Im Chaos der Gerüchte und Nachrichtenfetzen: Der Angst nicht noch mehr Raum geben

Vom schrecklichen Münchner Amoklauf, Attentat (oder wie man es nun nennen soll) am Olympia-Einkaufszentrum habe ich erst gestern Abend erfahren und kann mich natürlich nur kläglich subjektiv äußern.

Fürwahr ein schwacher Trost - und doch beruhigt der Anblick des Meeres. (Foto: BB)

Fürwahr ein schwacher Trost – und doch beruhigt seit jeher der Anblick des Meeres. (Foto: BB)

Ein argloser Nachmittag

Wieder einmal wurden Brechts berühmte Gedichtzeilen wahr: „Der Lachende / Hat die furchtbare Nachricht / Nur noch nicht empfangen.“

Auf dem Ausflugsschiff, auf dem wir nachmittags arglos und ahnungslos fuhren, saß auch ein vor Selbstgewissheit strotzender Mann im Trikot von Bayern München, der breitesten Dialekt sprach. Auch er konnte noch nicht wissen, was in seiner Heimat vorfallen würde. Zunächst hatte ich ihn noch scherzhaft anpflaumen wollen – von wegen „Schluss mit Bayern-Meisterschaften“ und so weiter. Aber ach, wie bedeutungslos war das dann alles, welch eine Petitesse. Im Nachhinein war ich froh, kein Wort gesagt zu haben. Wer weiß, welche Ängste er später ausgestanden hat.

Die Stunde der Welterklärer

Abends habe ich lange der Versuchung widerstanden, mich über die chaotischen Informations-Brocken hinaus in den unaufhörlichen Nachrichten- und Gerüchtestrom einzuschiffen. Ganz bewusst habe ich in jenem „sozialen Netzwerk“ lediglich ein nachmittags aufgenommenes Foto vom beruhigenden blauen Meer eingestellt, dies- und jenseits aller rasenden Spekulationen über Tathergang, Opferzahl, mögliche Motivationen etc.

Wie rasch waren manche wieder mit Zuschreibungen bei der Hand. Es ist widerlich, wie einige notorische Welterklärer versuchen, in solchen Fällen sofort die Deutungshoheit zu gewinnen, und zwar unabhängig vom (un)politischen Lager.

Versuchung zum Eskapismus

Die Versuchungen zum Eskapismus oder gar zum Eremitentum sind dieser Tage groß. Man möchte sich mitunter in den hinterletzten Winkel flüchten, quasi biedermeierlich genügsam leben und den eigenen Garten pflegen, wie Voltaire einst schrieb. Schweigen und Rückzug wären so angemessen. Aber wohin?

Ausufernde „Tagesthemen“

Schließlich habe ich doch noch den Livestream der „Tagesthemen“ aufgerufen, ganz nach dem Leitsatz: Man kann sich ja nicht komplett ausklinken. Selbst der sonst so souveräne Thomas Roth wirkte hilflos. Er musste die Sendung über Stunden hinweg in einer Art Endlosschleife absolvieren. Immer wieder sah er sich genötigt zu betonen, man könne nur spekulieren – und spekulierte dann mit Hilfe des unvermeidlichen Terrorexperten zwangsläufig drauflos. Aber man musste ja auf Sendung bleiben, sonst hätte es ebenfalls Vorwürfe gegen die ARD gehagelt. Eine journalistische Zwickmühle, aus der es kein Entrinnen gab.

Auch ein Amateurvideo, das zunächst partout nicht richtig laufen wollte, kam dabei zum zweifelhaften Einsatz. Es war jenes, auf dem der mutmaßliche Täter auf einem Dach steht und ruft, er sei in Deutschland geboren, in der Hartz-IV-Gegend… Die Süddeutsche Zeitung entschied sich derweil dafür, nur Standbilder aus dem Film zu zeigen. Recht so.

Unbegriffenes Geschehen

Ich möchte so etwas eigentlich nicht mehr tun, möchte mich nicht mehr anhand von atemlosen Live-Tickern und Minutenprotokollen auf ein völlig unübersichtliches, unbegriffenes Geschehen einlassen. Es bedeutet, dass man der Sinnlosigkeit, dem Chaos und der Angst unnötig breiten Raum gibt. Gewiss: Für Münchner und alle, die um Freunde oder Verwandte in München gebangt haben, wird es sicherlich sinnvoll gewesen sein, auf jede erdenkliche Weise möglichst nah an den Ereignissen zu bleiben – wie wildwüchsig auch immer. Bei Facebook und Twitter gab es unterdessen auch viele tröstende, aufmunternde Worte. Auch das muss einmal gesagt sein.




Games und Gaffer – das tägliche und manchmal tödliche Elend mit den Smartphones

Eigentlich sollte man alle „Smartphones“ in den Orkus werfen. Dann Deckel drauf. Fertig. Und keine Wiederkehr. Warum ich so wütend bin? Abwarten. Kommt gleich.

Manchmal sind die Dinger nützlich, gewiss. Doch sie richten immensen Schaden an.

Nein, es geht nicht in erster Linie zum 1000. Mal darum, dass so viele Zeitgenossen (nein: zeitabwesende, geisterhafte Gestalten) ständig auf die lächerlichen Bildschirmchen stieren und starren, um sich aller wirklichen Umgebung zu entziehen. Nähme man ihnen die Handys weg, wüssten gar manche wohl nicht, was sie mit sich und der Welt noch anfangen sollten.

Man hat ja selbst auch so'n Zeug. (Foto: BB)

Man hat ja selbst auch so’n Zeug. (Foto: BB)

Auch geht es jetzt nicht um Autofahrer, die durch „Simsen“ oder sonstigen Handy-Gebrauch werweißwieviele Unfälle verursachen.

Hier dreht es sich vielmehr um zwei Nachrichten der vergangenen Tage, die einem gleichermaßen Schrecken einjagen:

Zum einen besteht der dringende Verdacht, dass der Fahrdienstleiter, unter dessen Aufsicht (Aufsicht?) das schreckliche Zugunglück von Bad Aibling geschehen ist, durch ein Online-Game auf seinem Handy abgelenkt war. Der 39-Jährige sitzt deshalb in U-Haft, die Staatsanwaltschaft ermittelt. Elf Tote und 85 Verletzte wegen eines läppischen Computerspielchens? Ach, wäre es doch nicht wahr…

Weiter nordwärts, in Hagen am Rande des Ruhrgebiets, gab es am letzten Mittwoch eine unfassbare Steigerung des ohnehin schon elenden „Gaffens“. Ein zehnjähriges Mädchen war von einem Auto angefahren worden, ein Rettungshubschrauber musste es in eine Spezialklinik bringen.

Die Helfer hatten eigens Tücher aufgehängt, welche das schwerverletzte Mädchen vor neugierigen Blicken schützen sollten. Tatsächlich hat ein ungebetener Zuschauer eines der Tücher weggerissen, um die Szenerie mit seinem Smartphone besser ablichten zu können. Angeblich soll er es auch so idiotisch begründet haben: „Das muss ich so machen, ich kann sonst nicht richtig filmen.“ Was für ein armseliger Wicht.

War’s ein selbsternannter „Bürgerreporter“, der den Film womöglich noch verkaufen wollte? Egal. Er war wahrscheinlich der übelste, aber beileibe nicht der einzige Schaulustige, der im Umkreis des lebenswichtigen Einsatzes die Grenzen allen Anstands überschritten hat. Auch andere haben nach Kräften Film- und Fotoaufnahmen gemacht. Ob sich andere Passanten dagegen gewendet haben? Davon ist leider nichts zu lesen.

Aber hat denn die Polizei gar keine richtige Handhabe gegen solche ruchlosen Leute? Offenbar blieb ihr nichts übrig, als das schäbige Verhalten im Internet zu brandmarken. Wenigstens das.

Für einen unmissverständlich formulierten „Gaffer-Paragraphen“ wäre ich sofort zu haben. Statt dessen steht bei uns immer noch „Majestätsbeleidigung“ unter Strafe…

Spontan möchte man also am liebsten die Geräte einstampfen und sich für immer davon verabschieden. Mir ist schon klar, dass das vollkommen illusorisch ist. Auch der innige Wunsch, dass man die hochgerüsteten Handys einiger Funktionen beraubt, so dass man mit ihnen nicht mehr ins Netz gehen oder fotografieren könnte, sondern nur – wie ehedem – telefonieren; auch dieser Wunsch wird ein frommer bleiben. Es ist ein Jammer.

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Mit Nachrichtenmaterial von www.spiegel.de (Bad Aibling) und www.derwesten.de (Hagen)




Apps mit Adolf

Schock beim Download: "Er ist wieder da..." (Screenshot: BB)

Schock beim Download: „Er ist wieder da…“ (Screenshot: BB)

Hat das eigentlich noch niemand bemerkt und gegeißelt?

Wie, was, wo, warum? Ja, was, ich werd‘ euch sagen, was: Immer dann, wenn man eine App herunterlädt und beim Vorgang warten muss, taucht zwischendurch unversehens ein Hitler-Piktogramm auf – mit stilisierter Andeutung des berüchtigten Haarschnitts und des widerlichen Schnauzbarts. Wer’s nicht glaubt, sehe selbst. Man erlebt sein blaues Wunder. Screenshots lügen nicht.

Da hört sich doch alles auf! Gibt es denn wirklich keine unverfängliche Zeichensprache für den Download?

P.S.: Man macht mich darauf aufmerksam, dies sei ein reines Apple-Phänomen und komme so nur bei iPhone und iPad vor. Mag sein. In der Android-Welt bin in nicht daheim. Dann können wir aber auch schon ein Zusatzthema herbeiquälen. Apple hatte sich – aus welchen Motiven auch immer – jüngst geweigert, den US-Behörden beim Hacken eines Handys zu helfen, das einem toten Terroristen gehört hatte. Somit drängt sich die Frage auf: Was ist los in Cupertino?




100 Jahre Dada-Bewegung: Richard Huelsenbeck und der Dortmunder Anteil

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den Dichter Richard Huelsenbeck, einen eng mit Dortmund verbundenen Hauptakteur der Dada-Bewegung, die vor 100 Jahren entstanden ist:

Der Dadaismus, jene revolutionär-avantgardistische Kunstrichtung um 1916, wird im Bereich der Literatur vor allem mit drei Namen verbunden: mit Hugo Ball, der in Zürich vor genau 100 Jahren (5. Februar 1916) das berühmte „Cabaret Voltaire“ gründete, mit dem Rumänen Tristan Tzara, der den Dadaismus nach Paris brachte, und mit Richard Huelsenbeck, der ihn in Berlin populär machte.

Zürich, Paris, Berlin, das sind denn auch Namen von Metropolen, die zum Dadaismus passen. Dass aber auch Dortmund seinen Beitrag geleistet hat, wissen die wenigsten. Richard Huelsenbeck (1892-1974), der „Ober-Dada“, wie er sich später selbst genannt hat, stammte nämlich aus Dortmund. Hier hat er seine Kindheit verbracht und hier, auf dem Südwestfriedhof, liegt er auch begraben.

Der Dichter Richard Huelsenbeck

Der Dichter Richard Huelsenbeck

Auch wir Dortmunder Schriftsteller waren überrascht, als wir im Frühjahr 1990 durch einen Zeitschriftenartikel von Hülsenbecks Beziehung zu Dortmund erfuhren. Dieses literarische Erbe war, von uns völlig unbemerkt, von einer Mitarbeiterin des „Fritz-Hüser-Instituts für Arbeiterliteratur“ betreut worden.

Mit Jazz-Klängen zu seinem Grab

Als wir dann auch noch erfuhren, dass Huelsenbecks Grab gefährdet war, dass es 30 Jahre nach seinem Tod „plattgemacht“ werden könnte, wie das so anschaulich im Ruhrgebiet heißt, entschlossen wir uns zu einer Aufsehen erregenden Aktion. Im Trauerzug zogen wir 1991 zu Huelsenbecks Grab, zwei Jazzmusiker vorweg, die im New-Orleans-Stil Trauermusik spielten, Josef Reding hielt eine verspätete Geburtstagsrede zu Huelsenbecks 99. Geburtstag (ein krummes Datum, das gut zu einem Dadaisten passt), in der er über dessen Leben und die literarische Arbeit informierte, dann wurden Gedichte Huelsenbecks rezitiert, danach von unserem Kollegen Jürgen Wiersch ein auf Huelsenbeck getextetes Gedicht im Dada-Stil vorgetragen. Schließlich verließen wir, diesmal begleitet von beschwingter Jazz-Musik, den Friedhof. Presse und Rundfunk haben seinerzeit groß berichtet, die germanistische Fakultät der Uni Dortmund war mit einem Professor und einigen Studenten vertreten. Die Aktion hat tatsächlich etwas gebracht, denn bis heute ist Huelsenbecks Grab erhalten geblieben.

Fierstunde an der Dortmunder Grabstätte Huelsenbecks (Ausriss aus der Westfälischen Rundschau, Lokalteil Dortmund, vom 18. Mai 1991)

Feierstunde an der Dortmunder Grabstätte Huelsenbecks (Ausriss aus der Westfälischen Rundschau, Lokalteil Dortmund, vom 18. Mai 1991)

Geboren wurde der Ober-Dada 1892 allerdings in Frankenau, im Waldeckschen, und nicht in Dortmund. Der Vater hatte dort eine Dorfapotheke übernommen, aber die Mutter, die aus Dortmund stammte, litt unter der dörflichen Einsamkeit, und deshalb zog die Familie kurz nach Richards Geburt zurück ins Ruhrgebiet, zuerst nach Dortmund, später, 1899, nach Bochum, wo der Vater eine Anstellung als Chemiker bei der Harpener Bergbau-AG fand.

Als Schüler ein wenig aufsässig

Richard Huelsenbeck besuchte das Städtische Gymnasium in Bochum, lernte dort den Mitschüler Karl Otten kennen, später einen der bekanntesten expressionistischen Dichter, und fiel ansonsten eher durch mäßige Leistungen auf. Ein bisschen Dandytum, ein wenig Aufsässigkeit, Provokation und Tabuverletzung (die Schüler trieben sich gern bei den Kinos am Hauptbahnhof herum, oder in der Kurzen Straße, „wo die Prostituierten kaserniert sind“) waren weiß Gott kein schlechter Nährboden für Dada, wohl kaum aber ein geglückter Start für eine erfolgreiche Schullaufbahn.

Also schickte der Vater den jungen Aufsässigen ins Internat „Arnoldinum“ nach Burgsteinfurt, wo Huelsenbeck ebenfalls einen späteren Dichter kennenlernte, den Dadaisten Karl Döhmann, der sich „Daimonidos“ (dämonisch, teuflisch, nach Sokrates evtl. auch innere Stimme, Gewissen) nannte und später durch hocherotische Gedichte, die er in dem Buch „Bibergeil“ veröffentlichte, in Berlin einen Namen machte. Wobei hinzuzufügen ist, dass der Buchtitel eigentlich noch nichts vom Inhalt verrät, denn „Bibergeil“ ist das Fett des Bibers.

1911 bestand Huelsenbeck das Abitur, auch dies nicht ohne Wirrnis, denn die Schüler hatten kurz vor dem Abitur die Prüfungsaufgaben gestohlen, ein Vorfall, den sogar die vorgesetzte Dienstbehörde mitbekam. Huelsenbeck war beteiligt, aber irgendwie, durch Gnade des Direktors, durften die Schüler doch an den Prüfungen teilnehmen.

Freundschaft mit Hugo Ball

Zuerst begann er ein Medizinstudium, wechselte dann aber zur Literatur und Philosophie an die Universität München. Dort lernte er Hugo Ball kennen, den sechs Jahre älteren Dramatiker und Dramaturgen der Münchner Kammerspiele. Es war die folgenreichste Begegnung seines literarischen Lebens. Ball stellte Kontakte zu Hans Leybolds „Die Revolution“ her, eine Zeitschrift, die es auf fünf Nummern und einen langwierigen Prozess wegen eines blasphemischen Gedichts von Ball brachte. Dort veröffentlichte Huelsenbeck seine ersten Texte.

Bei Kriegsausbruch 1914 erlag auch Huelsenbeck dem nationalen Taumel und meldete sich als Kriegsfreiwilliger in Bochum. Als aber schon früh ein Freund in Nordfrankreich fiel, bekam er Zweifel und ließ sich wegen Krankheit vom Militärdienst befreien. Mit der Bemerkung: „Wie schlimm für Sie, dass Sie in Leben nicht fürs Vaterland lassen können“, wurde er entlassen.

Er ging nach Berlin und organisierte zusammen mit Hugo Ball die ersten literarischen Veranstaltungen, die als Vorläufer späterer Dada-Aktionen gewertet werden können. Es begann mit einer „Gedächtnisfeier für gefallene Dichter“, bei der Ball den Expressionisten Ernst Stadler vorstellte, Huelsenbeck aber den französischen Schriftsteller Charles Péguy, der erst später, nach dem Zeiten Weltkrieg, zusammen mit Claudel und Bernanos als konservativ-katholischer Autor in Deutschland bekannt wurde. Ein Dichter des Feindes also, und damit war sie da, die erste Provokation des Publikums. Die Zuschauer reagierten aggressiv, die Presse war entrüstet, und Huelsenbeck und Ball freuten sich über den Erfolg.

Der ganze Saal rief „Umba, Umba!“

Wichiger aber wurde ihr Expressionismusabend am 12. Mai 1915, auf dem beide, so schrieb Huelsenbeck später, die Kraft fühlten, „die den Expressionismus überwand“. Die Vossische Zeitung schrieb am 14. Mai 1915 über den Abend: „Zwischen Stürmen des Gelächters versuchte sich Richard Huelsenbeck verständlich zu machen. Mit unerschütterlicher Ruhe las er ein Negerlied nach dem anderen vor. Nach jeder Zeile rief er zweimal `Umba!` Als er endete und hinausging, rief ihm der ganze Saal `Umba, Umba!` nach. Zuletzt sprudelte Ball Gedicht auf Gedicht hervor. Man verstand fast nur die Reime, die genügten aber, im Publikum wahre Schreikrämpfe hervorzurufen. Eine Zeile, die ich verstand, lautete: `Ein Pferd macht müde sich bequem in einem Vogelneste.` Wahrscheinlich ist es ein Opfer der Futternot geworden…Man lachte und rief sich gegenseitig zur Ruhe. Man lief nach vorne und wieder nach hinten. Einige verließen trampelnd den Saal und andere nannten sich laut Idioten. Niemand las, ohne von schallendem Gelächter oder beleidigenden Zwischenrufen unterbrochen zu werden.“

Da war es zum ersten Mal erkennbar, das Instrumentarium des späteren Züricher Dadaismus: der gesprengte Rahmen der Veranstaltung, der nicht mehr geschlossen wurde, das provozierte Chaos im Publikum und die Aktivierung des Publikums durch Aggression. Eine erste kleine Dada-Vorführung.

Kurz nach diesem gewollten Eklat wechselte Hugo Ball nach Zürich, wo sich viele Pazifisten aus allen Ländern aufhielten, um dem Kriegsdienst zu entgehen. Er gründete in der Spiegelgasse 1 sein berühmtes „Cabaret Voltaire“, den Geburtsort des Dadaismus. In der Spiegelgasse 6 wohnte übrigens zur gleichen Zeit ein Mann, der sich auf seine, auf eine ganz andere Revolution vorbereitete: Wladimir Iljitsch Uljanow, der sich Lenin nannte.

„Die Literatur in Grund un Boden trommeln“

Klar, dass Ball seinen Freund Huelsenbeck nach Zürich lockte. Am 11. Februar 1916 notierte er in seinem Dada-Tagebuch: „Huelsenbeck ist angekommen. Er plädiert dafür, dass man den Rhythmus verstärkt (den Negerrhythmus). Er möchte am liebsten die Literatur in Grund und Boden trommeln.“

Zum „Cabaret Voltaire“ gehörten außer Hugo Ball, dem Mann am Klavier, und Huelsenbeck noch Emmy Jennings, Balls Freundin, dazu der rumänische Maler Marcel Janko, der Maler und Bildhauer Hans Arp und Tristan Tzara, der „Reclamefachmann“ der Gruppe.

Was das eigentlich ist, Dadaismus, ergibt sich am besten aus Tagebuchnotizen von Ball. Am 11. und 30. März 1916 notiert er: „Am 9. las Huelsenbeck. Er gibt, wenn er auftritt, sein Stöckchen aus spanischem Rohr nicht aus der Hand und fitzt damit ab und zu durch die Luft. Das wirkt auf die Zuhörer aufregend. Man hält ihn für arrogant und er sieht auch so aus. Die Nüstern beben, die Augenbrauen sind hoch geschwungen. Der Mund, um den ein ironisches Lächeln spielt, ist müde und doch gefasst. Also liest er, von der großen Trommel, von Brüllen, Pfeifen und Gelächter begleitet… Seine Verse sind ein Versuch, die Totalität dieser unnennbaren Zeit mit all ihren Rissen und Sprüngen, mit all ihren bösartigen und irrsinnigen Gemütlichkeiten, mit all ihrem Lärm und dumpfen Getöse in eine erhellte Melodie aufzufangen. Aus den phantastischen Untergängen lächelt das Gorgohaupt eines maßlosen Schreckens…“

Oder: „Alle Stilarten der letzten zwanzig Jahre gaben sich gestern ein Stelldichein. Huelsenbeck, Tzara und Janco traten mit einem „Poeme simultan“ auf, in dem drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen und dergleichen, und zwar so, dass ihre Begegnungen den elegischen, lustigen oder bizarren Gehalt der Sache ausmachen. Das Gedicht will die Verschlungenheit der Menschen in den mechanischen Prozess verdeutlichen.“

Sehr wüste und chaotische Abende

Man muss sich also die wüstesten, chaotischsten Abende vorstellen, aber eben welche mit System, die man nach den heutigen Begriffen am besten mit Happenings bezeichnet.

So war der Dadaismus die avantgardistische Kunstrichtung des Umbruchs, des Verlustes aller bisherigen Werte, Protest und Provokation zugleich, getragen von Leuten, die sich angeekelt abwendeten von den blutigen Schlachten einer untergehenden Gesellschaft. In einer Umbruchsituation nach dem Niedergang der so genannten sozialistischen Staaten und dem darauf folgenden Neoliberalismus mit der Finanzkrise als Paukenschlag stehen wir auch heute. Wo bleiben die neuen Dadaisten?

Gemeinsam war den Dadaisten die Ablehnung des Expressionismus, der ihnen als angepasst, als erstarrt in pathetischer Gebärde erschien. Stilelemente des Dadaismus waren die Simultanität, das Zusammenspiel von Geräusch, Wort und Musik, die Abstraktion und Einfachheit, von Ball „Primitivismus“ genannt, die kreative Spontaneität und die Ablehnung jeglicher geschmacklichen Festlegung.

In der Zeit des „Cabaret Voltaire“ schrieb Huelsenbeck sein poetisches Hauptwerk, die „Phantastischen Gebete“, die mit Fug und Recht auch als Hauptwerk des Dadaismus bezeichnet werden. Es sind Texte, die sich durch Häufungen, Wiederholungen, Kontraste und Rhythmus auszeichnen, sie sind die Abstraktion in der Literatur. Da gibt es Gelächter, Flüche, Zauberformeln, afrikanische Lautfolgen, ein bisschen Nietzsche, Blasphemisches, Groteskes.

Zürich vernachlässigt die Kultstätte

Vor einigen Jahren habe ich bei einem Besuch in Zürich die Spiegelgasse aufgesucht. Ich wollte mir vor allem das Haus von Georg Büchner ansehen, in dem er sein letztes Lebensjahr verbracht, in dem er den „Woyzeck“ geschrieben hat und leider viel zu früh gestorben ist. Es steht direkt neben dem Haus, in dem später Lenin gewohnt hat. Aber natürlich habe ich auch das Haus des früheren „Cabaret Voltaire“ besichtigen wollen, eine Plakette an der Hauswand erinnerte daran, ansonsten aber war ich tief enttäuscht. Der Raum, in dem sie großen Aufführungen stattgefunden hatten, war zum Lagerraum einer Kneipe verkommen. Kästen mit Bier und Sprudel standen dort aufgestapelt, durch ein kleines Fenster konnte ich es sehen. Zürich, die Stadt der Banken, scheint kein Geld zu haben für die Pflege seines literarischen Erbes.

Die Zeit des Züricher Dada dauerte nicht lange. Schon 1917 kehrte Huelsenbeck nach Berlin zurück und wurde dort unbestreitbar zum Begründer des deutschen Dadaismus. Er gründete den „Club Dada“ mit einem „Zentralamt der dadaistischen Bewegung in Deutschland“ und eine „Dada-Reclamegesellschaft“ mit einer Geschäftsstelle der „Gruppe Deutschland des dadaistisch-revolutionären Zentralrats“.

Umkreis mit Heartfield, Grosz und Dix

Hinter all den bombastischen Namen standen jedoch immer wieder dieselben Leute: die Brüder Herzfelde, beide überzeugte Marxisten, von denen der eine, Johannes, der sich John Heartfield nannte, die fotographische Montagetechnik erstmals für politisch-künstlerische Zwecke einsetzte, eine Technik, die ein anderer Berliner Dadaist, der Maler Raoul Hausmann mit entwickelt hatte. Sein Brüder Wieland verschaffte als Gründer des Malik-Verlages den Dadaisten die notwendigen Publikationsmöglichkeiten.

Hinzu kam George Grosz, der Karikaturist, mit dem Dada die rein ästhetische Auseinandersetzung verließ und durch frontale Angriffe gegen die Freikorps und den Militarismus direkt bin die Politik eingriff, der Maler Otto Dix sowie die Schriftsteller Franz Jung und Walter Mehring. Präsident des „Club Dada“ wurde Johannes Baader, ein Architekt, vor allem aber ein Paranoiker, der sich für die Reinkarnation des Messias hielt und zum Weltgericht aufrief. Baader ist 1959, geistig umnachtet, in einem Altenheim in Niederbayern gestorben. 1977 ist eine Sammlung seiner Dada-Texte im Anabas-Verlag erschienen.

1920 Folgte noch eine große Tournee von Baader, Hausmann und Huelsenbeck nach Dresden, Leipzig und Prag – die Zeitungen berichten allesamt von Skandalauftritten, also von erfolgreichen Veranstaltungen aus Dada-Sicht. Dann war es aus mit Dada. Die Zeit des Umbruchs war vorbei, man arrangierte sich entweder mit der neuen Gesellschaft oder man bekämpfte sie. Jedenfalls fand man zu politischer Entschiedenheit und verlor Dada. Dada aber hat mit seinem Hang zu Einfachheit und Abstraktion, mit seiner Montage- und Simultantechnik (man denke in der Literatur etwa an Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“) die moderne Kunst nachhaltig beeinflusst.

Gewichtiges westfälisches Erbe

Und noch eines ist aus westfälischer Sicht zu bilanzieren: der außergewöhnlich große Anteil westfälischer Autoren an der Entwicklung des Expressionismus und speziell des Dadaismus. Außer Huelsenbeck waren da noch sein Bochumer Schulfreund Karl Otten, sein Burgsteinfurter Schulkamerad Daimonidos, dazu August Stramm aus Münster und der Soester Maler Wilhelm Morgner. Wenn dass kein literarisches Erbe ist!

Die Dada-Bewegung aber war der Höhepunkt im literarischen Leben von Richard Huelsenbeck. Von seinen späteren Büchern sind vor allem jene bekannt geworden, die diese Bewegung aufarbeiten, etwa „Dada siegt“, eine Bilanz, die er zusammen mit Tzara veröffentlicht hat.

Aber Huelsenbeck, auch das ist wenig bekannt, hat fleißig weiter geschrieben. Noch zwei Gedichtbände hat er veröffentlicht: „Die New Yorker Kantaten“ 1952 und „Antwort aus der Tiefe“ 1954. Weitgehend unbeachtet geblieben sind drei Novellen und zwei Romane, von denen der eine, „Der Traum vom großen Glück“, 1933 immerhin im renommierten S. Fischer-Verlag erschienen ist. Zwei Theaterstücke, Aufsätze, sehr gute, beachtenswerte Reiseberichte und medizinische Veröffentlichungen runden ein erstaunlich umfangreiches Werk ab.

Amerikanisches Exil

1936 emigrierte Huelsenbeck auf Anraten von George Grosz, der sich dort schon aufhielt, in die USA, wurde amerikanischer Staatsbürger, nannte sich Charles R. Hulbeck und arbeitete als Arzt für Psychiatrie und Psychoanalyse. Erst 1969, als Siebenundsiebzigjähriger, kehrte er nach Europa zurück und ließ sich im Tessin nieder.

Ich habe mal bei einem Konzert den amerikanischen Jazz-Gitarristen Marti Grosz, den Sohn von George Grosz, auf die Freundschaft seines Vaters zu Richard Huelsenbeck angesprochen. Marti kannte ihn nur unter dem Namen Hulbeck, erzählte, dass Hulbeck den Plan gehabt hätte, ein großes Dada-Denkmal in den USA zu errichten, dass aber nichts daraus geworden sei. Sehr viel, merkte ich, hielt er von seiner künstlerischen Leistung nicht.

Rückkehr ins geliebte Dortmund

Zweimal, von der Presse groß beachtet, hat Huelsenbeck nach seiner Rückkehr nach Europa noch Dortmund besucht, auf Einladung des literarischen Mentors dieser Stadt, des unvergessenen Bibliotheksdirektors Fritz Hüser, aber auch, weil ihm die Beziehung zu dieser Stadt immer wichtig geblieben ist. In seinem Erinnerungsband „Reise bis ans Ende der Freiheit“ berichtet er liebevoll über seine Dortmunder Kindheit, über das Verhältnis zu seinem Dortmunder Großvater Fink, einen Markscheider, und über dessen umfangreiche Bibliothek, die dem jungen Richard viele Anstöße gab.

Auch die Beerdigung des Großvaters auf dem Südwestfriedhof schildert Richard Huelsenbeck, und so muss bei einem seiner Besuche zwischen Fritz Hüser und ihm abgesprochen worden sein, dass er in der Dortmunder Familiengruft beigesetzt werden wollte. Hüser hat ihm das wohl zugesichert, denn als Huelsenbeck 1974 starb, hat er für die Beisetzung der Urne dort gesorgt und gleichzeitig eine Mitarbeiterin der Dortmunder Bibliothek gebeten, das Grab, das ganz in der Nähe des Grabes ihrer Familie liegt, doch mitzupflegen. Und diese Frau hat das jahrzehntelang, noch nach Pensionierung und Tod ihres Chefs, getan. Eine anrührende Geschichte.

Zwei Kinder Huelsenbecks leben noch in den USA bzw. in Kanada.

Sein Grab ist den Dortmunder Friedhofsgärtnern übrigens gut bekannt. Als ich bei meinem ersten Besuch nach Feld 36, Grab 57 fragte, antwortete der Friedhofsgärtner: „Ach, Sie wollen zum Huelsenbeck…“




Familienfreuden XX: Die Spielzeug-Sekte

Das "richtige" Spielzeug. (Bild: Albach)

Das „richtige“ Spielzeug. (Bild: Albach)

Kinder sind Ideologie pur. Und seitdem Fiona da ist, weiß ich: Die Kampflinie verläuft zwischen Plastik und Holz!

Es war auf den Straßen von San Francisco, Fiona schlummerte selig in ihrem Kinderwagen, als uns eine Frau freundlich ansprach: „Sorry, are you from Germany?“ Normen und ich schauten uns erstaunt an: Wir waren es schon gewohnt, dass wir, kaum dass wir den Mund aufmachten, als Deutsche identifiziert wurden, aber just in diesem Moment hatten wir golden geschwiegen. Woran sie denn das erkannt habe, fragten wir neugierig. Zielsicher und mit breitem Grinsen zeigte sie auf die Spielzeugkette, die an Fionas Kinderwagen baumelte. Sie war – aus Holz. „In the US, this would be plastic!“

Niemals hätte ich gedacht, dass meine Nationalität einmal am Spielzeug unserer Tochter ablesbar sein würde. Bunte Bilder von aufblasbaren Eiffeltürmen, Spaghetti aus Stoff oder Holz-Frikandeln futschen durch meinen Kopf – willkommen in Klischeetanien!

Demarkationslinie zwischen Holz und Plastik

Dabei muss ich der spielzeugweltgewandten Dame doch entschieden widersprechen – schließlich gibt es sie auch in Deutschland selbst, die ideologische Demarkationslinie zwischen Plastik- und Holzspielzeug. Und noch vor einigen Jahren wäre ich selbst fahnenschwingend und „Ostheimer“-rufend für Holz als einzig echten, wirklich wahren Spielzeug-Werkstoff auf die Barrikaden gegangen.

Inzwischen bin ich da vorsichtiger geworden. Denn inzwischen bin ich ihr begegnet: der Spielzeug-Sekte.

Ein Graus!

Es war zu Fionas erstem Geburtstag. Meine Schwiegermutter wollte Fiona unbedingt eine Puppe schenken. Sie hatte eine diese ganz klassischen Babypuppen ausgesucht – für mich ehrlich gesagt ein Graus! Ich gestand ihr meine Aversion mit Bauchschmerzen. Sie reagierte ganz entspannt: „Dann such‘ Du doch einfach eine aus!“

Erleichtert ging ich in die Stadt. Dort hat man die Auswahl zwischen zwei Spielzeugläden – und zwei Weltanschauungen: Der eine hat sich auf das qualitativ hochwertig, pädagogisch wertvolle Spielzeug spezialisiert. Der andere verkauft einfach alles, was der Markt hergibt. Meine Schwiegermutter hatte sich für die gute Seite der Macht entschieden. Dachte ich.

Mission Umtausch

Ich betrat den Laden, ohne zu ahnen, dass es ein Kriegsschauplatz würde. Meine Mission: Baby- gegen Stoffpuppe umtauschen. Naiv wurde ich bei einer Verkäuferin vorstellig. Kaum hatte ich mein Sätzchen aufgesagt, fiel die gute Dame fast in Ohnmacht. „WAS wollen sie?“, rief sie empört, die Augen vor Entsetzen geweitet. „Diese wunderschöne Puppe umtauschen?“

Schon etwas vorsichtiger geworden, nickte ich nur. Sie holte zum Rundumschlag aus. Noch NIE in ihrer 40-jährigen Verkäuferinnenkarriere habe sie etwas Derartiges erlebt. „Also nein! Das ist doch eine Puppe für die Ewigkeit! Darüber freut eine Frau sich auch noch im hohen Alter, wenn die im Schrank steht und sie anlächelt.“ Attacke, versenkt. Ich stand nur noch wackelig auf den Beinen und murmelte, dass das doch vielleicht Geschmackssache sei. Sie entlud einen weiteren Hagel Fassungslosigkeit.

Tief fliegendes Kaufladen-Obst

Als sie erkannte, dass ich trotz allem standhaft blieb, sah sie mich an, als erwöge sie, gleich die UN-Puppenrechtskonventionen zu zitieren oder mich mindestens noch mit Kaufladen-Obst (aus Holz natürlich) zu bewerfen. Doch sie zuckte nur mit den Schultern ob so einer Ignoranz und sagte: „Tja, wenn sie sich sicher sind (kurze Pause), DANN müssen sie eben zur Kasse gehen.“

Mit gesenktem Kopf tat ich wie geheißen. An der Kasse wiederholte ich mein Anliegen – in der Hoffnung, das Schlimmste nun überstanden zu haben. Stattdessen erwischte mich die neue Zermürbungstaktik kalt. Die ältere Dame an der Kasse sah mich strafend und schweigend an. Dann nahm sie mir die Puppe ab, legte sie wie ein echtes Baby in ihre Arme, schaute sie mitleidig an und sagte: „Hast Du kein Zuhause gefunden? Och, Du Arme! Dann kommst Du wieder zu uns! Bei uns bist Du willkommen!“

Wie eine Menschenhändlerin

Ich brach fast zusammen. Das Geld nahm ich mit dem Gefühl, eine Menschenhändlerin zu sein.

Draußen auf der Straße plagten mich Gewissensbisse. Warum hatte ich diese Puppe nicht lieben können? Ich rief meine beste Freundin an. Jemand musste mir jetzt versichern, dass ich nicht der schlechteste Mensch auf diesem Planeten bin.

Als ich wieder hergestellt war, ging ich zu dem Spielzeugladen, der alles verkauft. Vorsichtig sah ich mich um. Keine Verkäuferin, die mir eine Moralpredigt halten wollte. Keine Schilder, die mir anzeigten, welches Spielzeug „gut“ oder „schlecht“ war. Ich nahm eine Stoffpuppe. Schaute mich um. Ging schnell zur Kasse. Bezahlte. Keiner kommentierte meine Auswahl. Ich hatte selbst entscheiden dürfen! So, wie es Fiona jetzt tun soll – auch wenn es dann eben Plastik oder eine Babypuppe ist. Denn das war der Tag, an der ich der Spielzeug-Ideologie abschwor.




„Das Lachen der Täter“: Klaus Theweleits Gedanken zur monströsen Mordlust

Wir erinnern uns schemenhaft: Damals, ab 1977, haben praktisch alle links bewegten Leute Klaus Theweleits „Männerphantasien“ gelesen oder wenigstens darin geblättert und sich die Köpfe heiß geredet.

Da ging es um soldatisch zugerichtete Männerkörper und ihre Panzerungen, um ihre psychophysische Angst vor Fragmentierung und Auflösung, die sie dann als entgrenzte Gewalt nach außen kehrten – nicht nur in beiden Weltkriegen. So ungefähr. In zwei Bänden mit 1174 Druckseiten war das natürlich alles ungleich differenzierter und vielfältiger ausgeführt.

Klaus Theweleit bei seiner Lesung in Dortmund. (Foto: BB)

Klaus Theweleit bei seiner Lesung in Dortmund. (Foto: BB)

Klaus Theweleit (73) ist sich offenkundig treu geblieben. Noch immer wandelt er konsequent auf den Spuren seines einstigen Kultbuches, dessen Grundlinien er mit neuen Akzenten bis in unsere Gegenwart fortführt. Jetzt war er zu Gast in der „Blackbox“, einer an- bis aufregenden Lese- und Gesprächsreihe im Dortmunder Schauspielstudio, wo er seinen im März 2015 erschienenen Band „Das Lachen der Täter“ vorstellte, der bis zum Attentat auf das Pariser Satiremagazin „Charlie Hebdo“ (Januar 2015) reicht. Theweleit wirkte dabei nicht so sehr wie ein funkelnder, sondern eher wie ein bedächtiger, bedachtsamer Intellektueller.

Universelle Gültigkeit

Ein Ausgangspunkt des Buches ist das Gelächter des Anders Breivik, der 2011 in Oslo und vor allem auf der norwegischen Insel Utoya 77 Menschen erschoss und dabei immer wieder lauthals lachte. Ein wahnwitziger Einzelfall? Gewiss nicht. Denn Theweleit zeigt, dass das Phänomen des lachenden (Massen)-Mörders geradezu universell gilt. In allen Weltgegenden und vielen historischen Zusammenhängen lassen sich solche monströsen Ausbrüche verfolgen.

Klaus Theweleit hat denn auch zahllose abgründige Vorfälle gesammelt, bei denen einem der Atem stockt. Wem ist schon gegenwärtig, dass in den 60er Jahren in Indonesien Hunderttausende, ja Millionen bestialisch als „Kommunisten“ ermordet wurden – mit staatlicher Lizenz und Billigung, vielfach ausgeführt von „ganz normalen“ Zivilisten. Später haben sie solche straffreien Massaker lachend gefeiert.

Wähnten sich SS-Schergen unter ihresgleichen, so haben auch sie einander lachend mit ihren Untaten geprahlt. Ganz ähnlich im mörderischen Konflikt zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda, wo der massenhafte Mord an der Tutsi-Minderheit zuweilen regelrecht als Unterhaltungsprogramm der totalen Enthemmung inszeniert wurde. Und so weiter, kreuz und quer über den Globus, vor- und rückwärts durch die Zeiten.

„Volksfeste des Tötens“

Theweleit schildert natürlich nicht nur die bloßen Phänomene, sondern sucht eine Theorie zu entwickeln, die in Dortmund freilich nur in Stichworten anklingen konnte: „Volksfeste des Tötens“, völlige Absorbierung durch die eigene Tat, Berufung auf ein „höheres Recht“, Entstehung eines schier unverletzlichen kollektiven „Überkörpers“, Durchbruch zu einer „neuen Körperlichkeit“, Grenzüberschreitung und gesteigertes Leben durch den Tötungsakt…

Wer es genauer wissen will, lese am besten im Buch nach. Wobei Theweleit, zumal in der von Alexander Kerlin (Dortmunder Schauspiel-Dramaturg) moderierten Fragerunde mit Publikum, auch schon mal punktuelles Nichtwissen eingesteht. Nicht alle Zusammenhänge sind wirklich zweifelsfrei geklärt; sofern das überhaupt menschenmöglich ist.

Erektion im Blutrausch

Jedenfalls stellt Theweleit auch äußerst schmerzliche Fragen, wie beispielsweise die, warum Täter bei Vergewaltigungen, die mit grausamsten Verstümmelungen einhergehen, überhaupt eine Erektion haben. Nicht Sexualität, sondern der Blutrausch unumschränkter Machtausübung scheint in solchen Extremfällen den tödlichen Trieb zu steigern. Eine wahrlich finstere Erkenntnis.

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Nach all den schrecklichen Beispielen hätte man meinen können, Theweleit sehe keinerlei Ausweg aus der ubiquitären Gewalt. Doch gegen Schluss warf er doch noch einen Hoffnungsanker aus. Er hält dafür, dass wir Heutigen und Hiesigen im Großen und Ganzen doch etwas beherrschter und zivilisierter seien als frühere Generationen – nicht zuletzt, weil Kleinkinder viel seltener durch Prügelstrafen fürs Leben verängstigt werden.

Auch beklagt Theweleit zwar das lachlustige „Happy Slapping“ (genüsslich mit Handy gefilmte Schüler-Gewalt), glaubt aber, dass etwa Schulhofschlägereien in den 50er und 60er Jahren viel härter und häufiger gewesen seien als jetzt. Da hört man schon die Skeptiker raunen: Alles nur Firnis, im Zweifelsfalle nicht haltbar…

Wie bitte? Ob Theweleit auch die unvermeidliche Frage nach Silvester in Köln gestellt worden sei? Aber ja. Doch da wich er wohlweislich aus und ließ lediglich vernehmen, dort habe sich ein ungutes Machtvakuum aufgetan.

Klaus Theweleit: „Das Lachen der Täter. Breivik u.a. – Psychogramm der Tötungslust“. Residenz Verlag. 248 Seiten, 22,90 Euro.




Wahn zum neuen Jahr – ein paar Halluzinationen mitten in der Silvesternacht

Am 31.12. 2015 bin ich um 23.30 zu Bett gegangen. Ich hatte mich entschlossen, mich den Feierlichkeiten zu entziehen und ganz normal einzuschlafen, um im Jahr 2016 erst wieder aufzustehen. Mein Wunsch war also, wieder aufzustehen.

Draußen sind die ersten voreiligen Schüsse zu hören. All die, die Angst haben, um Mitternacht überhört zu werden, schreien ihre Böller schon vorab in die Luft. Hört! Hier bin ich und ich knalle. Ich knalle jetzt, weil ich nicht weiß, ob ich das neue Jahr noch erlebe.

Ich schließe die Augen.

Anstatt mich die Wiege des Schlafes zu begeben, reist mein Hirn durch alle Regionen der Welt. Ich sehe Knallerfontänen auf Tonga. Der König von Tonga, Tonga, Tonga, erhebt sein Zepter und zeigt damit in Richtung Borsigplatz.

In Sydney leuchtet das Firmament als gelte es, den Weltuntergang einzuleiten. Zu Füßen der Oper verschluckt sich ein achtzehnjähriger an einem Drops und fällt tot um. Zur gleichen Zeit sitzt Wilhelm in der Dürener Straße an seinem Küchentisch und versucht, seine Flasche Bier an der Tischkante zu öffnen.

In Hongkong küsst der Suppenverkäufer Wang die Lehrerin Ming, während am Himmel ein Herz-Feuerwerk leuchtet. In Dubai brennt ein Hochhaus.

In Malaga werfen sich die Menschen Weintrauben in den Mund und in Castrop-Rauxel heult einsam ein Hund, während Manfred seinen letzten Korn herunterkippt.

Draußen herrscht Krieg. Darauf wird angestoßen und die vielen Kohlesäureopfer haben bereits ihre Aspirin-Tabletten auf dem Nachttisch platziert.

Plötzlich landet ein Knaller mitten in mein Hirn.

Erinnerungen werden abgespult im Blitztempo.

pizzeria Bedenkenswertes, Oberflächliches, Berührendes, Ärgerliches, Fragen und Antworten – eine Sammlung kleiner Erlebnisse und Begegnungen während des Projektes zur Erkundung und Beeinflussung der Nachbarschaft: Der Stahlarbeiter als Messdiener und Tanzstubentänzer, der ehemalige Boxtrainer und jetzige Rentner, der Grieche, der als Kürschner hierher kam und ein Geschäft eröffnete, als andere vor Kohle oder Stahl schwitzten, die Ex-Gefallene mit zwei Kindern, die jetzt als Disco-Fee Hula-Hoop Performerin ist, der Kiosk Betreiber als Imker und Soziologe, die Hundefrau mit ihren vier chinesischen Tempel-Tölen mit Comedy Ambitionen, der Sitarspieler und Heiler mit der Ruhestrahlung eines Friedens-Reaktors, der 12-jährige als Kochmeister, die Studentin und die obskuren Nachbarn, die afrikanische Kommunion, das Fensterkonzert von Queen, winkende Straßenbahnfahrgäste, die Spielerei mit der freien Republik Borsigplatz, der BVB-Fähnchen schwenkende Pizzabäcker, die Unterhose im Baum, die alle dutzende Frisörin, die Hippie-Wohnung des Lebenskünstlers, die Vogel-Kolonie im Geisterhaus, die Rollstuhlfahrer-Connection, die roten Tänzerinnen im Park, Monopoly für Aufmerksame, die Suppen von André, Biertrinker im Regen, die Kunstablehner, die Kunstverwirrten, das Klinkenputzen bei Eis und Wind, der Blinde und der Taube, das Punk-Konzert und die 90-jährige Zuhörerin. Die Wahrheiten.

Stille.

Nur in der Ferne noch ein paar Böllerchen.

In einer Wolke erscheinen Menschen und ihre Wünsche hängen wie Sprechblasen an ihren Lippen. Immer mehr und immer mehr. Wie in einem Drogenrausch höre ich Stimmen. Nichts ist sortiert. Ich versuche, meine Augen geschlossen zu halten und gleichzeitig, ein Lied zu summen……“Atemlos…“

zoo enteIch wünsche mir ein neues Jahr, höre ich jemanden flüstern. Ich wünsche, dass Mama mir einen Kuß gibt, dass Papa wiederkommt. Ich wünsche, dass ich mir was wünschen darf. Ich will im neuen Jahr immer zuverlässig sein. Ich will mich regelmäßig rasieren. Ich werde keinen Tropfen mehr trinken. Ich lasse das fluchen. Es soll im Sommer wieder die Sonne scheinen. Ich wünsche mir schönere Lippen. Im neuen Jahr will ich endlich Nein sagen. Ich wünsche mir ein Kind. Ich wünsche mir eine Oma. Ich werde niemandem mehr in die Fresse hauen. 2016 sollen mich alle am Arsch lecken. Ich werde Rücksicht nehmen. Der BVB soll Meister werden. Ich wünsche meinem Onkel, dass ihm der Arm abfällt. Ich werde an einem Friedensmarch teilnehmen. Ich werde einen Friedensmarsch organisieren. Ich werde einen Friedensengel basteln. Ich werde zu Gott beten. Ich verspreche, immer zuzuhören. Ich verspreche, mehr Sport zu treiben. Ich werde einmal pro Woche Sport treiben. Ich werde es einmal pro Woche treiben. Ich verspreche, mehr Luft zu schnappen. Ich werde einen Gymnastikball heiraten. Ich werde nie mehr vergessen, meinen Reißverschluss zuzumachen.

Ich werde zu meiner Schwester brüderlich sein. Ich will eine Frau werden. Ich will ein Mann sein. Ich will keine Plastiktüten mehr benutzen. Ich werde keine Selfies mehr posten. Ich werde Pornos nur noch sonntagmorgens anschauen. Ich verspreche: Bis dass der Tod uns scheidet.  Ich werde berühmt. Ich werde berühmt geworden sein. Ich will einen eigenen YouTube Channel gründen.

Mein Wunsch für 2016 ist: Mehr Licht! Mehr Geld, mehr Liebe, mehr Urlaub, mehr Hunde, mehr Fische, mehr Meer. Ich will meinen kleinen Bruder nie mehr mit der Faust ins Gesicht schlagen. Ich werde meinen Lehrer töten. Ich werde den Geburtstag meiner Katze nicht mehr vergessen. Ich will wieder laufen können. Gesundheit, Frieden, Gesundheit, Frieden…mehr Leben, mehr Kalorien, mehr Privatsphäre, mehr Katzen, ein gewaltiger Shitstorm soll alles in Schutt und Asche legen.

So langsam werden die Stimmen leiser und ich höre noch einen Böller, wie er langsam sich am Boden windet, platzen und krachen will, aber letztlich elend versagt und still liegenbleibt.

Ich schlafe ein. Das Jahr 2016 hat begonnen.




Sich in Faultiere und Birnen einfühlen – ja, selbstverständlich geht das!

Weckerbrüllt! Uff… nur… ne Viertelstunde noch… konzentriert schlafen (jawoll, das geht)…

»Schorsch (nach Picasso)« Scherl, 2015

»Schorsch (nach Picasso)« © Scherl, 2015

…wenn dann Kater Schorsch sein aggro-beleidigtes MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! raushaut ohne Luft zu holen, weil er der Meinung ist, daß er sogleich Hungers stirbt, wenn ich ihn nicht sofort fütter (Essenszeit für ihn in zwei Stunden!), hau ich mein 100% aggro RUHEJETZTVERDAMMTESCHEIßE! raus, daß die metallenen Bettpfosten mitsingen.

Es kümmert ihn zwar keinen feuchten Kehricht, aber immerhin hab ich das erhebende Gefühl, daß mir wenigstens ein Ding auf Erden Resonanz gibt – und wenn’s nur die Bettpfosten sind.

Wenn ich dann allerdings zB versuche, mich in ein Faultier einzufühlen, weil ich einen Faultiershirtentwurf machen muß und das Vieh so richtig schön faul werden soll oder das gleiche in drei Birnen für eine Auftragszeichung, damit da auch wirklich die richtige Geschichte erzählt wird mit dem Obst (ja freilich kann man sich in Birnen einfühlen. Bin ich Künstler oder Hobby-?) und der schwarze Pelzsatan legt dann los mit seinem Geschrei (wofür er in 99% aller Fälle exact (ja, mit »c«)) den richtigen Zeitpunkt findet und auch nicht eher aufhört, bis ich entweder keine Zeit mehr hab oder mir auch noch das letzte bissl Muse zerrüttet ist), packt mich einfach nur noch tiefste Verzweiflung und eine Stimme fragt in mir:

»Was hätt Picasso an meiner statt getan? Oder Matisse? Oder Cezanne? Oder Christian Schad? Oder…« (Zwischenruf einer anderen Stimme: »Charles Manson?«) und es antwortet: »Sie wären ins Atelier gegangen und wenn sie da schon gewesen wären, in ’n anderes.«, dann kommentiert die nächste: »Thomas, schreib auf deinen ‹Ziele 2016›-Zettel ganz oben, ganz groß: ‹1. Viel Geld verdienen, 2. Atelier mieten›.«

Done.

(Also das mit dem Zettel.)




Trashiger Kirchen-Trip – Wenzel Storchs „Maschinengewehr Gottes“ in Dortmund

Thorsten Bihegue Leon MŸller Finnja Loddenkemper

Drei Meßdiener suchen einen Priester: Egon (Thorsten Bihegue, vorn), Lutz (Leon MüŸller) und Erika (Finnja Loddenkemper). Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Geschichte muß man nicht glauben, aber sie erzählt sich gut: Nesselrodes Kaplan Buffo ist komplett ausgeflippt, hat sich in der Dorfkneipe betrunken, auf den Tischen getanzt und schließlich die Gemeinde samt Kirche und Schäfchen beim Knobeln an Bauer Hümpel verloren.

Jetzt fehlt von ihm jede Spur, zurück bleiben im Beichtstuhl der Oberministrant, die Meßdienerin und der Meßdiener in ihren roten Gewändern. Am nächsten Morgen kommt Bauer Hümpel mit dem Trecker und pflügt die Kirche erstmal unter, um Erbsen anzubauen. Es sieht nicht gut aus für den örtlichen Katholizismus in Wenzel Storchs neuem Stück „Das Maschinengewehr Gottes“, das jetzt im Studio des Dortmunder Schauspiels und in der Regie des Autors seine Uraufführung erlebte.

Was also tun, um Gottes Willen? Die verschreckte Meßdienerschaft schmeißt ihr Geld zusammen und erwirbt im Christlichen Kaufhaus einen neuen Priester, der sich indes bald als schießender Automat entpuppt und explodiert. Vorher hat er noch, ein Kassettenrekorder ist eingebaut, markige Sprüche von Pater Leppich abgelassen, der (das ist jetzt nicht erfunden) in den 50er Jahren die katholische Christenheit mit sexualfeindlichen, repressiven Brutalbotschaften missionierte oder besser vielleicht: einschüchterte. Man nannte ihn so, wie Wenzel Storch nun auch sein neuestes Stück genannt hat: „Das Maschinengewehr Gottes“.

Andreas Beck Thorsten Bihegue

„Das Maschinengewehr Gottes“ (Andreas Beck, vorn) und Meßdiener Egon (Thorsten Bihegue).(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kloster-Domina und Hostinettenbär

Ich erzähl die Geschichte noch ein bißchen weiter, sie ist wirklich witzig. In den Überresten des explodierten Priesters denn also finden die Meßdiener Hinweise auf ein Damenkloster im fernen Schlesien, wo bei der Oberin Ejaculata die Lösung der Probleme liegen könnte. Übrigens heißt die Oberin dort Domina, kommt aus dem Lateinischen, was keiner mehr versteht.

Durch das gefährliche Rote-Bete-Gebirge machen sich die frommen Nesselroder Meßdiener auf zum legendären schlesischen Kloster, wo sich die Oberin, wie sich bald nach der Ankunft herausstellt, weitgehend von den anderen zurückgezogen hat und nur noch ganz spezielle Hostien zu sich nimmt. Die Hostien bringt der Hostinettenbär, und immer, wenn er da war, geht’s der Mutter Oberin besonders gut. Dann hat sie wohl, wie wir Altvorderen zu sagen pflegten, ein saures Köpfchen, dann ist sie auf dem Trip. Liegt in dieser Erkenntnis die Lösung der Probleme?

Die Trips der Mutter Oberin – mit der Nacherzählung soll es an dieser Stelle sein Bewenden haben – fügen sich gleichsam nahtlos ein in diese fiebrig irrlichternde, trashige und meistens auch recht lustige Geschichte, in der alle irgendwie und irgendwo auf einem Trip sind, die Personen des Stücks ebenso wie die realen Vorbilder, allen voran der schon erwähnte Pater Leppich.

Zum Schluß tanzen die Bäume

Doch auch Schriftsteller, die jungen katholischen Seelen mit Buchtiteln wie „Satanella oder die Rache des Geissler“ den rechten Weg weisen wollten, waren wohl auf ihrem speziellen Trip, jedenfalls recht schräg drauf. Das „Einführungsreferat“ des Gemeindereferenten gibt zu Beginn der Aufführung einen kleinen Überblick über katholische Jugendbücher der Adenauerzeit. Vielleicht hat sich Storch sogar ein bißchen von ihnen inspirieren lassen, doch wir wollen nichts unterstellen.

Julia Schubert Nonnen (Mitglieder des Dortmunder Sprechchors) Thorsten Bihegue Finnja Loddenkemper Leon MŸller

Schwester Adelheid (Julia Schubert, vorn mit Notenblatt) und einige schlesische Nonnen (Damen des Dortmunder Sprechchors). Rechts im Bild die wackeren Meßdiener. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Und schon gar keinen Drogenmißbrauch! Aber das Theaterstück ist ein Trip, und man muß dankbar sein, daß der Horror sich nur von Ferne andeutet. Denn sonst wäre das ein Horrortrip, und die gibt es bekanntlich ja auch. Hier aber wird alles gut, und gegen Ende der Veranstaltung tanzen wunderschön gestaltete, knorrige alte Bäume, für deren Herrichtung Heike Scheika genannt wird, mit Nonnen und Meßdienern über die Bühne (Pia Maria Mackert). Frohsinn pur? Lucy in the Sky? Ist doch egal.

Pädagogisches Streben

Die katholische Kirche, ein zentrales Motiv in Wenzel Storchs Weltsicht, verfügte in den 50er, 60er Jahren (und vielleicht noch immer) über ein höchst problematisches Personal, das in seinem pädagogischen Streben unsägliche Bizarrerien hervorbrachte, viele junge Menschen nachhaltig schädigte. Diese Verhältnisse will Storch offenbar dem Vergessen entreißen, sie geißeln und über sie lachen lassen. Für eine bessere Erkennbarkeit des Unsäglichen setzt er gern noch einen drauf, fügt beispielsweise kirchlichen Benamungen solche aus der Phantasie hinzu, führt etwa die frommen Schwestern vom Orden der barmherzigen Seepferdchen ein, die die Heilige Limousine anbeten.

Julia Schubert Ekkehard Freye

Julia Schubert und Ekkehard Freye im Nonnengewand, außerdem einige entzückende Bäume, mit denen man sogar tanzen kann. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Natürlich stimmt es nachdenklich, daß dieser Autor (Jahrgang 1961) so unerbittlich ist, es nicht gut sein läßt, nicht die Makel einer dunklen Vergangenheit zuschreibt, die heute überwunden ist, sondern jetzt schon sein zweites Stück über diese problematische Institution verfaßt. Letztes Jahr lief in Dortmund sein Stück „Komm in meinen Wigwam“.

Doch ist es, wie es ist. Also nehmen wir dem Storch das, was er sagt, einfach mal ab und erfreuen uns an dem überaus geschmeidigen, komödienhaften Abend, der dieser Obsession entspringt.

Im Spiel der Mimen ist unaufgeregte Heiterkeit der Grundton, freundliche Gespräche reihen sich, niemals verliert jemand die Beherrschung, und häufiger ertappt man sich bei der Frage, ob die mit kraftvollen Kalauern reich garnierten Dialoge komplexe Doppeldeutigkeit prägt oder ob sie nur blühender Nonsens sind. Bemerkenswert ist schließlich die sorgfältige, stets jedoch moderat bleibende Garnierung mit stimmigen Sounds, Melodien und Schlagern (Gertfried Lammersdorf).

Andreas Beck Leon Müller

Andreas Beck und Leon Müller (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Ein starkes Ensemble

Nun aber, endlich, gilt es die starke Darstellerriege zu preisen, aus der Thorsten Bihegue hervorragt, denn wir ja schon aus dem Wigwam kennen. Als gehemmter, dürrer und immer etwas enthoben daherschreitender Oberministrant ist er mit seinem scheuem Lächeln nichts weniger als die Idealbesetzung und die Hauptfigur des Abends.

Andreas Beck verkörpert mit beeindruckender Leibesfülle gleich fünf Personen, Bruder Stanislaus, das Maschinengewehr Gottes, Schankwirtin, Weihbischof und Bauer Hümpel. Heinrich Fischer, der Senior aus dem Seniorenclub des Schauspiels Dortmund, hat mit seinem kehlig–westfälischen Zungenschlag ebenfalls fünf Personen zwischen Kaplan Buffo und Doktor Drammammapp auf der Liste und meistert das problemlos.

Finnja Loddenkämper und Leon Müller, beide Mitglieder des Jugendclubs „Theaterpartisanen“, überzeugen als Meßdiener Erika und Lutz, Ekkehard Freye schließlich ist als sportlicher Postbote auf dem Klappfahrrad so etwas wie der „Sidekick“, ein guter Geist mit frischen Postnachrichten, die die Handlung immer wieder vorantreiben.

Schließlich zu nennen bleiben Maximilian Kurth (Gemeindehelferin), Maximilian Steffan (Hostinettenbär) und Julia Schubert (Schwester Adelheid) sowie acht Damen des Dortmunder Sprechchors (Namen unten), die hier die schlesischen Nonnen geben. Und alle, alle spielen sie dieses Stück in einer schauspielerischen Qualität, die man sich auf dieser Studiobühne immer wünschen würde.

Begeisterter Applaus.

(Die Damen des Dortmunder Sprechchores sind Annette Struck, Birgit Rumpel, Sabine Kaspzyck, Regine Anacker, Solveig Erdmann, Heike Lorenz, Katrin Osbelt und Ulrike Wildt).

  • Weitere Termine: 17., 27. Dezember 2015, 17. Januar 2016.
  • Infos und Karten Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de



Ratlos in Hannover – und überhaupt

Ich möchte kein Politiker sein. Ich möchte kein Polizist sein. Ich möchte kein…

Ist Deutschland ein feiges Land? Das überaus gefährdete Fußballspiel England – Frankreich im Wembley-Stadion wird ausgetragen. Die Begegnung Deutschland – Niederlande in Hannover wird hingegen rund 90 Minuten vor Beginn abgesagt. Aber wer möchte verantwortlich sein, wenn Hinweise auf einen Anschlag vorliegen? Und diese Hinweise müssen schon sehr konkret gewesen sein. Wer weiß.

Screenshot vom Spiel England - Frankreich im Wembley-Stadion.

Screenshot vom Spiel England – Frankreich im Wembley-Stadion.

Bemerkenswerte Einlassung des Bundesinnenministers Thomas de Maizière in seiner Hannoveraner Pressekonferenz: Wollte er alle Journalistenfragen wahrheitsgemäß beantworten, so könnten manche Antworten die Bevölkerung verunsichern…

Was sollen wir nun denken?

Während ich im NDR die Pressekonferenz mit de Maizière, dem niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) und dem Dortmunder Bundesliga-Chef Reinhard Rauball verfolge, schaue ich im Netz aus den Augenwinkeln auf Szenen der Begegnung in London. Wie nebensächlich der Fußball geworden ist, fast schon ein sinnfreies Gehampel!

Und schon fragt man sich, ob nicht die gesamte Bundesliga gefährdet sein könnte. Und die Premier League. Und die Primera Division. Das alles darf doch nicht wahr sein. Damit wären diverse Geschäftsmodelle bedroht. Und damit ginge es ans Eingemachte des Westens.

Gänsehaut-Bekundungen aller Arten mag ich eigentlich nicht. Aber als Franzosen und Engländer in London gemeinsam die Marseillaise („Aux armes, citoyens, formez vos bataillons“) gesungen haben, war das schon wahrlich „something to be“… Ach, Europa!

Wie ich gerade sehe, läuft im NDR schon wieder ein alter „Tatort“. Na, dann. Kann man ja wohl beruhigt schlafen, oder?




Ratlos in Paris

Fußball: Frankreich – Deutschland, aus Paris übertragen in der ARD. Zwischendurch hört man ein paar Detonationen. „Wieder diese elende Pyrotechnik“, denkt man zuerst. Doch es war lauter als sonst. Deutlich lauter. Furchtbar laut.

Menschen im Stade de France (Screenshot ARD)

Menschen im Stade de France (Screenshot ARD)

Und dann erfährt man, nach und nach: Es hat Tote gegeben. Viele Tote. Furchtbar viele Tote. So dass man gar keine Zahlen mehr nennen mag.

Derart unübersichtlich ist die Lage, dass sie auch im Fernsehen gar nichts Genaues wissen. Die versammelten Sportreporter sind eh grässlich überfordert, sie ahnen, dass jetzt eine andere Agenda gilt, doch sie senden zwischendurch noch Zusammenfassungen anderer Spiele des Abends, wiewohl sie selbst immer wieder betonen, dass man nun nicht mehr über Sport reden dürfe. Um 23:55 Uhr wird immer noch in Kickerei gemacht: Belgien gegen Italien. Welch ein Kracher! Hauptsache: auf Sendung bleiben, Bilder haben. Wie nichtssagend sie auch immer sein mögen.

Die Paris-Korrespondentin, die in Extra-Ausgaben der Tagesschau immer wieder einvernommen wird, ist ebenfalls hilflos. Wie soll sie auch den Überblick haben?

Man beneidet niemanden an diesem Abend. Weder die Fernsehleute. Noch die Fußballer oder Zuschauer im Stadion. Und erst recht nicht die Menschen, die direkt betroffen sind.




Halloween – Aaaaargh!

Es reicht!

Ungelogen 17 (!) marodierende Kindergruppen mit cirka 90 bis 100 erschröcklich verkleideten Blagen haben heute zwischen 18 und 20 Uhr bei uns im Namen von „Süßes oder Saures“ angeschellt – einschließlich der wilden Horde unserer Tochter, die in der Nachbarschaft Halloween gefeiert hat.

Der beste Spruch fing so an: „Ich bin eine Mörderpuppe, / ob ihr Angst habt, ist mir schnuppe…“

Aaaargh!

Das Vampirkostüm lag schon seit Tagen bereit. (Foto: BB)

Das Vampirkostüm lag schon seit Tagen bereit. (Foto: BB)

Ich schwöre: Ich habe wandelnde Skelette, grässliche Hexen, beißwütige Vampire, Mumien, Scharfrichter, Aliens, Zombies und Darth Vader gesehen. Um nur einige Gestalten zu nennen. Es wird gewiss eine Alptraumnacht werden.

Zu dumm, dass vor unserer Tür drei Laternen und ein ausgehöhlter Kürbis in die Dunkelheit geleuchtet haben. Das hat die Gespenster wohl unfehlbar angelockt.

Wie gut, dass wir tonnenweise Süßigkeiten gebunkert hatten. Sonst wäre es uns womöglich schlecht ergangen. Aber wer weiß, was uns noch bevorsteht.

P.S.: Immerhin haben sich manche der bösen Geister ganz artig bedankt. Andere aber wankten nahezu grußlos in die beginnende Nacht.




Rätsel des Alltags (5): Das Ungeheuer von Topf Ness

Länger nichts mehr für die lose Reihe „Rätsel des Alltags“ geschrieben. Jetzt aber drängt sich ein (Un)wesen geradezu auf. Oder was würdet ihr tun, wenn sich „Nessie“ quasi in eurer Küche zeigt? Das erschütternde Erlebnis schreibend zu verarbeiten suchen. Eben.

Das Beweisfoto: Ungeheuer aus dem Urschlamm. (Foto, weltexklusiv: Bernd Berke)

Das Beweisfoto: Ungeheuer aus dem Urschlamm. (Foto, weltexklusiv: Bernd Berke)

Es begab sich also bei Verfertigung einer an sich harmlosen Tomatensuppe, dass urplötzlich ein Ungeheuer sein schauriges Haupt erhob. Das unwiderlegliche, selbstverständlich weltexklusive Beweisfoto (Kaufpreis auf Anfrage) stelle ich hinzu, es sagt – wie man hilflos zu formulieren pflegt – „mehr als tausend Worte“… Eigentlich könnte ich also den Text schon beenden.

Doch halt! Aus meinem kaum erschöpflichen Nippes-Fundus taucht noch ein Souvenir auf, das ich einst in Schottland erworben habe, und zwar direkt am berühmten Loch Ness. Das vierteilige Keramik-Set stellt das legendenumwobene Monster in aparter dunkelgrünlicher Tönung dar. Hübsch, nicht wahr?

Souvenir aus Schottland (Foto: Bernd Berke)

Souvenir aus Schottland (Foto: Bernd Berke)

Man vergleiche nun aber mit dem Ungeheuer von Topf Ness. Das eine ist eher ein sinniger Scherzartikel, im anderen Falle wird es hingegen ziemlich ernst. Allein der blutorangenfarbene Urschlamm deutet doch wohl unmissverständlich darauf hin. Und bevor noch läppische Gruselspielchen zu Halloween uns ereilen, erschaudern wir hierbei im Innersten.




Yusuf Islam holte Steiger Award in Dortmund nicht ab – Eine Blamage aber war die Auszeichnung sowieso

FotoWäre ich noch in jenem Alter, in dem Fremdschämen näher läge, weil man das Obszöne, das Peinliche an anderen geradezu körperlich fühlt, so versänke ich angesichts einer jüngst aufgeführten Ruhrgebietsposse stracks in den Erdboden, führe also ein in eine der aufgelassenen Gruben des Ruhrgebietes, die seit Jahren kein wachsames Aufsichtspersonal, keinerlei Unter- oder Obersteiger mehr gesehen haben dürften.

Jahrmarkt der Eitelkeiten

Denn, wie derwesten.de am 26.9.15 zunächst kommentarlos falsch meldete, seien am selben Abend in Dortmund „die Unternehmerin Friede Springer, der Schauspieler Hardy Krüger, und der Sänger Cat Stevens, der heute Yusuf Islam heißt“, mit dem von der Hellen Medien Projekte GmbH vergebenen Steiger Award ausgezeichnet worden. In einer anderen Meldung hieß es: „Im Minutentakt begrüßte Hellen die in Edelkarossen vorfahrenden Preisträger, Laudatoren und Gäste.“

Wieder einmal konnte man jenes großspurige Ruhrgebiet in Aktion sehen, das zwischen Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn keine eigene Balance und Haltung zu finden scheint. Eines, das stattdessen lieber vorzeigt, was es sich leisten kann. So titelte die BILD denn auch: „Viel Glamour beim Ruhrgebiets-Oscar“. Und derwesten.de benötigte fast einen Tag, um sich selbst zu korrigieren: „Cat Stevens sagte ab“.

Glückloser Promi-Vermittler

Sascha Hellen („Ich bin, was ich tue…“), Medienberater, Eventmanager, ist hierzulande einem größeren Publikum spätestens seit der Rechtstreitigkeiten um Atrium-Talk, Steiger Award und ein geplatztes Konzert Paul McCartneys kein Unbekannter mehr. Insbesondere die sog. Stadtwerke-Affäre und die Debatte um ein Referenten-Honorar für Peer Steinbrück in Bochum rückten ihn und sein Geschäftsgebaren schließlich in grelleres Rampenlicht, als es einem besser im Hintergrund wirkenden Medienberater für eitle Eliten und Moneymaker lieb sein dürfte.

The show must go on

Hellen und seinen Steiger Award focht und ficht dies alles nicht an. Über den Steiger Award lässt er unverdrossen auf seiner Homepage verlauten:

„Die Auszeichnung (…) wird alljährlich an Persönlichkeiten verliehen, die sich besonders in den Bereichen Musik, Sport, Medien, Umwelt, Film, sowie in Fragen des europäischen Zusammenwachsens und des humanitären Engagements verdient gemacht haben.
Der Preis lehnt sich an die Tradition des Reviers: Der Steiger ist ein Zeichen für den Bergbau und steht als Synonym für die Geradlinigkeit und Offenheit der Bergleute. Zudem ist er ein Symbol für Verlässlichkeit, Treue und das Miteinander in guten und schlechten Tagen.“

Wie schön.

Schade eigentlich nur, dass sich dieses Jahr der 1977 zum Islam konvertierte Cat Stevens entschuldigen ließ, wohl tief berührt von der Massenpanik in Mekka, die kurz zuvor weit über 700 Opfer gefordert hatte. „‘Ein Weltstar, einer der ganz großen‘, schwärmte Hellen“, laut der westen.de, und hätte Yusuf (so der Künstlername) wirklich gerne ausgezeichnet in Dortmund: wegen seines sozialen Engagements, auch unter dem Dach der UNO.

„Ich würde Ayatollah Chomeini anrufen“

Viel mehr und anderes hätte man vor der PR des Steiger Awards allerdings leicht recherchieren können. Etwa: Islam soll größere Summen an die Hamas gespendet haben. Israel hat ihm im Jahr 2000 die Einreise verweigert, die USA dann 2004.

Schon 1996 sagte Yusuf Islam „der Berliner Zeitung auf die Frage, warum er den Mordaufruf gegen Salman Rushdie unterstütze: ‚Schon bei Jesus stand auf Gotteslästerung Steinigung‘ – Blasphemie müsse bestraft werden.“

Nirgends im Vorfeld des Absteiger-Awards ein Wort darüber, dass Islam einst eine Briefaktion gegen Salman Rushdie und seinen Roman „Die Satanischen Verse“ mitgetragen hatte. Den Mordaufruf (die sog. Fatwa) gegen Salman Rushdie will Yusuf Islam aber später nie unterstützt haben, so Wikipedia. Eine Schutzbehauptung, der man nicht mehr glauben kann und sollte, wenn man eine BBC-Dokumentation über „Die Satanischen Verse“ und ihre Folgen gesehen hat. Nach einer Stunde und 15 Sekunden kann man hier auch Yusuf Islam in einer Fernsehrunde erleben, die über das Pro und Contra des Romans und der sog. Fatwa diskutiert. Ab 1:01:15 kann man (fragmentarisch) ihn persönlich und den deutschen Sprecher sagen hören:

„Ein weiterer Teilnehmer der Runde war Yusuf Islam, der zum Islam konvertierte Sänger Cat Stevens. Auch er befürwortete das Todesurteil. Er wurde gefragt, ob er Rushdie Zuflucht gewähren würde. ‚Ich würde Ayatollah Chomeini anrufen und ihm genau sagen, wo er sich aufhält.‘“

Der Moderator fragt: „Würden Sie zu einer Demonstration gehen, bei der etwas symbolisch verbrannt wird?“ Yusuf Islam antwortet: „Ich würde hoffen, dass man die echte Sache verbrennt. Wenn es sich nur um ein Symbol handelt, würde ich nicht hingehen.“ Die ebenfalls anwesende Schriftstellerin Fay Weldon meldete sich daraufhin zu Wort: „Ich wünschte der Polizist dort drüben käme her und nähme diesen Mann fest. Er ruft im Fernsehen zur Gewalt auf. Das ist doch unerhört.“

Herzlichen Glückwunsch also an Sascha Hellen und Yusuf Islam zu einem nicht verliehenen Steiger Award, einem Preis, der vorgibt jene zu preisen, die europäisches Zusammenwachsen fördern und humanitäres Engagement leben.

Da wäre beinahe zusammengewachsen, was zusammen gehört.




Sie sind jung und schön und hören gerne Zaz oder Milky Chance

…ok, Zaz hab ich sogar schon mal gehört.

Das sind halt junge schöne glückliche Menschen, die sich freuen, dass sie ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben (hauptberuflich Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver etc.) und viele Fans auf Instagram und Twitter. Und sie sind glücklich und schön, weil sie jung und schön und glücklich sind und ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben und Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver sind etc.

sternzeichen smoothie und veggieburgerIhr Sternzeichen ist der Smoothie aus Bio-Früchten und fettarmem Bio-Joghurt oder der Veggie-Burger mit biologischen Süßkartoffelpommes für 14,95 (Getränke extra). Sie sind für die Umwelt und für Bioklamotten und für Bioessen, weil das irgendwie dazugehört und eh besser ist für die Umwelt, fahren am Sonntagmorgen mit dem SUV, das ist sicherer!, Brötchen vom Bäcker nebenan holen und stehen da in der Schlange, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und freuen sich, dass sie in der Schlange stehen, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und das ist alles so schön und warm und so vertraut und so heimelig und Kinder wollen sie ja eh mal, zwei, n Jungen undn Mädchen, weil Kinder sind doch so wichtig für alles und so und wenn die einen dann so anlachen. Außerdem können sie dann auch bald nen eigenen YouTube-Channel mit Spielzeugtests machen und aus den Werbeeinnahmen was zum Haushalt dazugeben. Aber das mit den Flüchtlingen ist echt schlimm.

hipsterpärchenDie Frauen tragen weite Strickpullover mit zu langen Ärmeln, Wollsocken und Flip-Flops und halten die Tasse mit koffeinreduziertem senseo-Latte in beiden Händen, während sie die neue Country Homes aufm ipad durchblättern, den manufactum-Katalog studieren, die greenpeace-Überweisung machen und noch eben die online-Petition für die Flüchtlinge unterzeichnen und nachher nachm Büro gehts noch zur urban-knitting-Gruppe, weil das ist ja wichtig für uns alle und so und die Männer tragen Bart oder auch nicht, weil das ja unhygienisch ist, trinken mit guten Freunden ein craftbier (max.) und sind fast so lustigdoof wie der Golden Retriever, stinken aber weniger, wenn man ihnen jeden Tag sagt, dass sie duschen und auf jeden Fall mehrmals täglich Deo verwenden sollen und auch Zahnseide und sone Pflegeserie für ihn.

Aber irgendwie ist der Retriever dann doch irgendwie, naja, kuscheliger und so und man muss ihn nur ab&zu mal rauslassen und Futter geben und er passt ja auch besser zum Sofa und lecken kanner ja auch und wenn dann erst mal die Kinder da und aus dem Gröbsten raus sind, naja.

[Zeichnungen ©scherl]

[Lehrreiches: urban knitting]




Wenn die Männer mit der Motorsense kommen… – ein bebildertes Panopticon

Also eigentlich läuft das immer gleich: ich guck raus und denk, ah, endlich wieder ein paar Blümchen auf dem Scheißrasen hier und ein, zwei Tage später ist dann der Gartennazi mit seinen Hanseln da und fräst alles bis 1mm über der Wurzel runter. Seine Geräte setzen 65% der eingesetzten Energie in Krach um, 47% in Gestank, 15 in Wärme und mit den restlichen 2 zertritt er ach die goldne Flur.
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Diesmal hat das perfide Schwein als Vorhut (Obacht: verleserträchtig!) einen Knilch abgeworfen, der die Motorsense bedient, wie andere das Morsegerät. Möchte er mir etwas mitteilen oder mich nur quälen? Ich bekomme keine Antwort oder wenn, dann kann ich sie nicht deuten, da ich des Motorsensenalphabets nicht kundig bin. Derweil senst er fröhlich dahin, kilometerweit, daß die Pflanzenleichen nur so spritzen (ich notiere kurz den Plot eines Zombiefilms), weder zeigt er Gnade, noch Ermattung, noch Unrechtsbewußtsein. Der HErr möge ihn strafen bis ins n+x->∞-te Glied. Das ist sehr viel.

Nachdem er dieses erste seiner Werke vollendet (und ich schreibe hier bewußt nicht »hat«, um meinem Bericht ein Eckchen mehr Pathos zu verleihen), holt er ein lustickes (sic!) Handmäherlein herbei und zieht damit beständig seine Bahn. The Loneliness of the Long Distance Mäher, nichts hält ihn auf, er ist das Pendel, die Maschine die Unruh, in meinen Ohren das Geläut. (Man muß dazu wissen, daß der Rasen zwei Hochhäuser umgibt, die gesamte Fläche dürfte eineinhalb Fußballfelder messen. Das mit dem Handmäher.)
mäher
Oft hält er besorgt inne, zum Beispiel wenn das Motörchen ein wenig stottert oder spotzt, dann tätschelt er es leis, blickt in diese Öffnung und in jene, schraubt hier und da und zuletzt den Tankdeckel ab, aha: das Werkzeug braucht Treibstoff, er latscht, kehrt mit Kanister wieder, befüllt, bringt weg, kehrt wieder – ein modernes Arbeiterballett, das mir hier dargeboten wird.

Aber… Moment!: Wo ist der Aufsitzmäher?? Der wird doch sonst da immer in Stellung gebracht? Ist er kaputt und in Reparatur? Oder kaputt und nicht in Reparatur? Gestohlen? Gepfändet? Zu teuer? Nicht mehr abzugsfähig? Verkauft, um Nutten, Suff und die andren Drogen des Capos zu finanzieren, die sein bißchen Bewußtsein erweitern sollen? Mißgönnt derselbe, dieses Scheißkapitalistenscheusal, dem armen ihm Untergebnen die kurze Zeit der Erholung, in der er sich den Arsch auf dem Teil plattsitzen kann? Oder ist’s, um mich einfach noch länger entnerven zu können? (Rhet. Frage, ich bin mir dessen sicher.)

schorschInzwischen bemäht der Geknechtete die ca 20 Hektar unter unserem Balkon und sogar mein Schutzbefohlener, der Senior-Kater Schorsch, gibt seinen Beobachtungsposten auf und flieht vor dem argen Getös in die Wohnung. Ich fliehe mit und fasse zusammen: eine nachmittags stark befahrene Straße, ein Bahnübergang, Züge im Zehnminutentakt, zahlreiche Touribomber und Frachtflugzeuge, ein Handmäher. Was fehlt? Richtig. Da kommt er auch schon: Auftritt des o.g. Capos, im Kleinlaster, auf der Ladefläche eine Schubkarre, ein Sackerl Erde, ein Netz darübergeschmissen und: der Laubbläser.

Mir fällt der Kirchenbesuch von neulich ein: HErr, erbarme Dich unser.

[https://de.wikipedia.org/wiki/Panopticon]




Abscheulicher Sonntag: 17 Dinkelbrötchen und kirchliche Anwandlungen

ächz. 7:25

8:45 Kaffee beim Bäcker

sonntagmorgen beim bäckerZuverlässig die gleiche Klientel wie beim vorigen Mal.

Am meisten verabscheue ich die jungen glücklichen erfolgreichen geldgepolsterten Jogger, die noch eben Brötchen holen gehen, die jungen glücklichen erfolgreichen geldgepolsterten Hundeausführer, die noch eben Brötchen holen gehen und die jungen glücklichen erfolgreichen geldgepolsterten Eltern, die noch eben Brötchen holen gehen. Ihre Kinder verabscheue ich auch.
Die Rentner sind ok, wenn sie die Schnauze halten.

»Schönen Sonntag noch!«.
»Sitz!«.
»Willst du nochn Schokocroissant?«.
»Du musst dein Rad hier nicht anschließen, Liebes.«

Probieren Sie auch Baby-Vollkornbrot!
SUV und gepa-Jutetasche.

Die Kinder heißen »Pünktchen« und »Kalle«.
Pünktchen.
Kalle.

»18€43«
»11€78«
»24€19«.
Zur Erinnerung: Das ist der Bäcker und bei der Aufzählung oben hab ich die Schwangeren vergessen, seh ich grad.

»Bitte doch nicht 14 Mohnbrötchen, sondern 17 Dinkelbrötchen.«
»Und acht Dinkelcroissants.«.

Sie stehen Schlange bis auf die Straße raus, dafür ists im Laden leer. Das machen sie so, weil sie das aus der rama-Werbung kennen.

Angebot: Weltmeister-Brot.

10:00 Kirche

»Guten Morgen!«
Uff.

Bedauerlicher Verhörer: »Josef könnte uns Kram sein.«

HErr erbarme Dich unserPsalm 92 (Nr. 737 in der Formelsammlung). Müssten hier nicht noch eigentlich Sprengstoffgürtel erwähnt werden?

Auf »HErr, erbarme Dich unser.« Mit »Passt schon.« antworten. Die Konfirmandin guckt und kichert. Die heilige Kirche, ein steter Quell der Freude, gell?

»Gebenedeit seiest Du unter den Weibern.«
Später sagt man dann: der Pfarrer hat wieder einen Unsinn verzapft. Aber schön gesungen hatter, der Herr Pfarrer. In Wahrheit sagen sie: der Herr Pfarrer hat wieder schön geredet. Und schön gesungen hatter, der Herr Pfarrer.

»Das war ein Typ, der hatte lange Haare und ganz viele Schallplatten. Der hat immer Sachen ausprobiert, die sonst niemand gemacht hat, zb ist er arbeiten gegangen.«

Pegida fühlt sich nicht genug versorgt. Aha.
Man kann von Katholiken lernen. Aha.

Eh – wie wärs eigentlich mal mit nem Scherl-Genesungswerk?

segenHerr, wir prizen dich.

Geht das klar, wenn ich während dem Abendmahl mein Franz-Brötchen freß?

 

(Diesen Beitrag habe ich ähnlich bereits am 30. juni 2015 als Facebook-Notiz und am 2. juli auf meinem Blog veröffentlicht.)

 

 

 




Revierpassagen-Texte wurden bühnenreif: Rolf Dennemanns Krankenhausreport „Unterwegs mit meinem Körper“

Wenn ein gelegentlicher Mitarbeiter der „Revierpassagen“ ein Bühnenprogramm entwickelt und aufführt; wenn noch dazu sehr lesenswerte Textvorlagen zu diesem Projekt als Beiträge in den Revierpassagen gestanden haben – dann, ja dann machen wir umso lieber ein bisschen Reklame dafür.

(Foto: d-man)

Eine Station der Krankenhaus-Odyssee (Foto: d-man)

Die Rede ist von Rolf Dennemann und seiner szenischen Lesung „Unterwegs mit meinem Körper“, die kürzlich erfolgreich Premiere hatte. Der Autor, Regisseur und Schauspieler schildert seine Odyssee durch diverse Krankenhäuser des Landes. Es halten sich dabei erzkomische und durchaus ernsthafte Aspekte die Waage. Anders gesagt: Sie folgen einander in aberwitziger Weise.

Hand aufs hoffentlich nicht allzu kranke Herz: Wann habt ihr zuletzt über die Rolle des Hagebuttentees in deutschen Kliniken nachgedacht? Und was haltet ihr von der künstlerischen Ausstattung unserer Krankenhäuser? Und das sind nur die harmlosesten von vielen, vielen Fragen…

Einen gewissen Vorgeschmack erhält man, wenn man sich noch einmal – ebenso schaudernd wie genüsslich – Rolf Dennemanns dreiteiligen Revierpassagen-Text „Krankenhausreport“ (Links stehen am Ende dieses Beitrags) zu Gemüte führt. Doch natürlich hat Rolf Dennemann seine Erlebnisse für die Bühne noch einmal ganz anders bearbeitet.

Auch darf man sicher sein, dass die Präsenz Rolf Dennemanns und der Schauspielerin Elisabeth Pleß den Texten noch einige weitere Dimensionen verleiht, zumal auch Bild- und Videoprojektionen zum Repertoire gehören.

So. Ich denke, jetzt haben wir genügend Vorfreude auf die weiteren Auftritte geweckt. Der nächste begibt sich am Freitag, 17. April (20 Uhr), im Dortmunder „Theater im Depot“, ein weiterer am 29. Mai in Gelsenkirchener Consol Theater. Da ahnt man schon: Unter den Absurditäten des stationären Gesundheitswesens ächzen auch ansonsten scharf rivalisierende Revierstädte gemeinsam.

Weitere Infos auf Rolf Dennemanns Internet-Seite: www.artscenico.de

Die drei Teile des „Krankenhausreports“, erschienen im Februar 2014:
http://www.revierpassagen.de/23415/der-krankenhausreport-teil-1-ich-nehme-dann-das-einzeldoppel/20140209_1733

http://www.revierpassagen.de/23421/der-krankenhausreport-teil-2-wir-sind-die-gruenen-damen/20140211_1004

http://www.revierpassagen.de/23424/der-krankenhausreport-teil-3-das-bekommen-sie-jetzt-alles-von-uns/20140212_1217




„Wie die Karnickel“: Eine Papst-Äußerung mit weitreichenden Folgen

Herrje! Jessas! Dschieses! Da ist aber der Rauch des Satans in die druckdichte Kabine des päpstlichen Flugzeugs eingedrungen! Hat doch das Oberhaupt der Katholiken verkündet, dieselben müssten sich nicht „wie die Karnickel“ vermehren…

Bergoglio, das war missgetan! Denn ungeachtet möglicher weitreichender moraltheologischer Schlussfolgerungen aus dem tierischen Vergleich meldete sich prompt der Zentralverband Deutscher Rasse-Kaninchenzüchter zu Wort: Die Fortpflanzung deutscher Rasse- und Zuchtkaninchen erfolge in geordneten Bahnen. Sexuelle Ausschweifungen träfen nur auf freilebende Tiere zu!

Um Himmels willen! Das Karnickel - ein Problemtier? (Foto: pixabay/SpiritBunny)

Um Himmels willen! Das Karnickel – ein Problemtier? (Foto: pixabay/SpiritBunny)

Wir folgern aus dieser Expertise: Die langohrigen Mümmelmänner – ach so, es gibt auch kurzohrige? – mögen sich vielleicht in der argentinischen Pampa unkontrolliertem Geschlechtsverkehr mit anschließend überhöhten Geburtenraten hingeben; in Deutschland geht das unter dem Lehramt der Züchter keinesfalls! Und da die Kirche mit den knuffigen Schnüfflern schon mal Pech hatte – die Bibel ordnete sie fälschlich den Wiederkäuern zu –, möchte man dem Heiligen Vater zurufen: Schuster, bleib bei deinen Leisten!

Leisten? Oh! Soeben meldet sich die Interessengemeinschaft Deutscher Qualitätsschuh: Diese mittelalterliche Aussage sei wohl nicht mehr angebracht. Ob ich etwa beabsichtige, die zeitgemäße Herstellung von Fußbekleidung willentlich und wissentlich zu diffamieren. Die moderne, orthopädisch auf dem neuesten Stand befindliche Schutzhülle für menschliche Fortbewegungsorgane komme in ihrer elektronisch gesteuerten Produktion selbstverständlich ohne „Leisten“ aus. Hm – ein übler Fehlgriff. Man sollte nachdenken, bevor man Metaphern nutzt. Ist doch eigentlich klar wie Kloßbrühe, oder?

Moment mal! Kloßbrühe? Da reklamiert die Arbeitsgemeinschaft ostthüringischer Kloßhersteller Kompetenzen für sich. Hätte ich mich jemals der fachgerechten Zubereitung der mitteldeutschen Spezialität oder ihrer bayerischen und k.u.k.-Varianten gewidmet, wüsste ich, dass es ein Kennzeichen des Qualitätskloßes sei, nach dem Kochvorgang eine verunklarte Brühe zu hinterlassen. Und die „dumpling control commission“ der EU meldet sich mit der Information zu Wort, dass die Kloßbrühe nach der 1997 in der Drucksache 97/D/44-238-sh17it von der Kommission festgelegten und für die Gastronomie verbindlichen Standardkochzeit nach ISO 38447 einen Trübungsgrad von -2,4 dump aufweisen müsse. Zum Vergleich: Das Wasser, in dem Politiker zu fischen pflegen, dürfe nach dem Ethikkodex des Europäischen Parlaments keinen Trübungsgrad über -7,8 dump aufweisen. Der Transparenz wegen.

Ich gebe mich geschlagen. Keine Sprachbilder mehr! Schluss mit unsachgerechten Metaphern. Es ist einfach zum Mäusemelk …. Oh, Mist! Wer ist am Telefon? Das Komitee zum Schutz von Quadrupeden? Es sei inhuman, Kleinsäuger der schmerzhaften und entwürdigenden Prozedur des Melkens zu unterwerfen? Ich solle mich doch besser an Turbokühe halten?

Moment, es klingelt. Die Post bringt ein Einschreiben. Absender: Niedersächsischer Hochleistungsrind-Zuchtverband. Wie ich auf die dämliche Idee käme, das zeitgemäße Qualitätsmilchrind werde noch „gemolken“? Vielmehr werde die Milch zitzenfreundlich durch Delactosierungsgeräte auf dem neuesten Stand der Technik schonend aus dem milchführenden Drüsen- und Eutergewebe entfernt! Lieber Papst Franziskus, ich reiche Eurer Heiligkeit die Hand: Was biological correctness betrifft, haben wir noch viel dazuzulernen.




Schockierendes Geständnis: Warum ich mich beim „Dschungelcamp“ prächtig amüsiere

Ich traue mich eigentlich auch jetzt noch nicht so recht: Sind ernsthaft zu nennende Blogs, die sich in würdigender Weise dem gezausten Themenfeld der Kultur widmen, auch wirklich das angemessene Podium?

Setze ich mich nicht freiwillig der Gefahr aus, mich als tumber Konsument und aufs Glotzen fixierter Allesfresser zu outen? Könnte ich möglicherweise das Schallen der auslachenden Heiterkeit bis nach Hagen hören? Ich mach’s dennoch: Der alte Mann gesteht, er guckt mit einem Heidenvergnügen alle Jahre wieder „Dschungelcamp“, amüsiert sich königlich, wie angeranzte Promis (oder solche, die noch nie welche waren und andere, die betteln, alsbald solche werden zu dürfen), alle Selbstachtung missachtend, allerlei Reste von krabbelnden Bewohnern des raren Regenwaldes von Down Under herunterwürgen. Ertappt.

Alltagskultur im weitesten Sinne

Nun tröste ich mich seit der Stunde, da diese Sendung Grimme-bepreist wurde, damit, dass sie ja im weitesten Sinne ein Stück deutscher Alltagskultur ist; damit, dass über die Ereignisse im sonnigen Promi-Hain von nahezu jedem Medium hierzulande begierig berichtet wird. Selbst Fernsehsendungen nehmen sich dieser Fernsehsendung an – quasi das „Wetten, dass?“ der Privaten. „Dschungelcamp“, das hat also einen Aktualitätswert, den zu unterschätzen zwar ausdrücklich erlaubt ist, aber anscheinend traut sich das niemand wirklich.

Daniel Hartwich und Sonja Zietlow im Dschungelcamp (Foto: RTL/Stefan Menne)

Daniel Hartwich und Sonja Zietlow präsentieren das Dschungelcamp (Foto: RTL/Stefan Menne)

Ich bin ja bekennender Fan des gepflegten „Trash-TV“, ährlich. Das Team im Hintergrund der alljährlichen „Camper“-Tragödie ist indes im Rahmen dessen, was die Kollegen der Branche ansonsten so zu Wege bringen („Biggest Loser“, „Bauer sucht Frau“ oder Schlimmeres), beinahe von athletischer Sprachkultur.

Nach meist zurückhaltendem Beginn (man muss die Typinnen und Typen im Camp ja erstmal kennen lernen), fallen spätestens nach dem dritten Tag stets alle Barrieren. Dann beginnt Sonja Zietlow mit Daniel Hartwich (Nachfolger des verstorbenen Dirk Bach) über alles herzuziehen, was zweibeinig durch den Urwald stapft oder hinfällig stolpert.

„C-Promis sind viel zu teuer“

„Was schreiben die nur immer, wir laden doch keine C-Promis ein, die sind doch viel zu teuer“, tönt Sonja. Oder Daniel entfährt gekonnt die Charakterisierung „fossiler Lowperformer“ für Walter Freiwald, den er gern auch in „Freiwild“ umtauft.

Ach ja, muss man ja erläutern, wer das überhaupt ist: Walter Freiwald war einst Anhängsel von Harry Wijnvoord beim frisch geschlüpften Privat-TV von RTL in der kultigen Nachmittagssendung „Der Preis in heiß“. Harry war schon lange vor ihm im Dschungel, schlug sich recht wacker und bekam etwas frischen Wind die Karriereflaute. Die wünscht sich der welke Walter nun auch, bejammert das hilflose Publikum mit bundesweiten Bewerbungsgesprächen, was laut BILDender Zeitung zumindest beim Friesischen Rundfunk angeblich gewirkt haben soll. Anscheinend brauchen sie noch Verstärkung in ihrer Geriatrie.

Illuster ist der Reigen häufig desaströser Karrieren im Showbiz allemal. Und das in jedem neuen Jahr. Ich vermisse eigentlich seit langem eine vorgeschaltete Casting-Staffel, damit ich mal mitkriege, woher sie diese Merkwürdigkeiten eigentlich kramen. Ist aber wohl zu aufwändig.

Maren Gilzer beispielsweise lächelt sich mal wieder in ferne Zuschauerherzen. Die kannte man als anmutig-langbeinige Assisstentin im „Glücksrad“ und später als schauspielernde Krankenschwester im Team der Hospital-Soap „In aller Freundschaft“. Sie hatte sicher die stabilste Leiter von allen aktuellen Campern. Ähnlich stabil lief es bei Rebecca Simoneit-Barum, der ewigen „Iffi Zenker“ aus der „Lindenstraße“. Die kannte ich ja noch beide, alle folgenden erst, seitdem sie im Dschungel Bohnen mit Reis kauen. Ist doch auch ein Erfolg?

Blondine und Muskelpaket

Nun aber der ziemlich unbekannte Rest: Angelina Heger, ein possierliches Blondchen, versuchte mal einen „Bachelor“ zu umgarnen. Ohne Erfolg, was nicht weiter wundert, denn ist sie im Camp genauso auffällig wie die Beschattung durch die Bäume. Oder Aurelio Savina, ein bemaltes Paket Muskel das sich noch an seine Machorolle herantastet und mal eine Bachelorette bezirzen wollte, sich aber rauspöbelte. Benjamin Boyce, dem man nachsagt, er könne singen, weil er mal einer Boygroup angehörte. Jörg Schlönvoigt, von dem es heißt, er sei DJ, Sänger und Allgemeinmediziner bei GZSZ („Gute Zeiten, schlechte Zeiten“). Ihrer beider Präsenz ist ebenfalls im Baumschatten zu suchen.

Und da hätten wir noch Patricia Blanco, Tochter des gleichnamigen Roberto, was ihr einziger Hinweis auf unmittelbar bevorstehende Prominenz bleibt. Außerdem wären da Rolf („Rolfe“) Schneider, dessen herausragende Leistungen sich bei der Jury-Mitgliedschaft während der Supermodelsuche und glänzenden Haltungsnoten beim Turmspringen finden lassen; Sara Kulka, eine der vielen, die „fast mal Supermodel geworden wären“, die indes Blüten streut, wenn sie ihr spezifisches Deutsch spricht: „Je öfters Du das machst, desto scheißegaler wird Dir das.“ Und schließlich Tanja Tischwitsch, das stimmlose Gesangstalent, das bei „Deutschland sucht den Superstar“ nur wegen seiner Ausstrahlung in den Recall gelangte.

So, hätte ich sie jetzt alle?. Die brummige Leserin, der kopfschüttelnde Leser wird gerade denken: „Ist mir doch egal, dieser Flachsinn!“ Aber wenn sie oder er sich das durchgelesen haben, sind sie genauso weit gekommen und informiert wie die im Spiegel, in der Zeit, der Welt oder vielen, vielen anderen Medien. Aber ich stelle hier mal wertend fest: Kult ist das, kultig kommt es bei mir an und ich lache mich frohgemut in die Bettschwere. Jedoch bis zur Kultur fehlen halt (nicht nur) zwei Buchstaben.




Das Elend eines Kampfpiloten – James Salters Roman „Jäger“ (1957) endlich auf Deutsch

Cleve Connell ist der Anführer eines Schwarms von Kampfpiloten. Seine Aufgabe besteht darin, feindliche Maschinen abzuschießen und den eigenen Bodentruppen Schutz zu gewähren. Das hat jahrelang funktioniert.

Connell wurde in mehreren Kriegen für seinen Mut ausgezeichnet. Doch jetzt ist er in Korea stationiert. Und das Glück oder das Gespür für den Sieg kommt ihm abhanden. Immer wieder steigt er mit seiner Maschine in den Himmel auf. Doch nie bekommt er den Feind zu fassen, nie kann er nachweisen, dass er immer noch ein Ass ist, ein Held, dem Krieg Ruhm bedeutet und dem das Töten als eine Art Sport gilt. Allmählich wird er zum Gespött der Einheit und droht an seiner vermeintlichen Unfähigkeit zu zerbrechen.

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Bevor James Salter zum Schriftsteller wurde, hat er in der Air Force als Kampfpilot gedient und war er auch im Koreakrieg im Einsatz. In seinen 1957 erschienenen literarischen Erstling „The Hunters“ sind einige quälende autobiographische Erfahrungen eingeflossen. In „Jäger“, wie der jetzt (mit über 50 Jahren Verspätung) auch hierzulande herausgekommene Roman bei uns heißt, beschreibt Salter mit gnadenloser Präzision die Ambivalenz zwischen gloriosem Kampf und erbärmlicher Niederlage.

In knappen Sätzen, brillanten Formulierungen und mit lakonischer Beiläufigkeit registriert Salter, wie nahe ritualisierte Männlichkeit und pure Selbstsucht beinander liegen; wie zerstörerisch es sein kann, wenn eine auf das Töten abgerichtete menschlichen Kampfmaschine in einem Sumpf aus Konkurrenz, Neid und Verrat versinkt. Der Roman, 1958 mit Robert Mitchum und Robert Wagner verfilmt, ist kein Krieger- und kein Helden-Epos, sondern ein existenzielles Drama über den zur Freiheit – auch des Tötens – verurteilten Menschen.

Wie wichtig dem Autor sein Debüt ist, zeigt allein die Tatsache, dass er für eine amerikanische Neuausgabe (1997) den Roman noch einmal überarbeitet hat. In den USA gilt der 1925 geborene Autor, der mit „Lichtjahre“ und „Ein Spiel und ein Zeitvertreib“ international berühmt wurde, schon längst als moderner Klassiker. Manchmal hat es Jahre oder sogar Jahrzehnte gedauert, bis seine Bücher, die denen von Philip Roth, John Updike oder Richard Ford nicht nachstehen, in die deutsche Sprache übersetzt werden.

Doch als der öffentlichkeitsscheue Salter nach fast 30jährigem literarischen Schweigen sich 2013 noch einmal mit einem großen epischen Wurf zurück meldete („All That Is”/”Alles, was ist“), reagierte der hiesige Buchmarkt immerhin prompt.

James Salter: “Jäger”. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Beatrice Howeg. Berlin Verlag, 303 Seiten, 19,99 Euro.




Marco Reus gibt’s nicht mehr! Die ganze Wahrheit zur BVB-Krise!

Die Kunst der Verstellung Foto: G. Herholz

Die Kunst der Verstellung
Foto: G. Herholz

Mal Klartext: Dieser „Marco Reus“, den sie da beim Fahren ohne Führerschein erwischt haben, das soll wirklich ER sein, der einzig wahre MARCO REUS vom Ballspielverein Borussia 09 e.V. Dortmund? Niemals!

Der Original-Reus würde das charakterlich überhaupt nicht durchhalten, so etwas Fahrlässiges und andere Menschen Gefährdendes wie jahrelangen Verkehr ohne. Und dieser gewiefte Taktiker soll zudem so blöd gewesen sein, einen gefälschten niederländischen Führerschein vorzuzeigen? Kann gar nicht. Unser aller echter Marco – ehrlich, authentisch, dribbelstark – stellte auf der BVB-Homepage früh klar: „Ich habe den besten Job der Welt. Viele wissen das nicht zu schätzen, lassen sich gehen und schlagen über die Stränge. Das ist nicht mein Ding“.

„Reus“ oder Reus? Transfer und Transplantat
Also, wenn der mehrfach radarfallen-geblitztdingste „Reus“ tatsächlich nicht der modell-athletische Reus sein sollte, den wir kennen, dann ergäbe alles plötzlich tiefen Sinn. Kein Wunder, dass „Reus“, also der Reus-Imitator, nicht nur keinen deutschen Führerschein hatte, er konnte ihn gar nicht haben, selbst wenn er einen gemacht hätte. Daher die vielen Ausreden: Der echte Reus, unser jugendlicher Stürmer und Dränger, dieser Reus ist seit Monaten längst bei einem anderen Verein unter Vertrag. So. Und jetzt komm‘ ich: Der ganze Transfer konnte nur gelingen, weil Reus sein Gesicht verlor, indem er sich sein Gesicht operieren ließ! Verstehen Sie? Nein? O.k., ist auch ganz schön abgezockt.

Gesichtskorrekturen
Also, ich frage Sie: Kennt sich der BVB etwa nicht aus mit OPs am Kopf? Na? Jetzt dämmert’s Ihnen, was? Ja! Genau! Jürgen Klopps Haartransplantation! Kloppo damals zur Bild: „ (…) zunächst schwoll mein Gesicht immer mehr an. Sechs Tage lang! Ich dachte: Was, wenn das nicht mehr weggeht?!“

Aber J.K. hat Glück gehabt. Zack, ein paar Wochen untergetaucht, und dann wieder auf, als neuer Mensch, jünger, irgendwie noch an Klopp erinnernd, aber unterm Strich doch ganz anders – vor allem in jüngster Zeit. So wurde Klopp zum Modell für Reus.

Der Mann, den sie Reus nannten
Von wegen! Reus und monatelanges Verletzungspech! Außenbandriss, Knochenödem… Dass ich nicht lache! Der Mann hat für Dortmund überhaupt nicht mehr gespielt, weil er schlicht nicht mehr in Dortmund war. Plötzlich wird völlig verständlich, warum der BVB dermaßen orientierungslos im Abstiegskampf herumstolpert. Nach dem Wechsel der BVBler Götze und Lewandowski zu Bayern läuft eben auch Reus längst nicht mehr für den BVB auf, sondern nur noch sein Körper-Double.

Ich jedenfalls bin ziemlich sicher, dass auch Reus heute schon bei … heraus damit … den Bayern spielt! Was wissen wir eigentlich genau über „Sinan Kurt“, der als 18-jähriger angeblich von Mönchengladbach (!) zu Bayern gewechselt ist? Nichts, wir wissen fast nichts. Gehen Sie mal unter Google-Bilder zu den Fotos von „Kurt“ und Reus, fällt Ihnen da nicht auch etwas auf? Diese frappierende Ähnlichkeit?

Spielerschutzprogramm
Die Wahrheit liegt mal wieder auf dem Platz herum: Marco Reus, und das ist so sicher wie das Amen in der Autobahn-Kirche, wird als „Sinan Kurt“ mit neuer Identität bei Bayern München Schritt für Schritt an das Leben als Rekordmeister gewöhnt. Jünger wirkt er, das ist schön, aber extrem nachgeschult werden muss er schon noch, gecoacht, therapiert, damit er nicht – wie Klopp – durch eine Transplantation traumatisiert unvermittelt in den Misserfolg schlittert.

Also: Wenn SIE diese Zeichen nicht lesen können, ich kann’s.

Bleibt allein die Frage offen, wer das Körper-Double ist, das da seit einiger Zeit als Spielerdarsteller „Marco Reus“ über den Platz und die Autobahnen simuliert, und der (oder für den man) jetzt die 540.000 € Bußgeld zahlt. Wie viel Spielgeld erhielt Uli Hoeneß vom Adidas-Chef? 20 Millionen? Ich frag‘ ja bloß – und wäre Ihnen dankbar, wenn auch Sie hier nicht weiter recherchieren würden. Da kämen Dinge ans Tageslicht, die will wirklich niemand wissen.

P.S.
Unter uns:  Vertauschen Sie einmal die Buchstaben des Namens MARCO REUS. MARCOREUS = EURO R CMAS! Klar? EURO(S) ARE CHRISTMAS! Capito?
GELD, DAS IST WIE WEIHNACHTEN.
Da kann ich mich nur anschließen. Für Geld würde auch ich alles tun.




Aus der hiesigen Hotline-Hölle: Unitymedia

Buddha – zwei Finger am Tastentelefon verloren?
Foto: Gerd Herholz

Nach sechs Jahren ist unser TV-Receiver ins Wackelkoma gefallen. Schluss, aus, Elektroschott. Asocial freezing: Andauernd fror das Bild ein. Also resetten (vulgo: Stecker raus – Stecker rein), damit das Dingsbums zumindest für eine Weile bewegte Bilder flimmerte.

Nach Dutzenden Versuchen, Kontakt aufzunehmen, meinte vor zwei Wochen unser „Was kann ich für Sie tun?“- Kundenberater, tja, da müssten wir wohl den Receiver ersetzen, Kosten ca. 120 Euro. Hurra, der Kundendienst sei tot, es lebe der dienende Kunde. (Nein, das hat er natürlich nicht gesagt.)
Der neue Receiver – so der versierte Callcenter-Agent – würde am Dienstag, spätestens am Mittwoch eintreffen. 14 Tage sind vergangen – und wo sind sie, all die abgehetzten, unterbezahlten Paketboten, von denen man jetzt überall hört? Nicht einer klingelte uns raus aus unserer Lethargie. Mittlerweile schauen wir am liebsten Werbepausen, da ist es eigentlich schnuppe, wann das Bild einfriert. Am besten passt’s natürlich, wenn Tiefkühlspinat beworben wird.

Gestern habe ich endlich die Zähne zusammengebissen, um erneut mit einem Kundenverräter bei Unitymedia zu sprechen. So naiv hätte ich mich besser bei SETI beworben. Die lauschen seit Jahrzehnten aus amerikanischer Wüste auf Signale aus dem All, um in Teleskopschüsseln neben kosmischem Grundrauschen so etwas wie Antwort außerirdischer Intelligenz  herauszufiltern. Ich Kleinmütiger habe dagegen nur 15 Minuten in der Warteschleife meines Premium-Anbieters durchgehalten, dann noch einmal fünf, bevor ich entnervt auflegte. Seitdem verwest meine Frau beim Versuch, einmal bei der Hotline des „alternativen“ lokalen Kundendienstes durchzukommen.

Übrigens: Immer, wenn ich mich zu dem für mich zuständigen Heißdrahtler durchtastelte, verblüffte eine Service-Stimme mit dem Satz: „Bitte beachten Sie, dass Gespräche zu Qualitätszwecken mitgehört werden können.“ Gespräche, welche Gespräche? Mit mir spricht doch überhaupt keiner. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal froh darüber wäre, wenn geschulte Profi-Abhörer dieses mich zermürbende renitente Schweigen, dieses stumme Stalking, aufmerksam mithören und zu Qualitätszwecken auswerten würden. Gut, dass wir auch in Deutschland dafür noch Spezialisten haben.

Und bitte – fragen Sie mich jetzt bloß nicht, wie ich’s in der Warteschleife ausgehalten habe bei elektronischer – sagen wir mal – Musik und dem Ohr- & Oralverkehr mit der verlockenden Stimme der automatischen Hinhalte-Tusse. Sonst müsste ich Ihnen nämlich in den Hörer hauchen:
Ich bin sofort für Sie da – Der nächste freie Mitarbeiter ist bereits für Sie reserviert – In wenigen Augenblicken bin ich für Sie da – Einen kurzen Moment noch – Ich bin sofort für Sie da – Der nächste freie Mitarbeiter ist bereits für Sie reserviert – In wenigen Augenblicken bin ich für Sie da – Einen kurzen Moment noch – Ich bin sofort für Sie da – Der nächste freie Mitarbeiter …

So. Und jetzt gehe ich Standbild schauen. Meditiere vorm TV wie einst Siddharta unterm Bodhi-Baum und hoffe auf plötzliches Erwachen – vor allem in jenem Callcenter, das die in die reine Leere  führende Unitymedia-Hotline betreut. Wahrscheinlich liegt es bei Kushinagar, Indien, unweit der Stelle, wo selbst Buddha sterben musste, immerhin aber als Erleuchteter von Warteschleifen – also vom Kreislauf des Leidens – seitdem verschont geblieben.




Krasser „Sanierungs“-Vorschlag: Kunst aus dem Hagener Osthaus-Museum verkaufen…

Im Sommer stach mir beim Einkauf ein Plakat ins tränende Auge, worauf die famose Gruppierung namens „Hagen aktiv“ die Forderung aufstellte, man möge sich doch durch Verkauf des Schumacher-Museums und der mit ihm verbundenen Kosten einiger Gelsorgen entledigen.

Ziemlich überflüssiger Gedanke, weil ohnehin nicht bis an sein finanzielles Ende durchdacht, dachte ich damals und schrieb es auch. Und, was ich noch dachte: Sie sind zwar aktiv, attestieren sie sich selbst, aber wie so häufig ist bloße Aktivität noch weit entfernt davon, vernünftige Gedanken zu entwickeln.

Nun dachte ich, das wär’s gewesen und nach Jörg Dehm, der mal Ferdinand Hodlers „Der Auserwählte“ über Christie’s vom Hohenhof auf den internationalen Kunstmarkt werfen wollte (10 Millionen Bruttoerlös taxierte man damals) und den „aktiven“ Hagenern käme niemand mehr auf Schnapsideen wie den Verkauf von Hagener Kunstwerken. Weit gefehlt: Nun muckt doch tatsächlich ein hoch erfahrener Politiker wie Dietmar Thieser (SPD) auf und merkt an, man könne ja den Verkauf von Magazin-Beständen des Osthaus-Museums ins Auge fassen, von Werken, die weder ein Hagener kennt noch so schnell zu Gesicht bekäme.

Ehrwürdig: der Altbau des Hagener Osthaus-Museums. (Foto: Bernd Berke)

Ehrwürdig: der Altbau des Hagener Osthaus-Museums. (Foto: Bernd Berke)

„Um den maroden städtischen Haushalt zu sanieren, hat Dietmar Thieser, heute Bezirksbürgermeister von Hagen-Haspe (und früherer Oberbürgermeister der Stadt), einen Verkauf von Kunstwerken aus dem Karl-Ernst-Osthaus-Museum ins Spiel gebracht. Darüber müsse man angesichts des Spardrucks und der von den Sportvereinen geforderten Hallennutzungsgebühr diskutieren: ,Es darf keine Tabus geben.’“ So heißt es im WAZ-Portal www.derwesten.de.

Flugs hat Thieser eine populäre Vokabel zur Hand, weil er mit dem energischen Schritt „Transparenz“ in den Magazin-Kellern herstellen wolle, flugs auch noch einen griffigen Vergleich, nicht weniger populär: Nur 7,8 Millionen Euro stecke die Stadt derzeit in die Sportförderung, 28,7 Millionen in Wissenschaft und Kulturförderung. Und nun wolle man die Sportler auch noch mit Nutzungsgebühren für ihre Sportstätten belasten. Wenn das nicht kracht.

Ich schrieb unlängst an anderer Stelle, dass es glatter Blödsinn sei, sich mit der Einführung von erfahrungsgemäß ziemlich erlösschwachen Sportstättennutzungsgebühren eine unselige öffentliche Diskussion an den Hals zu laden. Da isse! Klar, es verbietet sich, Ausgaben für Schule, Sport oder Kultur gegeneinander aufzurechnen. Wer so was beginnt, der wird mit der gestaltenden Politik alsbald aufgeben müssen, weil dann nämlich jede Gruppe mit subjektiv für unverzichtbar gehaltenen Einzelinteressen mit demselben Unsinn begänne.

„Es darf keine Tabus geben“, mahnt Dietmar Thieser via Medien. Natürlich nicht, aber dann gilt diese Aussage auch umgekehrt. Es darf dann auch keine Tabus bei der Sportförderung geben, es darf keine bei öffentlichem Nahverkehr geben, es darf keine bei den Grünflächen geben… usw. Wo hören wir denn da auf? Beim Hasper Kirmeszug? Ja, unbedingt, denn der ist meiner Ansicht nach ein unverzichtbares Stück Hagener Lebens. (Das meine ich ernst!)

Aber, Kunst, Kultur, innovative Sprünge in einer städtischen Lebensqualität, auch sie gehörten stets zu Hagen. Karl Ernst Osthaus, dessen Museumsmagazin Dietmar Thieser versilbern will, war ein Mann, der mit dem Geld seiner Bankiersfamilie viel Seliges für Hagen anstellte. Er begründete die Folkwang-Bewegung, schuf eine unvergleichliche Sammlung, ließ den Hohenhof entstehen, bescherte dem Bahnhof eine noch heute unschätzbare Glasmalerei von Jan Thorn Prikker. Renoir, Matisse, van Gogh, Czézanne, Christian Rohlfs gehörten zu seinem Bekannten- und Freundeskreis. Ohne ihn und die Muttererde Hagens gäbe es in Essen kein Folkwang-Museum.

Nein, wir dürfen keine Tabus setzen. Wir dürfen vor allem keine Angst davor haben, den götzenanbetenden Schwarzzahlenverehrern in Berlin zu sagen, dass sie es sind, die Städte und Gemeinden (namentlich in NRW) wortbrechend veröden lassen, dass sie es sind, die ihnen Lasten auferlegen, die der Bund zu tragen hätte, dass sie es sind, die versuchen, den eigenen finanziellen Sumpf trockenzulegen und gleichzeitig den Kommunen das Wasser bis zum Halse stauen.

Täte der Bund zeitnah das, was er den Städten und Gemeinden nach der zurückliegenden Wahl versprach, müsste in Städten wie Hagen niemand auf so blöde Ideen kommen, Sportstättengeühren als Zwietracht säendes Folterinstrument zu erheben, müsste andererseits auch kein Sportsfreund sich auf die unfaire Vergleichsdiskussion einlassen, wieviel Geld für was und wen ausgegeben wird in einer einstigen Kulturstadt von europäischem Rang.

Langer Rede kurzer Sinn: Macht lieber Vollfront gegen den Unsinn im Bund als darüber nachzudenken, was man alles versilbern könnte, das dann aber unwiederbringlich weg sein wird.

(Der Text ist zuerst in Rudi Bernhardts Blog http://dasprojektunna.de erscheinen)




Wärter im Museum Folkwang oder: Höchste Zeit für eine Frühwarnkultur im Kunstbetrieb

Ausgerechnet in Duisburg, der Stadt nahtlosen Mannesmann-Rohrs, sagte Oberbürgermeister Link im Sommer überraschend das Vorhaben einer begehbaren Röhrenskulptur ab. „Totlast“ hätte das sinistre Werk Gregor Schneiders heißen sollen. Dem OB (link-für-duisburg.de) schwante aber, Duisburg sei nach der Loveparade-Katastrophe „noch nicht reif für ein Kunstwerk, dem Verwirrungs- und Paniksituationen immanent sind und welches mit dem Moment der Orientierungslosigkeit spielt“. Verstörend-anakoluthe Sätze eines Kunstliebhabers und diplomierten Verwaltungswirts, der gern offen über das spricht, worüber er noch nachdenkt.

Blick aufs Musum Folkwang (Foto: Gerd Herholz)

Blick aufs Musum Folkwang (Foto: Gerd Herholz)

Aber vielleicht hat er irgendwie sogar Recht, der Link. Man sollte überhaupt viel mehr Kunst verbieten, zuallererst eben solche, die noch gar nicht zu sehen ist. Das wäre am einfachsten (außer in Duisburg) und man hätte oft das Schlimmste vermieden, bevor es einträte. Nebenan in Essen hinkt man da allerdings etwas hinterher. In der Kulturhauptstadt Ruhr.2010 existiert leider immer noch real existierende Kunst. Umso wichtiger, dass das Folkwang-Museum jetzt seine Besucher endlich davor warnt, sich solche Kunst näher anzuschauen. Obwohl genau dieses Museum selbst sie ausstellt, im Rahmen seiner Schau „Monet, Gauguin, van Gogh – Inspiration Japan“. (Übrigens soll man „van Choch“ sagen und nicht „van Goch“. Jedenfalls spricht einem das Julia Roberts auf dem Audioguide so vor. Wie auch immer – ich könnte sowieso stundenlang nichts als Julias Hear-Alike hören, ohne mir auch nur ein einziges irritierendes Bild im Folkwang genauer anzusehen. Ich glaube, Sören Link wäre das recht.)

Ganz am Ende der „Inspirations“-Ausstellung findet sich ein kleines Kabinett mit dem schönen Titel: „Die Kunst ist niemals keusch“ – Picasso und der erotische Japonisme. An beiden Zugängen zum Kabinett warnt dann jedoch ein zweisprachiges Hinweisschild: „Einige Kunstwerke können aufgrund ihres erotischen Charakters irritierend wirken. The erotic nature of some works on display here may cause offence.“

Ich jedoch weiß wirklich nicht, was mich mehr offenzt. a) Die Tatsache, dass man im Ernst argwöhnt, heute eher harmlos wirkende Erotika könnten etwa jene über 12-Jährigen kopfscheu machen, die längst auf YouPorn surfen und ihre Nacktbilder online stellen. Oder b) die Gouvernanten-Haltung, die aufscheint hinter der Annahme musealer Sittenwächter, man müsse die Betrachter von Picasso-Radierungen und Japan-Farbholzschnitten schützen vor den mutmaßlichen Nebenwirkungen von Kunst. Mal ehrlich: Hält man den durchschnittlichen Besucher des Museums für psychisch gefährdet oder bloß für doof? IQ gerade über Zimmertemperatur?

Wahrscheinlich. Denn ich Idiot wähnte bis dato, Kunst solle genau dies auch: irritieren, subversiv sein, avantgardistisch, widerständig! In Essen aber taucht man die erotischen Kleinformate ins (durch eine Extra-Raumdecke) leicht abgedunkelte Licht von Raum 12 und hofft wohl, dass keiner sie dort findet. Ist aber nicht so. Gleich zwei gestandene Damen im Ulla-Popken-Übergrößen-Look waren gemeinsam mit mir im halbverschatteten Dark Room des Folkwang. Angesichts altjapanischer Ferkelei von Hokusai, Eishi oder Utamaro spöttelten sie bloß: „Die wussten damals auch schon, wie’s geht, nä?“ Und dann schlenderten sie vollkommen unirritiert weiter, einfach so. Ein Benehmen haben die Leute! Und erst die beiden amüsierten jüngeren Frauen, die um die Ecke bogen, als ich das Kabinettchen gerade verließ: „Hier trifft man die meisten Männer!“ Ich (auflachend): „Ne, ne, zählen Sie mal durch.“ Die Frauen (lachend): „Sorry.“

Warum auch künstlich aufregen. Auf den japanischen Farbholzschnitten sieht man Paare (+ Sonder-Konkubine) rund ums Vögeln – und es scheint ihnen halbwegs Spaß zu machen. Was nun aber mich etwas wundert. Denn die meisten stecken noch in voller Kimono-Montur – nackt nur die wuchtigen Geschlechtslandschaften – und so mancher Beischläfer scheint auch arg verrenkt. Vor allem aber sieht man für die verhältnismäßig kleinen – oder muss man politically correct sagen: vertikal herausgeforderten? – japanischen Menschen sehr prächtige Penisse und pralle Vaginen. Die Vaginen übrigens behaart – das allerdings könnte einen heute in der Tat sehr wundern, so kennt‘s kaum einer der Jüngeren mehr. Fazit: All das im Kleinen großartig, nicht aufdringlich, lebendig halt, voller Saft, Kraft, Farbe und gediegener Komposition.

Die Museumsleitung besteht aber nun einmal öffentlich darauf – hoffentlich nicht bedingt durch eigene Traumata –, präventiv dafür Sorge zu tragen, dass der labile Besucher keinerlei sexuellen Schaden nehme. Deshalb die beiden deutschenglischen Mini-Menetekel an der Wand, die allerdings – fahrlässig genug – auf anderssprachige Besucher keinerlei Rücksicht nehmen.

Und auch sonst werden Folkwangs nicht einmal ihrer eigenen Logik gerecht. Wenn sie schon Beipackzettel wider fahrlässigen Bildkonsum an die Wand pappen, dann bitte radikaler. An der Außenfront des Kunsttempels fehlen deutliche Mahnungen wie „Schauen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu“, oder „Erhöhter Pigmentgenuss in der Schwangerschaft gefährdet Ihr Kind!“ und ergänzend gleich: „Hier finden Sie Hilfe, wenn Sie Museumsbesuche aufgeben wollen. Tel.: …“

Außerdem müsste man jeweils Handicap-bezogene Banderolen direkt auf den Werken anbringen. „Diese Giacometti-Skulptur kann die Gefühle von Magersüchtigen verletzen.“ Auf einem Botero oder bei Stillleben mit Früchtetellern müsste man natürlich ganz anders argumentieren. Egon Schieles „Schwarzhaariges Mädchen mit hochgeschlagenem Rock“ könnte man an sehr geeigneter Stelle so überkleben: „Austherapierte! Überwunden geglaubte Neigungen können durch Anschauen dieses Werkes erneut auftreten“.

Ach, es gäbe noch so viel zu verkleben. Denken Sie nur an all jene, die heute überall bereitstehen, sich jederzeit ihre religiösen Gefühle verletzen  zu lassen. Ich sage nur: Salafisten! Die muss man auf jeden Fall vor Kunst schützen. Etwa vor Max Ernsts „Die Jungfrau züchtigt den Jesusknaben vor drei Zeugen“. Wie wär’s mit folgendem Hinweis: „Die prügelnde Madonna könnte aufgrund ihres gewalttätigen Charakters irritierend wirken. Maria/Maryam steht Ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach im Paradies als von höherer Stelle zertifizierte Jungfrau dennoch weiterhin zur Verfügung.“

Nicht nur im Folkwang-Museum also gäbe es alle Hände voll zu tun für eine politisch korrekte Frühwarnkultur im Kunstbetrieb. Ich persönlich träume darüber hinaus seit einigen Nächten von einer Art cleanem Wohlfühl-Museum – analog zu den staubfreien Produktionsstätten der Mikrochip-Hersteller. Politisch korrekte Kunst im sterilen Reinraum mit milbenfreiem Interieur, völlig irritations- und konfliktfrei. VolxWangAnWang-Museum. Das wär’s. Sogar für Allergiker.




Wie man im Ruhrgebiet spart – und kassiert

Dortmund ist ziemlich arm dran. In fast allen Statistiken, die Gutes besagen, liegt die westfälische Großstadt hinten (neuerdings sogar in der Bundesliga-Tabelle); wenn’s hingegen prekär wird, mischt die arg verschuldete Kommune zumeist in der Spitze mit. Doch es gibt hier auch einige, die ausgesorgt haben.

Beispielsweise Guntram Pehlke, Chef der Dortmunder Stadtwerke (DSW21). Der Mann wird auch im bundesweiten Vergleich überaus ordentlich bezahlt. Laut „Ruhr Nachrichten“ (RN) vom 3. Dezember 2014 liegen bei ihm derzeit jährlich 442 389,77 Euro an – mit allen Zusatzleistungen. Pehlkes Kollegen in Düsseldorf, Hamburg oder Stuttgart liegen weit unterhalb seiner Einkünfte. Nun soll, wie die RN weiter berichten, sein Vertrag auch noch in Windeseile vorzeitig verlängert werden, was wiederum mit weiteren Vergünstigungen verbunden wäre.

Wenn's nach einigen politischen Platzhirschen geht, wird das Damwildgehege im Dortmund Süggelwald geschlossen. Esparnis: gerade mal 4500 Euro im Jahr. (Foto: Bernd Berke)

Wenn’s nach einigen politischen Platzhirschen geht, wird das Damwildgehege im Dortmunder Süggelwald geschlossen. Esparnis: gerade mal 4500 Euro im Jahr. (Foto: Bernd Berke)

Pehlke gehört als einstiger SPD-Schatzmeister im Unterbezirk Dortmund und als früherer Stadtkämmerer zu den Parteigenossen, die in Dortmund (und überhaupt im Ruhrgebiet) immer mal wieder an die Spitze kommunaler Unternehmen geraten.

Ob Energieversorger, Entsorgungsbetriebe, (stark defizitärer) Flughafen, Stadtsparkasse oder Messe/Westfalenhallen – stets steigen die Chancen auf lukrative Dortmunder Chefposten mit SPD-Parteibuch erheblich. Gewiss, andernorts gibt es Filz und Klüngel im Zeichen der CDU. Doch das Revier ist eben vorwiegend ein Selbstbedienungsladen für manche Sozialdemokraten. Ein Jammer für die vormals stolze Partei.

Das TV-Magazin „Monitor“ hat kürzlich (Ausgabe vom 20. November 2014) recherchiert, dass ausgerechnet die Ruhrgebietsstädte national meist weit vorn liegen, wenn es um kommunale Chefgehälter geht. Als Boss der Entsorgungsbetriebe kann man in Essen oder Dortmund deutlich mehr kassieren als etwa in Berlin oder Hamburg.

Bei der Dortmunder Entsorgungsgesellschaft EDG verdienen laut „Monitor“ drei (!) Chefs je etwa 266000 Euro, für ähnlich gelagerte Aufgaben reicht in Stuttgart ein Geschäftsführer, dessen Tätigkeit mit vergleichsweise bescheidenen 125000 Euro vergütet wird. Weitere verblüffende Einzelheiten sind auf der Monitor-Homepage nachzulesen.

Unterdessen muss die durch immense Sozialkosten gebeutelte Stadt ihre sonstigen Leistungen stetig reduzieren. Ein besonders groteskes Beispiel, wenn man mal vom schleichenden (und bald galoppierenden?) Kulturabbau absieht: Gerade mal 4500 Euro will Dortmunds Stadtkämmerer Jörg Stüdemann durch Schließung eines Damwildgeheges im Süggelwald (Stadtteil Eving) einsparen. Auch auf der Homepage der Stadt wird das Gehege bis heute als Möglichkeit für ansonsten vielfach benachteiligte Kinder der Nordstadt beworben, quasi in ihrer Nachbarschaft Tiere im naturnahen Raum zu erleben.

Egal. Der Posten soll gestrichen werden. Und was wird aus den Tieren? Da könnte man die polemische Frage stellen, ob anschließend noch der Wildbraten auf dem Tisch kommunaler Honoratioren kredenzt wird. Vielleicht gar beim nächsten Empfang des SPD-Oberbürgermeisters Ullrich Sierau?

Aber mal im Ernst: Drängt sich denn nicht die Idee auf, mit den Sparmaßnahmen auch bei den besagten kommunalen Spitzengehältern anzusetzen? Schon allein, um mal ein Signal zu setzen.

Unterdessen sehen sich die Städte des Ruhrgebiets gezwungen, auch noch Menschen abzuschrecken, die vielleicht trotz alledem hierher ziehen wollen – mit exorbitant steigenden Hebesätzen für die Grundsteuer B. Wie die WAZ heute berichtet, könnten ohnehin schon weniger attraktive Orte wie Duisburg und Witten, die eh schon Einwohner verlieren, auf diesem Gebiet demnächst Spitzenpositionen einnehmen. Duisburg hätte dann einen fast doppelt so hohen Hebesatz wie das benachbarte Düsseldorf, Witten könnte gar bundesweiter Spitzenreiter werden und selbst Berlin überflügeln. So gut wie alle Revierbürer sind betroffen. Per Umlage wirkt sich die Grundsteuer auch mietsteigernd aus.

Vor der Zukunft einer Region, in der just morgen das allerletzte Opel-Fahrzeug vom Bochumer Band laufen wird, kann einem gelegentlich angst und bange werden.




Berlin, Berlin – eine kleine Polemik

Seit ein paar Jährchen bin ich nicht mehr in Berlin gewesen. Mag sein, dass es auch daran liegt. Aber bestimmt nicht nur. Tatsache ist: Berliner Befindlichkeiten gehen mir auf den Geist. Doch die Gazetten quellen davon über.

Was interessiert’s mich, wen die Türsteher im Berghain reinlassen und ob der Schuppen überhaupt noch wichtig ist? Was geht’s mich an, wer im Café Einstein oder sonstigen Lokalitäten Platz nimmt? Was juckt es mich, ob der Prenzlauer Berg derzeit an- oder abgesagt ist und wohin sich die Hipness gerade mal wieder verlagert hat?

Der Autor der umliegenden Zeilen anno 2001 in Berlin. (Foto: privat)

Der Autor der umliegenden Zeilen anno 2003 in Berlin. (Foto: privat)

Ob Berlin sich anschickt, europäische oder Weltmetropole der Kunst, der Mode oder sonstigen Unsinns zu werden – piepegal! Wann dieser unselige Flughafen fertig wird – wurscht! Dass eingesessene Berliner zugereiste Schwaben und Touris nicht haben wollen – einerlei!

Da jetzt mal wieder der „Tag der deutschen Einheit“ ist, sei noch kurz angemerkt: Einen Streit, der es an Lächerlichkeit mit dem Disput ums millionenschwere Projekt einer „Einheitswippe“ in Berlin aufnehmen kann, müsste man erst noch erfinden. Man stelle sich vor: Die Wippe ist doch tatsächlich ins Wanken geraten…

Und überhaupt: Warum soll letztlich das ganze Land für ein irrsinniges Prestigeprojekt wie das Berliner Stadtschloss draufzahlen?

Von dem Ausblick (2001) war ick schwer beeindruckt, wa? (Foto: Bernd Berke)

Von dem Ausblick (2001) war ick schwer beeindruckt, wa? (Foto: Bernd Berke)

Um vollends polemisch zu werden: Erst hat die BRD West-Berlin als eingemauerte „Frontstadt“ mit durchgezogen, jetzt alimentieren alle die protzende Hauptstadt, deren Bewohner gleichwohl geglaubt haben, einen lebenslangen Anspruch auf günstigere Mieten zu haben als der ganze Rest der Nation.

Während Frankreich auf Paris zentrierte Strukturen wenigstens hie und da abbaut, eröffnen im staatlichen Kielwasser Hinz und Kunz Berliner Zentralen oder wenigstens Niederlassungen. In der Frankfurter (!) Allgemeinen Sonntagszeitung lese ich mehr über Berlin als über den gesamten Rest der Republik. Habe ich denn einen wuchernden Berliner Lokalteil bestellt? Nein.

Mich würde es gelegentlich auch mal interesseren, wie es z. B. in Bremen, Dresden, Kiel, Leipzig, Stuttgart, Nürnberg, Hannover, Rostock, Köln, Kassel oder Kaiserslautern zugeht. Von Hamburg und München ganz zu schweigen. Und vom Ruhrgebiet mal abgesehen, wenn’s nicht wieder die ewiggleichen Depressions-Arien der überregionalen Presse sind…

Aber nein. Statt dessen gibt’s stets die allerneuesten Trends aus Berlin-Mitte oder welchem Place-to-be-Hauptstadtteil auch immer. Und immerzu die ebenso atemlosen wie weitschweifigen Erwägungen, ob Berlin nun „arm aber sexy“ oder doch irgendwie Kiez-provinziell sei, ob und wie es als „einzige deutsche Weltstadt“ mit London, Paris und New York konkurrieren könne oder eben nicht. Wumpe!

Auch hier überkam mich der Weltstadt-Schauder. (Foto: Bernd Berke)

Auch hier überkam mich der Weltstadt-Schauder. (Foto: Bernd Berke)

Ganz ehrlich: Ich war schon damals gegen die ungemein kostspielige Verlagerung der Hauptstadt von Bonn nach Berlin. Tatsächlich ist der Polit- und Medienbetrieb seither aufgeregter und großmäuliger geworden. Man durfte nichts anderes erwarten.

Apropos Medien. In Berlin selbst erscheinen ein paar Blättchen mit vergleichsweise lächerlich geringen Auflagen, die gleichwohl bundesweite Meinungsführerschaft beanspruchen: Tagesspiegel, Berliner Zeitung und taz sind hie und da lesenswert, jedoch im Grunde herzlich unbedeutend. Vom Fußball in der Kapitale wollen wir denn lieber gleich ganz schweigen. Der war fast immer zweit- bis drittrangig.

Als Trost für Hauptstadtbewohner bleibt einstweilen nur Frank Goosens aufs Ruhrgebiet gemünzter Sinnspruch: „Woanders is‘ auch scheiße…“




Lars Vilks „Nimis“: Kunstwerk aus Treibholz reizt seit Jahrzehnten die Staatsmacht

Wer kann schon von sich erzählen, dass er während einer Reise durch den Norden Europas in vier Ländern und vier Hauptstädten gewesen sei, er sich aber nur in zwei staatlichen, vollorganisierten Gebilden aufgehalten habe. Ja, das geht!

Man reist durch Schweden, besucht Stockholm, durchfährt Schonen und trifft am Kullaberg auf Ladonien und Nimis, dehnt die Fahrt auf Dänemark und Kopenhagen aus und streift dort durch ein Lebensquartier mit Namen „Christiania“ mit der Hauptstadt gleichen Namens.

Schweden und Dänemark sind ja den meisten durchaus ein Begriff, „Christiania“ ist jedem ein solcher, der Hippies, Hanf und Hausbesetzer noch in die ihnen zugeordneten Schubladen einsortieren kann. Ladonien hingegen kennen nur Kenner – und seit einer ausgedehnten Fahrt durchs schwedische Schonen auch ich. 1980 begann dort im Naturschutzgebiet Kullaberg in einer vom Festland aus schwer zugänglichen (oh ja) Bucht der Künstler Lars Vilks Treibholz zu sammeln und es mit unzähligen Nägeln zu einer bekletterbaren Monsterskulptur zu zimmern.

Sehr zur ungnädigen Wahrnehmung der örtlichen Behörden, die in dem artifiziellen Hammerschlag-Puzzle ein Gebäude witterten, was in einem naturgeschützten Gelände nicht sein darf. Das dem Gotte Thor vorbehaltene Schlaginstrument senkte sich also büokratischerseits über Lars Vilk, dem nun das zuteil wurde, was er vermutlich billigend in Kauf nahm: eine allerseits wachsende Aufmerksamkeit.

Behördlich wurden nun salvenweise Abrissverfügungen auf den Freiluftildhämmerer abgefeuert, die er mit wachsendem Fleiß und ständig neuen Ausbauten seiner Kunst, der inzwischen der Name „Nimis“ gegeben worden war, was aus dem Lateinischen hergeleitet wird und so viel wie „zu viel“ bedeutet.

Zwischenzeitlich, als Lars Vilks Fleißarbeit 15 Tonnen wog, hatte ein behördentreuer Stifter einen Brand gelegt, der große Teile von „Nimis“ einäscherte, was Lars Vilks Eifer aber zusätzlich befeuerte und ihn antrieb, beim Wiederaufbau die ursprüngliche Tonnage noch zu übertreffen. Um es vor dem unmittelbar bevorstehenden amtlichen Zugriff zu schützen, verkaufte er „Nimis“ an seinen Freund Joseph Beuys und nach dessen Tod an die Weltverhüller Christo und Jeanne Claude.

1996 trieb Lars Vilk den Kampf gegen Schonen und Schweden auf die Spitze, rief den Microstaat Ladonien aus, abgeleitet von Ladon (griechisch), einem mythologischen Drachen. Zuvor hatte er mit der Arbeit an „Arx“ (Festung) begonnen, einer wuchtigen Steinskulptur, zu der sich 1999 der 1,61 Meter hohe „Omphalos“ gesellen sollte.

Nun mussten sich Polizei und Ämter nicht nur mit „Nimis“ herum plagen, sondern auch noch „Arx“ (Das ist ein weiteres, nennenswertes Kunstwerk in der Nähe von Nimis in Form einer Skulptur aus mit Beton zusammengehaltenen Steinen, die ein abstraktes Buch verkörpern. Es wiegt 150 Tonnen, hat 352 Seiten und wurde sogar 1993 im schwedischen Verlag Nya Doxa veröffentlicht. Arx bildet den zweiten Teil der Verfassung Ladoniens.) und „Omphalos“ gesetzlich zu bekämpfen. Lars Vilk wurde schließlich verdonnert, „Omphalos“ in geeigneter Weise zu beseitigen, die beiden anderen Kunstwerke blieben allerdings verschont, bei denen hatte der Staat aufgegeben.

Zum 100. Geburtstag des Friedensnobelpreises am 10. Dezember 2001, so schlug Lars Vilk in der Folge vor, könne er ja „Omphalos“ in die naturgeschützte Luft der Skagerag-Küste jagen (natürlich mit Nobel’schem Dynamit), was amtlicherseits wenig Beifall fand. Dafür wurde ein Beschluss gefasst, der strengstens geheim gehalten wurde – und „Omphalos“ von staatssicherheitlichen Einheiten am 9. Dezember 2001 entfernt. Dabei nahm die Skulptur, die inzwischen an den Künstler Ernst Billgren verkauft war, Schaden, was den neuen Besitzer gehörig empörte. Er schenkte die vernarbte Kunst aber postwendend dem Moderna Museet, wo sie noch heute ausgestellt wird.

Der listige Lars Vilk ersuchte nun um die Erlaubnis, dem verlorenen Kunstwerk ein Denkmal setzen zu dürfen, die er auch erhielt, nur dürfe dieses Denkmal nicht höher als 8 Zentimeter groß sein. Das Kunstwerk-Denkmal wurde am 27. Februar 2002 seiner Bestimmung feierlich übergeben. Und der ungleiche Kampf endete mit der stöhnenden Aufgabe von Seiten der staatlichen Gewalt.

Ladonien existiert nach wie vor. Es fand seine Hauptstadt in „Wotan“, einem separat stehenden Turm des Gesamtkunstwerkes. 15.000 Einwohner ergab der jüngste Micozensus, allesamt Nomaden und nicht in Ladonien sesshaft. Die Landesflagge ist gekennzeichnet durch ein grünes Kreuz auf grünem Grund (für Grün-Fehlsichtige wird bisweilen auch das Kreuz mit zarten Weißstrichen in lybische Grün gemalt. Für 12 US-Dollar kann man sich einen Adelstitel beschaffen, Ministerien gibt es auch, Steuern werden in Form von Kreativität erhoben.

Ich könnte ja jetzt angeben und sagen: „Muss man gesehen haben!“ Hab‘ ich aber nicht, jedenfalls nicht mit eigenen Augen. Yannic, jung und enorm behende, kraxelte für mich durch „Nimis“, bestaunte den ungewöhnlichen Mut schwedischer Eltern, die es zuließen, dass geschätzte 12-Jährige Türme erklommen, die nicht einmal er bezwang und schwärmte noch lange von dem Kunstwerk, das über Jahrzehnte Heerscharen von Amtsgewaltigen beschäftigte.




Aus der Traum vom brasilianischen Fußball

Nein, das ist jetzt aber auch fast schon gar zu viel. 7:1 fürs deutsche Team in einem WM-Halbfinale gegen den Gastgeber Brasilien…

Das ist einerseits unglaublich, wunderbar, was auch immer in dieser Richtung. Nicht zu fassen! Welch eine Demütigung, wenn man denn in solchen Kategorien denkt. Davon wird man noch in vielen Jahren sprechen.

(ZDF-Fernsehbild)

(ZDF-Fernsehbild)

Andererseits werden da auch ein paar Träume zerstört. Die Träume, die man vom brasilianischen Fußball seit den Tagen von Pelé und Garrincha hegte und die nicht zuletzt von einer entgrenzten Ästhetik gehandelt haben.

Erst hat die so „unbrasilianische“ Spielweise bei dieser WM die schönen Erinnerungen arg gedämpft. Dann fielen auch noch Neymar und Thiago Silva aus, zwei tragende Säulen der brasilianischen Auswahl. Doch es kann wohl nicht nur daran gelegen haben. Wer erklärt es uns? Ach, diese hilflosen „Analysen“ im Fernsehen.

Alles, aber auch alles ging schief für Brasilien, alles lief wie geölt für Deutschland. Man möchte (nicht) wissen, welche geheimnisvollen Kräfte da im Spiele gewesen sind.

Die „Schland“-Euphorie wird nun erst einmal kein Ende haben wollen. Und wer weiß, was sich jetzt – nach dieser bitteren Enttäuschung – in der Gesellschaft Brasiliens zuträgt.

Derweil eskaliert im Nahen Osten der kriegerische Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Doch nur eine Minderheit wird morgen in Deutschland darüber reden. Es ist eine surreal grausame Welt.




Autor Christian Wulff: „Rücktritt war falsch. Ich wäre heute noch der Richtige im Amt“

Wulff.1074795.jpg.1074808Nun hat auch er es getan. Der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff, dessen mediengewaltig ins schier Gigantische aufgeplusterte Verfehlungen sich am schrägen Ende auf ein paar Hundert Euro eindampften und in einen besonders strengen Freispruch von Korruption oder anderen strafwürdigen Schandtaten mündeten. Und nun hat er ein Buch herausgebracht.

Nun ist es ja gerade unter mäßig prominenten Politikern gang und gäbe, sich zur großen Zahl der Schwachbuchautoren zu gesellen, Sarrazin zum Beispiel. Daher kann dem mittelmäßigen Landespolitiker und später noch mittelmäßigerem Bundespräsiden kein schlimmer Vorwurf daraus gemacht werden, dass er solches auch tut. Er wird jetzt noch ein paar Euro fuffzig abgreifen und seine ohnehin zu üppige Leibrente noch auspolstern. Schön für ihn.

Was er aber bei seiner Buchpremiere in die Weltgeschichte posaunt und uns alle mit der theoretischen Aussicht erschreckt hat, ist seine vor den Medien zementierte Feststellung: „Der Rücktritt war falsch. Ich wäre heute noch der Richtige im Amt.“ Das raubt mir fast den Atem.

Richtig, er wurde von BILDhaften und weniger bildenden Medien „geschlachtet“; richtig, die Gattin, die er hatte, fiel zwar nicht vom Blatte, aber verließ ihn eilig, als er nur noch das war, was ihn schon zuvor auszeichnete: ein provinzieller Jurist. Und auch richtig, von dem Berg an Vorwürfen blieb kaum etwas übrig, was Nachberichterstattungen wert gewesen wäre. Aber auch richtig: Christian Wulff benahm sich während der gesamten Affärenzeit so schrecklich unsouverän, wurde von seinem provinziellen Medienberater so mies gesteuert, dass man weder ihm noch seinem Umfeld zutrauen konnte, einen würdigen Präsidenten nebst dazugehörigem Stab zu geben. Alles, was sich um den Herrn Wulff rankt, wirkt so was von hinterhöfig, dass mensch mundoffen vor dessen eklatantem Mangel an realistischer Selbsteinschätzung steht.

„GANZ OBEN GANZ UNTEN“ (Verlag C. H. Beck, 259 Seiten, 19,95 Euro) nannte er sein Frühwerk (oder verfrühtes?), versal unter Verzicht auf Satzzeichen. Soll wohl bedeutend wirken. Nun, rein verfassungsrechtlich stand er tatsächlich mal „ganz oben“ in der Hierarchie des Staates. Es gab nur einen Wimpernschlag während seiner ohnehin kurzen Amtszeit, als er etwas Kluges von sich gab: Der Islam gehöre zu Deutschland, stellte er fest. Ziemlich mutig und realitätsnah. Ansonsten beließ er es dabei, ein bisschen Würde zu produzieren und seine Gönnerin, die seine Person erst ins präsidiale Spiel brachte, nicht ernsthaft zu stören.

„Ganz unten“, war er das je? Jemand, der ernsthaft und von reichen Altersruhegeldern ungesegnet die unteren gesellschaftlichen Ränge besetzt, kann über solche Verortungen der Person Wulff nur staunen. Als „schamlos und entwürdigend“ bezeichnet er vieles, was während der Affäre (die rein gewichtsmäßig diesen Namen kaum verdiente) geschah, was veröffentlicht wurde und öffentlich gemacht wurde. Mit dieser Einschätzung liegt der Schreiber Wulff ganz richtig.

Bisweilen, so stellen Auszugsveröffentlichungen im „Spiegel“ es dar, blinzelt auch die eine oder andere Selbstkritik aus dem Werk. Das hätte er mal als Grundprinzip so halten sollen, dann wäre der Rest auch glaubwürdiger geworden, und vielleicht hätte er ernsthafteres Interesse verdient. Und nicht wieder genau das besonders von den Medien, die an seiner damaligen Zerkleinerung ganz vorn beteiligt waren.




Der Irrsinn, die Stadt und der Krieg: Zur Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“

Um das Jahr 1900 war das westfälische Hagen – ganz anders als heute – eine prosperierende, aufstrebende Stadt. Mochten auch Nachbarorte wie Dortmund (Freie Reichsstadt im Mittelalter, Hansestadt) eine weitaus längere Geschichte haben, so entwickelte sich doch jetzt auch in Hagen ein bürgerliches Selbstbewusstsein.

Hier wirkte damals der umtriebige Mäzen Karl Ernst Osthaus (1874-1921) mit seinem später so genannten „Hagener Impuls“, der 1902 zum seinerzeit weltweit ersten Museum der Gegenwartskunst führte. Die Blüte zeigte sich auch im Stadtbild: Damals entstanden in Hagen ein neues Rathaus (1903) und ein neuer, repräsentativer Bahnhof (1910), beide in historisierenden Stilformen, dazu das schmucke Stadttheater (1911). Auch eine machtvolle Stadthalle war beinahe fertiggestellt, als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann. Damit endete auch Hagens Aufstieg jäh – mit ungemein weit reichenden Folgen, deren Ausläufer teilweise noch heute nachwirken.

"Wir müssen siegen!" (Bildpostkarte, um 1915 - Stadtarchiv Hagen)

„Wir müssen siegen!“ (Bildpostkarte, um 1915 – Stadtarchiv Hagen)

In diesem vielfach tragischen Spannungsfeld bewegt sich nun die Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“ im Osthaus Museum, die vorwiegend die Perspektive der „Heimatfront“ einnimmt. 100 Jahre nach der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts sind an der Bilanz auch das Stadtmuseum und das Stadtarchiv beteiligt. Mit dermaßen vereinten Kräften hat man es geschafft, dass rund 90 Prozent der Exponate in dieser kulturhistorischen Schau aus eigenen Hagener Beständen stammen.

Rund 120 Kunstwerke sowie zahllose Archivalien und Abschauungsobjekte lassen in den besten Sequenzen der Ausstellung einen (lokal und regional zentrierten) Dialog zwischen Kunst und Alltagszeugnissen entstehen.

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Wo Stücke wie etwa Mobilmachungsbefehle und Sterberegister, alte Schreibmaschinen, Ladenkassen, Soldatenhelme oder (kriegerisches) Spielzeug für sich genommen nicht beredt genug sein sollten, tritt die Kunst in ihr Recht. Bilder der Expressionisten (Schmidt-Rottluff, Kirchner, Heckel) oder von George Grosz, Otto Dix und Max Beckmann – um nur wenige zu nennen – geben so manche Ahnung von den Schrecken des Krieges, der Not, des Hungers und des Irrsinns, den der Weltenbrand mit sich brachte. Bewegend auch die Blätter eines Walther Bötticher, der 1916 im Weltkrieg gefallen ist. Und überhaupt einige Unscheinbarkeiten am Wegesrand des Rundgangs.

Christian Rohlfs: "Tod als Sargträger" (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Christian Rohlfs: „Tod als Sargträger“ (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Neben Bildern mit verzweifelter Gebärde oder deutlich kritischem Sinn finden sich auch Beispiele für einen seelenlos oberflächlich registrierenden Zugriff oder gar nationalistisch und martialisch dröhnende Schöpfungen, wie beispielsweise das 1915 am Hagener Rathaus aufgestellte Standbild „Der Eiserne Schmied“ des „völkisch“ gesinnten Dortmunder Bildhauers Friedrich Bagdons.

Natürlich sieht man hier nicht das Original, sondern eine Dokumentation zur Entstehung. Der Schmied selbst ist – annähernd so groß wie die echte Statue – nur als „Pappkamerad“ gegenwärtig. Karl Ernst Osthaus wollte damals übrigens das Schlimmste verhindern und ermunterte Ernst Ludwig Kirchner zu einem Gegenentwurf, welcher jedoch keine Chance bei den kriegsbegeisterten Stadträten hatte…

Ein aufschlussreiches Kapitel ist der Rüstungsproduktion in gewidmet. Hier tat sich besonders die Accumulatoren Fabrik AG (AFA, Vorläuferin von Varta) hervor, die u. a. damals neuartige Spezialbatterien für U-Boote fertigte.

Nicht wenige historische Fotografien zeigen die entsetzlich angefachte Kriegslust der Bevölkerung – bis hin zu Kindern beim Kriegsspiel. Am Ende der Ausstellung wird in einer Art Epilog deutlich, wie nach dem verlorenen Krieg schon die Drachensaat für den nächsten aufgegangen ist. Was aus Hagen noch hätte werden können ohne Kriege, diese Frage könnte einen in tiefe Depressionen stürzen. Doch das gilt ja für alle betroffenen Städte und Länder.

Einige Exponate vermitteln hingegen bloßes Kolorit und reichen in ihrer Harmlosigkeit nicht so recht an das Thema heran. Nicht sehr schlüssig, wenn nicht gar überflüssig erscheint es, in einem Saal Kriegsrelikte beiderseits eines angedeuteten „Schützengrabens“ anzuordnen.

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener  Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Wenn man so will, ist das größte „Ausstellungsstück“ der Altbau des Osthaus Museums (also das frühere Folkwang-Museum von 1902), in den die Schau schließlich überleitet. Sigrid Sigurdssons stetig anwachsendes und mäanderndes Archivwerk „Architektur der Erinnerung“ gibt auch einige Dokumente aus dem Umkreis des Jahres 1914 her. Und das Junge Museum steuert noch Fotos, Materialien und Installationen aus pazifistischem Geiste bei. Möge es fruchten.

„Weltenbrand – Hagen 1914“. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 20. Mai bis 10. August 2014 (Eröffnung So., 18. Mai, 15 Uhr). Geöffnet Di, Mi, Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9 Euro, diverse Ermäßigungen. Tel.: 02331/207-2740. Internet: www.osthausmuseum.de

P.S.: Wenn man schon einmal in Hagen ist, sollte man einen Abstecher ins benachbarte Wuppertal machen, wo noch bis zum 27. Juli im Von der Heydt-Museum die Ausstellung „Menschenschlachthaus“ deutsche und französische Kunst zum Ersten Weltkrieg versammelt. Siehe auch hier: http://www.revierpassagen.de/24161/24161/20140404_1647




Es gibt etwas zu lachen – „Der nackte Wahnsinn“ in Dortmund

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Vicki (Merle Wasmuth) und Tramplemain (Frank Genser) haben Streß auf der Treppe (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nein, dass das Dortmunder Theater in der Intendanz von Kay Voges eine besonders trübselige Veranstaltung wäre, kann man wirklich nicht behaupten. Glücklicherweise gibt es hier immer wieder was zu lachen. Und jetzt erst recht!

„Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn, der hier am Samstag seine Premiere erlebte, ist ein Spaßstück erster Güte, ein Komödienstoff nach allen Regeln der Kunst, den ein hellwaches Ensemble mit Tempo und großem Körpereinsatz zum ungetrübten Vergnügen macht. Damit wäre fast schon alles gesagt. Aber warum sollte eine Bewertung erst am Schluß der Besprechung stehen, wenn sich der Rezensent so gut amüsiert hat?

„Der nackte Wahnsinn“ ist der Form nach eine klassische Türenkomödie, folgerichtig hat die Kulisse derer zehn, auf mehreren Ebenen (Bühne: Pia Maria Mackert). Außerdem dient das Fenster dem Einbrecher als Bühnenzugang. Allerdings beschränkt sich das Stück nicht auf die Mechanik der exakt gespielten Auf- und Abtritte durch die diversen Türen, sondern ist zudem ein „Theater auf dem Theater“ – in drei Akten.

Im ersten Akt erleben wir, wie eine eher unbekannte Theatertruppe das Stück „Spaß muß sein“ des (fiktiven) Stückeschreibers Robin Housemonger für die Premierentournee probt, im zweiten – der Drehbühne sei Dank – erleben wir staunend, daß die Vorstellung für uns fast unsichtbar irgendwie weiterläuft, während sich hinter den Kulissen die Mimen zanken und prügeln, Eifersuchtsgeschichten, Sinnkrisen und Alkoholismus den Fortgang der Tournee gefährden. Doch die Show muß bekanntlich weitergehen. Das dritte Bild schließlich zeigt die Bühne wider von vorn. Die Tournee ist fast zu Ende, Kulisse und Mimen sind verschlissen, die Hauptdarstellerin ist betrunken und außerdem ist ihr das auch völlig egal. Running Gag bei alledem ist von Beginn an ein Teller mit Sardinen, der mal da ist und mal nicht, was für Verwirrung sorgt.

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Das Ehepaar Brent (Ekkehard Freye und Eva Verena Müller) weilt inkognito im eigenen Hause (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Der Plot schließlich, um auch ihn kurz zu erwähnen, kreist wesentlich um zwei Liebespaare, die sich heimlich in das Haus schleichen, um es dort miteinander zu treiben. Das eine sind (mit ihren Rollennamen des Stücks im Stück) der Häusermakler Tramplemain (Frank Genser) und das blonde Dummchen Vicky (Merle Wasmuth) sowie der Dramatiker Philip Brent (Ekkehard Freye) und seine Gattin Falvia (Eva Verena Müller). Alle wähnten Haushälterin Clackett (Friederike Tiefenbacher) abwesend, doch die ist noch da, weil sie irgendeine Promi-Hochzeit im Farbfernseher sehen möchte, während sie selbst zu Haus nur Schwarzweiß hat. Und einen Teller mit Sardinen hat sie sich fertig gemacht. Den Brents gehört das Haus tatsächlich, doch sind sie inkognito hier. Die Steuerfahndung darf nicht wissen, daß sie in England weilen.

Schließlich gibt es noch einen Einbrecher, der von Uwe Schmieder gespielt wird. Er ist dem Whisky sehr zugetan, weshalb man nie weiß, ob er seinen Einsatz schafft. Und da das Stück ja im Stück spielt, sind auch noch drei Personen sozusagen ohne Rolle dabei: der fette Regisseur Lloyd Dallas (Andreas Beck), der schwule Regieassistent Poppy (Peer Oscar Musinowski) und der Bühnenmeister Tim (Sebastian Graf).

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Vicki und Tramplemain mit ihrem Regisseur Lloyd Dallas (Andreas Beck, rechts) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

So viel zur Handlung, die, man ahnt es vielleicht schon, natürlich zu keinem glücklichen oder auch weniger glücklichen Ende führt, sondern sich im atemlosen Kampf gegen das Unheil in der Welt im allgemeinen und das Entdecktwerden im Besonderen, aber auch um verlorene und nicht wieder aufgefundene Kleider, Bettlaken, Kisten und Taschen dreht. Und natürlich um Teller mit Sardinen. Das Stück im Stück hat auch deshalb kein Ende, weil ja nie bis zum Ende gespielt wird. Wie aber sollte so ein Plot schon enden, wenn nicht im Chaos?

Urkomisch sind viele Handlungsdetails – wie Brents absehbar aussichtsloser Kampf gegen den Sekundenkleber, mit dem er sich unlösbar einen Mahnschreiben vom Finanzamt und einen Sardinenteller an die Hände klebt, weshalb er im Weiteren nicht mehr in der Lage ist, die Hose hochzuziehen und panisch durch das Bühnenbild hüpft, treppauf, treppab. Poppy wechselt jedes Mal Hemd und Hose, wenn er aus der Szene verschwinden darf, Regisseur Lloyd Dalls stiftet mit Blumengeschenken, die Inspizient Tim zuverlässig an die falschen Adressen leitet, Chaos und Haß. Ausgesprochen spaßig auch sind im dritten Akt die Kostüm-Tauschaktionen, um schnell Ensemblemitglieder zu ersetzen, die gerade irgendwie abhanden gekommen sind. Schließlich stehen gleich drei Einbrecher auf der Bühne, was den Regisseur nur noch „Vorhang“ flehen läßt.

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Mrs. Clackett (Friederike Tiefenbacher) findet sich zwischen der Doppelbesetzung für den Einbrecher wieder (Uwe Schmieder li., Sebastian Graf re.) (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Entscheidender aber als die Vielzahl gelungener Einzelgags ist das rasende Tempo, das diese immerhin dreistündige Produktion von Anfang bis Ende durchhält. Peter Jordan und Leonhard Koppelmann, die gemeinsam für die Regie zeichnen, verdeutlichen das durch einen Moment der Verlangsamung: Wenn dem Regisseur im ganzen Bachstage-Durcheinander ein Kaktus in den Allerwertesten gerammt wird, reduziert sich die Geschwindigkeit des Bühnengeschehens plötzlich wie in einer Zeitlupe. Die Töne dehnen sich, das Licht flackert wie bei einem langsam laufenden Filmprojektor, Schmerzverzerrt verzieht sich das Gesicht des fülligen Regisseurs im Schneckentempo, und ganz langsam beginnt Poppy, ihm die Nadeln einzeln wieder herauszuziehen. Und dann ist die Zeitlupe zu Ende und es geht so flott weiter wie vorher.

Die Damen nuttig, die Herren hasenfüßig, der Regisseur zynisch, der Schwule schwul: Natürlich ist das hier reinstes Chargenkino. Doch diese Überzeichnungen wirken nicht wirklich diskriminierend, weil ausnahmslos alle Personen auf der Bühne einen Schuß haben.

Und jetzt müßten noch ein paar wertende Zeilen folgen. Doch die stehen ja schon am Anfang. Das Publikum applaudierte erwartungsgemäß begeistert.

Termine: 9., 19., 25., 27. April, 8., 23. Mai, 1. Juni. www.theaterdo.de




„Republik der Wölfe“ – wie das Schauspiel Dortmund Grimm’sche Märchen massakriert

Angstvoller Blick: Der Jäger (Sebastian Kuschmann) bedrängt Schneewittchen (Eva Verena Müller). Foto: Hupfeld

Angstvoller Blick: Der Jäger (Sebastian Kuschmann) bedrängt Schneewittchen (Eva Verena Müller). Foto: Hupfeld

Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Männer, die sich oder anderen Eingeweide herausreißen, Gliedmaßen verstümmeln. Dazu heulen die Wölfe. Ein Höllentrip ist das. Unterlegt mit teils psychedelischer oder traumverlorener, teils illustrativer, geräuschträchtiger und die Ohren malträtierender Musik. Willkommen im fiesen Brutalo-Kosmos der Grimm’schen Märchen, das Massaker ist angerichtet. Serviert im Schauspielhaus Dortmund.

Seitdem dort Kay Voges das Intendantenruder in die Hand genommen hat, darf sich das Publikum immer wieder auf allerlei Experimentelles, Skurriles, Grelles und Verstörendes einlassen. Da fügt sich die Regisseurin Claudia Bauer, die nun also Hand anlegt an ein deutsches Heiligtum, an die märchenhafte Romantik im Dunstkreis eines Mythos namens Wald, aufs Schönste ein. In dieser Mixtur aus Splatter-Movie, Spießbürger-Ambiente, sanfter Traumerzählung oder geschriener Suada bleibt kein Auge trocken.

Schneewittchen, Dornröschen, Rotkäppchen, Rapunzel – wer kennt sie nicht, die „Heldinnen“ von Jacob und Wilhelm Grimm, die gewiss allerlei Gemeinheiten, Eifersuchtsszenen, Bedrohungen oder Anschläge aufs Leben erleiden und erdulden müssen, die am Ende aber doch ihren Prinzen finden, glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben … „und wenn sie nicht gestorben sind…“. Wer aber weiß die Gedichte zu benennen, die die amerikanische Autorin Anne Sexton unter dem Titel „Transformation“ geschrieben hat, als Adaption eben jener Märchen? Die Wert legt auf die kriminelle Energie der Figuren, auf drastische Schilderung von Verhältnissen und auf das von Pessimismus durchtränkte Fazit, dass Happy Ends gänzlich unangebracht sind?

Jacob und Wilhelm Grimm (Sebastian Kuschmann, Ekkehard Freye) ringen. Foto: Hupfeld

Jacob und Wilhelm Grimm (Sebastian Kuschmann, Ekkehard Freye) ringen. Foto: Hupfeld

Nun, in Dortmund ist’s zu erleben. Vor allem mit Hilfe der Macht der Bilder. Mit überdrehten, überzeichneten Figuren, sich teils gruselig, dann wieder sanft bewegend. So sind Traum und Trauma im romantisch-modernen Textgemenge nah beieinander. Wer aber die Hintergründe nicht kennt – Anne Sextons Psychosen, ihre Versuche, Lyrik als Therapie einzusetzen, letzthin der Selbstmord (nach zwei Suizidversuchen) –, dürfte wohl etwas ratlos das Theater verlassen.

„Hüte Dich“ wird oftmals geraunt. „Mehr Raum“ schreit’s am Beginn von „Hänsel und Gretel“. Ein Blick auf die altbacken eingerichteten, miefigen, hübsch hässlichen Zimmerchen,  die Ausstatter Andreas Auerbach als zweigeschossigen Loft auf die Drehbühne gewuchtet hat, reicht, um verständnisvoll zu nicken. An diesen Orten des Grauens vergeht sich der Froschkönig an der Prinzessin, verblutet das Rumpelstilzchen, müssen sich die Stiefschwestern Aschenputtels die Füße abtrennen lassen.

Rotkäppchen (Julia Schubert) und Wolf (Uwe Schmieder) im Clinch. Foto: Hupfeld

Rotkäppchen (Julia Schubert) und Wolf (Uwe Schmieder) im Clinch. Foto: Hupfeld

„Republik der Wölfe“ ist diese Abfolge von Schändlichkeiten übertitelt. Jaja, der Wolf ist in die Deutschen Wälder zurückgekehrt. Und dass der Mensch in gewisser Hinsicht des Menschen Wolf sei, propagierte schon Thomas Hobbes. Daran scheint Regisseurin Claudia Bauer anzuknüpfen. Wenn auch manche drastische Szene im zirkulierenden Horrorhaus einen Hauch von Geisterbahnatmosphäre ausstrahlt, zeigt doch die dunkle Seite der Romantik wirkmächtig ihr grausiges Gesicht. Wenn aber ausgerechnet der böse Wolf, nachdem er die Großmutter gemeuchelt hat und in ihre Kleider geschlüpft ist, von Rotkäppchen aufs Schärfste verführt wird, dann scheint die Regie einem Augenzwinkern nicht widerstehen zu wollen.

Doch im Grunde sind die Dinge, die hier verhandelt werden, von ernster Art, das Böse lauert immer und überall, es gibt kein Entrinnen. Sinnbildlich dafür steht das Ringen der Grimm-Brüder um den rechten Verlauf jeder Geschichte. Wie siamesische Zwillinge kleben die beiden aneinander. Wilhelm sagt: „Jacob, Du kannst nicht alle Märchen gut ausgehen lassen“ (ganz im Sinne von Anne Sexton). Der Angesprochene aber will sich lösen, der Wald soll ihn das wirkliche Leben lehren.

Am Ende des gut 100-minütigen Spektakels aber ist der Fokus ganz auf die somnambul wirkende Schauspielerin Eva Verena Müller gerichtet. Die anfangs mit großen, ängstlichen Augen uns anblickt, als Schneewittchen in anmutigen Todesschlaf sinkt, als Dornröschen aufwacht, nicht weiß, ob sie in der Wirklichkeit angekommen ist. „Ich würde so gerne etwas erleben“, sagt sie, begleitet von sanften, melancholischen Klängen.

Das macht die Band, die sich passend zum Stück „The Ministry of Wolves“ nennt, ganz vorzüglich. Paul Wallfisch, Alexander Hacke, Danielle de Picciotto und Mick Harvey sind in großer Virtuosität daran beteiligt, aus der Szenenfolge ein Gesamtkunstwerk zu schaffen. Eines, das indes schmerzlich bewusst macht, dass die alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, schon lange vorbei sind.




Der Lehrerausflug – ein kleines Drama in mehreren Akten

Es gibt Tage im Leben einer Lehrkraft, da wünscht sie (die auch ein Er sein kann) sich nichts sehnlicher, als einmal einer ganz normalen Berufsgruppe anzugehören, findet unsere Gastautorin Matta Schimanski:

Ach, wäre ich doch Bäckerin geworden – oder meinetwegen Vermessungsingenieurin. Nein, es sind nicht die Schüler, sondern die Lehrkräfte selbst, die hie und da diesen Wunsch entstehen lassen. Zur Erhellung dieser Behauptung möchte ich unseren letzten Kollegiumsausflug schildern; ich finde, geneigte Leserschaft, da müssen Sie jetzt einfach mal durch. Ich musste es auch.

Erst mal eine Prügelei schlichten

Es war an einem Donnerstagmorgen. Für einen Lehrerausflug gibt es selbstverständlich nicht frei; erst die Arbeit, dann das Vergnügen, wie schon weiland mein Opa selig gerne verkündete. Also begann der Schultag wie üblich.

Ist die U-Bahn schon weg? Kommt noch eine nach? (Foto: Bernd Berke)

Ist die U-Bahn schon weg? Kommt noch eine nach? (Foto: Bernd Berke)

Nach vier Stunden Unterricht und der Auflösung einer mittleren Schülerprügelei begaben sich alle Kollegen, die sich zu dieser mehrstündigen Veranstaltung in der Lage fühlten, also 30 an der Zahl, zum …er Bahnhof, um dort die Regionalbahn nach Köln zu besteigen. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt traf das Orga-Team (bestehend aus einer weiteren Lehrerin und mir) der eine oder andere vorwurfsvolle Blick: „Es ist kalt!“ Nun ja, ich gebe zu, das war ein Schwachpunkt in der Planung.

„Die sind ja lauter als ihre Schüler“

Im zweistöckigen Zug teilten wir uns auf in Untensitzer und Obensitzer. Ich gehörte zu Letzteren, bereute meine Wahl aber bald, denn auch die Kollegen mit den besonders gut trainierten Stimmorganen saßen da. Als wir endlich in Köln ausstiegen, war die Erleichterung in den Gesichtern der Mitreisenden nicht zu übersehen, und ich hörte noch, wie eine Dame hinter mir zu ihrer Nebensitzerin sagte: „Die sind ja lauter als ihre Schüler!“ Peinlich, peinlich! Aber wenigstens hatte noch keiner eine Flasche Bier geöffnet (was sich ändern sollte).

Zuerst war eine Führung durch Kölns römische Unterwelt angesagt, die auch ganz gut ablief; nur vereinzelt gab einer den Besserwisser, und die meisten hörten auch zu. Aber danach ging ’s dann richtig los.

Wir hatten nicht verraten, wo es hingehen sollte, was schon im Vorfeld zu Irritationen und Gemecker bis hin zu Boykott-Ankündigungen geführt hatte, denn meine Mitstreiterin und ich sind ganz offensichtlich nicht vertrauenswürdig (wobei mir schleierhaft ist, was die anderen sich so vorgestellt haben).

Eine Frage der Pünktlichkeit

Nach einer halben Stunde „Freizeit“ war nun also Treffen auf der Domplatte und Weiterfahrt zur Überraschung verabredet. Nur, dass die Kollegen nicht kamen. Jedenfalls nicht alle. Die letzten drei – sonst Verfechter absoluter Pünktlichkeit – kamen 10 Minuten zu spät: Sie hatten noch im Café gesessen, mit ausgezeichnetem Blick auf den Treffpunkt und die sich dort im Nieselregen versammelnde Gruppe, die inzwischen wieder völlig durchfroren war. Die U-Bahn Nr. 18, die wir hätten nehmen müssen, war weg. Na ja, die nächste folgte bald, und wir hatten mit ein bisschen „Luft“ geplant, kamen also nur 7 Minuten zu spät zum gebuchten „Dinner in the Dark“.

„Im Dunkeln essen – das mach‘ ich nicht!“

Als wir unter großem Hallo (Jahahaa – die Überraschung!) das Restaurant betraten, schnauzte mich ein Kollege an: „Im Dunkeln essen – das mach‘ ich nicht! Dann fahre ich lieber wieder nach Hause!“ Sprach’s und verließ das Etablissement. Ich rannte gleich hinter ihm her und versicherte ihm, man müsse nicht unbedingt ins Dunkle gehen, man könne auch im hellen Gastraum bleiben. Dann schnell wieder rein und den Wirt gefragt, ob ich da nicht zu viel versprochen hatte. Hatte ich glücklicherweise nicht, also wieder raus und den Kollegen beschworen, doch wieder reinzukommen, was er dann auch tat. Und es fanden sich drei Damen, denen das Ganze ebenfalls nicht geheuer war und die mit ihm im Hellen blieben. Puh!

Handys aus – oder doch nicht?

Das Essen war ganz OK, und alles war so zubereitet, dass man es ohne Schwierigkeiten (jedenfalls ohne größere) auch ohne zu sehen zu sich nehmen konnte, also – wir haben nur geringfügig herumgesaut. Glauben wir zumindest. Es war tatsächlich stockdunkel, absolut schwarz. Der Kellner („Arthur“), der wohl blind ist, bediente uns souverän. Wer aufs Klo musste oder zu trinken nachbestellen wollte, musste ihn immer rufen, alleine aufstehen war tabu. Hätte man auch gar nicht gewollt, man wäre ja völlig orientierungslos gewesen.

Handys mussten aus sein, auch wegen der Display-Beleuchtung, wie in der Schule – und wie dort hielten sich nicht alle dran. Es ist erstaunlich, dass vor allem die Kollegen, die bei Schülern vehement auf unbedingte Einhaltung der Regeln pochen, das selbst nicht schaffen. Aber das war nur einmal ganz kurz. Ehrlich!

Die Witze, die der Kellner schon kennt

Jedenfalls war Arthur beinahe freundlich, und das Menü – man hatte die Wahl zwischen Rind, Geflügel, Fisch oder vegan – war beinahe heiß. Und nur eine Kollegin hatte ein Problem damit, sich etwas in den Mund zu stecken, das sie nicht sah. Alle anderen hatten Spaß und machten die üblichen Witze, über die Arthur schon lange nicht mehr lachen kann.

Als wir nach dem Essen auf die Straße kamen, regnete es richtig. Egal – die Bahn war ja nicht weit weg. Nur: Sie kam nicht. Wir standen im Regen, es wehte ein wilder Wind, man fror. Die Bahn kam immer noch nicht. Einer huschte schnell über die Straße zur Bude an der Ecke und holte ein paar Flaschen Bier – Fortsetzung des im Restaurant begonnenen Gelages.

„Wo gehen wir hin?“ – „Weiß nicht“

Auf einer Anzeigentafel erschien die Nachricht, dass die Strecke durch ein Auto auf den Gleisen blockiert sei und man auf Ersatzbahn oder -bus umsteigen solle. Man konnte in der Ferne auch das Blaulicht sehen. Also zogen wir durch den Regen über die große Kreuzung zum Bus, ach nee, lieber zu der anderen Bahn, ach nee – ja, wo sind die denn jetzt? Die einen waren hierhin, die anderen dorthin geeilt. „Wo gehen wir denn hin?“ „Weiß nicht.“ „Wer kennt sich denn aus?“ „Weiß nicht.“ „Wer hat denn gesagt …?“ „Weiß nicht.“ „Schluss – wir steigen jetzt hier in diese Ersatzbahn, hol‘ mal die anderen, die sind da an der Bushaltestelle.“ „OK.“

Schließlich saßen alle in der Ersatzbahn, allein sie fuhr nicht. Nach 10 Minuten hieß es: „Die 18 fährt wieder, steht auf der Tafel.“ Gut, alle wieder raus, rüber zur 18, die tatsächlich fuhr – uns vor der Nase weg! Wir waren nass, wir froren. „Na, dann nehmen wir eben die nächste.“ Aber sie kam nicht. Erneut blinkte in der Ferne ein Blaulicht. Nun wollten sich vier ausklinken, ein Taxi nehmen und auf eigene Faust zurückfahren; der Nicht-im-Dunkeln-essen-Woller war natürlich darunter. Da sie keine fünfte Person für ihr Gruppenticket fanden, blieben sie doch bei uns, mehr als missmutig.

Nur noch hysterisches Gelächter

„So, jetzt gehen wir zum Bus!“ Gesagt, getan, nur dass der Bus gerade abfuhr, als wir über die Kreuzung trabten. „Dann nehmen wir jetzt doch die Ersatzbahn, die steht ja noch da!“ Neues Bier an neuer Bude beschafft, dann zurückgeeilt, Leib und Leben beim Überqueren der belebten Straße riskiert, nur um die Ersatzbahn gerade abfahren zu sehen. Wir waren nass, wir froren, wir wollten ZURÜCK ZUM HAUPTBAHNHOF! Unser einziger Trost war, dass die SchönerTagTickets (!) bis 3 Uhr morgens des Folgetages gelten … Inzwischen hatten wir das Stadium erreicht, in dem man nur noch hysterisch über alles lacht. Wir müssen einen etwas befremdlichen Eindruck gemacht haben.

Irgendwo – irgendwie – irgendwann

Zu guter Letzt sind wir einfach in irgendeine Bahn gestiegen in der Hoffnung, sie werde schon irgendwohin fahren, und irgendwie würden wir irgendwann den Hauptbahnhof erreichen. Und so war es dann auch. Die freundliche Fahrerin erklärte uns, wo wir umsteigen mussten (und neues Bier holen konnten), und kaum waren wir losgefahren, kippte eine der Kolleginnen um. Super! War ja bis dahin ziemlich langweilig gewesen.

P.S.: Natürlich kamen wir am Ende mehr oder weniger wohlbehalten zurück nach …, zwei Stunden später als geplant, aber ohne größere Blessuren, und der wackeligen Kollegin ging ’s auch wieder besser.

Etliche waren ja sehr zufrieden mit der Veranstaltung, aber andere wieder nicht; einige hatten schon vorher an allem rumgemeckert. Wir fahren zu früh, wir fahren zu spät, wir fahren zu lang, wir fahren zu teuer, wir fahren ins Unbekannte (wie bedrohlich!) – ein bunter Strauß an qualifizierten Kritikäußerungen, ein Feuerwerk der guten Laune! Der nächste Lehrerausflug, das schwöre ich, wird von anderen organisiert!




Familienfreuden XIV: Eine Lektion Babyschwimmen

Es gibt solche Eltern. Und es gibt solche Kinder. Oder: Wir waren beim Babyschwimmen. Eine Lektion in Demut, Erziehung und dem ganz normalen Wahnsinn.

Ich bin sicher, es gibt sie. Kinder, die nie nölen, schreien oder laut protestierend ihren Willen durchsetzen wollen. Die nie im unpassenden Moment in die Windel machen, für den nächsten Keks fast den Kinderwagen zum Umfallen bringen oder an der Supermarktkasse eine Revolte anfangen, gegen die die Französische Revolution ein Fliegenpups ist. Die allerdings schon mit sieben Monaten das Laufen begonnen haben, mit acht Monaten das Sprechen und ab anderthalb den ersten Kurs an der Uni besuchen. Und es gibt sicher auch die Eltern, die nie die Nerven verlieren, die immer genau wissen, was gerade mit ihrem Kind los ist und die nie auch nur ein gekauftes Gläschen an ihren Nachwuchs verfüttert haben.

Tropische Gefühle beim munteren Babyschwimmen. (Bild: Albach)

Tropische Gefühle beim munteren Babyschwimmen. (Bild: Albach)

Ich gestehe: Wir gehören nicht dazu.

Der Auslöser für diese Zeilen? Wir waren beim Babyschwimmen.

„Was ein Stress“

Normen watete mit Fi ins Wasser, ich stand am Beckenrand. Als ein Vater einen anderen mit leidendem Gesichtsausdruck und den Worten „Oh, was ein Stress! Wir müssen gleich noch zu Babyone!“ begrüßte, versuchte ich, das nicht als böses Omen zu werten.

Und tatsächlich: Fi lachte, planschte, paddelte – das Glück hatte ein Gesicht.

Nur ich hätte es beinahe nicht gesehen, weil mir schwarz vor Augen wurde. Die Schwimmhalle war auf gefühlte 50 Grad aufgeheizt. Die anderen Väter und Mütter am Beckenrand standen in luftigen Sportklamotten da – ich in meiner Winterkleidung drohte gleich, ins Wasser zu kippen.

Als ich einer Mutter sagte, dass mir die Hitze zu schaffen machte und die anderen Eltern ja schlauerweise dünner angezogen seien, schaute sie mich von oben bis unten an und sagte: „Mit gutem Grund!“

Ich schluckte es runter wie Fi das Chlorwasser.

Wickeln im Stehen

Hinterher in der Kabine, neben mir eine Mutter, die ihr Kind anzog, die Oma daneben. Ein eingespieltes Team, das sah man sofort. Fiona hingegen verstand unter Einspielen etwas anderes, als sich ruhig hinzulegen und anziehen zu lassen. Sie blieb zeternd stehen. Wickeln im Stehen gehört mittlerweile zu meinem Standardrepertoire – in normalen Situationen. Eine winzige Umkleide bei tropischer Hitze sprengt allerdings den normalen Rahmen. Wir arbeiteten uns millimeterweise vorwärts, ich beruhigend auf Fi einredend, sie zappelnd.

Blick von links. Missbilligend. Vielsagendes Räuspern. „Schau mal, Arabella“, sagte die Mutter neben mir honigsüß zu ihrer Babytochter, „DA wird noch diskutiert. DIE Phase haben wir ja schon hinter uns. DU wirst einfach hingelegt – und gut ist!“

Kennt Ihr die Folge des Tatortreinigers, bei der er von einem Nazi verbal belagert wird und in Tagträumen überlegt, wie er gern reagieren würde? Ich will keine Details nennen, aber mein Tagtraum hatte mit Fi’s voller Windel zu tun…

Glück zählt

Was soll ich sagen? Wir werden trotzdem wieder hingehen. Fi schließlich hat es glücklich gemacht – das zählt.

Das nächste Mal aber werde ich daran denken, was Normen beim Umziehen in der Männerkabine mitangehört hat. Dass nämlich der eine Vater den anderen fragte, ob er demnächst mal wieder joggen werde. Und der nur resigniert sagte, er habe nun Familie, Job, Haus. Da sei sowas wirklich nicht mehr drin.




„Die Anstalt“: Harte Arbeit an der ZDF-Satire

Es sieht ganz so aus, als wollten sie nicht mehr in erster Linie komisch sein, sondern vor allem (ge)wichtig und relevant. Sie attackieren frontal die Deutsche Bank, sie zeigen gar deutliche Sympathien für Positionen der Linkspartei, als wollten sie die leitenden Herrschaften beim ZDF mal so richtig ärgern. Doch sie spielen auch schon die Illusion mit, die sich darin verbirgt.

Sie, das sind Max Uthoff und Claus von Wagner, die jetzt von Urban Priol und Frank-Markus Barwasser (Pelzig) die Satiresendung des ZDF übernommen haben. Die heißt nicht mehr „Neues aus der Anstalt“, sondern schlichtweg „Die Anstalt“ und hatte heute ihre Premiere.

Neue Chefs in der "Anstalt": Max Uthoff (li.) und Claus von Wagner (© ZDF/Jürgen Nobel)

Neue Chefs in der „Anstalt“: Max Uthoff (li.) und Claus von Wagner (© ZDF/Jürgen Nobel)

Was der Sendung leider fehlt, ist eine wirklich prominente und zugkräftige Leitfigur. Ersichtlich fahrig und hektisch strampelt man sich ab, um den mangelnden Bekanntheitsgrad wettzumachen. Man kokettiert mit der eigenen, mutmaßlich durchschlagenden Wirkungslosigkeit, erklärt die Sendung aber vollmundig für „besetzt“ und träumt nicht nur insgeheim davon, dass das ZDF einem „den Saft abdreht“. Doch dazu besteht vorerst denn doch wenig Anlass.

Gewiss. Man arbeitet sich nicht mehr so sehr parodierend an einzelnen Figuren des Politikbetriebs ab, wie es Urban Priol kräftezehrend vollführt hat. Doch so mancher personalisierende Kalauer (Gauck als „moralische Knautschzone“ usw.) rutscht auch jetzt noch durch. Sei’s drum.

Gewiss. Eine Wut über so manche Verhältnisse (Fernsehprogramm-Elend, Schwulen-Diskriminierung, irrwitzige Banken-Macht, unbarmherziger Umgang mit Flüchtlingen) ist spürbar. Doch das wirkt zum Auftakt noch etwas wahllos gestreut, ja mitunter geradezu diffus – und gelegentlich auch flau und undifferenziert.

Gewiss. Da gibt es den einen oder anderen erhellenden, aufklärerischen Moment. Doch vieles kommt noch herzlich unkomisch und somit flügellahm daher. Der depressive Gestus von Nico Semsrott und der dampfende Zorn von Matthias Egersdörfer setzen immerhin gegenläufige Akzente mit etwas Kontur. Simone Solga steht freilich ein wenig hilflos dazwischen.

Aus der Sendung kann jedoch noch etwas werden, wenn man nach und nach die richtigen Mitstreiter an Land zieht und einen wirklich eigenen Stil entwickelt. Wahrlich keine leichte Aufgabe, diese Kärrnerarbeit an der ZDF-Satire…




Aufrüttelnde TV-Doku: Organhandel zwischen Kriminalität und Lebensrettung

Manila, Philippinen. Ein Mann in den Slums ist bereit, sich für 2500 Dollar eine seiner beiden Nieren entfernen zu lassen, um sie für eine Transplantation zu spenden.

Für das Geld müsste er zwei Jahre lang als Hilfsarbeiter schuften. Kann man bei all dem von „Freiwilligkeit“ reden? Haben diese Menschen wirklich eine Wahl? Oder erleiden sie die schamlose Ausbeutung einer Zwangslage, an der skrupellose Händler und Ärzte noch viel mehr verdienen?

Keine einfachen Antworten

Ric Esther Bienstocks kanadische Doku über den „Schwarzmarkt Organhandel“ (arte) gab sich mit einfachen Antworten nicht zufrieden. Auf allen Seiten wurde gewissenhaft recherchiert, so gut es eben ging. Die geduldige Langzeitbeobachtung ließ manch eine Schattierung des Themas erkennen und ließ Fragen offen: Ist es nicht allemal besser, Leben zu retten; koste es, was es wolle? Zumal, wenn man erfährt, unter welchen Bedingungen schwerkranke Dialyse-Patienten auf ein Spenderorgan warten. Die Wartelisten sind deprimierend lang…

Bereit, eine Niere zu verkaufen: Familienvater "Eddieboy" aus Manila. (© arte/Associated Producers Ltd.)

Bereit, eine Niere zu verkaufen: Familienvater „Eddieboy“ aus Manila. (© arte/Associated Producers Ltd.)

Der aufwendige, aber wohltuend unspektakuläre Film begab sich auf globale Spurensuche, u. a. zwischen Toronto, Denver, Tel Aviv, Istanbul, Pristina (Kosovo), Moldawien und den Philippinen. Dort zeigten reihenweise Männer ihre Operationswunden und erzählten freimütig, was sie mit dem Geld für die Nierenspende angefangen haben: Familie ernährt, kleines Haus gebaut, Ausbildung der Kinder bezahlt oder auch Saufschulden beglichen. Eine Frage des Überlebens. Eine Frage der Würde. Kleines Glück, Schande und Angst liegen bestürzend nah beieinander. Und was geschieht, wenn das Geld aufgebraucht ist? Werden dann etwa andere Organe angeboten?

Irrsinnige Tarife

Irrsinnig die Tarife des illegalen Organhandels: In Indien erhält ein Spender umgerechnet gerade mal rund 1000 Dollar für eine Niere, in Ägypten etwa 2000, in der Türkei 10000. Ein US-amerikanischer Empfänger muss derweil eine Hypothek aufnehmen und über 100.000 Dollar für Spende und OP bezahlen.

Wer verdient an dieser immensen Spanne? Schemenhaft ließ die Reportage ein Netz der Zwischenhändler, Organisatoren und Chirurgen ahnen, die ihr lukratives Tun zu verschleiern und zu beschönigen suchen. Dennoch wurden die Letzteren nicht schlichtweg als Abkömmlinge des „Dr. Frankenstein“ verteufelt, wie vorher so oft und wohlfeil in manchen Medien geschehen.

Alles legalisieren?

Der gut situierte Arzt Yusuf Sonmez in Istanbul, nach gut 850 mutmaßlich illegalen Operationen mit internationalem Haftbefehl gesucht, kann es sich offenbar leisten, sich lachend in den bestens gepolsterten Ruhestand zurückzuziehen. Man möchte am liebsten dreinschlagen, wenn man sein selbstgefälliges Grinsen sieht. Und dennoch: Hat er nicht das Leben von Menschen gerettet, die sonst gestorben wären? „Ich bin mit mir im Reinen“, behauptet er. Die Türkei sollte er allerdings nicht mehr verlassen, sonst droht ihm Gefängnis.

Man könnte solchen Leuten das Handwerk legen: Es erhob sich die durchaus ernsthafte Frage, ob sich Organhandel nicht legalisieren, also staatlich regeln und somit beleben ließe. Bis es so weit ist, muss allerdings noch manche medizinische Ethik-Kommission beraten, von politischen Entscheidungen ganz zu schweigen. Die Dringlichkeit führte ein Schriftband am Schluss vor Augen: „Während Sie diesen Film gesehen haben, sind 118 Menschen an Nierenversagen gestorben.“




Der Wahnsinn mit dem Fleisch

In den Grundzügen weiß man es ja – und muss doch wohl immer mal wieder daran erinnert werden: Der Beitrag „Schweine für den Müllcontainer“ (3Sat, übernommen vom SWR) führte noch einmal das eklige Elend der heute weithin gängigen Fleischproduktion vor.

Da sah man abermals schockierende Bilder aus der Massentierhaltung; kranke und verletzte Schweine, die unter unerträglichen, widernatürlichen, alles andere als artgerechten Bedingungen in gigantischen Ställen vegetieren. Was ist das nur für ein System, das seine Profite aus solch rücksichtslosem Umgang mit der Kreatur zieht und überdies die Umwelt belastet?

Subventionen für Massenhaltung

Doch nicht nur mit Tierschutz und Ökologie liegt es im Argen. Ein weiterer Strang der aufrüttelnden Reportage zeichnete zudem den ökonomischen Irrsinn nach. Nahezu uferlos fließen Subventionen der EU, von Bund und Ländern zugunsten der Massenhaltung.

Vergleichsweise "glückliches Ferkel" vom Ökohof. Die Wirklichkeit der Mastbetriebe sieht in der Regel ganz anders aus. (© ZDF/SWR/3Sat)

Vergleichsweise „glückliches Ferkel“ vom Ökohof. Die Wirklichkeit der Mastbetriebe sieht in der Regel ganz anders aus. (© ZDF/SWR/3Sat)

Schiere Größe der Mastbetriebe wird ebenso belohnt wie „Marktmaßnahmen“ im großen Stil, sprich: Kühlhaus-Lagerung als künstliche Verknappung, bis die Preise wieder ansteigen. Bezahlt wird das alles von offenbar reichlich vorhandenem Steuergeld…

Was einem keiner erklären kann

Besonders bizarr: In Holland kassieren Großbauern, wenn sie ihre Ställe abreißen. Anschließend ziehen sie in Deutschland neue Riesenställe hoch – ebenfalls mit Subventionen. Das kann einem keiner schlüssig erklären, weder in Brüssel noch in Berlin.

Vielleicht ein wenig zu sehr bewegte sich Reporter Edgar Verheyen quasi am Leitseil von Mitarbeitern des BUND. Doch die Leute vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland sind ja im Prinzip keine schlechten Wegweiser, wenn man ergänzend eigene Recherchen heranzieht.

Überproduktion für den Müll

Und der Titel mit den Müllcontainern? Der Umstand, dass wir in Deutschland inzwischen mit 58 Millionen Mastschweinen pro Jahr eine satte Überproduktion haben und auch daher beinahe ein Drittel des Fleischs (aus Supermärkten, Kantinen, Privathaushalten) im Müll landet, verschlägt einem den Atem. Da läuft etwas rundum und grundsätzlich falsch. Und man kann nicht erkennen, dass die Politik entschieden gegensteuern würde.

Als glaubhafter Kronzeuge gegen die fatale Billigkauf- und Wegwerf-Mentalität wurde ein früherer Fleisch-Magnat aufgerufen: Karl Ludwig Schweisfurth, einst Herr über die Herta-Wurstfabriken mit 5000 Mitarbeitern, ist jetzt Öko-Landwirt, bei dem 150 Schweine mit anderem Getier in fast schon paradiesischer Weise freien Auslauf genießen. Fragen seiner Kinder hätten ihn zur Umkehr bewogen, sagt der heute 83jährige. Doch kann die Idylle seines oberbayerischen Hofes ein Modell für die ganze Gesellschaft sein?




Genie der Selbstzerstörung: Aus dem wilden Leben des Drummers Ginger Baker

Er ist wahrscheinlich der vielseitigste und einflussreichste Drummer der Rock-Musik.

Seine Lehrer waren Jazz-Größen wie Max Roach und Art Blakey, seine Mentoren Alexis Korner und Graham Bond. Seine musikalischen Meisterstücke hat er mit Supergruppen wie Cream und Blind Faith abgeliefert. Er hat in unzähligen Bands gespielt und mal in England oder Italien, mal in den USA, Nigeria und Südafrika gelebt. Oft ist er schon wegen seiner Drogensucht und Tabletten-Abhängigkeit für tot erklärt worden. Doch auch wenn es stiller um diesen kauzigen Weltenbummler und neugierigen Multikulti-Musiker geworden ist: Ginger Baker lebt.

Er ist noch immer angriffslustig und schlagkräftig wie eh und je. In einem Interview hat er jüngst behauptet, die Rolling Stones seien völlig unmusikalisch. Und als ihm die Fragen von Jay Bulger auf die Nerven gingen, hat er dem Regisseur kurzerhand mit seinem Gehstock verprügelt und die Nase gebrochen. „Beware of Mr. Baker“ heißt der dokumentarische Film, der jetzt in die Kinos kommt und Schlaglichter auf das abenteuerliche und ereignisreiche Leben von Ginger Baker wirft.

Exzentrisch: Schlagzeuger Ginger Baker im Januar 1970. (© NFP)

Exzentrisch: Schlagzeuger Ginger Baker im Januar 1970. (© NFP)

Jay Bulger hat den von unzähligen Abstürzen und Entziehungskuren schwer gezeichneten Musiker auf dessen Farm in Südafrika besucht und mit Fragen gelöchert. Während der zittrige Ginger Baker eher unwillig Einblicke in sein Leben gewährt und immer wieder ätzende Kritik an den meisten seiner Kollegen und Weggefährten übt, werden Fotos und Filmstücke eingespielt, Kommentare seiner Ex-Gattinnen und Kinder, Konzertmitschnitte, Reisedokumente, Hasstiraden und Liebeserklärungen von Kollegen.

Ginger Baker hat mit allen gespielt, mit seinem furiosen und variablen Spiel alle fasziniert und mit seinen Launen und Gewaltausbrüchen alle schier in den Wahnsinn getrieben: Ob Eric Clapton oder Jack Bruce, Steve Winwood, Carlos Santana oder Charlie Watts, sie alle verneigen sich vor dem Ausnahme-Drummer. Aber alle auch meiden diesen Derwisch des Schlagzeugs. Die (einmalige) Wiedervereinigung von Cream war denn auch beileibe keine Herzensangelegenheit von Eric Clapton und Jack Bruce: Es ging ganz schnöde ums liebe Geld. Ginger Baker, der stets über seine Verhältnisse lebt und ein Pferdegestüt sein eigen nennt, war wieder einmal pleite und benötigte dringend eine Finanzspritze.

Der zur Selbstzerstörung neigende Ginger Baker und der zur Selbstverleugnung fähige Regisseur Jay Bulger sind ein ideales Gespann. Während der eine meckert, stellt der andere hinterhältige Fragen. Beide ringen bis zum Nasenbruch miteinander. Das Resultat ist eine hoch spannende, musikalisch und filmisch gelungene Biografie.

(Ab 19. Dezember 2013 im Kino)

Trailer zum Film: http://www.youtube.com/watch?v=RkIiAkx4LtQ




Tränen am liebsten in Superzeitlupe: Die verfälschten Emotionen bei RTL

Der grobe Unfug beginnt schon beim Titel der von Sonja Zietlow präsentierten Show: „Die 25 emotionalsten TV-Momente des Jahres“. In Wahrheit kann man das natürlich gar nicht so steigern: emotional, emotionaler, am emotionalsten. Doch bei RTL geht das.

Die marktschreierische Rückblickssendung, in der praktisch unentwegt „Sensation, Sensation!“ gerufen wurde, erwies sich als hemmungsloses Ausschlachten von Gefühlen. Ob Trauer oder Jubel, Scham oder Schadenfreude – hier wurde nahezu alles über einen Leisten geschlagen.

Sonja Zietlow präsentierte "Die 25 emotionalsten TV-Momente des Jahres". (© RTL/Stephan Pick)

Sonja Zietlow präsentierte „Die 25 emotionalsten TV-Momente des Jahres“. (© RTL/Stephan Pick)

Auch Sonja Zietlow zeigte sich der Materie nicht annähernd gewachsen. Sie moderierte den im Grunde zutiefst gefühllosen Hitparaden-Countdown („Platz 25 bis Platz 1“) allenfalls an der äußersten Oberfläche.

Schwachsinnige Vergleiche

Ob nun der angebliche „Pop-Titan“ Dieter Bohlen schluchzend seinen Entdecker Rainer Felsen wiedersah, ob Boris Becker sich jene peinliche Schlammschlacht mit Oliver Pocher lieferte oder krebskranke Menschen sich einen letzten Wunsch erfüllen konnten – das sollte auch nur annähernd gleichwertig sein? Schwachsinn! Dass im pakistanischen Fernsehen ein lebendiges Baby zu gewinnen war, soll auch nur irgendwie vergleichbar sein mit Waldi Hartmanns läppischem Fehler in Jauchs Millionärs-Quiz? Blödsinn!

Die durch lange Werbeunterbrechungen und dämliches Gewinnspiel gestreckten Beiträge waren indes alle nach gleichem Muster zusammengestoppelt. Stets mussten RTL-bekannte Sternchen, Juroren und Moderatoren die vorgeführten Emotionen verstärken und „erklären“, als könnten die Zuschauer selbst nicht bis drei zählen.

Was war denn nun wirklich echt?

Ansonsten wurde jede Träne vielfach und am liebsten in wiederholter Superzeitlupe gezeigt, damit man sich an jeder entgleisenden Mimik weiden konnte. Die bloße Wirklichkeit (sofern es denn eine ist) genügt in solchen Sendungen einfach nicht mehr, sie muss immer ins schier Unglaubliche gesteigert werden.

Ohne das US-Fernsehen hätte man sowieso einpacken können. Die meisten Stories stammten von dort. Was da wirklich echt war, sei einmal dahingestellt, es ist halt auf dem weltweiten Fernseh-Markt zu haben. Viele Szenen kamen einem jedenfalls gestellt vor. Mal ehrlich: Haben Sie beispielsweise ohne weiteres geglaubt, dass der niedliche Hund tatsächlich genau in dem Moment vor laufender Kamera lebend in den Tornado-Trümmern auftauchte? Oder war da etwa Regie im Spiel?

So weit haben sie’s gebracht

Ein solches Misstrauen haben besonders einige Privatsender seit Jahren mit zynisch präparierten und dilettantisch gespielten, also verlogenen „Emotionen“ selbst gesät. So weit haben sie’s gebracht. Und so entwerten sie – wie überaus traurig – auch noch die bewegendsten Momente.