 liefen die Vorarbeiten zu „Kunst & Kohle“, bereits seit 2007 sah man ja das epochale Datum der letzten Zechenschließungen in Bottrop und Ibbenbüren unweigerlich kommen. Also kann man jetzt (inklusive museumseigener Mittel) auf einen stolzen Etat von 2,5 Millionen Euro zurückgreifen und Arbeiten von rund 150 Künstler(inne)n auf insgesamt 20000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zeigen.

Hauptförderer ist mit 750.000 Euro einmal mehr die RAG-Stiftung, die vor allem gegründet wurde, um die enormen „Ewigkeitskosten“ (Grundwasserschutz etc.) nach dem Ende des Bergbaus zu tragen, welche jährlich rund 220 Millionen Euro ausmachen dürften. Das Stiftungsvermögen liegt allerdings auch, wie es in vornehmer Diskretion hieß, im „niedrigen zweistelligen Milliardenbereich“, so dass auch noch dies und das für Kultur und Bildung übrig bleibt. Außerdem sind bei „Kunst & Kohle“ u. a. die Kunst Stiftung NRW und die Brost Stiftung mit an Bord.

Im Bottroper Josef Albers Museum ausgestellt: Bernd und Hilla Becher "Fördertürme" (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur - Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Im Bottroper Josef Albers Museum: Bernd und Hilla Becher „Fördertürme“ (Fotografien, 1972-83) (© Estate Bernd & Hilla Becher, vertreten durch Max Becher, Courtesy Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur – Bernd und Hilla Becher Archiv, Köln, 2018)

Wie bekommt man das in den Griff?

Das sind fürwahr imponierende Zahlen und Fakten. Doch wie bekommt man das gesamte, nahezu monströse Unterfangen als Besucher (oder Berichterstatter) „in den Griff“? Wie kann man sich welche Schneisen schlagen?

Wie zu hören war, schicken sich mehrere Regional-Zeitungen an, mit all den einzelnen Ausstellungen gleichsam in Serie zu gehen und so auch das von Journalisten gefürchtete „Sommerloch“ Stück für Stück zu füllen. Glückauf dazu! Wir bringen hingegen einen schier endlosen „Riemen“, der dennoch nur Hinweise und Stichworte enthalten kann…

Die einstige Bergbaustadt Hamm ist leider nicht dabei

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge "Drawing for Mine", Kohlezeichnung (1991) (© William Kentridge)

Im Duisburger Lehmbruck-Museum zu sehen: William Kentridge „Drawing for Mine“, Kohlezeichnung (1991). (© William Kentridge)

Einstweilen muss ich freimütig bekennen, nicht etwa alle 17 Ausstellungen gesehen zu haben. Das kann – außer dem federführenden Koordinator Prof. Ferdinand Ullrich (vormals Leiter der Kunsthalle Recklinghausen) – bisher wohl niemand von sich behaupten. Es ist ja auch schön, die Auswahl unter so vielen Optionen zu haben. Zur Erschließung größerer Bereiche werden (kostenlose!) Bustouren angeboten, die jeweils zu drei Ausstellungen führen. Ich habe fürs Erste eine westfälische Route im östlichen Ruhrgebiet vorgezogen – mit den Stationen Herne, Dortmund und Unna.

Apropos Ost-Revier: Hamm, früher eine ausgesprochene Bergbaustadt mit mehreren großen Zechen (Sachsen, Radbod, Heinrich Robert) ist aus unerfindlichen Gründen nicht am Projekt beteiligt. Freilich war das dortige Gustav-Lübcke-Museum in den letzten Jahren auch nicht mit personeller Kontinuität gesegnet. In Hagen, dessen zwei Kunstmuseen auch nicht mitmachen, hat man’s eh weniger mit der Steinkohle gehabt. Sonst aber sind praktisch alle Ecken und Enden der Region mit von der Partie.

Spektakuläre Verhüllung des Herner Schlosses mit Jutesäcken

Nun geht’s aber auf die Tour:

In Herne ist das größte und spektakulärste Kunst-Signal schon aus einiger Entfernung sichtbar. Dort hat der aus Ghana stammende Ibrahim Mahama, der auch schon die letzte documenta bereicherte, große Teile des Schlosses Strünkede unter dem bezeichnenden Titel „Coal Market“ mit Jutesäcken verhüllt. Anders als Christo, ist es ihm nicht in erster Linie um die ästhetische oder gar ästhetisierende Wirkung zu tun, seine Arbeit ist vor allem mit gesellschaftlicher und politischer Bedeutung aufgeladen.

Die in Asien gefertigten, überwiegend in Afrika verwendeten, nunmehr zerschnittenen und sodann in vielen Arbeitsstunden von freiwilligen Helfern miteinander vernähten Jutesäcke sind sichtlich gebrauchte Exemplare, sie riechen buchstäblich noch nach dem Schmutz und nach der Knochenarbeit auf den Transportwegen durch Afrika und auf interkontinentalen Strecken. In etlichen Säcken wurde tatsächlich Kohle transportiert (etwa von Afrika nach Europa), in anderen beispielsweise Lebensmittel. Wenn ein eher herrschaftliches Gebäude wie das Schloss damit verhüllt wird, ist dies eine nachdrückliche, auch provokante Erinnerung an globale Kapitalströme und weltweiten Warenverkehr, in dem vielen Ländern hauptsächlich die Drecksarbeit bleibt.

Trotzdem freut man sich in Herne über den ungewohnten Anblick. Das Schloss ist nämlich beliebte Kulisse für viele Hochzeiten. Es soll Brautpaare geben, die es kaum noch erwarten können, hier und möglichst bald zu heiraten, denn so besonders wird das alte Gemäuer später wahrscheinlich nie wieder aussehen…

Die Verwandlung von Holz durch Feuer

Weiter zur zweiten Station in Herne: In den Flottmann-Werken wurde einst der Abbauhammer erfunden und produziert, mit dem die Massenproduktion in den Revierzechen recht eigentlich begonnen hat. Heute sind von den vielen Werksgebäuden „nur“ noch die Flottmannhallen übrig. Dort stellt jetzt der englische Bildhauer und Zeichner David Nash seine Arbeiten aus, die gerade in dieser lichten Ausstellungshalle wunderbar zur Geltung kommen. Sie fügen sich derart gut zum Generalthema Kohle, dass man meinen könnte, es seien eigens hierfür ausgeführte Auftragsarbeiten. Doch das ist nicht der Fall.

Blick in die Ausstellung mit Arbeiten von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Ausstellung von David Nash in den Herner Flottmann-Hallen. (Foto: Bernd Berke)

Nash ist vorwiegend Holzbildhauer, doch seine in Herne präsentierten Skulpturen haben gleichwohl die Anmutung von Steinkohle-Produkten. Er rückt dem Holz mit Kettensägen,  Bunsenbrennern, zuweilen auch mit Flammenwerfern zuleibe und lässt es allseits gezielt verkohlen. Vorzugsweise sind die Skulpturen nicht zusammengefügt, sondern aus einem großen Stück herausgearbeitet. Aus all dem ergibt sich ein anregendes Wechselspiel zwischen natürlichen Oberflächen (Risse und Sprünge im Holz) sowie geometrischen Figurationen. Hier und in Nashs Zeichnungen wird man gewahr, wie vielfältig die Valeurs zwischen Schwarz, Grau und Weiß sind.

Auf nach Dortmund, durch den üblichen Nachmittagsstau. Hier geht es ins Museum Ostwall im Dortmunder „U“, sechste Etage. Edwin Jacobs, Direktor des Hauses, ist zugleich Sprecher des eingangs erwähnten Verbundes der RuhrKunstMuseen.

Bergmännische Laienkunst im Kontrast zu professionellen Positionen

Bergbau gilt gemeinhin als Männersache, doch hier haben sich drei Kuratorinnen Aspekten des Themas gewidmet: Regina Selter (stellv. Direktorin), Karoline Sieg und Caro Delsing. Sie haben nicht nur ermittelt und in einer Karte visualisiert, dass es in der Hoch(ofen)zeit der 50er/60er Jahre in Dortmund 15 fördernde Zechen gegeben hat. Sie haben zudem die Geschichte des Museums erforscht und herausgefunden, dass Leonie Reygers, die Gründungsdirektorin nach dem Zweiten Weltkrieg, ein Faible für naive Kunst und Laienkunst hatte. Demgemäß richtete sie einen entsprechenden Sammlungsschwerpunkt ein. Naive Kunst aus Paris zeigte sie schon 1952 unter dem heute treuherzig klingenden Titel „Maler des einfältigen Herzens“.

All das war Anlass genug, um im ersten Teil der Ausstellung die Bilder einiger naiver Künstler aus der Ostwall-Sammlung und vor allem Beispiele fürs Schaffen bergmännischer Laienkünstler zu versammeln. Gewiss, manche von ihnen haben zu einem eigenen Stil und eigenen Ausdrucksformen gefunden. Dennoch deutet schon die drangvoll enge „Petersburger Hängung“ darauf hin, dass die künstlerische Wertschätzung für diese Arbeiten insgesamt auch ihre Grenzen hat. Es sind teilweise etwas unbedarfte Idyllen. Doch ein paar Bilder künden auch von Ängsten und Alpträumen der Arbeitswelt.

Wenn Dinge des Bergbaus zu abstrakten Mustern geraten

Es geht ein deutlicher Riss durch diese Dortmunder Ausstellung, der auch gar nicht gekittet werden soll. Getrennt durch einen Kreativbereich, in dem Besucher sich einschlägig betätigen können, folgen als Teil zwei einige gegenwärtige künstlerische Positionen, die denn doch völlig andere, ungleich reflektiertere Zugänge zum Thema Kohle eröffnen – freilich sozusagen „von außen“ her, aus der Perspektive des professionellen Kunstbetriebs und lange nach der eigentlichen Zechenzeit.

Abstrakte Wirkung: Andreas Gursky "Hamm, Bergwerk Ost" (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 - Courtesy Sprüth Magers)

Abstrakte Wirkung aufgehängter Bergmannskleidung in der Waschkaue: Andreas Gursky „Hamm, Bergwerk Ost“ (2008), C-Print (© Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2017/18 – Courtesy Sprüth Magers)

Das Spektrum reicht hier von Andreas Gurskys Fotografie „Hamm, Bergwerk Ost“, der die aufgehängte Bergmannskleidung in der Waschkaue zu einer geradezu abstrakten Komposition verwandelt, beispielsweise bis zum Bochumer Künstler Marcus Kiel, der textile Hinterlassenschaften von Bergmännern zu einer – ebenfalls abstrakt wirkenden – Wandinstallation von gehöriger Größe zusammengefügt hat. Es sind dies originelle Bergbau-„Denkmäler“ besonderen Zuschnitts – und von besonderer Güte. Fron und Schweiß der bergmännischen Maloche haben sie allerdings weit hinter sich gelassen.

Die „Heilige Barbara“ als Modepuppe

Bemerkenswert z. B. auch die Arbeiten zweier Frauen: Die Modedesignerin und Künstlerin Eva Gronbach hat eine gesichtslose Frauenfigur mit leichtem Sommerkleid auf einen Haufen mit grober Bergmannskleidung postiert. Bei näherem Hinsehen merkt man, dass auch die Frauenmode aus recycelter Bergmannskluft gewonnen wurde. Überdies erweist sich die Figur als Anspielung auf die „Heilige Barbara“, die Schutzpatronin der Bergleute. Hier stellt sich recht deutlich die Frage nach einer Zukunft jenseits des Bergbaus, auf die auch die gesamte Ausstellungs-Serie zu gewissen Teilen abhebt. Nicht nur ein mehr oder weniger wehmütiger Abschied von der Kohle soll gefeiert werden, sondern man will erklärtermaßen auch Grüße in die heraufdämmernde Zukunft aussenden. Wohl auch darauf spielt der lokale Dortmunder Ausstellungstitel „Schichtwechsel“ an.

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit "Was vergeht, was bleibt, was entsteht". (Foto: Bernd Berke)

Installation in Dortmund: Eva Gronbachs Arbeit „Was vergeht, was bleibt, was entsteht“. (Foto: Bernd Berke)

Der zweite Frauenname folgt sogleich: Alicja Kwade fasziniert mit ihrer Installation „Die Trinkenden“, in der höchst konventionelle Porzellan-Nymphen („weißes Gold“) am Fuß einer Kohlehalde („schwarzes Gold“) knien. Daraus erwächst eine durchaus rätselhafte Spannung. Wer mehr von dieser Künstlerin sehen will, hat dazu reichlich Gelegenheit: Das Kunstmuseum in Gelsenkirchen widmet ihr im „Kunst & Kohle“-Kontext eine Einzelausstellung.

Überhaupt finden sich Querbezüge zwischen den Museen. Einen losen Anknüpfungspunkt gibt es etwa nach Oberhausen, wo in der Ludwiggalerie Bergbau- und Kumpel-Figuren im Comic das Spezialgebiet sind. Auch in Dortmund sieht man eine Arbeit in diesem Geiste: Stephanie Brysch, also eine weitere Frau, hat ihre Collage „Unter Tage“ aus Comic-Figuren erstellt, die sich allesamt unter die Erdoberfläche begeben.

In Dortmund drei Kuratorinnen, in Unna drei Künstlerinnen

Nun aber noch etwas weiter ostwärts nach Unna. Dort befindet sich das weit und breit einmalige Zentrum für internationale Lichtkunst mit etlichen „Ikonen“ des Metiers. Und siehe da: Hier sind drei Künstlerinnen mit ihren Licht-Installationen gar unter sich. Bergbau als Männersache? Das gilt längst nicht mehr, wenn es um die ästhetischen Hinterlassenschaften und die weiteren Aussichten geht.

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers' Neon-Installation "Mein Berg" (2015) (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Beitrag im Lichtkunstmuseum Unna: Diana Ramaekers‘ Neon-Installation „Mijn Berg“ (Mein Berg,  2015). (© Foto: Sergé Technau Photograhy, Courtesy by Diana Ramaekers)

Das Lichtkunst-Museum ist thematisch von vornherein prädestiniert, geht es doch zum Rundgang durch die ehemalige Linden-Brauerei einige Meter abwärts in den früheren Gärkeller; wenn man so will: unter Tage. Alle drei Installationen der meditativen Ausstellung „Down here – Up there“ (Hier unten, dort oben) spielen mit wechselnden Effekten von Licht und Dunkelheit.

Die Niederländerin Diana Ramaekers hat rot gefärbten Neonröhren montiert, deren Licht langsam entsteht und verlischt, immer und immer wieder – ein geheimnisvoller Energiefluss in der Dunkelheit. Nicola Schrudde hat ihren vielschichtigen Raum unter dem Titel „Schwarzdichte“ mit keramischen Plastiken und Videoloops so gestaltet, dass man nur allmählich und schemenhaft erkennt, was sich da begibt. Offenbar werden Kräfte der Natur beschworen, die in der Zukunft des Ruhrgebiets wieder mehr hervortreten sollen.

Schließlich Dorette Sturms raumfüllende „Breathing Cloud“, eine atmende Wolke also, die stets an- und abschwillt. Sehr sanftmütig kommt einem das vor – wie eine milde Verheißung. Man mag an die einst so schwarzen Wolken denken, die „damals“ über dem Revier hingen. Nun füllen sie sich offenbar mit neuem Leben. Und die Schwärze ist geschwunden.

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„Kunst & Kohle“: je nach Stadt ab 2., 3., 5. oder 6. Mai (Ausnahme: Küppersmühle in Duisburg erst ab 8. Juni). In den meisten Museen bis zum 16. September (Ausnahmen: Dortmunder „U“ nur bis 12. August, Museum Folkwang Essen nur bis 5. August).

Die beteiligten Museen (nach Städte-Alphabet) und ihre Themen:

Kunstmuseum (Bochum): Andreas Golinski „In den Tiefen der Erinnerung“
Museum Unter Tage (Bochum):
„Schwarz“
Josef Albers Museum (Bottrop):
Bernd und Hilla Becher – Bergwerke
Museum Ostwall im „U“ (Dortmund): „
Schichtwechsel“ – von der (bergmännischen) Laienkunst zur Gegenwartskunst
Lehmbruck-Museum (Duisburg): „
Reichtum: Schwarz ist Gold“
Museum DKM (Duisburg): „
Die schwarze Seite“
Museum Küppersmühle (Duisburg):
Hommage an Jannis Kounellis
Museum Folkwang (Essen):
Hermann Kätelhön – Ideallandschaft: Ruhrgebiet
Kunstmuseum (Gelsenkirchen):
Alicja Kwade
Flottmann-Hallen (Herne):
David Nash
Emschertal-Museum / Schloss Strünkede (Herne): „
Coal Market“ – Verhüllung durch Ibrahim Mahama
Skulpturenmuseum Glaskasten (Marl): „
The Battle of Coal“
Kunstmuseum (Mülheim/Ruhr):
Helga Griffiths „Die Essenz der Kohle“
Ludwiggalerie im Schloss (Oberhausen): „
Glück auf! Comics und Cartoons“
Kunsthalle (Recklinghausen):
Gert & Uwe Tobias
Zentrum für Internationale Lichtkunst (Unna): „
Down here – up there“
Märkisches Museum (Witten):
Vom Auf- und Abstieg

25 Euro (ermäßigt 15 Euro) kostet ein Kombi-Ticket, das auch zum mehrmaligen Besuch aller Ausstellungen über den gesamten Zeitraum berechtigt. Erhältlich in allen teilnehmenden Museen und unter der Ticket-Hotline der Ruhr Tourismus GmbH: 01806/18 16 50.

Kostenlose Bustouren, jeweils zu drei beteiligten Museen (ca. fünfeinhalb Stunden lang). Termine im Ausstellungs-Booklet: Anmeldungen unter buchungen@ruhrkunstmuseen.com oder telefonisch: 0203/93 55 54 723

Massiver Katalog in 17 Bänden im Wienand-Verlag, begrenzte Auflage der Gesamt-Publikation im großen Schuber, ansonsten in Einzelexemplaren für die beteiligten Museen erhältlich. Zur ersten Orientierung gibt es zudem ein Gratis-Booklet mit knappen Infos zu allen Ausstellungen.

Alle weiteren Informationen unter:

www.ruhrkunstmuseen.com/kunst-kohle.html




100 Jahre Fake – Dortmunder „Hartware MedienKunstVerein“ zeigt berühmte Fotofälschungen der Russischen Revolution

»Sturm auf den Winterpalast«, unretuschierte Variante und vermutetes Original des theatralen Reenactments auf dem Palastplatz, Sankt Petersburg, 1920, von Regisseur Nikolaj Evreinov u.a. (Foto: HMKV/CGAKFFD SPb, Katalognummer Ar 86597)

Die Oktoberrevolution feiert, wie wohl hinlänglich bekannt, in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag, und gerade noch rechtzeitig ist das Thema nun auch im Dortmunder „U“ angekommen – im „Hartware MedienKunstVerein“ (HMKV), der im nämlichen ehemaligen Brauereigebäude residiert und dem man ein gerüttelt Maß an Fleiß nicht absprechen kann, auch wenn Medienkunst, zumal die hier präsentierte, manchmal keinen leichten Zugang gewährt.

Sturm auf den Winterpalast

Nun also, kuratiert von Sylvia Sasse und Inke Arns, der „Sturm auf den Winterpalast“, genauer eine Auseinandersetzung mit dem möglicherweise berühmtesten Fotodokument, das dieses Kernereignis der Oktoberrevolution zum Thema hat. Das Bild ist im „U“ gleich zweimal wandtapetengroß zu sehen, einmal als Original, einmal so retuschiert, daß es den Vorstellungen der Bolschewisten von einer in jeder Hinsicht „richtigen“ Revolution entsprach.

Riesenspektakel

Original und Fälschung? Nun, die Entstehungsgeschichte dieser und etlicher weiterer Fotografien vom Sturm auf den Winterpalast ging im Jubiläumsjahr 2017 kräftig durch die Medien, und so ist wohl relativ bekannt, daß beide Bilder das sind, was wir heute „Fake“ nennen – Fake und retuschierter Fake (ist Fake männlich, grammatisch gesehen?).

Das unretuschierte Bild entstand nämlich keineswegs 1917, sondern erst am 7. November 1920, und es war Bestandteil einer gigantischen Theaterinszenierung anläßlich des dritten Jahrestages der Revolution. Regisseur Nikolaj Evreinov (1879 – 1953) inszenierte das Spektakel vor dem Palast auf drei riesigen Bühnen, und die Zahl der Mitwirkenden schwankt je nach Quelle zwischen 60.000 und 150.000. Ein revolutionärer Film entstand, und die Revolutionäre träumten ihren Traum vom Palaststurm, den es tatsächlich – so oder so ähnlich – nie gegeben hat.

Auch „La liberté raisonnée“ von Christina Lucas  (2009) wird in der Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast gezeigt (Foto: HMKV, Courtesy of Cristina Lucas)

Zuschauer stören

Doch Wirklichkeit läßt sich gestalten; das denkt der amerikanische Präsident, und das sahen auch schon die Bolschewisten so. Deshalb wurde der inszenierte Palaststurm – die Noch-einmal-Inszenierung, das „Reenactment“ – per Retusche passend gemacht und in den folgenden Jahrzehnten als authentisches Bilddokument verbreitet. Man entfernte einen hölzernen Regieturm aus dem Bild sowie eine große Gruppe von Zuschauern, weil eine Revolution keine Zuschauer haben darf, sondern nur entschlossen voranstürmende Kämpfer. Die putzige Bezeichnung für diese Art von Historienbild ist „Als-Ob-Reenactment“, also quasi erfundener Fake, sozusagen doppelt gemoppelt. Und warum soll uns das interessieren? und warum interessiert sich ein Museum dafür?

Lästige Wirklichkeit

Nun, weil es hier, bei diesem Weltereignis, um frühe verfremdende Eingriffe am (Modewort!) revolutionären Narrativ geht, um die Erzählung sozusagen, die sich an Wunschvorstellungen eher orientiert als an der lästigen Wirklichkeit. Die Revolution mußte ja den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Marxismus folgen, und die Bilddokumente hatten dies zu belegen. Und möglicherweise, aber das ist natürlich spekulativ, findet sich in diesem unseriösen Umgang mit der Wirklichkeit schon der Keim des Scheiterns. Bezüge zur Gegenwart, zu „alternativen Fakten“ und unseriösen populistischen Verkürzungen liegen auf der Hand. Doch zurück in die Ausstellung des HMKV.

Noch kein Bildjournalismus

Die Dortmunder Ausstellung reichert die Gegenüberstellung der beiden Großabzüge mit vielen detailhaften Fotografien an, Kämpfer, Barrikaden, Kampffahrzeuge usw. – links welchen von der Inszenierung, rechts welchen von der „richtigen“ Revolution. Das ist gut gemeint, offenbart aber schnell das Dilemma, daß die Fotos jener Jahre zwangsläufig fast immer Inszenierungen waren und sich ästhetisch deshalb eigentlich nicht unterscheiden. Das war der damaligen Fototechnik geschuldet, die mit Plattenkameras und wuchtigen Stativen noch wenig geschmeidig war. Ein Bildjournalismus nach heutigem Verständnis etablierte sich erst 10, 20 Jahre später.

Mit dickem Strich

Ein weiterer, großartiger Teil dieser Präsentation indes ist die Wiedergabe von Teilen des revolutionären Films Evreinovs. Vorrevolutionäre Gesellschaft, mit ganz dickem Strich gezeichnet: hungernde Arbeiter, kämpferische Bauern, Plutokraten, die hastig ihre Geldsäcke beiseite schaffen. Es galt, ein Volk, dem wenig Bildung zuteil geworden war, von einer besseren Zukunft im Kommunismus zu überzeugen; dieser Impetus wirkt redlich und rührt an.

Eine Aktion der Gruppe Chto Delat erinnert an die revolutionären Matrosen: „Palastplatz 100 Jahre danach. Film-Vortrag ,Vier Folgen von Zombie'“ (Foto: HMKV/Courtesy of Chto Delat and KOW Berlin)

Die Matrosen sind fort

Angereichert wird die Auseinandersetzung mit dem Winterpalast-Sturm durch einige aktuelle Arbeiten jüngerer Künstler, von denen zwei prominent präsentierte Videos in besonderer Erinnerung bleiben. Das eine stammt von der russischen Gruppe „Chto Delat“, was übersetzt „Was tun“ heißt.

Natürlich stand Lenins kämpferische Schrift gleichen Titels bei der Namensfindung des Künstlerkollektivs Pate, für das sich die Frage „Was tun“ stellte, als es sich auf dem Platz vor der Eremitage in St. Petersburg den alltäglichen Menschenauftrieb anguckte und sich fragte, wo denn die Matrosen geblieben seien – jene, deren Meuterei auf dem Kriegsschiff „Aurora“ am Anfang der Revolution gestanden hatten. In ihrem Video gaben sie den verschwundenen, vergessenen Kämpfern von damals gleichsam als lebenden Toten Gestalt, langsam und wortlos rückwärts den Platz beschreitend. Dabei tragen sie Transparente, auf denen nichts steht. „Palastplatz 100 Jahre danach. Film-Vortrag ,Vier Folgen von Zombie’“ ist der sperrige Titel dieses 34-Minuten-Videos, das so intensiv historische Aufrichtigkeit einfordert, im „U“ seine Deutschlandpremiere erlebt und die Auseinandersetzung mit dem Sturm auf den Winterpalast ganz hervorragend ergänzt.

Pseudo-Parlamentarismus

Das zweite Video stammt von dem Schweizer Milo Rau, der behauptet, der Welt mangle es an demokratischer Repräsentanz, um die wirklich wichtigen Probleme zu behandeln und zu lösen. Deshalb hat er sich ein handverlesenes 60-Personen-Plenum in die Berliner Schaubühne eingeladen und dort Parlament gespielt – stellvertretend für alle, „die von der deutschen Politik betroffen sind, jedoch kein politisches Mitspracherecht haben“. Eine recht autistische Veranstaltung; nur ganz leise und bar jeder Hoffnung auf Verständnis möchte man fragen, wie es denn um die Mandatierung der Abgeordneten steht, ob weltweit agierende NGOs oder die Vereinten Nationen für diesen Künstler nicht existieren. Aber das ist wahrscheinlich sinnlos. Trotzdem paßt diese Arbeit gut in die Ausstellung, weil sie den Pseudo-Parlamentarismus des untergegangenen real existierenden Sozialismus geradezu genial paraphrasiert.

So schon viel zu viel geschrieben. Deshalb muß der Aufsatz über die Winterpalast-Ausstellung jetzt mit dem Hinweis sein Bewenden haben, daß neben dem historischen Komplex insgesamt neun Arbeiten von sechs zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern zu sehen sind.

Ausstellung „Die Grenze“: Taus Makhatcheva (Rußland), „19 a Day“, Photo 2014, Photograph: Shamil Gadzhidadaev (Foto: HMKV/Taus Makhatcheva)

An der Grenze zu Asien

Neben dem Winterpalast gelangt ein Ausstellungsprojekt des Goethe-Instituts zur Präsentation. Es heißt „Die Grenze“ und behandelt, geographisch wie auch kulturell, die Grenze zwischen Europa und Asien. Die ist nach dem Zerfall der Sowjetunion ja wieder deutlicher hervorgetreten, und das veranlaßte Deutschlands nationales Kulturinstitut, junge Künstler der Region zur Auseinandersetzung mit dem Thema aufzufordern.

Es entstand eine Reihe mehr oder minder origineller Arbeiten, etliche Videos zumal, die sich mit den großen und kleinen regionalen Eigenheiten und mit kultureller Identität beschäftigen. Man begegnet einem „interaktiven“ asiatischen Karaoke-Automaten, texanischen Cowboys in Fernost oder auch Sammeltassen aus Samarkand, die die Moskauer sich als Reisesouvenirs mitbrachten, die aber in einem Kombinat 70 Kilometer von Moskau entfernt gefertigt wurden.

Das Ausstellungsdesign wird beherrscht von blauen hölzernen kubischen Transportkisten mit einer Kantenlänge von etwa einem Meter, und das ist so, weil diese Kisten, wie Kurator Thibaut de Ruyter erläutert, auch für den Transport der Schau verwendet werden. An sechs Orten hat das Goethe-Institut „Die Grenze“ in diesem Jahr bereits gezeigt, Moskau, St. Petersburg, Krasnojarsk, Kiew, Tiflis, Minsk. Dortmund ist die Nummer sieben.

Und außerdem:

Noch bis 3. Dezember steht auf dem Platz vor dem „U“ ein 20-Fuß-Container, in dem der englische Künstler Sam Hopkins (Jahrgang 1979) seine Installation „Ministry of Plastic“ aufgebaut hat. Sie präsentiert in edlen Vitrinen Dinge und Scheußlichkeiten des täglichen Bedarfs und spielt mit dem Gedanken, daß der (heute als minderwertig betrachtete) Kunststoff das Gold der Zukunft sein könnte, edel und wertvoll.

Man ahnt, daß es um Recycling, Upcycling, Ressourcenschonung oder Urban Mining gehen könnte, und damit ist diese Arbeit auch schon recht vollständig erklärt. Während des Klimagipfels stand der Container übrigens vor dem Bonner Kunstmuseum; vor das Dortmunder „U“ hat ihn jetzt die „innogy Stiftung“ gestellt, die jüngst im „U“ tagte und deren Stipendiat Sam Hopkins ist.

  • „Sturm auf den Winterpalast“ und „Die Grenze“
  • Hartware MedienKunstVerein im Dortmunder U, Ebene 6, Leonie-Reygers-Terrasse, Dortmund
  • Bis 8. April 2018
  • Geöffnet tägl. 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Mo geschl.
  • Eintritt 5 Euro
  • Zur Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast“ gibt es ein Begleitheft
  • www.hmkv.de/



Hilfe, die Zukunft ist da! Unser Science-Fiction-Leben

Und, wonach greifen Sie nach dem Aufwachen zuerst? Nun gut, es gibt vielleicht ein Küsschen für den Menschen neben uns. Aber dann schnappt man sich dieses kleine flache Gerät, das, neben einem einstaubenden Rilke-Band, auf dem Nachttisch liegt. Hat es nicht gerade so vertraut gebrummt?

Die Zukunft hat offenbar schon begonnen... (© Franz Ferdinand Photography) photo credit: Franz Ferdinand Photography <a href="http://www.flickr.com/photos/121184747@N06/21706059016">Science Fiction Treffen</a> via <a href="http://photopin.com">photopin</a> <a href="https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/">(license)</a>

Die Zukunft hat offenbar schon begonnen… Vielsagender Moment beim Science-Fiction-Treffen im Technikmuseum Speyer. (© Franz Ferdinand Photography) Photo credit mit Links: Franz Ferdinand Photography Science Fiction Treffen via photopin (license)

Hallo, du mein Wecker voller Musik, mein Telefon, meine Verbindung zur Welt, mein Minikino, mein Alleswisser, mein Immerfürmichda-Dings! Guten Morgen! Magst du mal eben meinen Puls fühlen? Natürlich, das kannst du auch, mein süßes Roboterchen. Denn wir leben unter Bedingungen, die in der Rock’n’Roll-Ära noch pure Science-Fiction waren. Hilfe, die Zukunft ist da!

Es soll sie ja geben. Ein paar ältere Herrschaften, die sich der neuen Technik verweigern. Sie haben kein Smartphone, sie kennen kein Internet: „Brauch ich nicht, will ich nicht“, murren sie. Doch sie kennen ihre Fernbedienung und lassen gerne ganztägig den Fernseher laufen. Früher flimmerte da ein Testbild, jetzt ist immer Seifenoper. Blöd, aber faszinierend.

Genau so etwas hatten wir befürchtet, damals, als wir den Fortschritt noch mit Skepsis sahen. Aber zum Glück gibt es – zumindest in der westlichen Zivilisation von Angela Merkel und Monsieur Macron – keinen dämonischen Staatsapparat, der uns dumm hält, um uns für fiese Ziele zu benutzen, was Dichter, Denker und wir Gelegenheitsrevoluzzer stets geargwöhnt hatten. Es ist vielmehr die betörende Technik, diese geschäftstüchtige Circe des 21. Jahrhunderts, die uns mit ihrem Zauberkünsten und Lockgesängen in ihren Bann gezogen hat. Und wir wollen uns nicht mehr von ihr trennen.

Captain Kirk, bitte kommen!

Denn sie macht uns das Leben schon sehr bequem. Wir müssen nie mehr wieder nach einer Telefonzelle suchen, nach Münzen kramen und uns über zerfledderte Telefonbücher ärgern. Unser Smartphone kennt sowieso alle Nummern, stellt jederzeit und überall die Verbindung her. Selbst aus der Gletscherspalte können wir noch Mutti anrufen, denn das Mobilfunknetz umfasst entlegenste Winkel der Erde. Und Akkus halten auch immer länger.

Tatsächlich funktionieren unsere Handys heute reibungsloser als der Kommunikator, mit dem Captain Kirk in der Fantasie von 1966 Kontakt zu den Kollegen vom Raumschiff Enterprise aufnahm. Ein ziemlich klobiges Klappding war das – und doch vollkommen utopische Technik für Menschen, die allenfalls ein knarrendes Walkie-Talkie kannten.

Allgegenwärtiger Begleiter: das Smartphone. (Foto: Joachim Kirchner / pixelio.de)

Allgegenwärtiger Begleiter: das Smartphone. (Foto: Joachim Kirchner / pixelio.de)

1966, das muss man mal bedenken, war noch nicht einmal das Fax-Gerät erfunden, das sich die Enterprise-Macher ausgedacht hatten. Wer hätte damals geahnt, dass auch das Bildtelefon mit beliebiger Projektion – dolle Sache in der Sternenflotte – für uns alle bald schon eine Selbstverständlichkeit werden würde? Gerade so, wie Captain Kirk und sein geschätzter Halbvulkanier Mr. Spock (der mit den spitzen Ohren) die knurrenden Klingonen-Generäle vor dem Zusammenstoß auf ihren Schirmen sehen konnten, gucken wir heute der Schwiegermutter über Skype in die Augen. Und dank Highspeed Flatrate kostet das nichts extra.

Das Ende der Geheimnisse

Die ewige Verfügbarkeit kann auch ein Fluch sein. Es gibt keine Ausreden mehr. Vorbei die Zeit, als man tatsächlich in die Ferien verschwinden konnte – mit dem vagen Versprechen, nach einer Woche vielleicht einmal anzurufen („Aber verlass dich nicht drauf …“). Ständige Statusmeldungen – „Sind jetzt am Autobahnkreuz“, „Haben die Meiers getroffen“, „So sieht der Strand aus“ – gehören zum Unterwegs-Sein. Und es werden zeitnahe Antworten erwartet. Schließlich verpetzt mir meine What’sApp sofort, wann die Lieben meine Nachricht gesehen haben.

Diskretion war gestern. Finstere Mächte, geheime Dienste könnten jede meiner Mails und Messages theoretisch auch gesehen haben. Da nützen Anti-Viren-Programme nichts. Wir wissen alle, dass die gründliche Bespitzelung des Einzelnen technisch kein Problem mehr darstellt. Genau das hat George Orwell, der alte Pessimist, in seinem 1948 vollendeten, von der Zeit überholten Zukunftsroman „1984“ befürchtet.

„Big Brother is watching you“ – ja, ja, der wie auch immer geartete große Bruder kann/könnte alle Räume und Straßen beobachten, unsere Gespräche abhören, unsere Handys und Autos jederzeit orten. In den 1970er-Jahren wären wir ausgeflippt vor Entsetzen. Heute ist die Privatsphäre ein weniger streng gehütetes Revier.

Keine Angst vor Big Brother

Mit kindlichem Vergnügen geben wir der Öffentlichkeit bei Facebook preis, wo wir heute Abend essen gehen, was wir auf dem Teller haben, wie süß der Hund wieder guckt. Die virtuellen Friends verdrehen schon die Augen, treiben es aber ähnlich. Ich poste, also bin ich, das ist die Devise der Social-Media-Gesellschaft.

Während die Vorsichtigen wenigstens kurz überlegen, was sie da unauslöschbar in die Welt setzen, so begeben sich tollkühne oder auch dummdreiste Freiwillige in die Arenen der Reality-Shows, scheuen weder Dschungelprüfungen noch Wohnzimmerknäste und lassen sich vor der Kamera demütigen. Eigentlich nicht zu fassen: Orwells Begriff vom „Big Brother“ ist seit der Jahrtausendwende der Titel der erfolgreichsten Sendung mit voyeuristischem Konzept.

Verzeihen Sie, Mr. Orwell, der Sie die Menschheit mit dem gruseligen Großen Bruder vor dem faschistoiden Überwachungsstaat warnen wollten! Wir Science-Fiction-Wesen haben aus Ihrem düsteren Zukunftsbild einen Witz gemacht. „Wir amüsieren uns zu Tode“, ermahnte schon in den 1980er-Jahren der Medienwissenschaftler Neil Postman die Welt. Aber wir leben noch, trotzen dem Terror und der Klimakatastrophe und gucken jetzt Serien gleich staffelweise auf Netflix. Unsere Empfindlichkeiten haben sich offenbar erheblich verändert. Die nicht abschaltbaren Teleschirme in Orwells 1984er-Szenario können uns einfach nicht mehr schrecken.

Seltsame neue Welt

Natürlich regen wir uns zwischendurch mal ein bisschen auf – über Gentechnik, Leihmütter, eingefrorene Eizellen, Embryonen aus dem Reagenzglas und geklonte Tiere. Lauter Phänomene aus der klassischen Science-Fiction-Literatur, die mir nichts, dir nichts Wirklichkeit geworden sind.

Immer wieder gern zitiert wird in diesem Zusammenhang der 1932 entstandene Zukunftsroman „Schöne neue Welt“ des britischen Intellektuellen Aldous Huxley. Noch heute beschäftigen sich artige Abiturienten mit dem pädagogisch konstruierten Stoff über einen globalen Staat, der die Menschheit in Großlabors aufzieht und perfekt kontrolliert. Für Vergnügungen ist gesorgt, allzu starke, individuelle Gefühlsregungen sind hingegen unerwünscht und werden von der Obrigkeit gewaltsam unterdrückt.

Da allerdings irrten Huxley und andere Vordenker. Es ist alles noch viel raffinierter. Wir in der Zukunft Angelangten dürfen durchaus individuell fühlen und handeln. Das allumfassende Netz bietet uns nicht nur ständige Konsum-, Kommunikations- und Unterhaltungsmöglichkeiten. Nein, es nimmt auch unsere Wutausbrüche und Verschwörungstheorien offenherzig entgegen, Tag und Nacht.

Liebesschwüre und Hasstiraden werden genauso tolerant gespeichert und leidenschaftslos verbreitet wie Referate über die Erderwärmung. Und was das Beste ist: Das System hilft uns bei dem Referat. Wie eines dieser allwissenden Elektronengehirne aus der Science-Fiction-Literatur weiß es Antworten auf alle Fragen. Gefüttert vom Wissen zahlloser einander kontrollierender Individuen, entwickelt es zum Glück (noch) kein gemeines Eigenleben wie der Supercomputer HAL 9000 aus Stanley Kubricks 1968er-Werk „2001 – Odyssee im Weltraum“. Aber das kann ja noch kommen.

Wo bleibt das eigene Wissen?

Bisher lieben wir unser allwissendes Elektronengehirn und googeln uns durchs Leben, auch wenn uns hin und wieder ein Unbehagen beschleicht. Was ist, wenn der große Stecker mal gezogen wird? Wenn die iCloud, diese mysteriöse Datenwolke der weltbeherrschenden Firma Apple, vom Wind des Unberechenbaren verweht wird? Wenn die Systeme kollabieren? Dann, werte Mitmenschen, bleibt, was derzeit nicht mehr allzu heftig gefördert wird: das eigene Wissen. Wohl dem, der dann noch Meyers Taschenlexikon in 25 leider veralteten Bänden besitzt! Das sind bekanntlich nur wenige Menschen.

Die Vernichtung der privaten Bibliotheken musste keineswegs, wie in Ray Bradburys 1953 erschienenem Science-Fiction-Roman „Fahrenheit 451“, mit Gewalt betrieben werden. Junge Leute schleppen sich bei ihren globalen Umzügen nicht mehr mit 100 Bücherkisten ab. Große Bücherwände sind aus den Katalogen der Möbelhäuser verschwunden. Zwar kaufen kultivierte Damen gerne Literatur zum Verschenken. Auch sieht man im Urlaub Leute mit Krimis auf dem Liegestuhl. Aber auf Dauer ist das e-book nun mal praktischer.

Alles ist so praktisch. Wir können über das Smartphone zu Hause das Licht anmachen. Wir müssen uns keine Zahlen und Fakten mehr merken. Das Auto fährt bald von selbst. Und schon jetzt führt uns das Navigationssystem zu jedem Ziel, das wir uns vorher über Streetview schon mal angeguckt haben. Wir müssen nicht mal mehr mit dem Finger auf Tasten drücken. Die Technik reagiert auch auf unsere Stimme.

Science-Fiction ist Realität geworden. Es wird Zeit, den eingestaubten Rilke-Band vom Nachttisch zu nehmen und mal wieder einfach so auf knisterndem Papier ein Gedicht zu lesen: „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre …“. Dann denken wir noch mal nach. Über uns und die Zukunft, in der wir angekommen sind.




Neben dem Pflaster der Bücherstrand: Das „Literaturhaus Oberhausen“ ist eröffnet – und was kann daraus werden?

Das erste Programm

Name und Konzept verheißen Gutes und die Stadt hat diese Initiative literaturverliebter Ehrenamtler bitter nötig. Ziele bleiben die Gründung einer Genossenschaft, gelebte literarische Geselligkeit und irgendwann vielleicht das große Haus.

21. April 2017, Freitagabend, 19 Uhr: Zwei Lesungen zu Bob Dylan und „Tussi-Literatur“ hat es im März/April bereits gegeben, nun endlich sollte das neue Literaturhaus Oberhausen offiziell eröffnet werden. Per Rundmail hatte der „Verein der Freundinnen und Freunde“ eingeladen und man erwartete in Alt-Oberhausen Liebhaber des guten Buches und die versprengten Anhänger der übersichtlichen literarischen Szene.

Städtische Herzrhythmusstörung

Allerdings hat das neue Literaturhaus nicht gerade die feinste Adresse: Marktstraße, Nummer 146. Seitdem das Einkaufszentrum CentrO in der „Neuen Mitte“ die Innenstadt verödete, liefert der Alltag auf der Marktstraße nur noch Schatten früherer Tage. In der Süddeutschen Zeitung hieß es dazu im August 2016:
„Wenn sich in den vergangenen Jahren überhaupt jemand für Oberhausen interessierte, dann gab es immer die Bilder aus der Marktstraße (…). Meistens wehte eine zerknüllte Zeitung über das Pflaster, kein Mensch war zu sehen, leere Geschäfte blickten traurig und vorwurfsvoll in die Kamera.“

Trotzig hält das Stadtmarketing mit branchenüblichem Dummdeutsch dagegen:
„Die Marktstraße – mit 1.4 km die längste Einkaufsstraße in Oberhausen. 90.000 Einwohner und 8 Mio. Besucher jährlich decken hier mehr als nur den täglichen Bedarf. (…) Von montags bis samstags bietet der Frischemarkt auf dem Altmarkt (…) ein buntes Treiben. Hier schlägt das Herz von Oberhausen.“

Ach ja? Ich mache die Gegenprobe und gehe die Straße am Literaturhaus ab.
Nach fünfzig Metern gleich sechs Läden, die neue Mieter suchen, dazu Döner-Imbiss, Christlicher Verein Junger Menschen. Immerhin, vor einem Afrika-Shop wehen bunte Kaftane etwas Lebenslust in die Tristesse aus schäbigen Fassaden und den kaugummiverklebten, einst sündhaft teuren chinesischen Pflastersteinen. Viel jedenfalls hat sich die Stadt hier nicht einfallen lassen, um den Verfall ihrer alten Mitte aufzuhalten.

Trotz alledem: Die Wüste lebt

Sicher, bei gutem Wetter kann es tagsüber anders aussehen, man fühlt sich auf der Marktstraße weiter unten wie auf einem Basar. Engagierte Kulturgastronomen im nahen Café Gdanska und andere machen das Leben sogar abends da und dort lebenswert.

Das Literaturhaus Oberhausen schafft jetzt eine weitere Kultur-Oase für all jene, die es nach Poesie hungert, nach geistigem Leben dürstet. Der Ort dafür ist im Prinzip so schlecht nicht gewählt. Die Literaturenthusiasten haben von Emile Moawad, dem Betreiber der Weinlounge Le Baron, das benachbarte Ladenlokal angemietet. Der schon lange in Deutschland lebende Ägypter hatte es bislang nur als Weinlager genutzt. „Eine Win-Win-Situation“, wird mir Rainer Piecha später im Stile eines routinierten Pressesprechers mitteilen.

Ehemaliges Weinlager

Mit ein bisschen Glück wird das Literaturhaus Oberhausen nicht nur von der Gastronomie Moawads und seiner Klientel profitieren, sondern Moawad im Gegenzug auch von den Gästen des Literaturhauses, die zunächst mittwochs und freitags, später hoffentlich immer öfter zu Lesungen und Gesprächen erscheinen sollen.

Das Ladenlokal wurde sanft renoviert, das Regalsystem konnten die Literaturhäusler gut gebrauchen, um Teile einer Bibliothek, die ihnen einst gespendet wurde, auf den etwa 100 Quadratmetern unterzubringen. Jetzt wirkt das alles hell und freundlich, eine Mischung aus großzügigem Bibliothekszimmer und kleiner Buchhandlung plus ein wenig Café-Bestuhlung. 65 Gäste lauschten hier schon dem Bonner Gisbert Haefs, als der Ende März den Literaturnobelpreisträger Bob Dylan vorstellte, dessen Songtexte aus fünfzig Jahren Haefs unter dem Titel „Lyrics“ ins Deutsche übersetzt hatte.

Das schönste Meer ist das noch nicht befahrene, schreibt Nazim Hikmet

Freistätte oder Netzwerk?

Sympathisch, wie da am Eröffnungsabend die drei Vorstandsherren Obendiek, Piecha und Kowsky-Kawelke aus ihren Lieblingsbüchern vorlasen, aus T.C. Boyles „Wassermusik“, Nazim Hikmets Gedichten und Ralf Rothmanns „Milch und Kohle“.

Sicher, weibliche Ästhetik fehlte an diesem Abend, aber den meist etwas bejahrten Literaturkennerinnen und -kennern gefiel’s, die Lokalpolitik ließ sich eh nicht blicken, nicht einmal vor der Landtagswahl.

Apropos Wassermusik, der Kalauer sei erlaubt: Während des Zuhörens fiel mein vagabundierender Blick am Vorleser vorbei durchs große Schaufenster und damit auf etwas, das aussah wie der potthässliche Eingang zu einem unterirdischen Atombunker. Ein überdimensioniertes öffentliches WC, wie sich später herausstellte, das äußerst selten benutzt wird. Wohl auch, weil viele, die dort unterwegs sind, nur im äußersten Notfall fürs Pinkeln zahlen würden.

Kein Flair wie in Berlin oder Hamburg

Wer Literaturhäuser in Berlin, Hamburg oder München besucht, trifft da auf anderes Fluidum. An einem lauen Sommerabend im Garten des Literaturhauses Berlin sitzend, bei einem Glas Wein mit Freunden plaudernd, stört kein Blick auf profane Bedürfnisanstalten. In den urbanen Literaturhäusern bundesweit erwarten die Besucher täglich geöffnete Cafés und Buchläden, oft gestalten sie monatlich bis zu 20 literarische Veranstaltungen und holen sich internationale Autoren ins Haus. (In Berlin ist es dazu nur ein Katzensprung bis zum Kurfürstendamm – okay, okay, auch der ist manchmal nur noch eine Marktstraße auf höchstem Niveau.)

Das wirft nebenbei auch die Frage auf, was die Literatur-Aficionados aus Oberhausen dazu verleitet hat, für ihre derzeitige literarische Freistätte unbedingt das Etikett ‚Literaturhaus‘ zu verwenden. Was immer die – sagen wir mal – „Literaturlounge“ neben dem Le Baron noch zu werden verspricht, ein Literatur-Haus von Format ist es vorerst nicht. Und sollte es besser auch gar nicht werden?

Textrevolte anzetteln

Die Stärke des Literaturhauses Oberhausen ist seine Vernetzung mit Partnern in der Stadt, mit Stadtbibliothek oder Geschichtswerkstatt, vor allem, wenn größere Veranstaltungsräume benötigt werden. Im soziokulturellen Zentrum Altenberg ist das Haus demnächst mit der Reihe „Literatur unterwegs“ zu Gast: Am 25. Mai liest dort Frank Witzel aus „Die Erfindung der Rote Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969“.

Warum also nicht auch in Oberhausen aus der Not eine Tugend machen und Textrevolten anzetteln, die ins städtische Leben eingreifen? Oberhausen hat zwar mit dem neuen Literaturhaus noch kein Literaturhaus, aber bereits jetzt existiert übers beharrlich optimistische Engagement der Ehrenamtlichen eine veritable Erste-Hilfe-Textstation, eine Literaturambulanz vom Feinsten, ein mobiles Einsatzkommando für literarische Interventionen aller Art.

Und eigentlich ist es doch das, was Oberhausen wirklich nötig hätte: Störfeuer gegen abgehalfterte Kulturpolitik im Revier, einen Piratensender gegen allgegenwärtigen Kommerz, einen geistreichen Flaschenpost-Versand übers Meer austauschbarer Event-„Kultur“. Oder?




Der Schmerz und die Wut hinter den fröhlichen „Nanas“ – Frauenbilder von Niki de Saint Phalle in Dortmund

Ihre kunterbunten, drallen und prallen „Nana“-Figuren haben die Franko-Amerikanerin Niki de Saint Phalle (1930-2002) weltberühmt gemacht. Auf den ersten Blick vermitteln die monumentalen Skulpturen ungebrochene, beinahe kindliche Fröhlichkeit und betont weibliche Lebenslust. Doch ganz so simpel verhält es sich nicht.

Selbst solche Werke sind letztlich dem Leiden und dem Schmerz abgerungen, abgetrotzt. Das verdeutlicht jetzt eine Ausstellung im Dortmunder Museum Ostwall. Es ist die erste nennenswerte Präsentation dieser Künstlerin im Ruhrgebiet. Da merkt man mal wieder, dass beileibe nicht alles in dieser Region rechtzeitig ankommt, zumal auf dem Feld der schönen Künste. Aber besser spät als nie…

Moment der Befreiung: "Pink Nude in Landscape" (Rosa Akt in Landschaft), 1959. (© Niki Charitable Art Foundation / Foto Laurent Condominas)

Moment der Befreiung: „Pink Nude in Landscape“ (Rosa Akt in Landschaft), 1959. (© Niki Charitable Art Foundation / Foto Laurent Condominas)

Rund 120 Arbeiten sind in Dortmund versammelt, es handelt sich also um eine recht ansehnliche Auswahl, die den Blick auch in die Zeiten vor und nach den „Nanas“ schweifen lässt und somit die Perspektive gehörig weitet.

Viele Leihgaben aus Hannover

Zu verdanken ist die Fülle vor allem einer Kooperation mit dem Sprengel Museum in Hannover, das eine international bedeutsame Sammlung zum Werk von Niki de Saint Phalle besitzt. Als sie dem Haus im Jahr 2000 insgesamt 363 Arbeiten schenkte (und zur Ehrenbürgerin Hannovers wurde), war Ulrich Krempel Direktor des Museums – und blieb es bis 2014. Jetzt fungiert der in Bochum aufgewachsene Krempel just als Gastkurator in Dortmund. Ihm zur Seite standen Regina Selter (kommissarische Leiterin des MO) und Karoline Sieg.

Zielscheibe für die Wut auf den Geliebten: "Martyr nécessaire" (Notwendiger Märtyrer), 1961. (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto André Morin)

Zielscheibe für die Wut auf den Geliebten: „Martyr nécessaire“ (Notwendiger Märtyrer), 1961. (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto André Morin)

Die Schau gliedert sich weitgehend chronologisch und erstreckt sich über zehn Räume. Geradezu als Ikone erweist sich das einzige erklärte Selbstporträt, das Niki de Saint Phalle jemals geschaffen hat; wobei gerade sie sich natürlich in zahllosen anderen Werkstücken mehr oder weniger direkt selbst dargestellt hat.

Schreckliches Kindheitstrauma

Das teilweise mosaikartig gefügte Selbstbildnis (1958/59) besteht u.a. aus Keramikscherben und Kaffeebohnen, letztere als brünetter Haarkranz dieser schönen Frau, die sich in jüngeren Jahren auch als Mannequin (Model) für Magazine wie Vogue und Harper’s Bazaar verdingt hatte. Doch was hilft Schönheit allein? Brüchigkeit und Zerbrechlichkeit sprechen ziemlich buchstäblich aus dieser Arbeit.

Was man wissen muss, um die überaus starken, vielfach heftig aggressiven Impulse in ihrem Lebenswerk zu verstehen: Mit 12 Jahren ist Niki de Saint Phalle von ihrem Vater missbraucht worden, die Mutter hat zu all dem geschwiegen. Hinzu kam eine rigide katholische Erziehung. Aus solchen Verhältnissen sich herauszuwinden, erfordert beinahe übermenschliche Kräfte. Wohl auch deshalb gewinnt das künstlerische Schaffen zuweilen eine menschliche Dringlichkeit, die gar an eine Louise Bourgeois gemahnt.

Zukunftshoffung

Nach Schüssen auf kirchliche und andere Symbole: "Autel noir et blanc" (Schwarzweißer Altar), Assemblage, 1962 (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto: André Morin)

Nach Schüssen auf kirchliche und andere Symbole: „Autel noir et blanc“ (Schwarzweißer Altar), Assemblage, 1962 (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto: André Morin)

Seelische Drangsal ahnt man schon in jenem familiären, noch gegenständlichen Gemälde „Das Fest“ (um 1953), welches sie und ihren damaligen Mann Harry Mathews bei einer feuchtfröhlichen Feier auf einem Kölner Rheindampfer zeigt – freilich zweisam und ängstlich-traurig in eine Bildecke gezwängt, während ihre kleine Tochter die Mitte des Bildes einnimmt und tanzend „erobert“; ganz so, als wäre sie eine frühe Vorläuferin der „Nanas“, die erst Mitte der 60er aufkommen und vordem männlich beherrschte Räume ebenso beherzt wie voluminös übernommen haben.

Da kündigt sich also, aller momentanen Verzagtheit zum Trotz, die Morgenröte einer weiblichen Zukunftshoffnung an – zu einer Zeit, in der zwar Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ (1949) schon erschienen war, man aber gemeinhin noch nicht von Feminismus gesprochen hat; geschweige denn, dass er lebensweltlich wirksam geworden wäre.

Tatsächlich hat Niki de Saint Phalle zwischenzeitlich einen Nervenzusammenbruch erlitten und musste ihr eingeengtes Leben dringend ändern. Wie sehr hat ihr dabei geholfen, sich künstlerisch ausdrücken und befreien zu können!

Einen Auf- und Ausbruch markiert das Bild „Rosa Akt in Landschaft“ (1959), das eine durchaus selbstbewusste, kreative Schöpferin mit traditionellem Musikinstrument (Lyra) inmitten einer geradezu universalen, sternenweiten Explosion zeigt. Zuvor hat die Künstlerin mit der Assemblage „Zerbrochene Teller“ (um 1958) die den Frauen damals zugedachte Häuslichkeit entschieden zertrümmert.

Auf die Bilder schießen

Zu Beginn der 60er Jahre entstehen dann jene Schießbilder („Tirs“), bei denen sie mit Gewehren auf Leinwände angelegt und diese gleichsam zum farblichen „Bluten“ gebracht hat. Mit Dart-Pfeilen wirft sie auf eine Zielscheibe, kopfartig über dem Herrenhemd ihres damaligen Liebhabers platziert. Die Wut auf ihn musste einfach `raus. Damals durften Ausstellungsbesucher mitwerfen. In Dortmund ist das nicht vorgesehen.

Frauen in verschiedenen Rollen, bedroht von männlicher Kriegsmaschinerie: "Autel des femmes" (Altar der Frauen), 1964. (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Frauen in verschiedenen Rollen, bedroht von männlicher Kriegsmaschinerie: „Autel des femmes“ (Altar der Frauen), 1964. (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Alsbald zielt die junge Frau generell und speziell auf bildliche Symbole der Männerwelt und der Kirche. Auch ein veritabler Anti-Altar ist aus solchem Zerstörungswerk entstanden. Dahinter mag schon die nachmalige, rabiate „68er“-Aufforderung lauern: „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Nur dass hierbei ästhetische Gebilde entstehen und niemand körperlichen Schaden nimmt. Aber sage jetzt keiner, es sei eben doch weiblich-sanftmütige Kunst. Die Dortmunder Ausstellung trägt nicht von ungefähr den Titel „Ich bin eine Kämpferin“.

Positive Energie

Doch selbst Kurator Ulrich Krempel, wahrlich ein profunder Kenner ihres Werkzusammenhangs, kann an manchen Stellen nur über Beweggründe spekulieren – wie er denn auch dem Publikum nicht allzu viele deuterische Vorgaben andienen möchte. So wird auch er wohl nur mutmaßen können, wie und wann es letztlich zur „Wende“ im Werk gekommen sein mag, auf welch wundersame Weise Niki de Saint Phalle im Laufe der Jahre dermaßen viel positive Energie hat freisetzen können, welche ihre Visionen eines ersehnten Matriarchats befeuert hat.

Beherzt springende "Nana" aus bemaltem Polyesterharz, Stoff, Maschendraht und Papier: "Lily ou Tony" (Lili oder Tony), 1965 (© NIki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris, Foto Aurélien Mole)

Beherzt springende „Nana“ aus bemaltem Polyesterharz, Stoff, Maschendraht und Papier: „Lily ou Tony“ (Lili oder Tony), 1965 (© NIki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris, Foto Aurélien Mole)

Gewiss hatte es auch mit ihrer ungemein inspirierenden, wenn auch immer wieder schwankenden Beziehung zum gleichermaßen grandiosen Künstler-Kollegen und Maschinen-Poeten Jean Tinguely zu tun. Am Schluss der Dortmunder Auswahl sieht man eine Arbeit, die beide gemeinsam gefertigt haben – welch inniger Ausdruck zweier ganz verschiedener Sicht- und Schaffensweisen, die sich dennoch zu ergänzen vermochten!

Bis dahin kann man etliche Beispiele für die wechselvollen weiblichen Welten der Niki de Saint Phalle betrachten. Selbst bei einer Blitzführung ruft Kurator Krempel bereits so vielfältige Assoziationsmöglichketen auf, dass man vor manchem Bild staunend verharren möchte.

Kannibalische Mutter

Da sehen wir etwa die Frau als Gebärende, als Prostituierte, als Jungfrau oder als monströs „verschlingende Mutter“, die sich am Tisch im Café nicht nur Kuchen, sondern auch Kinder einverleibt. Das Kannibalische aber bemerkt man erst beim Näheren Hinsehen, zunächst ist einem die Figur trügerisch bunt erschienen. Überhaupt ist ja auch das Frauen- und Mutterbild bei dieser Künstlerin keineswegs ungebrochen. Wir erinnern uns ans Schweigen ihrer Mutter angesichts des ungeheuerlichen familiären Dramas.

Verschlingende Mutter: "Bon appétit" (robe mauve) (Guten Appetit, malvenfarbiges Kleid), 1980 (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Verschlingende Mutter: „Bon appétit“ (robe mauve) (Guten Appetit, malvenfarbiges Kleid), 1980 (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Und ja: Natürlich prangen auch ein paar „Nanas“ in Dortmund. Die größte misst immerhin über 5 Meter, eine andere scheint fröhlich von der Wand herab zu springen, mitten ins neue Leben hinein.

Bemerkenswert ist auch eine der allerersten, noch vergleichsweise unscheinbaren „Nanas“ von 1965: „Louise“ heißt sie, sie besteht auch aus Wollresten und ist in offenbar aus einem Taumeln heraus in tänzerische Bewegung geraten – immerzu vorwärts, wenn auch stets sturzgefährdet…

„Ich bin eine Kämpferin“. Frauenbilder der Niki de Saint Phalle. Museum Ostwall im Dortmunder „U“ (6. Etage). 10. Dezember 2016 bis 23. April 2017. Geöffnet Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 11-18 Uhr, montags geschlossen. 24., 25. und 31. Dez sowie 1. Jan. geschlossen. Eintritt 9 (ermäßigt 5) Euro, Katalog 19,90 Euro. Extra-Museumsshop und reichhaltiges Begleitprogramm. Internet: www.museumostwall.dortmund.de




Gebrauche Deine Zeit: Zum 80. Geburtstag von Wolf Biermann

Es ist ein seltsames Phänomen um Wolf Biermann, der ein glühender Liebhaber des Kommunismus war und doch mit ungehorsamen Liedern die DDR in Aufruhr versetzte.

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival "Lauter Lyrik" (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de - Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival „Lauter Lyrik“ (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de – Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wenn man von ihm spricht, diesem schnauzbärtigen Helden deutsch-deutscher Kultur, da erhebt sich schnell ein Missmut: „Den mag ich nicht. Der ist so selbstgerecht, so eitel!“ Ja, Leute, der Biermann ist nicht berühmt für seine Bescheidenheit. Er weiß um seine Bedeutung. Aber, mit Verlaub, das darf er auch. Denn er hat mit Poesie und Pathos am Rad der deutschen Geschichte gedreht.

Von seinem Leben, das am 15. November 1936 in einer Hamburger Arbeiterfamilie begann, erzählt er uns zum 80. Geburtstag selbst. 544 Seiten lang ist Biermanns Autobiografie mit dem Titel eines Liedes: „Warte nicht auf bessre Zeiten“. 200 Tagebücher und Stapel von Stasi-Akten wurden da verarbeitet – von einem, der nur in Liebesdingen locker lässt. Viel Zorn steckt darin. Aber auch viel Zärtlichkeit, nicht nur für seine Frauen und insgesamt zehn Kinder. Am Ende wird keine fiese Abrechnung aus dem Buch, sondern ein Stück süffiger Literatur mit geschichtlich-politischem Mehrwert. Der Meister der lyrisch-prägnanten Kurzform – „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit …“ – bleibt seiner Sprache auch auf der Langstrecke treu.

„Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war …“ Dagobert Biermann, Werftarbeiter jüdischer Herkunft, Kommunist und aktives Mitglied einer Widerstandsgruppe, wird 1937, kurz nach der Geburt seines Sohnes, zum zweiten Mal von den Nazis verhaftet. Er stirbt, nach qualvollen Jahren, im Februar 1943 in Auschwitz. Sein letzter Brief – „Warte nur, Wölflein, wenn ich wieder komme, dann bauen wir uns ein großes Schiff …“ prägt Biermanns Kinderseele bis ins hohe Alter. Im Juli 1943 überlebt der Kleine an der Hand seiner Mutter Emma die Zerstörung Hamburgs durch Fliegerbomben – den „Feuersturm“. Er sieht verbrannte und erstickte Menschen, registriert entsetzliche Details. Doch er weint nicht: „Der Schrecken war zu übermächtig.“

Vielleicht hat das große Trauma den erwachsenen Biermann unempfindlich gemacht gegen die kleinlichen Schikanen des SED-Regimes. Er ist in den Ostapparat hinein geraten, weil seine Mutter Emma Biermann, mutig-naive Witwe des Widerstandshelden Dagobert und überzeugt vom Segen des Kommunismus, ihr Bübchen zu den Jungen Pionieren und schließlich in die junge DDR schickt, den Hoffnungsstaat der westdeutschen Genossen.

Ab 1953 geht Wolf Biermann auf ein Mecklenburger Internat und fühlt sich am rechten linken Platz. Als Student und Regieassistent des Berliner Ensembles ist er Ende der 1950er-Jahre intellektuell ganz vorn dabei. 1961 begrüßt er sogar den Mauerbau als Reaktion auf die massenhafte Westflucht der Eliten. Und er bekennt heute: „Ich habe an diesem 13. August die verfluchte Mauer mitgebaut“.

Hinter der schützenden Grenze entwickelt sich der junge Biermann, gefördert vom Brecht-Komponisten Hanns Eisler, zum Liedermacher mit Gitarre. Er tritt auf als „Troubadour de Berlin“, beachtet auch von der Linken im Westen. Für den Osten ist sein Ton nicht unverfänglich genug. Er verärgert die „Alten Genossen“ mit Versen über seine Unzufriedenheit. Schon bald gibt es Auftrittsverbote wegen „Klassenverrat“ und Obszönität“.

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael - Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael – Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Mitte der 1960er-Jahre gehört Biermann zu den Geistern des Widerstands, ununterbrochen bespitzelt. „Die Stasi ist mein Eckermann“, so kommentiert Biermann bissig die eifrigen Mitschriften der Lauscher. Die westliche Studentenbewegung liebt ihn und seinen eingängigen Song von der „Ermutigung“ (1966): „Du, lass dich nicht verbrauchen, gebrauche deine Zeit …“. Sie liebt auch sein wehmütiges Barlach-Lied: „Vom Himmel auf die Erden falln sich die Engel tot …“. Die Langspielplatte „Chausseestraße 131“, zu Hause aufgenommen mit einem von Mutter Biermann geschmuggelten Mikrofon, wird 1969 hüben verkauft und mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Sie bringt dem Regime und dem Barden erstaunliche Devisen.

Biermann hat sich recht kuschelig eingerichtet im Gesinnungsgefängnis DDR, wo er Beachtung findet an der Seite des Chemikers und Dissidenten Robert Havemann, dessen Tochter Brigitt zu seinen zahlreichen Amouren gehört. Er inszeniert sich poetisch als preußischen Ikarus, „mit grauen Flügeln aus Eisenguss“. Wegen seines westlichen Ruhms wagen die Behörden nicht, Biermann einzusperren, sie lassen ihn 1976 sogar auf Westtournee gehen (siehe Video am Schluss des Beitrags), und er wäre wohl artig zurückkommen, wenn man ihn nicht nach seinem triumphalen Konzert in Köln ausgebürgert hätte. Aus Protest verlassen etliche Kunstgenossen, darunter auch die Filmstars Manfred Krug und Eva-Maria Hagen, die DDR. Das System erzittert nachhaltig. 13 Jahre später wird die Mauer fallen.

Der Vertriebene selbst verliert in der Freiheit seinen Status. Die Fans reagieren gelangweilt auf klassenkämpferische Parolen und belehrende Konzerte. Sie sind genervt von den Streitigkeiten, die er vom Zaun bricht. Biermann zieht sich zurück nach Frankreich, in den „Bernstein der Balladen“ und in den Kreis seiner wachsenden Familie.

Der schönen Pamela, Mutter der letzten drei Kinder, ist er immerhin seit 1983 verbunden. Er ist weich geworden. Geehrt mit Preisen im Namen deutscher Dichter von Hölderlin bis Heine, kommt der alte Wolf Biermann zu ziemlich liberalen Einsichten. Er lobt die bürgerliche Demokratie als „das am wenigsten Unmenschliche, was wir Menschen als Gesellschaftsmodell bisher erfunden und ausprobiert haben“. Ist doch wahr. Drum: „Lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit!“

Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ Die Autobiografie. Propyläen Verlag. 544 Seiten. 28 Euro.

Wolf Biermann: „Im Bernstein der Balladen – Lieder und Gedichte“. Propyläen. 240 Seiten. 24 Euro.

„Warte nicht auf bessre Zeiten“ – Wolf Biermann 1976 beim legendären Auftritt in der Kölner Sporthalle:
https://www.youtube.com/watch?v=GSw5H4tY29A




Wo Nanopartikel herrschen: Welten ohne Menschen als Thema im Dortmunder U

Das Plakat zur Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ © JAC-Gestaltung

Das Plakat zur Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ © JAC-Gestaltung

Autos fahren selbst, Computer kaufen und verkaufen Aktien, Roboter untersuchen und operieren Menschen, Haushaltsgeräte reagieren intelligent auf Veränderungen. Was heute schon in greifbarer Zukunft liegt, könnte sich bald noch weiter entwickeln: Künstliche Intelligenz ist kein Märchen von übermorgen mehr. Eine Welt, bevölkert von nicht-menschlichen Lebensformen, nicht erst seit Stanislaw Lem ein utopischer (Alp-)Traum, ist immerhin denkbar.

Das beliebte „Was wäre, wenn“-Spiel findet derzeit beim Hartware MedienKunstVerein (HMKV) im Dortmunder U statt: „Die Welt Ohne Uns“ ist eine Ausstellung betitelt, die bis 5. März 2017 in Werken internationaler Künstler „Erzählungen über das Zeitalter der nicht menschlichen Akteure“ präsentiert. Sie entwickeln Visionen radikal anderer Welten, in denen sich nicht-menschliche Lebensformen unter Umständen als anpassungsfähiger erweisen als der Mensch selbst.

Die 18 Künstlerinnen und Künstler aus dem Iran, den USA, der Türkei, Frankreich, Kenia, Litauen, Dänemark, Norwegen, Belgien, Italien und Großbritannien thematisieren eine „Ökologie nach dem Menschen“. In diesem „Post-Anthropozän“ haben andere „Lebens“-Formen die Macht übernommen: Algorithmen, KIs, künstlich erzeugte Nanopartikel, gentechnisch veränderte Mikroorganismen und aus heutiger Sicht monströs erscheinende Pflanzen.

Der letzte Mensch? Videostill aus dem Film "Pumzi" (2009) von Wanuri Kahiu.

Der letzte Mensch? Videostill aus dem Film „Pumzi“ (2009) von Wanuri Kahiu.

Die ausgestellten Arbeiten sind zum größten Teil Videos oder Video-Installationen. So zeigt etwa der norwegische Filmemacher und Designer Timo Arnall in „Robot Readable World“ einen Kurzfilm, in dem Roboter unsere Welt und schließlich uns selbst bevölkern. Wanuri Kahiu, Filmregisseurin aus Kenia, lässt in ihrem Film „Pumzi“ eine Wissenschaftlerin in einer post-apokalyptischen Welt nach Lebensspuren suchen. Pinar Yoldas aus der Türkei thematisiert in „The Kitty AI, Artificial Intelligence for Governance“ die Frage nach der Regierbarkeit einer Welt, in der durch den Klimawandel neue Lebens- und Gesellschaftsformen entstehen.

Timo Arnalls "Internet Machine"  ist ein Triptychon über die verborgene  Infrastruktur des Internets. In langsamen Kamerafahrten  führt es durch eines der größten, am besten gesicherten Datencenter der Welt, das von Telefónica im spanischen Alcalá betrieben wird © Timo Arnall

Timo Arnalls „Internet Machine“ ist ein Triptychon über die verborgene Infrastruktur des Internets. In langsamen Kamerafahrten führt es durch eines der größten, am besten gesicherten Datencenter der Welt, das von Telefónica im spanischen Alcalá betrieben wird © Timo Arnall

Weitere Werke stammen von Morehshin Allahyari & Daniel Rourke, LaTurbo Avedon, Will Benedict, David Claerbout, Laurent Grasso, Sidsel Meineche Hansen, Ignas Krunglevicius, Mark Leckey, Eva & Franco Mattes, Yuri Pattison, Julien Prévieux und Suzanne Treister. Kuratiert wird die Schau von Inke Arns.

Die Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ ist bis 5. März 2017 im HartwareMedienKunstVerein (HMKV) im Dortmunder U, Ebene 3, zu sehen. Nach der Präsentation im Dortmunder U wird sie vom Aksioma – Center for Contemporary Art in Ljubljana, Slowenien, übernommen, im Juni/Juli 2017 in der Vžigalica Galerie (City Museum) in Ljubljana, Slowenien, und im September 2017 im MMSU/Mali Salon in Rijeka, Kroatien, gezeigt.

Geöffnet ist das „U“ in Dortmund Dienstag, Mittwoch und an Wochenenden und Feiertagen von 11 bis 18 Uhr, am Donnerstag und Freitag von 11 bis 20 Uhr. Der Eintritt kostet 5, ermäßigt 2,50 Euro. Begleitveranstaltungen wie Führungen und Familiensonntage mit freiem Eintritt sowie ein Filmprogramm, beginnend am 10. und 11. November mit dem Science Fiction Film „The Whispering Star“ von Sion Sono, ergänzen die Ausstellung.

Info: www.hmkv.de, www.dortmunder-u.de




Vor 50 Jahren hob das Raumschiff „Orion“ ab

Der folgende Beitrag ist erstmals am 13. August 2013 in den Revierpassagen erschienen. Anlass der neuerlichen Veröffentlichung: Gestern (17. September) vor 50 Jahren hat die Ausstrahlung der legendären Reihe begonnen. Hier also nochmals der Text von 2013:

So hat man sich vor 47 Jahren die Zukunft vorgestellt: Die Menschen leben in einer keimfreien Unterwasserwelt. Das Mobiliar sieht poppig und furchtbar avantgardistisch aus. Leute in Einheitskluft vollführen schon mal seltsam roboterhafte Tänze. Vor allem aber brechen sie tagtäglich in die unendlichen Weiten fremder Galaxien auf.

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von "Raumpatrouille". (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von „Raumpatrouille“. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Willkommen bei der „Raumpatrouille“, der legendären Science-Fiction-Spielserie aus den 1960er Jahren! Willkommen an Bord des Raumschiffs „Orion“!

Der „alte Adam“ ist noch lebendig

Als „Märchen von übermorgen“ wird das Ganze schon im Vorspann der einstündigen Auftaktfolge bezeichnet, die ich mir jetzt noch einmal angesehen habe. Unter den Erdbewohnern herrscht Frieden, es gibt keine Nationalstaaten mehr. Doch der blaue Planet muss sich unentwegt gegen extraterrestrische Angreifer wehren – allen voran die geheimnisvoll glitzernden, ungreifbaren „Frogs“, gegen die auch Laserpistolen nichts ausrichten können. Trotzdem sind sie an einem Punkt verwundbar…

Auch der „alte Adam“ ist in dieser fernen Zukunft noch lebendig. Es gibt immer noch Hierarchien und Intrigen, aber auch Teamgeist und Freundschaft. Und es gibt immer noch diese uranfängliche, zuweilen etwas komplizierte Sache zwischen Männern und Frauen.

Dietmar Schönherr als smarter Kommandant

Im Zentrum der am 17. September 1966 gestarteten, siebenteiligen ARD-Reihe schwebt natürlich das Raumschiff „Orion“ unter dem Kommando des smarten Allister McLane (Dietmar Schönherr). Weil der oft allzu husarenhaft und eigenmächtig vorgegangen ist, degradieren ihn die Chefs für eine Bewährungsfrist von drei Jahren. Auch stellen sie ihm als Aufpasserin die rigide Sicherheitsoffizierin Tamara Jagellovsk (Eva Pflug) zur Seite, was der eingeschworenen „Orion“-Besatzung gar nicht in den Kram passt. Ein Hauptstrang der Serie schildert denn auch gruppendynamische Prozesse.

Der „Kalte Krieg“ und die Verweigerung

Man beachte den russisch klingenden Namen Jagellovsk und stelle sich vor, dass das alles mitten im Kalten Krieg (und vor der ersten Mondlandung) gesendet wird. Da ist es schon eine kleine Sensation, dass jene Tamara gelegentlich menschliche Seiten durchschimmern und mit sich reden lässt. Das Dauerthema Gehorsams-Verweigerung deutet, wenn man so will und genau hinhört, schon zaghaft auf die Rebellion von 1968 voraus. Jedenfalls ist es sozusagen sternenweit entfernt vom „Kadavergehorsam“ im Zweiten Weltkrieg, der damals gerade erst 21 Jahre zurücklag.

So erlesen auch das Darsteller-Ensemble war (außer Schönherr und Pflug u. a. Wolfgang Völz, Benno Sterzenbach, Friedrich Joloff usw.), wurde es doch beinahe in den Schatten gestellt, nämlich von den ungemein kreativ ausgeklügelten Spezialeffekten, die mit einfachsten Mitteln bewerkstelligt wurden. Computer im heutigen Sinne gab es halt noch nicht. Aber Phantasie und Tüftlergeist waren reichlich vorhanden!

Spezialeffekte mit Reis, Rasierklinge und Bügeleisen

So wurde ein interstellarer Lichtsturm mit Hilfe hochgeworfener Reiskörner erzeugt. Kosmische Strahlen? Die ritzte man mühsam in die einzelnen Filmbilder ein – per Handarbeit mit einer gewöhnlichen Rasierklinge. Berühmtheit erlangte das Bügeleisen, aus dem im Handumdrehen ein Bestandteil der futuristischen Raumschiff-Armaturen wurde. Oft halfen bewusst unscharf aufgenommene Bilder, viele aufgeregt blinkende Glühbirnchen oder wallende Nebelschwaden, um den galaktischen Budenzauber zu inszenieren. Und dabei haben wir noch gar nicht die futuristische Geräuschkulisse mit ihren bizarren Halleffekten erwähnt.

Es wurde spannend erzählt, doch keineswegs ohne Humor und einen Schuss Selbstironie. Der technische Jargon wurde bis zur Parodiereife ausgereizt, menschliche Schwächen geradezu wonnewoll ausgekostet. Trotz tollster Raumfahrttechnik lebten die uralten Instinkte aus Verfolgungsjagden in Dialogen dieser Art fort: „Sie kommen!“ – „Nichts wie weg hier!“ So ähnlich muss sich das schon in der Steinzeit angehört haben.




Dauerempörung und blasse Endzeitvision: Karen Duves Roman „Macht“

DuveMachtFrauen regieren die Welt und haben alle Schaltstellen der Macht besetzt. Nur Olaf Scholz hat es wie durch ein Wunder geschafft, Bundeskanzlerin zu werden. Die Wunderpille Ephebo sorgt für ewig jugendliches Aussehen, Nebenwirkungen wie Krebs spielen keine Rolle mehr, da der Menschheit aller Voraussicht nach – dem Klimawandel sei Dank – eh kein ganzes Jahrtausend mehr zum Überleben bleibt.

Und weiter: Religiöse Fanatiker freuen sich über massenhaften Zulauf und wer von den Männern es gar nicht mehr ertragen kann, der kettet seine Gattin einfach im Keller an, gibt sie als vermisst aus und hat wenigstens für die letzten Jahre auf Erden eine Sklavin, die ihm seine Lieblingskekse backt und auch sonst zu Diensten ist…

So ungefähr sieht es mit den „Macht“-Verhältnissen im Jahre 2031 aus, wenn es nach dem neuen Roman der Streitschrift-freudigen Autorin Karen Duve geht.

Die Männer sind an allem schuld

Während der Arbeit an diesem Roman erschienen der Autorin die herrschenden Machtverhältnisse der Gegenwart wohl so schrecklich, dass sie die Arbeit an „Macht“ für das ihr dringend gebotenes, als Essay gedachtes Werk „Warum die Sache schiefgeht – Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen“ unterbrach. Der Zusammenbruch der Zivilisation war ihr Thema, sekundär infolge der Klima-, Energie- und Flüchtlingskrisen, primär verursacht durch die „jahrtausendealten Schimpansenregeln schamloser aggressiver und gemeiner“ – na klar – Männer.

Bedauerlicherweise scheinen der Kraftakt dieses Essays und die folgende Talkshow-Tour einen Teil ihrer Kräfte verbraucht zu haben, denn die Beschreibung der dystopischen Welt, in der sie „Macht“ ansiedelt, erschöpft sich in Effekthascherei. Im Wesentlichen begnügt sie sich mit der Fortschreibung schon heute existenter Zustände: Hitzewellen, Gletscherschmelze, Wirbelstürme. Garniert mit alles überwucherndem gentechnisch manipuliertem Raps und Killerfliegen, das Ganze eingezwängt in ein Korsett aus Staatsfeminismus und Veganismus, verziert mit besagten Wunderpillen. Für ein als Endzeitroman beworbenes Werk eine ausgesprochen dürftige blasse Vision, in der die Ausgestaltung künftiger Namensgebung noch die meiste Aufmerksamkeit bekommen zu haben scheint.

Weltuntergang? – Halb so schlimm

Ein guter Endzeitroman vermag durch realistisch erscheinende, bedrohliche Visionen Betroffenheit und vielleicht sogar Bereitschaft zum Umdenken zu erzeugen. Karen Duve hingegen erzeugt nur Überdruss und Langeweile, davon allerdings eine Menge. Noch dazu ist die in der Vision angesiedelte Handlung derart unausgegoren, dass es genug Leser geben dürfte, die das Buch mit dem Gedanken beenden: naja, gut, die Welt geht unter, aber so schlimm wird es schon nicht. Die Gestalten in dem Buch arrrangieren sich ja auch alle irgendwie damit. Auch davon, was Gefangenschaft in einem engen Raum mit Menschen macht, hat man schon wesentlich aufwühlender gelesen – sei es in der Fiktion als auch in der Berichterstattung über real existierende Verhältnisse.

Die überschaubare Handlung wird erzählt aus der Sicht von Sebastian, genannt Bassi, der eine Sklavin hält. Doch auch dieser Ansatz, die Gedankenwelt eines Psychopathen zu erkunden, verliert sich im Ungefähren. Schon alleine deshalb, weil „Bassi“ unglaublich eindimensional daherkommt und man kaum glauben mag, dass ein so simpel gestrickter Mensch eine ruhmreichere Vergangenheit als Aufrüstungsgegner in seiner Biographie zu verzeichnen hat.

Der Weltuntergang an sich ist Bassi relativ egal, das größte Problem des armen Tropfes ist mangelnde Bewunderung. Ein klassischer Langeweiler, der sich in Allmachtsphantasien steigert und diese letzten Endes noch auslebt. Leider ziemlich phantasielos: Man erinnere sich, die Kekse! Immerhin bringt ihn das zu der nicht gerade neuen Erkenntnis, dass „Macht nie so gut ist wie in den Momenten, wo man sie mißbraucht“.

Wut allein schreibt keine Bücher

Man fragt sich nach der Lektüre ernsthaft, was Karen Duve mit diesem Buch erreichen wollte. Alleine an der so enttäuschend mager ausgestatteten Utopie lässt sich ablesen, dass es ihr wohl nur vordergründig um eine gesellschaftskritische Mahnung ging. Analyse geht anders, ja, es sind letzten Endes nicht einmal Thesen, die sie aufstellt. Es sei denn, man akzeptiert als Kernbotschaft die übrig bleibende Aussage, dass alle Männer böse sind und unfassbar blöde.

Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass die Autorin ihr Werk dazu genutzt hat, selbst einmal ein ungeniertes Machogehabe ausleben zu können. Alles zusammengenommen wirkt „Macht“ wie eine dauerempörte Hetzschrift gegen Männer, nur notdürftig getarnt als Gesellschaftskritik und feministische Streitschrift. Beiden Anliegen hat Karen Duve damit keinen Gefallen getan. Vor allem der Sache der Frauen stünde etwas mehr Differenzierung und weniger ermüdendes Lamento gut zu Gesicht. Mit aufgewärmtem Tante-Emma-Feminismus holt man heute keinen und keine mehr hinter dem Ofen hervor, schon gar nicht die „Aufschrei“-Feministinnen im zwitschernden Neuland.

Das alles ist umso bedauerlicher, als Karen Duve im Grunde eine wirklich begabte Erzählerin ist. Sie kann mit Sprache umgehen, sie erzählt flüssig und eigentlich kann sie auch Figuren gut zeichnen. Doch in „Macht“ siegt das Lamento. Selbst die obligatorische Danksagung am Ende entfällt zugunsten nickeliger Kritteleien, die einmal mehr erahnen lassen, wie schwer Frau Duve an der Ungerechtigkeit leidet. Auch als Parodie auf Menschen, die die Ungerechtigkeit der Welt beklagen und die Schuld grundsätzlich nur bei anderen suchen, taugt der Roman eher weniger, denn selten hat es ein humorbefreiteres Werk gegeben. Nur Wut allein schreibt keine Bücher.

Karen Duve: „Macht“. Verlag Galiani Berlin. 416 Seiten, € 21,99.




Über Digitalisierung – einige grundsätzliche Überlegungen zum Internet und seiner künftigen Gestaltung

Wie und nach welchen Prinzipien soll das Internet der Zukunft gestaltet werden? Unser Gastautor Michael-Walter Erdmann, Künstler und Publizist aus Essen, hat dazu einen grundlegenden Text geschrieben:

̈Wäre das menschliche Auge nicht sonnengleich, es könnte die Sonne nicht sehen. Wenn das menschliche Gehirn kein Computer wäre, könnte es keine Computer bauen. Die Erfindung des Computers ist ein zwanghafter, zwangsläufiger Akt der Auto-Mimesis. Das Internet ist das bislang größte mimetische Projekt des Menschen; digitale Höhlenmalerei.

Mimesis ist nicht nur ein auf Erkenntnis abzielender Kunstvorgang, jedenfalls kein auf Kunst begrenzter Vorgang: Mimesis ist ein biologisch-geistiger Reflex, ein Grundprinzip der Evolution. Zwei, drei Dinge, die man ganz generell zu „Digitalisierung“ sagen muß. Die Digitalisierung krempelt die gesamte Kultur der menschlichen Spezies um. Kein Bereich des menschlichen Lebens bleibt davon unberührt: Ökonomie, Politik, Gesellschaft, Privatleben, der Öffentliche Raum, Ästhetik, Kunst und Kommunikation. Es wird nichts mehr geben, kein Merkmal und keinen Raum und keine Äußerungsform menschlicher Existenz als Species und intelligibler Zivilisation, der von diesem Prozeß nicht erfaßt und prinzipiell umgestellt, umgebaut, in grundlegender Weise strukturell verändert wird.

Digitale WEltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Digitale Weltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Die digitale Revolution ist die am schnellsten wachsende Infrastruktur seit Menschengedenken. Dieser Prozeß ist unumkehrbar, und dieser Prozeß ist unabsehbar, und er verläuft in einer exponentiellen Wachstumskurve. Wir stehen am unteren Ende dieser Kurve.

Die Digitalisierung ist eine neue, ist die aktuelle Periode der menschlichen Evolution. Das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter der Digitalisierung.

Es gibt 3 Gesetze der Digitalität:
Simultaneität
Ubiquität
Konvergenz

Alle drei Werte tendieren zum Absoluten, akzeptieren keine Endlichkeit, keine Begrenzung. Ein digitaler Content ist prinzipiell überall verfügbar. Das heißt: überall, wo es menschliche Zivilisation und digitale Technik gibt, also so gut wie überall auf diesem Planeten und außerdem außerhalb dieses Planeten überall dort, wo Menschen digitale Technik hinschicken; also auch in Räumen und an Orten, wo keine Menschen sind! Dieser content ist überall gleichzeitig präsent, und Gleichzeitigkeit ist immer Zeichen für und Anzeichen von absoluter, sich selbst absolut setzender Macht.

Herrschaftsanspruch und strukturelle Gewalt

Simultaneität ist Herrschaftsanspruch. Ubiquität und Simultaneität gepaart symbolisieren und repräsentieren eine große materielle Machtfülle und strukturelle Gewalt. Und die Urheber solcher Gewalt wissen um ihre Macht. Um das an einem historisch frühen und vergleichsweise simplen Beispiel zu verdeutlichen, erinnere ich an die erste internationale Währung der Menschheitsgeschichte, an die Standard-Silbermünze, die Alexander der Große in seinem Imperium prägen ließ. Trotz eines gewissen Variantenreichtums legte er großen Wert auf unmißverständliche Wiedererkennbarkeit seines Konterfeis, ikonographischer Ausweis der Omnipräsenz, der Militanz und der wirtschaftlichen Potenz seiner Herrschaft.

Konvergenz bedeutet in diesem Zusammenhang das tendenzielle und progressive Konvergieren vieler unterschiedlicher Medien: Einem digitalisierten Content ist es egal, ob er auf einem großen Screen erscheint, auf einem normalen Computer, einem Tablet, einem Smartphone oder einer Uhr. Er kann an jedem beliebigen Ort als Fernsehbeitrag, CD/DVD/Diskette, als Zeitungsartikel, Buch oder Plakat erscheinen; kann sich also auch wieder in rein analoge oder gemischte (analog-digitale) Medien zurück verwandeln.

Um auch die Grenzbereiche des Analogen zu erwähnen: Ein optischer Content kann als Projektion erscheinen, ein akustischer Content als reines Schallereignis. Content switcht zwischen analogen und digitalen, materiellen und immateriellen Welten und ist in diesen Welten (also an verschiedenen Orten) inclusive der Zwischenwelten gleichzeitig. Darin ähnelt er dem Verhalten von Teilchen im Quantenbereich.

Im Prinzip funktioniert also jegliche Digitalität nach diesen 3 Grundprinzipien, und um sie philosophisch zu fassen, bedarf es keines weiteren Prinzips. Der Rest sind Akzidentien und Anthropologie: Sozialverhalten, Biologie, Evolution. Kein Konzern hat diese 3 Prinzipien besser, umfassender und konsequenter in Produktstrategien und Konnektivität, in Image und Produktprestige umgesetzt als APPLE.

Verlust an Kulturtechniken

Die Digitalisierung sorgt in vielen Bereichen für einen Verlust an Kulturtechniken, kulturellen und zivilisatorischen Standards, für deren Entwicklung die Menschheit Jahrtausende gebraucht hat. Europa war an der Entwicklung dieser Techniken und Standards maßgeblich beteiligt, verteidigt diese aber nicht. Beispiele: Das Navigationsgerät verdrängt die Kunst des Kartenlesens. „Whatsapp“ ist der Ruin der Rechtschreibung, des Briefeschreibens, der Intimität und der Vertraulichkeit; zumindest für ein, zwei, drei Generationen.

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Das Gefährliche an der gefälligen „usability“ von digitalen Endgeräten ist die enorme Leichtigkeit der Prozeduren, sind die vielen Automatismen, das Leicht-Fertige. Digitalisierung ist anthropologisch gesehen tendenziell regressiv. Sie erleichtert die Befriedigung atavistischer Instinkthandlungen wie jagen, sammeln, Beute machen; alles vom Sofa aus, jederzeit, an jedem Ort, mühelos.

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist gekoppelt an die des aufrechten Gangs, die gleichzeitige Evokation von Sprache und dies beides wiederum an die Evolution der menschlichen Hand. „Begreifen“ als Weltaneignen ist immer ein Doppeltes: Das reale Tun, die Mechanik der Hand, das Anfassen und die Verarbeitung der so zustande kommenden Objektwelt als innere Landkarte auf der Metaebene/Datenverarbeitung des Gehirns.

Bei digitalen Geräten ist der Kontakt des Menschen mit dem Objekt auf ein paar Quadratmillimeter Fingerkuppe reduziert; das ist kein „Begreifen“ mehr. Trotzdem verfügen wir mittels dieser Geräte über prinzipiell unbegrenzte Macht: Macht über Menschen, Geld, Dinge, Prozeduren, Sprache. Das ist verführerisch, das schmeichelt unserer kindlichen Omnipotenz, unserem Narzißmus; es ist regressiv, und wir geben dem allzugern nach. Je jünger wir sind, desto gefährdeter sind wir. Wir brauchen eine europäische Ethik des Digitalen. Der Umgang mit digitalen Geräten muß normativ gelenkt und gelernt werden und gehört in ein Unterrichtsfach und an die Universitäten.

Wo bleibt der Einspruch im Sinne der Aufklärung?

Das alles sind reale Gefahren, die durchaus auf ein kulturelles und zivilisatorisches Verblassen der menschlichen Spezies hindeuten. Und es sind reale Gefahren, weil wir Europäer nichts unternehmen, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Digitalisierung ist nicht aufhaltbar und sie ist im Großen + Ganzen unumkehrbar. Aber man kann sie gestalten, einiges kann + sollte man sogar zurücknehmen.

Es entspricht europäischer, aufgeklärter Vernunft, nicht alles zu tun, was man – technisch gesehen – kann. Im Moment versäumen wir den Einspruch aufklärerischer Vernunft, überlassen die Entwicklung von Algorithmen und damit die kulturelle Prägung von Alltagsprozeduren/Kommunikation/ Marktverhalten etc. den Amerikanern und die Produktion von Geräten den Asiaten.

Es entspricht standardisiertem amerikanischem Denken und einem anthropologisch, kulturell naiven Verständnis der techne, zu sagen: „If it’s makeable, we make it!“ Das ist falsch; das ist auf lange Sicht sogar unökonomisch, weil es aufgrund seiner Priorität (technische Machbarkeit) die Grundlagen von Ökonomie tendenziell zerstört: die Balance von Mensch und Ressourcen. Dieses Denken hängt mit der spezifisch amerikanischen Raumerfahrung zusammen, und die hypostasiert einen prinzipiell unendlichen Raum für Bewegung, Planung und Existenzausdehnung. Dieser Raum ist sowohl real wie auch – im amerikanischen Protestantismus – theologisch aufgehoben und existenzbettend.

Die Sorge um das einzelne Subjekt

Der europäische Begriff von „Ökonomie“ beginnt auf begrenztem Raum beim „oikos“, dem einzelnen Haus und seinen Bewohnern und bei einem prozessualen, dialogischen, dynamischen Ausgleich zwischen Individuum, oikos und der polis als der zusammengehörenden Vielzahl der Häuser; europäisches Denken hebt an mit dem Begriff der Differenz, seine Sorge gilt dem Einzelnen, dem Subjekt: Dem großen Ganzen der Polis geht es gut, wenn es dem Einzelnen in seinem Haus gut geht und umgekehrt.

Diese einfachen existentiellen, komplementären Prinzipien bilden den Kern europäischer Identität und des großen, genuin europäischen Projekts AUFKLÄRUNG, aus ihnen resultieren die regulativen ethischen Werte (Freiheit, Solidarität, Gleichheit, Toleranz usw.) für die man Europa weltweit respektiert, woran Millionen von Menschen in anderen Erdteilen sich orientieren, wenn sie gegen staatliche Willkür, Despotismus, religiöse Intoleranz und Korruption kämpfen.

Diese Sorge ums begrenzt Individuelle, das sein Selbst-Bewußtsein und seine Identität geradezu daraus gewinnt, daß es sich den Verführungen der Entgrenzung klug und verantwortungsvoll verweigert, ist – verkürzt gesprochen – den Algorithmen von KINDLE, AMAZON, FACEBOOK, GOOGLE, WHATSAPP & Co. fremd. Diese Algorithmen zielen auf grenzenlosen Konsum, grenzenlose Kommunikation und grenzenlose Kontrolle und Verfügung bei gleichzeitig grenzenloser Mobilität und Ubiquität.

Rückbesinnung auf europäische Werte

Deswegen plädiere ich für die Rückbesinnung auf die zentralen Werte und Normen europäischen Denkens und für die „Übersetzung“, sozusagen für die „Migration“ europäischer Kategorien in die Sprache und Prozeduren der Digitalität. Das Zeitalter der Digitalität hat gerade erst begonnen, es ist keineswegs zu spät, um mit dieser Aufgabe der Europäisierung der digitalen Revolution zu beginnen.

Digitalität ist eine Technik. Als techne ist sie – so lehrt uns europäisches Denken und so kriegt man die Sache vielleicht auch in den Griff – dem Menschen, seinen Zielsetzungen, seinen Absichten und Zwecken untertan. Zwar ist das leichter gesagt als getan; aber es ist so. Es ist nicht das erste Mal, daß die Geister, die einer neuen Technik innewohnen, sich über den Menschen erheben, ihn verführen oder ihm Angst machen und ihn beherrschen. Es war immer wieder schwierig und manchmal auch langwierig, solche Verkehrungen vom Kopf auf die Füße zu stellen; und es beginnt immer mit diesen zwei Wörtern: Sapere aude!

Ceterum censo:
Schaffen wir eine Digitalisierung mit europäischem Antlitz! Nach meinem Dafürhalten gehört diese Aufgabe ins Ruhrgebiet. Es gibt hier eine Menge Menschen + Institutionen, die an dieser Aufgabe partizipieren könnten und es sicher auch gern täten.




Man entkommt ihnen nicht: „Die Roboter“ – Dortmunder Schau über Mensch & Maschine

Am Eingang der Ausstellung „Die Roboter“ heißt uns ein gewisser Jemand willkommen – dreimal darf man raten, wer…

Richtig. Ein Roboter namens „RoboThespian“ macht die Honneurs und sagt artig Guten Tag. Manchmal hat er dabei sogar blinkende Herzchen in den Augen. Putzig, nicht wahr? Doch die kurzweilige Ausstellung hat etliche ernstere Aspekte. Schließlich geht es in mancherlei Facetten um das komplexe Verhältnis von Mensch und Maschine.

"RoboThespian" begrüßt die Besucher. (Foto: Bernd Berke)

„RoboThespian“ begrüßt die Besucher. (Foto: Bernd Berke)

Man entkommt ihnen nicht: Auch im weiteren Verlauf der Schau in der Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA begegnen einem solcherlei Wesen. Manchmal begleiten sie einen auch, wenn man denn mag. Mehrere Gestalten, nicht ganz menschenhoch, etwas unförmig rundlich geraten, gleiten durch die Räume. Man kann sie nach bestimmten Exponaten fragen – und sie fahren schon mal voraus, bevor sie die Ausstellungsstücke erläutern. Aber keine Angst, es gibt auch noch menschliches Personal.

Der kleine Nao steht auf und tanzt

Liebling aller Besucher dürfte indes der kleine Nao werden, dem man (einstweilen nur auf Englisch und ohne höfliche Floskeln wie „bitte“) einfache Anweisungen geben kann: „Sit down“, „stand up“ und so weiter. Nach kurzer Rückfrage (Du willst, dass ich mich hinsetze?) tut er’s tatsächlich. Er kann auch – etwas ungelenk, doch irgendwie ausdrucksvoll – ein wenig tanzen. Falls er dabei mal unsanft auf den Rücken fällt, rappelt er sich mühsam wieder hoch, und zwar ganz ohne Anweisung, wie aus eigenem Antrieb.

Roboter "Nao" hat sich nach entsprechender Anweisung hingesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Roboter „Nao“ hat sich nach entsprechender Anweisung hingesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Für Unterhaltung ist also gesorgt. Doch die von Dr. Philipp Horst kuratierte Schau fächert – zwischen Faszination, Reflexion und Besorgnis – mit rund 200 Belegstücken in fünf Abteilungen die Geschichte der Werkzeuge und der rasant fortschreitenden Automatisierung auf, gleichsam seit Steinzeit und Antike. Man erkennt: Schon seit geraumer Zeit wird die Phantasie der Menschen von Vorstellungen beflügelt, die irgendwann auf künstliche Wesen hinauslaufen mussten.

Im ersten Raum geht’s wie im Fluge vom Hammer über Fahrrad, Dampf- und Schreibmaschine bis zum Maschinengewehr aus dem Ersten Weltkrieg. Immer entschiedener bewegten sich die Maschinen (wie von) selbst.

Ein Thema auch für die Künste

Mechanische Automatenmenschen des 18. Und 19. Jahrhunderts, zunächst viel bestaunte „Wunder“, hernach auch Jahrmarkts- und Werbeattraktionen, stehen für eine Übergangszeit. Da sieht man etwa einen automatischen Clown, ein mechanisches Krabbelkind und einen orientalischen Raucher, aus konservatorischen Gründen leider samt und sonders im Stillstand.

"Nao" tanzt wie in Trance... (Foto: Bernd Berke)

„Nao“ tanzt wie in Trance… (Foto: Bernd Berke)

Die Entwicklung konnte die Künste nicht unberührt lassen. Ausschnitte aus Filmen wie Fritz Langs „Metropolis“ und Seitenblicke auf Dadaisten oder Surrealisten, welche die zunehmende Automatisierung teils freudig und fiebrig begrüßten, geben eine Ahnung davon.

Mit dem tschechischen Schriftsteller Karel Čapek kam dann 1921 der Begriff „Roboter“ erstmals in die Welt. Werke der Science-Fiction wie Isaac Asimows „I Robot“ (1950) setzten diese Tradition auf hohem Niveau fort.

Apparate für Leib und Seele

Im Laufe des Rundgangs wird deutlich, wie sehr die Robotertechnik unsere Welt bereits durchdringt, beispielsweise in der Medizin, beginnend mit Prothesen (eiserne Hand von 1530, Exemplare aus dem Ersten Weltkrieg). Heute wird der menschliche Körper auf vielfältige Weise repariert, technisch unterstützt und auch von innen her „optimiert“.

Überdies gibt es Roboter für die Seele: Eine interaktive Stoffkatze („JustoCat“) mit technischem Innenleben kommt in der Pflege zum Einsatz, sie kann miauen und schnurren und lässt sich stundenlang streicheln. Gedacht ist sie als Trösterin dementer Menschen, die sich dank der simplen Schlüsselreize wohlig an frühere Zeiten mit wirklichen Haustieren „erinnern“ sollen.

Mimik-Nachahmung mit Hindernissen: Der Roboterkopf hat offenbar noch nicht "erkannt", dass die Frau den Mund geöffnet hat - und schaut etwas begriffsstutzig drein.

Mimik-Nachahmung mit Hindernissen: Der Roboterkopf hat offenbar noch nicht „erkannt“, dass die Frau den Mund geöffnet hat – und schaut etwas begriffsstutzig drein. (Foto: Bernd Berke)

Derweil sind ganze Fertigungslinien ohne Industrie-Roboter nicht mehr denkbar; vom Einsatz im Weltraum, im Krieg (Fernlenkwaffen, Drohnen usw.) und bei Katastrophen (fernsteuerbare Bombenentschärfer, Brandbekämpfer, AKW-Roboter) ganz zu schweigen. Für all diese Bereiche sieht man Beispiele in der wohlüberlegt zusammengestellten Schau. Man ist aus gutem Grund am Puls der Zeit, denn auch in der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (sozusagen das Mutterinstitut der DASA) wird avancierte Roboterforschung betrieben.

Und wie sieht die Zukunft aus? War eine direkte Begegnung zwischen menschlichen Mitarbeitern und Robotern lange Zeit zu gefährlich, so hat sich die Technik immer feingliedriger angepasst und gleichsam vermenschlicht, so dass gemeinsames Arbeiten von Mensch und Maschine immer üblicher wird.

Ist Sex mit Robotern denkbar?

Auch beginnen die Apparate allmählich in die Bezirke der Kreativität und der Emotionalität vorzudringen. Da findet sich z. B. ein Roboter, der menschliche Mimik (noch etwas grobschlächtig) nahezu in Echtzeit nachahmt und einen anderen, der einen zunächst per Kamera aufnimmt und danach – allerdings auch noch recht zittrig und unperfekt – ein Porträt zu zeichnen beginnt. Der Stift wurde heute übrigens von zwei Wäscheklammern gehalten. Solch improvisatorischer Behelf wirkt in diesem Kontext irgendwie erfreulich, wie ein wohltuend retardierendes Moment.

Roboterhand beim zittrigen Zeichnen eines Porträts. (Foto: Bernd Berke)

Roboterhand beim zittrigen Zeichnen eines Porträts. (Foto: Bernd Berke)

Doch wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis es zur Vermischung und wechselseitigen Grenzüberschreitung kommt: Wird man eines Tages nicht mehr zwischen humanen und humanoiden Existenzen unterscheiden können? Für uns Heutige wohl noch eine grausige Vorstellung. Aber wer weiß, wie unsere Nachfahren damit umgehen.

Um die gemischten Gefühle der Besucher zu erkunden, hat man der Schau eine (unwissenschaftliche) Umfrage beigesellt. Nach dem heutigen Stand, der wohl noch überwiegend Journalisten und DASA-Mitarbeiter erfasst hat, konnten sich 57% nicht vorstellen, Sex mit einem Roboter zu haben. Die womöglich erschütternde Nachricht lautet also: 43% können sich Sex mit einem Roboter vorstellen. Nun ja, imaginieren kann man dies und jenes. Aber will man’s dann auch?

„Die Roboter. Eine Ausstellung zum Verhältnis von Mensch und Maschine“. 21. November 2015 bis 25. September 2016. DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25. Geöffnet Mo-Fr 9-17, Sa/so 10-18 Uhr. Weitere Infos: www.dasa-dortmund.de




„Weißer Neger Ruhrgebiet“: Plädoyer für eine zukunftsträchtige Identität der Region

Revierpassagen-Gastautor Michael Walter Erdmann, Künstler und Publizist aus Essen, plädiert für eine europäische, in die digitale Zukunft gerichtete Identität des Ruhrgebiets.

Worum es geht:

„Ein freies Netz, ein an Grundrechten orientierter regulierter Datenmarkt und die Erinnerung daran, dass die Autonomie des Individuums unser Mensch-Sein begründet, kann eine bessere, eine neue Welt schaffen. In dieser Welt könnten die Chancen einer neuen Technologie zum Wohle aller genutzt und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche verhindert werden. Es geht um nichts weniger als um die Verteidigung unserer Grundwerte im 21. Jahrhundert. Es geht darum, die Verdinglichung des Menschen nicht zuzulassen.“
(
Martin Schulz in „Technologischer Totalitarismus – Warum wir jetzt kämpfen müssen“ – FAZ, Februar 2014)

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Wenn wir das Territorium des heutigen Ruhrgebiets in einer Zeitreise überfliegen, erkennen wir bis 1800 wenig bis nichts, ein paar kleinere Handelsstädte, groß geratene Dörfer entlang des Hellwegs, verteilt auf drei mittelalterliche Grafschaften, alles in allem jedenfalls keine „Region“ im Sinne eines erkennbaren, zusammenhängenden Siedlungsgebiets; weil es da nämlich nichts gab, was eine solche kohärente Besiedlung hätte auslösen oder rechtfertigen können.

Von 1600nochwas bis 1800 reißt sich Preußen das Gebiet unter den Nagel, etabliert erstmalig ein einheitliches Rechtssystem und schafft damit die Voraussetzungen für den nachfolgenden Urknall: die Geburt einer gigantischen industriellen Arbeitssklavenkolonie.

Das Ruhrgebiet von Osten her - Blick vom Florianturm auf die Dortmunder City. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Das Ruhrgebiet von Osten her – Blick vom Florianturm auf die Dortmunder City. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Vorindustrielle Zechen kamen mit 150 bis 250 Leuten aus. Ein tiefbohrender, industriell fördernder Großbetrieb brauchte 4000 bis 5000 Menschen, um überhaupt an den Start zu gehen.

1832 stirbt Goethe, die Aufklärung geht zu Ende, das Ruhrgebiet legt los; Aufklärung hat hier nie stattgefunden, das merkt man bis heute schmerzlich: Künstler und Intellektuelle haben’s schwer im Revier, öffentliche Kritik und Intervention haben weder Tradition noch ein Forum.

Der Boom der Region als Kohleförderbezirk beginnt um 1850, die grobgeschnitzte feudalistische Sozialstruktur aus arbeitenden Massen aus aller Herren Ländern auf der einen und einer Handvoll Zechenbarone auf der anderen Seite – ein Bürgertum gibt es nicht – ist Voraussetzung für diesen Boom; hier wird gehorcht und gearbeitet, bedingungslos. Das ganze Leben und Sterben ist darauf ausgerichtet. Das militaristische Berlin ist die geschichtliche Kommandozentrale, die Metropole mit einer historischen Mission; das Ruhrgebiet ist die Kolonie, der Arbeitssklave, ein weißer Neger.

Wie im Wilden Westen

Zwischen 1860 und 1945 liefert die aus dem Boden gestampfte Wildwestregion Waffen, schweres Kriegsgerät, Schienen und Züge, Menschen, Energie, Kohle und Stahl für ein halbes Dutzend Kriege, die das „Reich“/Preußen/Berlin angezettelt, gewollt oder mitverursacht haben. Danach sieht die Region, sehen die Menschen so aus, wie man aussieht, wenn man die meisten und die fürchterlichsten dieser Kriege verliert.

30 Jahre später machen die Zechen dicht. Das Ruhrgebiet verliert seine Funktion, seine historische Aufgabe, der Sklave verliert seine Ketten und damit seine Identität. Noch eine Niederlage, für viele die schlimmste, und eine, die noch andauert, weil nichts Adäquates an seine/ihre Stelle getreten ist.

Wer dem Ruhrgebiet mangelndes Selbstbewußtsein vorwirft, wer sich wütend oder resigniert über Kirchturmdenken und Provinzialismus ereifert, muß hier ansetzen. Trauma bleibt Trauma, das ist mit einzelnen Menschen nicht anders als mit menschlichen Kollektiven. Es geht nicht weg, indem man es totschweigt, ignoriert, den Traumatisierten in den Hintern tritt oder ihm Geld für neue Tapeten gibt; die Schäden werden nur an die nächste Generation weiter gereicht.

Das Ruhrgebiet ist inzwischen mehr als ein chaotischer Haufen von Industriesiedlungen. Das heutige Luftbild zeigt eine zusammenhängende, klar abgrenzbare große, landschaftlich abwechslungsreiche Region. Was man nicht sieht: Das Ruhrgebiet ist immer noch Kolonie. Keine Metropole. Definitiv nicht.

Was ist eigentlich eine Metropole?

Bei den Griechen und Römern war die Metropole die Mutterstadt einer Kolonie. Das ist keine Frage der Größe sondern der Souveränität; es geht um Inhalte, Haltung, ein Thema, eine Aufgabe oder eine Mission. Das kann man nicht herbeischwatzen, das kann sich keine Werbeagentur ausdenken, das muß gelebt werden; in diesem Fall von gut 5 Millionen Menschen.

Noch einmal ein Stück des östlichen Reviers: Blick vom Florianturm auf den neu entstandenen Dortmunder Phoenixsee. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Noch einmal ein Stück des östlichen Reviers: Blick vom Florianturm auf den neu entstandenen Dortmunder Phoenixsee. (Foto vom 21.10.2012: Bernd Berke)

Von einer Metropole erwarten wir Selbstbewußtsein, Charme + Stolz, Charisma, Verzauberung, unwiderlegbare Kompetenz in einem eigenen Kernthema, in einem Wort: Autonomie. Also alles das, was wir hier im Ruhrgebiet nicht haben.

Wir haben ja nicht einmal eine eigene Regierung. Divide et impera: 3 Regierungsbezirke, 53 Kirchtürme, das Ganze 1 Witz. Der ist aber nicht komisch, es lacht auch keiner.

Kein Sprungbrett wie Berlin

Berlin ist + bleibt in Deutschland die Metropole der Kreativität, Fluchtpunkt für Dichterfürsten, Malergötter, Theaterprinzipale, intellektuelle Olympier, hedonistische Existenzgründer, die ihre Ideen auch in gelebtes Leben umsetzen wollen, Sprungbrett für internationale Karrieren.

Berlin ist ein polyglotter, großstädtischer Raum, wo die Fußgängerwege so breit sind wie im Ruhrgebiet die Straßen. Intellektuelle Kreativität, großbürgerliche Urbanität und ein solides Fundament aus Führungsanspruch, Disziplin und Aufklärung: Für eine europäische Metropole keine schlechten Voraussetzungen, allerdings im globalen Wandel auch keine unbegrenzte Bestandsgarantie. Einen Flugplatz zum Beispiel sollte man schon hinkriegen.

Geschichte ist immer konkret: Wir stehen immer ganz unmittelbar auf den Schultern unserer Vorfahren, ob uns das passt, ob wir das auch so gemacht hätten, ob wir nun wissen, was anfangen mit dem Schlamassel oder nicht. Wir waren nicht dabei. Wir sind jetzt, und wir sind nicht Berlin; wir sind der Weiße Neger.

Fangen wir also mit unseren Defiziten an, mit unseren Traumata, mit unseren Wunden. Vielleicht finden wir da ein Thema, eine Kernkompetenz, eine Mission. Dann klappt das auch mit der Metropole. Vielleicht.

Das Ruhrgebiet wird europäisch oder es bleibt Provinz

Den Markenkern, die Kernkompetenz Europas bildet der Werte- und Begriffskatalog AUFKLÄRUNG, ein universeller Baukasten zur Gestaltung und Erkenntnis menschlicher, sozialer, politischer und geistiger Systeme. Wie gesagt – man kann es sich nicht oft genug klarmachen, denn es ist eine der wichtigsten Ursachen für das poröse kollektive Selbstbewußtsein und die so oft kritisierte Unfähigkeit zur Selbsterneuerung im Ruhrgebiet: Die europäische Aufklärung hat im Ruhrgebiet niemals stattgefunden, die Strukturen von Öffentlichkeit sind prä-aufklärerisch. Das ist ein schwerwiegendes strukturelles Defizit, das es aufzuarbeiten gilt.

Das Ruhrgebiet von Westen her: Blick vom Oberhausener Gasometer bis zur Essener Skyline. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Das Ruhrgebiet von Westen her: Blick vom Oberhausener Gasometer bis zur Essener Skyline. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Weshalb gibt es hier für eine der inzwischen üppigsten Wissensregionen der Welt mit Dutzenden von Forschungseinrichtungen, Hochschulen, Universitäten und ihren Geistesarbeitern kein Feuilleton, kein Wochen- oder Monatsmagazin als publizistischer Spiegel der Intelligentsia der Region, als Plattform der Verständigung der regionalen Elite mit den Eliten anderer Regionen und Metropolen?
 Weshalb haben es Innovationsimpulse von unten nach oben hier so schwer? Weder die Kohle- und Industriebarone und ihre leitenden Angestellten, noch die Finanziers aus dem Rheinland oder den Niederlanden, und erst recht nicht die preußische Metropole Berlin wollten im Ruhrgebiet irgendwelche Impulse von unten, egal welche und egal welches „Unten“.

Die Künstler blieben nicht hier

Aber das ist vorbei, passé, die Ära des Grubengolds ist Vergangenheit.

Weshalb lebt unter 5 Millionen Menschen nicht ein einziger Künstler, der auch international bekannt ist? Die Menschen, die ihren Lebensunterhalt unter Tage oder an den Stahlkochern verdienten, hatten weder Sinn noch Zeit für Kunst.

Aber das ist vorbei. Alle Menschen brauchen Kunst! Der Respekt vor Kunst und Künstler ist ein Gradmesser für den Respekt einer Gesellschaft vor sich selbst.

Der weitaus größte Teil an Kunst + Künstlern, die hier in der Region gezeigt, ausgestellt und angepriesen werden, wird immer noch aus dem Ausland eingekauft oder aus anderen Teilen Deutschlands. Auch das sollte langsam vorbei sein. Auch das Ruhrgebiet sollte für Künstler/Intellektuelle ein Sprungbrett zu einer großen Karriere sein können; man sollte als Künstler/Intellektueller nicht mehr weggehen müssen, um Karriere und sich einen Namen machen zu können. So lang das nicht der Fall ist, ist „Metropole Ruhr“ noch kein rechtmäßig erworbener Titel, sondern entweder Vorschein + Utopie, produktive Überforderung und strategische Notwendigkeit oder provinzielle Überheblichkeit.

Digitale Urbanität, ein neues Thema fürs Revier

Der Prozeß der Digitalisierung unseres gesamten Alltagslebens ist die seit Menschengedenken am schnellsten wachsende Infrastruktur. Tendenz: Alle digitalen Rechner sind mit allen digitalen Rechnern vernetzt, von der Armbanduhr übers Handy bis zum globalen Netzwerk Internet. Digitalisierung legt sich wie eine denkende Haut um den Globus, kennt keine nationalen, kulturellen oder geographischen Grenzen, umfasst alle Bereiche des menschlichen Lebens auf diesem Planeten, von der Sekundentaktung globaler Finanzströme über die Logistik internationaler Transporte, massenhaften interkulturellen Informations- und Datenaustausch über das Internet bis hin zu den vielen kleinen tausenden von alltäglichen Verrichtungen, die wir bereits so gewöhnt sind, daß wir sie nicht mehr bemerken:

Wohin wir gehen, welches Verkehrsmittel wir benutzen, wie wir einkaufen, kommunizieren, planen, Zutritt zu Leistungen, sozialen Räumen und kulturellen Ereignissen erlangen usw., all das wird mittels digitaler Technik portioniert, aufbereitet, gefällig gestaltet angeboten, gesteuert und entschieden, tagtäglich und von morgens bis abends und nachts, und das umfaßt tendenziell alle Menschen auf diesem Planeten und überall, wo sich Menschen sonst noch aufhalten oder in Zukunft aufhalten werden.

Digitalisierung läßt das Wissen der Menschheit auf Daumennagelgröße schrumpfen, wir tragen tausende von Büchern, unendlich viele Stunden Musik in der Hosentasche mit uns herum, haben jederzeit unbegrenzten Zugriff auf ein schier unerschöpfliches globales Warenangebot, das uns frei Haus geliefert wird. Die ganze Welt als Wille und Vorstellung und vor allem: Ware.

Überhäufung aus Unendlichkeiten

Wie werden wir, wie wird der Einzelne, das Individuum, der Mensch in seiner banalen Endlichkeit mit dieser Überhäufung aus Unendlichkeiten fertig? Wo finden wir Halt, Orientierung, Maßstab? Gibt’s dafür schon eine App?

Die „Tyrannei der Wahl“ verursacht Streß, Burnouts und Bulimie; der Kapitalismus als Menschheitsneurose (Renata Salecl).

Wer gestaltet den Prozeß der Digitalisierung unserer Alltagswelten? Es gibt mit Sicherheit nicht nur mehr Apps als noch irgendein Mensch jemals überschauen könnte; es gibt damit auch unendlich viel mehr Lösungen als Probleme und ein blindes ideologisches Vertrauen, daß es für jedes „Problem“ die richtige App gibt. Es gibt einen Namen für diesen Wahnsinn: „Solutionismus“. (Evgeny Morozov)

Wir brauchen europäische Werte, europäische Orientierungen, europäische Standards in der Digitalisierung des Alltags, ganz allgemein und ganz speziell; also: sehr umfassend, von der Funktionalität bis zur Ästhetik. Die Hardware ist asiatisch, die Software amerikanisch, und Asiaten und Amerikaner ticken nunmal anders, sind anderen Traditionen, Denkmustern und regulativen Ideen verpflichtet. Nicht erst die NSA-Affaire hat das gezeigt.

Nochmals der Westen: Blick hinab vom Oberhausener Gasometer. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Nochmals der Westen: Blick hinab vom Oberhausener Gasometer. (Foto vom 9.7.2009: Bernd Berke)

Holen wir diese große Aufgabe, diese Herausforderung, europäische Standards und (Anstands-)Regeln bei der Digitalisierung der urbanen Alltagswelten zu schaffen, ins Ruhrgebiet! Geben wir dem Ruhrgebiet eine historische Chance, sich im 21. Jahrhundert auch geistig, intellektuell und kulturell prägend als eine zentrale Region im Herzen Europas zu definieren!

Die NSA hat amerikanische Firmen, die Verschlüsselungssoftware entwickeln, so unter Druck gesetzt, daß die den Betrieb einstellten. Holen wir diese Firmen und ihr KnowHow ins Ruhrgebiet. Das ist nicht etwa ein europäisches Ruhr Silicon Valley, das ist keine Kopie, das ist die europäische Antwort auf Silicon Valley

Wie rettet man die Werte der Aufklärung?


Europa steht vor der Aufgabe, sich selbst, seine Geschichte und die Werte, für die es von aller Welt respektiert wird, fürs 21. Jahrhundert neu zu entdecken und so zu formulieren, daß diese Werte fürs Digitale Zeitalter nachvollziehbar, wünschbar, erstrebenswert und alltagstauglich werden und Orientierung anbieten.
Wenn sich Europa nicht fürs 21. und digitale Jahrhundert radikal neu erfindet, wird Europa – global gesehen und überhaupt – Provinz. Holen wir diese Aufgabe ins Ruhrgebiet.

Der Vorschlag ist simpel, pragmatisch und angesichts der Vielfalt, der Diversität und der traditionell sachbezogenen Ausrichtung der Wissenschaftslandschaft Ruhrgebiet einleuchtend: „Das Ruhrgebiet war und ist eines der entscheidenden Experimentierfelder moderner Industriegesellschaften“ (Roland Günther), ist + war schon immer eine Zukunftswerkstatt, ein soziales Labor.

Aufklärung ist DAS zentrale europäische Projekt

Aufklärung ist permanent, prinzipiell nicht abschließbar aber besiegbar, muß also verteidigt werden. Im Kern europäischen Denkens steht immer die Sorge um das eigenverantwortliche, autonome Subjekt, das Individuum. Verantwortung, Respekt, Differenz, Toleranz oder Autonomie sind weder Selbstzweck noch Selbstläufer. Geht’s dem Einzelnen in seinem Haus (oikos) gut, dann geht’s auch der urbanen Gemeinschaft (polis) gut. Und umgekehrt. Das ist die Botschaft, so geht Ökonomie europäisch, vom Menschen aus gedacht. Übersetzt in die Notwendigkeiten des globalisierten digitalen Zeitalters heißt das: geht’s dem einzelnen Land gut, dann geht es auch der europäischen/planetarischen Staatengemeinschaft gut. Das heißt gerade nicht, daß alles gemacht werden muß, was gemacht werden kann.

Europäische Standards in den digitalen Geräten, in der Produktion, in den Algorithmen. Machen wir das zu unserer Sache, holen wir diese historische Thema im großen Stil ins Ruhrgebiet, direkt auf das Opel-Gelände: Wie geht Aufklärung unter den Bedingungen des hochzivilisierten, digitalisierten, urbanen Alltags? Umgekehrt: Wie geht Digitalisierung des urbanen, massenkompatiblen globalen Alltags unter den Vorzeichen europäischer Aufklärung?

Dieses Thema gehört in seiner ganzen komplexen Vielfalt ins Ruhrgebiet! Wir haben das Wissen, die Kompetenz, die Einrichtungen; wir haben das Geld, die Möglichkeit, die Notwendigkeit, und wir haben ein Motiv: Selbsterhaltung, Aufbau von Identität und kollektiver Ich-Stärke. Grubengold ist out, die neuen Fördertürme sind digital, die Blaupausen europäisch. Und ganz nebenbei kann das Ruhrgebiet die Aufklärung nachholen. Manchmal muß man eben nachsitzen, Hauptsache die Versetzung ist nicht gefährdet. Ist sie aber!

Coda

Ich denke nicht, daß ein Sklave viel weiß über Freiheit. Er weiß viel über Sklaverei und davon, wie sich Sklaverei anfühlt. Er weiß möglicherweise viel über die Sehnsucht nach Freiheit. Aber wie man ein Leben in Freiheit organisiert, das müßte er erst lernen. Und nichts ist schwieriger zu organisieren, nichts hat mehr Regeln als die Freiheit; außer vielleicht die Liebe. Oder der Krieg.

Ein Freier hingegen weiß einiges über Freiheit. Er weiß, wie sich Freiheit anfühlt. Er weiß nicht, wie es sich anfühlt, ein Sklave zu sein. Aber er weiß sehr gut, wie man Sklaverei organisiert. Was er nicht weiß, was immer noch kaum einer weiß auf diesem Planeten, wie man Freiheit organisiert ohne Sklaven, ohne Kolonien.

Das wäre dann eine genuin europäische Aufgabe.

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Literatur:


Roland Günther: IM TAL DER KÖNIGE, Klartext Verlag
Martin Schulz: TECHNOLOGISCHER TOTALITARISMUS – Warum wir jetzt kämpfen müssen, FAZ am 6.2.2014 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/die-digital-debatte/politik-in-der-digitalen-welt/technologischer-totalitarismus-warum-wir-jetzt-kaempfen-muessen-12786805.html)
Delia Bösch: GRUBENGOLD, Klartext Verlag
Bogumil/Heinze/Lehner/Strohmeier: VIEL ERREICHT – WENIG GEWONNEN, Klartext Verlag
Evgeny Morozov: SMARTE NEUE WELT, Blessing Verlag
Renata Salecl: DIE TYRANNEI DER FREIHEIT, Blessing Verlag
Wilfried Kaute (Hrsg.): KOKS UND COLA, Emons Verlag
Christoph Hübner & Gabriele Voss: EMSCHERSKIZZEN – 35 Filme auf DVD, Klartext Verlag

M.W. Erdmann: KAIROS 2015; FLUXUS-Manifest.01; Urban Screens für das Ruhrgebiet u.a. auf: www.videoparadiso.de

 




Für die Benachteiligten schreiben: Die Werkstatt Dortmund im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ – eine Erinnerung

Der „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ war in den 1970er und 1980er Jahren ein wichtiges Projekt der Gegenwartsliteratur. Unser Gastautor Heinrich Peuckmann, damals selbst langjähriges Mitglied des Kreises, erinnert an die rege Dortmunder Werkstatt:

Es war Horst Hensel aus Kamen, der die Dortmunder Werkstatt im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ Ende Oktober 1970 gegründet hat. Im Jahr zuvor, noch als Student in München, hatte er von dem Schreibaufruf „Dein Arbeitsplatz – wie er ist und wie er sein sollte“ gehört und sein Betriebstagebuch von Hoesch eingeschickt, das er während seiner Zeit als Werkstudent geschrieben hatte.

Initiiert hatten den Wettbewerb oppositionelle Autoren in der „Dortmunder Gruppe 61“, denen Kurs und Programm zu wenig politisch waren und die kurz darauf, weil ihre Kritik abgelehnt wurde, den Werkkreis gründeten. Hensels Text gefiel ihnen, der Autor erhielt eine Einladung zur jährlichen Sitzung der „Gruppe 61“ und lernte Erasmus Schöfer, Peter Schütt und andere kennen, die ihn anregten, eine Werkstatt Dortmund im Werkkreis zu gründen.

Gründung 1970 im Fritz-Henßler-Haus

Ende Oktober 1970 fand die Gründungsversammlung im Dortmunder Fritz-Henßler-Haus statt, einem Ort, dem die Werkstatt über die folgenden 17 Jahre bis zu ihrem Ende treu blieb. Schon zur ersten Sitzung kam Paul Polte, den Hensel nicht kannte und der ihm in seinem schicken Anzug, mit seiner karierten Schlägermütze und dem Dackel an der Leine wie ein englischer Lord vorkam. Jedenfalls wirkte Polte nicht wie jemand, der an Arbeiterliteratur interessiert sein könnte, geschweige denn wie jemand, der solche schreiben konnte. Ein Fehlurteil, dem auch ich unterlag, als ich ab der dritten oder vierten Sitzung teilnahm und Polte zum ersten Mal sah.

Impressionen aus einer Werkstatt-Sitzung. u. a.  mit Paul Polte (oben), Horst Hensel (Mitte darunter) und Heinrich Peuckmann. (© Ilse Straeter, Federzeichnung von 1979)

Impressionen aus einer Werkstatt-Sitzung. u. a. mit Paul Polte (oben), Horst Hensel (Mitte darunter) und Heinrich Peuckmann. (© Ilse Straeter, Federzeichnung von 1979)

Mich hatte mein Freund Ferdinand Hanke, der wie Horst Hensel aus Kamen-Methler stammte und Germanistikstudent war wie ich, angesprochen. „Du schreibst doch auch“, sagte er, „komm doch mal vorbei.“

Ich ging zur Probe im Frühjahr 1971 zum ersten Mal hin und blieb für fast zehn Jahre in der Gruppe.

Schmerzliche Verrisse

Von Anfang an war die Dortmunder Werkstatt eine sehr literarische Gruppe. Zu jeder Sitzung, die alle vierzehn Tage im Henßler-Haus stattfand, kamen die Mitglieder mit neuen Texten, lasen vor und stellten sich der Kritik. Keinem von uns ist dabei ein Verriss erspart geblieben, was uns hart gemacht hat, auch für später, wenn unsere Bücher in den Rezensionen der Presse kritisiert wurden.

Wurde es doch mal zu haarig, griff Polte ein. Er wusste, dass Kritik dosiert bleiben musste, um Talente nicht zu verunsichern oder gar zu zerstören. Er ergriff das Wort, wiederholte in milden Worten, welche Kritikpunkte ihm richtig erschienen und fand am Ende immer auch etwas Lobendes, selbst wenn der Text noch so schwach gewesen war. „Man kann doch keinen jungen Hund versäufen“, erklärte er manchmal, „wer weiß, was noch draus wird.“

Paul Poltes Autorität

Polte hatte die Autorität dazu, eine Diskussion auf diese Weise zu beenden. Er war schon in der Weimarer Republik Mitglied im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“ gewesen, hatte mit seinem Kabarett „Henkelmann“ die Nazis angegriffen und einige Wochen in der berüchtigte Steinwache am Nordausgang des Bahnhofs verbracht, wo er und seine Gesinnungsgenossen gequält und gefoltert worden waren. Einige seiner berührendsten Gedichte hat Polte über diese Erfahrungen geschrieben, eines davon hängt noch in einer der Zellen, die heute Teil einer Gedenkstätte sind. Später wurde er dann Mitglied der „Gruppe 61“. Polte hatte also alle Bewegungen der deutschen Arbeiterliteratur durchlaufen, die es im 20. Jahrhundert gegeben hat.

Die anderen Mitglieder der Gruppe waren der Arbeiter Rudi Winkler aus Hagen, der vor allem Gedichte schrieb, der Bergarbeiter Rudolf Trinks, der neben Gedichten auch Erzählungen schrieb, die alle das Bergarbeitermilieu beschrieben, das sein Leben geprägt hatte. Rainer W. Campmann aus Bochum versuchte sich schon damals als freier Schriftsteller, die ersten Herausgaben in der berühmt gewordenen „Fischer-Taschenbuch-Reihe“ hat er mitgemacht, später erschienen noch zwei, drei Gedichtbände. Horst Hensel (Lehramtsstudent wie Ferdinand Hanke, Udo Bruns und ich) war wichtig für die Gruppe. Er kannte sich aus in allen Genres der Literatur, schrieb Lyrik, Reportagen, Essays, Erzählungen und Romane. Oskar Schammidatus aus Bochum, der Sozialarbeiter wurde, schrieb Gedichte.

Abende in der „Alten Liebe“

Der starke Anteil an Studenten, die man in einer Gruppe der Arbeiterliteratur nicht unbedingt erwarten würde, störte nicht. Wir haben kooperativ zusammengearbeitet, jeder hat von den Erfahrungen des anderen profitiert. Und wenn es doch mal Komplikationen gab, war immer noch Polte da, der Konflikte glättete und vor allem einen Brauch einführte, den wir alle lieben lernten. Nach der Sitzung gingen wir schräg gegenüber vom Henßler-Haus in die Kneipe, in die „Alte Liebe“, wo wir ein Bier tranken, neue Projekte ausheckten und unsere Freundschaft vertieften. Vor allem Polte lief dann zu Hochform auf, erzählte von seiner Begegnung mit Brecht, seiner Zusammenarbeit mit dem Maler Hans Tombrock, der Brecht ins Exil gefolgt war, von seinen Erfahrungen mit den Nazis in der Steinwache. Es waren herrliche Abende, die wir dort verbracht haben und deren Erinnerungen mein Leben begleiten werden.

Irgendwann kamen Hugo Ernst Käufer, der Lyriker und Aphoristiker, Lilo Rauner, die Lyrikerin, beide aus Bochum und der Agitpropschriftsteller Richard Limpert aus Gelsenkirchen hinzu, die zwar nicht immer, aber eine Zeitlang regelmäßig an den Treffen teilnahmen.

Beachtliche Qualität

Ich weiß noch genau, dass ich mir bei einer Gruppensitzung still vornahm, mir das Bild mit den Teilnehmern genau einzuprägen. Es war mir schon damals klar, dass sich an diesem Tage eine beachtenswerte literarische Potenz in der Dortmunder Werkstatt versammelt hatte, die weit über das normale Werkkreisniveau hinausragte. Tatsächlich sind später vier von den damaligen Teilnehmern in den ehrenwerten „PEN“ gewählt worden: Hugo Ernst Käufer, Lilo Rauner, Horst Hensel und ich. Käufer und Rauner haben zudem den Ruhrgebietsliteraturpreis erhalten.

Die Werkstatt Dortmund konnte sich literarisch also sehen lassen, in fast allen Büchern des Werkkreises war sie mit Texten vertreten, in den meisten mit mehreren. Einige Bücher haben wir auch selbst herausgegeben, u.a. „Sportgeschichten“ und „Im Morgengrauen“, ein Buch über das Altwerden in der kapitalistischen Gesellschaft.

Kneipenlesungen als Markenzeichen

An Lilo Rauner, die im Jahre 2005 verstarb, denke ich mit bewegten Gefühlen zurück. Sie war eine streitbare Frau, immer auf der Seite der kleinen Leute und sie hat, neben all der anderen Lyrik, ein paar wunderbare Sonette geschrieben. Viel zu wenig ist Lilo Rauner heute noch bekannt, auch wenn in Wattenscheid inzwischen eine Schule nach ihr benannt wurde. Die große, auf Petrarca zurückgehende Form des Sonetts hat sie beherrscht und durch Alltagsthemen nachhaltig mit Leben gefüllt. Aber das, denke ich, ist es gerade. Ihre Parteinahme für die Menschen, die am Rand stehen, wird ihr vom Literaturbetrieb verübelt. Hätte sich Rauner auf modische Befindlichkeiten beschränkt, sie wäre viel bekannter geworden. So sind wir es, die von Zeit zu Zeit an sie erinnern. Viel zu wenig, Lilo hätte mehr Aufmerksamkeit verdient.

Die Werkstatt war aber nicht nur literarisch stark, sie hat auch eine Unmenge an Initiativen zur Verbreitung von Literatur entwickelt. Ich staune selbst, wo wir gelesen haben, vor welchem Publikum. Immer ging es uns darum, mit unserer Literatur jene zu erreichen, die gemeinhin nicht zu literarischen Veranstaltungen kommen. In allen Formen von Schulen sind wir angetreten, in Fußgängerzonen mit Flüstertüte (wobei Richard Limpert mit seiner durchdringenden Stimme eigentlich keine gebraucht hätte), vor Fabriktoren, in Gewerkschaftshäusern, Gefängnissen und Kneipen.

Die Kneipenlesungen waren eine Zeitlang sogar unser Markenzeichen. Dieter Treeck, Kulturdezernent in Bergkamen und später selbst Mitglied im Werkkreis, hat sie mit uns zusammen entwickelt. Freitags, wenn die Arbeiter ihr Bierchen in der Stammkneipe tranken, fanden sie statt, drei oder vier Autoren lasen im Wechsel meist kurze Texte und eine Musikband spielte zwischendurch. Manchmal war es Jazz, manchmal wurden Arbeiterlieder gesungen.

Als die Bergleute zuhörten

Ich weiß noch, dass unser erster Versuch in einer Bergkamener Kneipe beinahe missglückt wäre. Die Arbeiter, Bergleute zumeist, wollten gar keine Literatur hören. Sie waren gekommen, um über Fußball zu reden, über ihre Tauben und was sonst so alles auf der Zeche passiert war. Den Einführungsworten von Dieter Treeck wollten sie partout nicht lauschen, der Lärmpegel blieb hoch, da trat Rudolf Trinks, selbst Bergmann, ans Mikrophon und sagte: „Seid mal stille.“ Und tatsächlich, auf Trinks, der ja einer von ihnen war, hörten sie. Die Lesung wurde ein großer Erfolg.
Manchmal erreichten wir, dass durch die witzig-ironischen Texte die Zuhörer selbst zu witzigen Reaktionen animiert wurden. „Ich lese jetzt ein Gedicht vor aus einem Buch, das ich selbst verlegt habe“, sagte mal ein Gastautor, der die Gepflogenheiten noch nicht kannte. „Hoffentlich hast du es auch wieder gefunden“, tönte es aus der Zuhörerschar zurück.

Schon sehr früh gliederten sich zwei weitere Gruppen an die Werkstatt an, die die künstlerische Arbeit sehr gut ergänzten. Da war einmal das Lehrlingstheater, von Kurt Eichler geleitet, der heute kommissarischer Chef des Dortmunder „U“ ist. Die Gruppe schrieb im Kollektiv Theaterstücke zur Situation der Lehrlinge, die an allen möglichen Orten aufgeführt wurden, manchmal in Kombination mit einer Lesung von uns. Zusätzlich gab es bald eine Graphikgruppe, die unsere Texte illustrierte, die Zeichnungen für Bücher und Lesungsplakate herstellte und daneben eigene künstlerische Ziele im Sinne des Werkkreises verfolgte.

Organisation nahm überhand

Das alles musste koordiniert werden, mit der Zeit wurde die Organisationsarbeit deshalb so umfangreich, dass die künstlerische Arbeit darunter litt. Es fanden Sitzungen statt, in denen nur noch Organisatorisches besprochen und keine Texte mehr gelesen wurden. Wir gründeten ein Leitungskollektiv, das sich zwischen den Sitzungen in Poltes Wohnung an der Bornstraße traf. Noch heute kann ich nicht an dem Haus vorbeifahren, ohne zu den Wohnungsfenstern hinüber zu schauen, denn ich gehörte diesem Kollektiv lange an. Viel Kleinkram wurde schon dort erledigt, die Werkstatt nur noch kurz darüber informiert. Bei schwierigen Problemen wurde vorsortiert und ein Lösungsvorschlag unterbreitet. Die Werkstatt konnte sich wieder auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren, das Schreiben von Literatur.

Polte war für die Finanzen zuständig und noch heute staune ich, wie er das in einem nur für ihn überschaubaren System an Kassen gemacht hat. Geld bekamen wir für unsere Sitzungen im Henßler-Haus von der Dortmunder VHS, die uns in ihr Programm aufgenommen hatte. Deshalb fanden, was auch in unserem Interesse lag, die Werkstatt-Sitzungen stets öffentlich statt. Immer kamen Gäste vorbei. Schüler, die über uns Referate halten sollten, Studenten, die Seminar- oder Examensarbeiten über den Werkkreis schreiben wollten, Hobbyautoren, die Texte lasen, die danach Mitglied wurden oder nie wieder kamen. Geld von Lesungen kam hinzu (für jede von der Werkstatt vermittelte Lesung zahlte der Autor einen Prozentsatz in die Kasse). So hatten wir immer Geld für Plakate, Broschüren oder Buchprojekte.

Werkkreis vor dem finanziellen Ruin

1977 wurde Horst Hensel erster Sprecher des Werkkreises und ein Kassensturz ergab, dass der vorige Vorstand den Werkkreis an den Rand des finanziellen Ruins geführt hatte. Alle wurden zu Spenden aufgerufen. Wir, beunruhigt von Hensels Bericht, wollten sofort all unser Erspartes spenden, aber da sprach Polte dagegen. Einen Teil wollte er abgeben, wie hoch, müssten wir entscheiden, sagte er. Aber die Werkstatt selbst sollte auf jeden Fall finanziell schlagkräftig bleiben. „Und wenn der Werkkreis untergeht?“, fragten wir. „Dann gibt es wenigstens noch die Werkstatt Dortmund“, knurrte Polte.

Am Ende haben wir ein paar tausend DM gespendet, so viel wie alle anderen Werkstätten zusammen, der Werkkreis wurde gerettet und die Dortmunder Werkstatt blieb, dank Polte, liquide.

Der Untergang kam schleichend. Es gehörte zu unserem Programm, dass immer neue Autoren zu uns stoßen sollten. Die waren zumeist blutige Anfänger, wie wir es zur Zeit der Werkstattgründung auch gewesen waren. Aber wir Älteren hatten uns inzwischen entwickelt, die Neuen hielten uns auf, wir mussten immer wieder dieselben Anfängerprobleme lösen und verloren Zeit. Irgendwann wurde die Kluft so groß, dass wir das eigene Schreiben vernachlässigten.

Arbeiter wanderten zu RTL ab

Es war Zeit, dass wir uns trennten. 1980 feierten wir alle zusammen noch mal in Haus Ebberg bei Schwerte, hockten eine lange Nacht bei Bier und Schnaps zusammen, dann wechselten Hensel und ich in die neu gegründete Werkstatt Bergkamen. Wir mussten nun nicht mehr nach Dortmund fahren, die Arbeit blieb überschaubar und es war Zeit zum Schreiben gewonnen. Die anderen blieben noch zusammen, auch noch nach Poltes Tod 1985. Aber nicht mehr lange, dann war die Zeit des Werkkreises vorbei. Es gab kein Interesse mehr in der Arbeiterschaft an aufklärerischer Literatur, viele saßen längst vor RTL oder Prosieben. Schade, denke ich immer noch.

Aus den Gruppenmitgliedern wurden normale Autoren, die nun für sich allein schreiben, jede Menge Bücher entstehen. Bei den meisten erkenne ich immer noch Reste unseres damaligen Anspruchs. Ihre Literatur ist politisch geblieben, was ihr die Anerkennung in der Literaturszene erschwert, wo sich für viele Jahre eine Art literarisches Biedermeier mit Befindlichkeitsliteratur breit gemacht hat.

Wiederkehr des Politischen

Aber die Zeiten beginnen sich zu ändern. PEN-Präsident Haslinger fragte mich mal während einer Präsidiumssitzung, ob es den Werkkreis noch gebe und als ich verneinte, bedauerte es das. Schade, so etwas wie der Werkkreis würde heute noch eher gebraucht als früher, meinte er. Die Situation der arbeitenden Bevölkerung ist doch nicht besser geworden, im Gegenteil, vieles habe sich verschlimmert. An vielen anderen Bemerkungen und verstärkt auch an neuen Projekten merke ich, dass das Thema wieder in der Literatur virulent wird. Der PEN selbst wird das Thema Literatur und Arbeit zum zentralen Motto bei einer der nächsten Jahrestagungen machen, das freilich auch neue Formen erfordert. Ich selbst bin an einem Projekt mit Lyrikclips beteiligt, Filme, die Gedichte mit sozialer Thematik aufgreifen, entstehen. Ein Projekt, das bei jungen, nicht unbedingt literarisch vorgebildeten Menschen auf Interesse stoßen kann. Der DGB-Chef hat sein Interesse daran bekundet.

In anderen Ländern steht das Thema längst auf der Agenda. Bei einer Zusammenarbeit mit französischen Autoren, an der ich teilnahm und aus der mehrere Bücher entstanden, ging es einzig um die Darstellung der Arbeit in der Literatur. Die Franzosen, merkte ich, gingen dabei viel unbefangener an das Thema heran als wir, die wir bei jedem Schritt in diese Richtung die Kritiker gegen uns haben. In Frankreich haben sie das nicht.

Man merkt, ein guter Ansatz kann letztlich nicht endgültig verschwinden. Er kann nur zweitweise zugedeckt werden, aber irgendwann bricht sich das Bedürfnis nach Auseinandersetzung mit den immer drängenderen sozialen Problemen Bahn. Wir erleben gerade den Startschuss dazu.




Farewell, Barney: Zum Tod des Dortmunder Journalisten Werner Strasdat

Es ist wieder einmal an der Zeit, Bertolt Brechts Gedichtzeilen aus „An die Nachgeborenen“ zu zitieren: „Der Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht empfangen…“ Eine erschütternde Neuigkeit lautet jetzt so unerbittlich: Der Kollege, Kumpel und Freund Werner Strasdat ist tot.

Die meisten kannten ihn unter seinem Spitznamen „Barney“. Und er kannte zeitweise enorm viele Leute. Zumal als junger Mensch – ich bin ihm zuerst in unseren frühen 20ern begegnet – hat er so richtig „Betrieb“ gemacht, war ständig ruhelos unterwegs in allen (linken) Szenen und Gassen. Wenn Stillstand drohte, fragte er flackernd: „Ey, was liegt an?“ Dazu könnten einem Neil Youngs Zeilen einfallen: „It’s better to burn out than to fade away…“

Wohin führt der Weg? Irland 1976: "Barney" befragt eine Straßenkarte.

Wohin führt der Weg? Irland 1976: „Barney“ befragt eine Straßenkarte und entzieht sich zugleich dem Fotografen.

Etwas ausgesprochen Fahriges und Unstetes hat „Barney“ bis in seine mittleren Jahre behalten. Doch was früher vor allem Ausdruck einer herrlichen Spontanität gewesen ist, erschien wohl zusehends als betrübliches Orientierungsproblem, als Sinnkrise. Einen wie ihn konnte man sich eh nicht als 75- oder gar 80jährigen vorstellen.

Zwischenzeitlich haben wir uns mehrmals länger aus den Augen verloren, so auch in den letzten Jahren. Da hatten wir nur sehr sporadisch miteinander zu tun. Vor wenigen Wochen erschien seine Nummer auf meiner Liste verpasster Anrufe. Ich habe nicht zurückgerufen. Später, später, demnächst…

Muss ich mir nun Vorwürfe machen? Habe ich Signale ignoriert? Andere waren zuletzt sicherlich „näher dran“, aber was kann man schon tun? Ach, es ist ja fast alles Gerede.

Es war 1976. Mein bester Schulfreund Klaus hatte – über gemeinsame Freundinnen – „Barney“ kennen gelernt. Zu dritt sind wir damals für sechs Wochen nach Irland gefahren. Eine wunderbare, nun erst recht unvergessliche, auch ein wenig chaotische Rundfahrt. Schon auf der Rückreisen-Fähre stiegen mir wehmütige Tränen auf. Wie weh wäre mir erst geworden, hätte ich den weiteren Lauf der Dinge geahnt.

Denn andererseits war es eine gottvermaledeite Reise, als hätte ein heimlicher Fluch darauf gelegen. 1987 hat sich Klaus das Leben genommen – und jetzt… bin ich aus dem damaligen Trio übrig; abermals ratlos trauernd.

Etliche Jahre nach dem Irland-Trip, Anfang der 1990er, war Werner Strasdat dann Volontär bei der Westfälischen Rundschau, zeitweise auch in unserer Kulturredaktion. Wahrhaftig einer von den Besseren oder gar Besten. Schnell und originell denkend, reflektiert und mit Witz gesegnet. Freilich mit keinerlei Hang zur Dauerhaftigkeit.

Er hat danach seine Freiheit vorgezogen und sich über die tägliche Knechtschaft der Festangestellten belustigt. Wenn wir uns – selten genug – trafen oder miteinander telefonierten, fragte er süffisant: „Na, was macht die Kleinfamilie?“ Mag sein, dass er just etwas mehr Verlässlichkeit gebraucht hätte. Doch berufliche und familiäre Festlegungen entsprachen nun mal nicht seinen Vorstellungen, seinen Utopien. Auch konnte und wollte er nicht buchhalterisch mit dem Geld haushalten, das seinerzeit noch vorhanden war. Er war so gar nicht kleinlich und auch niemals kleinkariert. Er war verdammt in Ordnung.

Aus seiner anfänglich genossenen Freiheit scheint auf dem journalistischen Markt mit den Jahren Vogelfreiheit geworden zu sein. Wo er einst Aufträge verschmäht hatte, die ihm nicht vollends zusagten, kämpfte er nun um die wenigen verbliebenen Zugänge und Möglichkeiten. Welch ein negatives Lehrstück.

Sein aufrechter Sinn und sein gegen Widerstände aufrecht erhaltener Anspruch haben ihm auf Dauer geschadet. Einst hatte er sich geweigert, für die ziemlich geringen Honorare einer großen Zeitungsgruppe im Revier weiterhin als freier Mitarbeiter tätig zu sein. Auch lehnte er, aus ebenso nachvollziehbaren Gründen, die allermeisten TV-Formate rundweg ab und sprach von „Blümchenfernsehen“. In der Tat hätten dem profunden Irland-Kenner viele, viele Fernsehleute, die sich derweil lukrativ betätigten, kaum das Guinness reichen können.

Es ist eine tragische Geschichte. Und eine sehr, sehr traurige.




Sie sind jung und schön und hören gerne Zaz oder Milky Chance

…ok, Zaz hab ich sogar schon mal gehört.

Das sind halt junge schöne glückliche Menschen, die sich freuen, dass sie ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben (hauptberuflich Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver etc.) und viele Fans auf Instagram und Twitter. Und sie sind glücklich und schön, weil sie jung und schön und glücklich sind und ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben und Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver sind etc.

sternzeichen smoothie und veggieburgerIhr Sternzeichen ist der Smoothie aus Bio-Früchten und fettarmem Bio-Joghurt oder der Veggie-Burger mit biologischen Süßkartoffelpommes für 14,95 (Getränke extra). Sie sind für die Umwelt und für Bioklamotten und für Bioessen, weil das irgendwie dazugehört und eh besser ist für die Umwelt, fahren am Sonntagmorgen mit dem SUV, das ist sicherer!, Brötchen vom Bäcker nebenan holen und stehen da in der Schlange, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und freuen sich, dass sie in der Schlange stehen, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und das ist alles so schön und warm und so vertraut und so heimelig und Kinder wollen sie ja eh mal, zwei, n Jungen undn Mädchen, weil Kinder sind doch so wichtig für alles und so und wenn die einen dann so anlachen. Außerdem können sie dann auch bald nen eigenen YouTube-Channel mit Spielzeugtests machen und aus den Werbeeinnahmen was zum Haushalt dazugeben. Aber das mit den Flüchtlingen ist echt schlimm.

hipsterpärchenDie Frauen tragen weite Strickpullover mit zu langen Ärmeln, Wollsocken und Flip-Flops und halten die Tasse mit koffeinreduziertem senseo-Latte in beiden Händen, während sie die neue Country Homes aufm ipad durchblättern, den manufactum-Katalog studieren, die greenpeace-Überweisung machen und noch eben die online-Petition für die Flüchtlinge unterzeichnen und nachher nachm Büro gehts noch zur urban-knitting-Gruppe, weil das ist ja wichtig für uns alle und so und die Männer tragen Bart oder auch nicht, weil das ja unhygienisch ist, trinken mit guten Freunden ein craftbier (max.) und sind fast so lustigdoof wie der Golden Retriever, stinken aber weniger, wenn man ihnen jeden Tag sagt, dass sie duschen und auf jeden Fall mehrmals täglich Deo verwenden sollen und auch Zahnseide und sone Pflegeserie für ihn.

Aber irgendwie ist der Retriever dann doch irgendwie, naja, kuscheliger und so und man muss ihn nur ab&zu mal rauslassen und Futter geben und er passt ja auch besser zum Sofa und lecken kanner ja auch und wenn dann erst mal die Kinder da und aus dem Gröbsten raus sind, naja.

[Zeichnungen ©scherl]

[Lehrreiches: urban knitting]




Ausstellung „Digitale Folklore“: Damals, als das Internet noch eine freie Spielwiese war

Es gibt Gelegenheiten, bei denen man sich ziemlich alt vorkommt, noch besser gesagt: ziemlich weit ab vom (allerdings auch schon längst verflossenen) Hauptstrom des Geschehens.

Mir war jetzt ein solches Gefühl beim Rundgang durch die Dortmunder Ausstellung „Digitale Folklore“ beschieden. Ohne kundige Führung hätte ich wenig von den technischen Details verstanden. Somit war’s auch gleichsam fremdes kulturelles Gelände.

Dabei ging es gar nicht mal um stürmische Avantgarde, sondern um eine neuere Form der Nostalgie, nämlich um wehmütige Rückblicke auf die Zeiten, als es im Internet gemeinhin noch recht wildwüchsig vonstatten ging; als Hunderttausende, zumeist fröhlich dilettierend, vor allem im angloamerikanischen Sprachraum die Möglichkeiten des noch so jungen Mediums erprobten und vielfach erstaunliche Kreativität freisetzten – auch beim freimütig frechen Abkupfern einzelner Elemente aus anderen Webseiten.

"Willkommen" (Bild: One Terabyte of Kilobyte Age Archive, Ausstellung "Digitale Folklore" - © Geocities Research Institute)

„Willkommen“ (Bild: One Terabyte of Kilobyte Age Archive, Ausstellung „Digitale Folklore“ – © Geocities Research Institute)

Wir sprechen von den 1990er Jahren, als geringste Mittel und Speicherplätze für den Online-Auftritt ausreichen mussten. Gerade diese Beschränkungen stachelten offenbar den Erfindergeist an.

Zoomen wir uns noch etwas genauer heran: Die Netzkünstler und Kuratoren Olia Lialina und Dragan Espenschied richten für den HMKV (Hartware MedienKunstVerein) im „Dortmunder U“ eine Schau über jene Relikte aus, die sie vom einstigen Online-Dienst Geocities gerade noch rechtzeitig durch eilige Kopien haben retten können.

Es sind immerhin 28 Millionen Dateien, die sich nunmehr im „One Terabyte of Kilobyte Age Archive“ befinden und allmählich mühsam gesichtet und erschlossen werden. Manche Zeichen und Abläufe kann man mit heutigen Browsern gar nicht mehr darstellen. Also gilt es zu rekonstruieren und zu restaurieren, wie nur je bei herkömmlichen Kunstwerken.

Es ist ein Forschungsprojekt sondergleichen, bei dem Selbstdarstellungen jeder Couleur, zahllose Fan- und Haustierseiten sowie alle denkbaren Formen der Populär- und Alltagskultur in Betracht kommen. Übrigens: Auch niedliche Katzenbildchen zählten in den frühen Jahren schon zum festen Bestand des Mediums. Auch hierbei ist Facebook nur die Nachhut.

Nach den markanten Kostproben in der Ausstellung kann man es sich lebhaft vorstellen: Da sind wohl diverse Sumpfgelände dilettantischer Hervorbringungen zu durchwaten, aber auch manche Schätze zu heben. Mit der Zeit dürfte sich zudem eine Typologie für die Frühzeit des Internets herauskristallisieren, die bei künftigen Forschungen als Leitseil dienen könnte.

Universale Schöpfung (Bild: One Terabyte of KIlobyte Age Archive, Ausstellung "Digitale Folklore - © Geocities Research Institute)

Universale Schöpfung (Bild: One Terabyte of Kilobyte Age Archive, Ausstellung „Digitale Folklore – © Geocities Research Institute)

1994 war die nach Art einer Stadt in Zonen und Viertel gegliederte Geocities-Plattform begründet worden. War man beispielsweise Verschwörungstheoretiker, so siedelte man seine Seite in „Area 51“ an, Fantasy-Freunde gingen hingegen in den Zauberwald.

Doch ach! Die große Freiheit währte nicht allzu lange. 1999 wurde Geocities zum Schrecken vieler Online-Aktivisten an den Konzern Yahoo verkauft, der die virtuelle Globalstadt vernachlässigte und sie 2009 endgültig in den Orkus der Web-Historie stieß, vulgo: löschte. Man darf getrost von einem barbarischen Akt sprechen, bei dem Millionen handgemachter Webseiten verschwunden sind. Von wegen, das Netz vergisst nicht…

Das digitale Archiv, auf dem die flimmernde Ausstellung ausschnitthaft basiert, enthält Überbleibsel von genau 381.934 Geocities-Homepages. In jenen Gründungsjahren nach 1994 war alles noch Experiment. Es gab keine vorgefertigten Tools zum Erstellen von Webauftritten. Die Nutzer bastelten freihändig an neuen Möglichkeiten. Und während heute soziale Netzwerke das Tun und Lassen ihrer User in vorgezeichnete Bahnen lenken, herrschte damals vergleichsweise technische und ästhetische Anarchie.

Besonders die Frames (Rahmensystem, mit dem sich mehrere Dokumente auf eine Seite stellen ließen) und noch mehr die animierten GIFs (Bildformat, dem mehr oder minder trickreich sekundenkurze Bewegung eingehaucht wurde) erwiesen sich als ideale Ausdrucksformen der Pioniertage. Die Ausstellung zeigt frappierende Beispiele dieser Endlosschleifchen, die sich summarisch kaum hinreichend beschreiben lassen. Eines der berühmtesten GIFs war der Peeman (Pinkelmann), der stracks über den Bildschirm lief und hernach auf alles urinierte, was der Netzgemeinde suspekt oder verhasst war – ob nun auf Hitler, die als öde geltende Automarke Ford, Britney Spears oder Geocities selbst…

Es muss eine schier unendlich erscheinende Spielwiese der Improvisationen gewesen sein, die sich da den Amateuren auftat. Allein die immense Vielfalt der „Baustellenschilder“ („under construction“), der Ankündigungen (demnächst neuer Webauftritt) und Abschiede (Website aufgegeben) lässt ahnen, dass hier eine lebendige Netz-Kultur geradezu wucherte, die inzwischen wie weggewischt und fast schon wieder vergessen ist. Insofern kann man wahrhaftig von Medienarchäologie sprechen, die zu restaurieren, zu interpretieren und mit künstlerischen Mitteln anzuverwandeln sucht, was noch übrig ist.

Zusehends haben dann Profis die Definitionsmacht über das Internet an sich gezogen. Sie machten sich im Netz und in Büchern über misslungene Webseiten der Amateure lustig und prangerten sie als Peinlichkeiten an. Heute sehen wir, wofür sie den Boden bereitet haben.

„Digitale Folklore“. 25. Juli bis 27. September beim Hartware MedienKunstVerein, 3. Ebene im „Dortmunder U“ (Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund). Geöffnet Di/Mi/Sa/So 11-18, Do/Fr 11-20 Uhr. Eintritt frei. Öffentliche Führungen sonn- und feiertags 16 Uhr, donnerstags 18 Uhr. www.hmkv.de




Ohne Wachstum und gewaltfrei leben: „Das konvivialistische Manifest“

Eine neue Zeit der Manifeste scheint gekommen. Nach Stéphane Hessels manifestartigem Pamphlet „Empört Euch!“ und dem „Akzelerationistischen Manifest“ erschien im September 2014 in deutscher Übersetzung „Das konvivialistische Manifest“, das inzwischen mehr als 2.500 Unterzeichner gefunden hat.

Seit Ivan Illichs Veröffentlichung von „Tools of Conviviality“ (dt.: „Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik“, 1975) ist Konvivialität im politisch/soziologischen Diskurs – mehr noch im anglo- und frankophonen Bereich als in Deutschland – ein fester Begriff. Ein Jahr vor Illichs Erstpublikation des Buchs in den USA (1973) war der Bericht für den Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums“, erschienen, der seitdem in mehreren Neuauflagen aktualisiert worden ist, dessen Einschätzungen und implizite Warnungen bis heute jedoch nichts an Dringlichkeit eingebüßt haben.

Cover Konvivialistisches Manifest

Ausgehend von einem Kolloquium in Tokio im Jahr 2010 veröffentlichten 64 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster politischer und religiöser Überzeugungen unter dem kollektiven Autorennamen „Les Convivialistes“ das konvivialistische Manifest, das die wesentlichen globalen Herausforderungen benennt und Chancen aufzeigt, wie ein gewaltfreies Zusammenleben unter gleichzeitiger Schonung der Ressourcen unseres Planeten möglich sein könnte.

Der Markt dringt in jeden Winkel vor

Konstatiert wird, was nicht zu übersehen ist, ein Vordringen ökonomischen Denkens in Bereiche, die noch bis in die 1970er-Jahre weitgehend frei von marktwirtschaftlichen Ansprüchen waren. „Benchmarking und ständiges reporting werden nun zu den Grundwerkzeugen des lean management und der Verwaltung durch Stress.“ (S. 55) Veränderungen im Gesundheitswesen, Hochschulranking, Stadtmarketing, effizienteres Kulturmanagement – jedem Leser und jeder Leserin wird zu diesen Stichworten eine Vielzahl von Beispielen einfallen. Das Manifest begnügt sich zusammenfassend mit dem Hinweis auf ein „Neomanagement“, das nicht nur in den Wirtschaftsunternehmen ausartet, sondern auch den öffentlichen Sektor erfasst, bis der Markt auch den letzten noch unterkapitalisierten Winkel unserer Freizeit besetzt hat.

„Es gibt keine erwiesene Korrelation zwischen monetärem oder materiellem Reichtum einerseits und Glück oder Wohlergehen andererseits“, schreiben die Autor(inn)en (S. 68). Statt einer Verkürzung der Arbeitszeit durch technischen Fortschritt, wie sie John Maynard Keynes um 1930 voraussagte, erhöht die Automatisierung den Arbeitsdruck. Psychische Defekte wie Depression und Burnout gehen mit diesen Entwicklungen einher.

Die Standard-Wirtschaftswissenschaft gelte es in ihre Schranken zu verweisen. Von den Autoren des Manifests ist es vor allem der Ökonom Serge Latouche, der in den letzten Jahren mit Überlegungen zu einer möglichen Wachstumsrücknahme an die Öffentlichkeit getreten ist. „Degrowth“ im Englischen, bzw. „décroissance“ als das französische Äquivalent und, da der Glaube an Wachstum als eine Quasi-Religion angesehen werden kann, spricht Latouche analog zum Atheismus, auch von „acroissance“.

Selbstverständlich müssen für die weit und die weniger weit entwickelten Länder unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden, will man die nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage stets beteuerten Politikerfloskeln, die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessern zu müssen, beim Wort nehmen und einen wirtschaftlichen Ausgleich anstreben.

Die Maßlosigkeit bekämpfen

„Das Niveau des weltweit universalierbaren materiellen Wohlstands entspricht annähernd demjenigen der reichsten Länder um das Jahr 1970, vorausgesetzt, man erreicht es mit den heutigen Produktionstechniken.“ (S. 67) Das würde nicht nur Selbstbegrenzung in den Industrienationen erfordern, sondern eine Neudefinition der Ziele. Vom wirtschaftlichen Wachstum ist nicht nur keine Rettung zu erwarten; es führt geradewegs in den Untergang. Einfacher Wohlstand, der mit einem Konzept vom „guten Leben“ einhergeht, wird von den Konvivialisten anvisiert. Dazu müssen die der Zocker-Mentalität der Spekulanten eigene, zerstörerische Maßlosigkeit und die Auswüchse der Finanzwirtschaft bekämpft werden. Die Autor(inn)en setzen sich nicht nur für ein Mindesteinkommen, sondern auch für ein Höchsteinkommen ein.

Alternative Formen von Ökonomie sieht Alain Caillé, einer der maßgeblichen Initiatoren des konvivialistischen Manifests, in der „Schenkökonomie“, wie der französische Soziologe/Ethnologe Marcel Mauss sie in seiner Schrift „Die Gabe“ unter anderem am Beispiel des indianischen Potlatsch und des melanesischen Kula beschreibt.

Sicherlich ließen sich einem modernen Mitteleuropäer oder Nordamerikaner archaische Vorstellungen von der Beseeltheit und dem Eigenwillen von Dingen, etwa Geschenken, oder die unter Drohung von Ehr- und Gesichtsverlust unbedingte Verpflichtung des Beschenkten zur Gegengabe schlecht vermitteln und taugen kaum als Modelle zur Rettung der Welt. Doch lesen sich manche Gedanken aus dem 1925 veröffentlichten Werk erstaunlich aktuell. „Und wir müssen ein Mittel finden, um die Einkünfte aus Spekulationen und Wucher einzuschränken. Nichtsdestoweniger muss das Individuum arbeiten. Es muss veranlasst werden, mehr auf sich selbst zu bauen als auf andere. Andererseits muss es sowohl seine Gruppeninteressen wie seine persönlichen Interessen verteidigen. Allzuviel Großzügigkeit und Kommunismus wäre ihm und der Gesellschaft ebenso abträglich wie Selbstsucht unserer Zeitgenossen und der Individualismus unserer Gesetze“, schreibt Marcel Mauss.

Aufwertung des Unentgeltlichen

Die Verfasser(innen) des Manifests weisen in diesem Zusammenhang auf zahlreiche bereits praktizierte unentgeltliche Aktivitäten hin – Fair Trade, Open-source-Projekte, Ehrenämter, Non-Profit-Organisationen, digitale Netze als Gemeineigentum oder das Konzept einer „Weltzivilgesellschaft“. Das sind keine neuen Erfindungen, doch scheint in einer durchökonomisierten Welt das Bedürfnis gestiegen, auf den unentgeltlichen Dienst am Mitmenschen besonders hinzuweisen.

Der homo oeconomicus, wie die Wirtschaft ihn sich vorstellt, kenne nur „äußerliche Motivationen“ – Streben nach Gewinn und hierarchischem Aufstieg. In diesem System, folgern die Autorinnen und Autoren, wird sich jegliche intrinsische Motivation – Arbeit, die ihren Wert in sich selbst hat, Freude an gutem Handwerk, Drang nach sinnvoller Betätigung, Handlungen aus Solidarität oder aus Pflichtgefühl – zurückentwickeln.

Was kann man machen? Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der taz und Autorin des Buchs „Der Sieg des Kapitals“ (2013), sagte in einem im Gespräch in der Reihe „Essay und Diskurs“ im Deutschlandfunk am 19.04.2015: „Wenn man sehr massiv in dieses System [des Kapitalismus‘] eingreift, wäre der einzige Effekt, dass es wirklich einbricht. Und das wäre ein chaotischer Prozess, den man sich auch nicht friedlich vorstellen darf. Da wären Verluste zu verkraften, und an Sicherheit, dass die Leute alle panisch würden.“

Was der Ritus vermag

Die Gefahr sehen auch die Autor(inn)en des konvivialistischen Manifests. „Die schwierigste Aufgabe, die dazu erfüllt werden muss, besteht darin, ein Bündel politischer, wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen vorzuschlagen, die es der größtmöglichen Zahl von Menschen ermöglichen, zu ermessen, was sie bei einer neuen konvivialistischen Ausgangssituation (einem New Deal) nicht nur mittel- oder langfristig, sondern sofort zu gewinnen haben. Schon morgen.“ (S. 74)

In seinem 1962 erschienenen Werk „Das wilde Denken“ erläutert Claude Lévi-Strauss, dessen ethnologische Arbeiten Marcel Mauss viel verdanken, den Unterschied zwischen Spiel (mit Wettkampfcharakter) und Ritus. Das Spiel gehe von einer prästabilen Ordnung aus und schaffe in seinem Verlauf Ungleichheit. Der Ritus dagegen habe eine Ausgangslage der Asymmetrie – profan und sakral, Gläubige und Priester, Tote und Lebendige, Initiierte und Nicht-Initiierte – und möchte alle Beteiligten auf die Gewinnerseite bringen, so Lévi-Strauss. Er nennt das Beispiel einer Ethnie in Papua-Neuguinea, die das Fußballspielen gelernt hat, „die aber mehrere Tage hintereinander so viele Partien spielen, wie nötig sind, damit sich die von jedem Lager verlorenen und gewonnenen genau ausgleichen.“ Den Wettkampf funktionieren sie zu einem Ritus um. Die großen Wirtschaftskonzerne werden sich diese ehrenwerte Haltung sicher nicht zum Vorbild nehmen. Die Hoffnung lastet auf den Zivilgesellschaften.

Les Convivialistes: „Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens“. Herausgegeben von Frank Adloff und Claus Leggewie in Zusammenarbeit mit dem Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research Duisburg, übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer; [transcript] Verlag, Bielefeld, 2014; 09/2014, 78 Seiten, kart.; 7,99 Euro; kostenloser Download über http://www.transcript-verlag.de

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Diese Besprechung wurde in ähnlicher Form ebenfalls im Hotlistblog veröffentlicht: https://derhotlistblog.wordpress.com/2015/06/26/affirmatives-vom-firwitz-2/