Das wandernde Tagebuch

Wie man dazu kam, wer weiß das schon?

Im Nachhinein kann man viel behaupten,

tut es dann vielleicht auch,

weil es mit der Erinnerung nicht soweit her ist.

Kurze Erinnerung.

Kleine Festplatte, auch genannt Hirn.

Aber immer behaupten, man wüsste es.

Ach, Frau Koch-Mehrin, damals bei Plasberg.

Und was kam noch alles danach,

vom Davor ganz zu schweigen.

Koch-Mehrin, was für ein Name !

Plötzlich tauchte die auf.

Blond und langbeinig, kein Mutter-Typ wie U.v.d.L. –

hier gemeint der Mutter-Typ des neuen Jahrtausends,

also nicht: Mütter aller Länder vereingt euch! –

das ist längst Vergangenheit.

 

In der Vergangenheit sitzt auch Camus und ruht.

Der gute Albert.

Oh Tipasa.

„Hochzeit des Lichts“

Und dabei ist es so finster…

Eine erschreckende Dunkelheit herrscht in deutschen Talkshow-Studios.

Und nicht nur dort.

Die UNTHINK-TANKS und ihre Truppen, haben ganze Arbeit geleistet.

So wie Mütter andere geworden sind,

so hat sich auch die Kriegsführung verändert.

Nur Guido Knopp will es nicht wahrhaben. Der tapfere Guido.

Der scheint jeden Morgen in der Sowjetunion aufzuwachen.

Und was macht eigentlich Guido II ?

Darf der noch?

Nach all dieser politischen Dekadenz.

Es war schon schwer das Maß zu überschreiten,

aber Guido hat es geschafft.

Und andere auch, aber nicht so wie Guido.

Zauberlehrlinge, die sich als Zauberer ausgeben.

Blond und langweilig, wollte in den Forschungsausschuss der Europäischen Union.

Da wachte manche Schnarchnase auf, spät, aber immerhin.

Man konnte ja mal was sagen, es half zwar nicht unbedingt,

aber man war für ein paar Minuten wenigstens mal wach.

Selbst der eine oder andere deutsche Literat hegte kurz

den Gedanken, die Seichtgebiete zu verlassen,

verwarf ihn dann aber wieder,

als er auf seinen Gehaltsstreifen schaute.

Dafür reicht es und dafür reicht es nicht.

Das ist ein gängiger Abwägungsprozess,

ob im Sport, in der Literatur, in der Politik, im Journalismus –

ja selbst in der Küche spielen sich solche Prozesse ab.

Es ist frühmorgens und man wägt ab,

ob der Kaffee noch reicht…

Man denkt an Camus und Algerien.

Ach, Algerien. Da sind die Tassen kleiner.

Wenn man also das algerische Maß zugrunde legen würde,

dann reichte auch der Kaffee.

Demzufolge ging es auch um Maßeinheiten, aber nicht vor allem.

 

„Das Maß ist voll!“ – dieser Satz und seine Bedingungen,

sind andere geworden.

Auch wenn Guido Knopp jeden Morgen in der Sowjetunion aufwacht,

heißt das nicht, dass Griechenland, Portugal und Spanien nicht

existieren Und wenn Frau Koch-Mehrin ihre Rechentheorien

so hart, aber nicht fair – in die Kameras verteidigt und vereidigt,

heißt es eben noch längst nicht,

dass das so ist.

Aber es wird durchgewunken.

Lange Zeit wird es durchgewunken.

Gleis frei für den ICE Guido, Gleis frei für den

Europa-Express Blondi.

Die Bediensteten des deutschen Journalismus stehen am Bahnsteig und staunen.

Manchmal sind sie auch ratlos.

Aber dann rauscht wieder so ein ICE an ihnen vorbei

und er ist schon weg, bevor sie ihr Laptop ausgepackt haben.




Wahnwitzige Wundertüte

„Vision“ selbst hatte es schon als ziemlich irrsinnige Mischung angekündigt. Und tatsächlich bot der Club Sabotage im FZW diesmal eine wahnwitzige Wundertüte, in der zwei englische Bands aufeinander trafen, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Die Gallows und Razorlight.

Um das Ganze noch ein bisschen bunter zu machen, bereiteten die vier Kalifornier der Rival Sons mit ihrem klassischen Rock und der Verbeugung vor Led Zeppelin den Boden für das ungleiche musikalische Duell der englischen Combos. Die Trennlinie brachte Gallows-Sänger Frank Carter böse vor den Fans auf den Punkt: „Razorlight ist was für Eure Mami – das hier ist was für Euch!“

Tatsächlich konnte man sich kaum vorstellen, dass das Publikum der Hardcore-Punk Band nach deren Auftritt im Club wirklich rüber in die Halle zu Razorlight wechseln würde, so weit entfernt schienen die beiden Welten.

Bei dem auf Kampf gebürsteten Auftritt der Gallows mit wütender englischer Arbeiterklasse-Attitüde flogen die Plastik-Bierbecher mit den Fans um die Wette, die schon bei den ersten brachialen Klängen einen harten Mosh-Kern formiert hatten. In dem schien auch Sänger Frank Carter ordentlich mitzumischen – denn auf der Bühne tauchte der Rotschopf erst nach den ersten Liedern auf. Von dort aber setzte er zu einem brachialen Dirigat der Masse an: Ausgerechnet mit dem Aufdruck „Pure Love“ auf seinem T-Shirt, riss er die tatöwierten Arme auseinander wie ein wütender Messias, um mit einer gewissen Portion Irrsinn in den Augen seine Zeilen über Gewalt, die Aussichtslosigkeit des Lebens und den Untergang seiner Heimat herauszuschreien. Seiner Aufforderung „Die Bühne gehört euch ebenso wie uns“ folgten die Fans unmittelbar, stürzten sich hoch zu den Musikern und tauchten wieder unter zwischen den erhobenen Fäusten der Feiernden. Die Bandmitglieder revanchierten sich mit Tempoläufen durch die Massen, die keine Rücksicht darauf nahmen, ob irgendein Fan schnell genug zur Seite springen konnte.

Auf die Idee wäre Johnny Borell, selbstbewusster Frontmann von Razorlight, wohl keinesfalls gekommen. Deren Musik wirkte, als solle der eben aufgeputschte Puls wieder einige Runden ruhiger werden. Und während die Gallows jugendliche Verzweiflung und Aggression rausbrüllten, wartete in der Halle die beruhigende Antwort: Alles wird gut! So unbeschwert und lockerleicht zeigte sich die Combo in ihren Melodien, dass der Sommer in der FZW-Halle angekommen schien. Melodien, bei denen der Körper nahezu automatisch zum Mitwippen und –schwingen gebracht wird, getragen von der schönen, klaren Stimme von Burrell. Razorlight zeigte sich von seiner tanzbaren Seite mit durchaus poppigem Retro-Rock. Gefällig, aber vielleicht auch etwas zu wenig herausfordernd.

Dass die Jungs durchaus auch experimentierfreudig und weniger glatt sein können, ließen sie zwischendurch aufblitzen: Da durften die Gitarren jaulen, der Bass schräg wummern, zeigten die Musiker dass sie auch performen und nicht nur glatt und ohrwurmfreundlich sein können. Neben dem lockigen Sänger fiel dabei vor allem der neue Bassist Freddie Stitz (für Carl Dalemo) auf – mit schrägem Aussie-Cowboyhut und geflochtenen Zöpfen – , der ebenso wie Gus Robertson (für Bjorn Agren) an der Gitarre zum neuen Line-Up gehört.  Bleibt die Hoffnung, dass Razorlight auf dem neuen Album mehr davon auspackt – ein paar neue Songs lieferten einen Vorgeschmack auf die Scheibe, für die sich die Band nach dem dritten Album 2008 viel Zeit gelassen hat.

Ihre größten Hits jedenfalls packte Razorlight fast schon verschämt an den Schluss: „America“ und „Wire to Wire“ wirkten eher wie Pflichtübungen für Johnny Borell.

(Artikel aus der Westfälischen Rundschau / http:www.derwesten.de)




Soziale Miniaturen (8): Geschlossene Abteilung

Sie haben J. in die „Geschlossene“ eingewiesen, denn er ist mehrmals aus dem Altenheim geflüchtet. Die Polizei musste ihn jeweils einfangen. Wie schnell dann solch eine Einweisung geht.

Er gehört hier ganz offenkundig nicht hin. Ringsherum die schweren „Fälle“, stundenlang in endlos wiederholten Bewegungen kreisend. Ob ihnen noch zu helfen wäre? Das übersteigt nicht nur den Laienverstand.

Mit J. ist man schlichtweg „nicht fertig geworden“, wie es schon bei widerspenstigen Kindern heißt. Er beharrt auf seinen Rechten. Er will hier raus. Er schreibt Briefe an Behörden, „Eingaben“, mit sorgfältig ausgeschnittenen Pressezitaten gespickt. Er droht, dem „Focus“ das brisante Material zuzuspielen. Manchmal redet er krauses Zeug, das sich nicht erschließt, doch dann ist er wieder ganz und gar zugänglich und zugewandt. Ein Irrer ist er nicht, schon gar nicht gemeingefährlich.

Als der leitende Arzt über den Flur stolziert, macht J. seine Scherze über diesen „Cowboy“. Ja, so nenne man den. Und tatsächlich scheint es, als könnte der jederzeit den Colt ziehen und gegen die Verrückten richten. Der lässt sich nicht reinreden. Von niemandem. Der regiert seine eigene Welt, ein geschlossenes System. Er ist der mächtigste Insasse.




Morgen-Notiz aus der Provinz

Nein, ich zweifel nicht daran,

dass heute Freitag ist.

Man sagt, es ist Freitag und wer reibt sich heute

nicht alles die Hände…

Manchmal werden sie auch gefaltet.

Oh, gesegneter Freitag !

Oh, heiliges Wochenende!

Ach, ändert sich denn wirklich etwas?

Wer ändert sich denn schon?

Immer wird verlangt, die anderen sollten sich ändern.

Von sich selbst nimmt man in dieser Sache lieber Abstand.

Da betreibt man gerne Denkmalpflege…

Mit den letzten Ruinen gehen sie hausieren…

und merken es nicht einmal…

Verschanzt hinter ihrem eigenen Gedankengut,

welches alles andere als gut ist.

Es sind Brocken und mit diesen Brocken –

brocken sie einem was ein,

wenn man sie lässt…

Manchmal sollte man besser Abstand halten,

sonst werfen sie einem einfach die Brocken,

nicht einmal vor, sondern auf die Füße.

Sie meinen, das ginge völlig in Ordnung.

Warum das so ist, man kann es sich fragen

oder es auch lassen….

Aber das ist leichter gesagt als getan.

Sie rennen einem ja hinterher oder kreuzen den Weg,

der fortan dornenreich wird.

Ach, hätte man sie doch nie getroffen, denkt man manchmal.

Aber hatten sie sich nicht aufgedrängt?

Oh, diese alltäglichen Verführer des Alltags

mit ihren freundlichen Gesten und Attitüden.

Nein, was sind sie freundlich.

Sie sind so freundlich wie eine Puderdose.

Bloß nicht reinblasen…

 




Lass die Sau raus und nie wieder rein!

Frühstück mit Wolf Foto: Birgit Hupfeld

Foto: Birgit Hupfeld

Frühstück mit Wolf – das klingt erst einmal nach einer gefährlichen Mahlzeit. Aber wenn das Dortmunder Kinder- und Jugendtheater, Regisseur Hartmut El Kurdi und Autorin Gertrud Pigor im Boot sind, wird so eine  brisante Angelegenheit schnell zur Köstlichkeit: Da hat der Wolf den Blues, die Schweinchen haben echtes Country-Gefühl im Ringelschwänzchen – und die Besucher einen Heidenspaß.

Wald, Blumen, schöne Klänge, ein idyllisches Fleckchen Natur. Und genau der richtige Ort für Borste (Bianka Lammert), Fässchen (Johanna Weißert) und Schmalz (Sebastian Ennen), um ihren Traum vom Eigenheim zu realisieren – denn „in jedem Schweinchen steckt ein großer Architekt“. Also wird gesungen und „vermessen wie besessen“, bis bei dem einen der Keller wunschgemäß oben ist und der Balkon beim anderen frei schwebt. Den Wolf Dieter (Rainer Kleinespel) allerdings hat keiner nach seiner Baugenehmigung gefragt, außerdem hat er gerade Appetit auf Schnitzel – also pustet er die Häuser von Fässchen und Schmalz hinfort. Die machen sich flugs bei Borste breit. Borste ist so empört, dass sie prompt bei Wolf Dieter in die Hilfs-Wolf Ausbildung einsteigt. Aber so gemein ist schließlich selbst kein Schwein…

„Frühstück mit Wolf“ ist das reinste Vergnügen: Hartmut El Kurdi hat ein besonderes Gefühl für Wort- und Situationskomik und mit Philine Rinnert eine ebenso humorvolle Ausstatterin mit Blick für Details, wie die schwankende SAT-Schüssel aus einem Pappteller. Die von Kurdi selbst geschriebenen Lieder mit Ohrwurmpotential unterstreichen bestens die Charakterzüge der Figuren – schade nur, dass die Darsteller bei der Premiere ein wenig gegen die zu laute Musik ansingen mussten.

Insgesamt aber merkt man den Schauspielern ihren Spaß an diesem überdrehten Abenteuer an – das vor allem ein Fest für Bianka Lammert und Rainer Kleinespel ist.

Bianka Lammert stürzt sich mit Wonne in die Rolle des Borste, spielt sich als besserwisserische Spießerin auf, zieht Fratzen, liebt den Slapstick. Rainer Kleinespel als herrlicher Gegenpart Wolf Dieter gibt sich einfach gestrickt, knurrig, cool,  und heult dabei wie ein alter, abgehalfterter Blues-Held. Dass aus den beiden beinahe das schrägste Traumpaar der Schweinchenwelt wird, ist nur ein Grund, sich diese spaßigen 60 Minuten anzuschauen – frei nach dem Motto: „Lass die Sau raus und nie wieder rein.“

Foto: Birgit Hupfeld




Hungerast?

PyrenäenDer Hungerast ist wie eine Wand,
die steht vor dir, erbarmungslos.
Man friert. Die Beine werden schwach.
Man schimpft.

Dort oben hört einen niemand.

Da kann man schimpfen, man kann bitten, man kann flehen.

Irgendwo um 2000 Meter,
da oben am Tourmalet, am Großglockner, am Furka oder Grimselpass,
wo kein Baum mehr steht, da fängt es an zu schneien.
Man hat keine Winterreifen und auch keine 50 000 Euro
von Milchschnitte.
Man hat eigentlich keine Schnitte.

Das Zelt ist vom Discounter, die Handschuhe hat Omma gestrickt.
So ist man also im Berg.
Kein GPS.
Kein Begleitfahrzeug.
Nicht mal einen Besenwagen, der einen einsammelt.

Freunde der Tour de France kennen den Besenwagen.

Das letzte Gefährt, welches gescheiterte Profis oder solche,
die sich für Profis halten einsammeln und ins Hotel fahren.
Zur Massage ins Hotel.
Entspannungsbad.
Thai-Massage.
Ich meine eine Thailänderin im Nebel zu sehen,
„May Lin, hier bin ich !
Oh gute Bergfee, rette mich…!“

Aus der Lesung – Unterwegs –

vom Mittelmeer zu den Pyrenäen

Stefan Dernbach ( LiteraTour )




Was hättest Du getan?

Melanie Lüninghöner und Liam Adler in "Waisen". Foto: Birgit Hupfeld

Melanie Lüninghöner und Liam Adler in "Waisen" Foto: Birgit Hupfeld

Ein Stück „über das, was hier und jetzt passiert“ und über das, „woran man glaubt“ wollte der britische Dramatiker Dennis Kelly schreiben – und hat mit „Waisen“ tief in das Herz unserer Gesellschaft geschossen. Schauspieldirektor Kay Voges positioniert seine Inszenierung im ehemaligen Gebäude des Ostwallmuseums und rückt sie so atemlos nah an uns heran.

Im ersten Moment fühlt man sich wie bei einer Vernissage: Videos von Daniel Hengst zeigen Szenen der Stadt, interessiert beschaut von den Besuchern, die durch die wohlbekannten Museumsräume wandeln. Die Holzbox im Lichthof wirkt da fast wie ein Störfaktor, eine Black Box, in die sich doch nach und nach alle hineinbegeben. Um den eigenen Monstern hallo zu sagen.

Gut 80 Menschen passen in den geschlossenen Raum, den Michael Sieberock-Serafimowitsch erdacht hat: Wie in einer Art Karton im Karton sitzen sie zweireihig um ein winziges Wohnzimmer herum, zum Greifen nah an Helen (Melanie Lüninghöner) und Danny (Frank Genser), die sich gerade auf ein romantisches Abendessen vorbereiten – als plötzlich Helens Bruder Liam (Christoph Jöde) blutverschmiert hereinbricht in diese gediegene Atmosphäre. Er habe einem verletzten Araber helfen wollen. Doch Liam verstrickt sich in Lügen, so dass schon bald nicht mehr klar ist, wer Opfer und wer Täter ist. Helen aber will partout nicht die Polizei rufen, um ihren vorbestraften Bruder zu schützen.

Mit schrecklicher Konsequenz treibt Kay Voges das Geschehen voran: Was als beinahe Hitchcockscher Krimi mit satirischen Akzenten beginnt, wird bald zu einem Kammerspiel des bürgerlichen Grauens. Die drei Figuren bewegen sich rasant auf den Abgrund zu. Kelly treibt sie mit unerbittlicher Härte in immer komplexere Fragen. Es geht um das Verhältnis von dem Eigenen und dem Fremden und darum, wie schnell unsere moralischen Werte korrumpiert werden, wenn jene involviert sind, die wir lieben. Unterdrückte Sehnsüchte, Ängste und Aggressionen sowie dumpfer Fremdenhass zeigen immer deutlicher ihre Fratzen.

Melanie Lüninghöners Helen wirkt wie ein Vulkan, in dem Wut, bedingungslose Loyalität und gewalttätige Mitleidlosigkeit brodeln, hin- und hergerissen zwischen vernunftheischender Kontrolle und gnadenloser Manipulation. Christoph Jöde schafft als Liam den Sprung vom hyperaktiven, nervösen Asozialen zum bösartigen Neider. Zwar fällt Frank Genser als Danny am Ende im Vergleich ein wenig ab – insgesamt jedoch erzeugt das Trio einen beklemmenden Sog, dem man sich als Voyeur nicht entziehen kann.

Die Zuschauer leiden, schwitzen, atmen mit, schauen zu den anderen und in sich hinein: Was hättet Ihr getan – und was ich?

(Der Artikel ist aus der Westfälischen Rundschau).




Gütige Diktatur

Der und jene könnten Anwandlungen haben. Sie könnten sich wünschen, eine „gütige Diktatur“ zu errichten. Dann würde vieles geradezu hingebungs- und liebevoll verboten, ja das Ungefüge würde gleichsam zärtlich von der Erde weggestreichelt.

Wohlig ließe man sich treiben zwischen zeitweiligem Überdruss und bleibendem Widerwillen gegen Dinge und Worte. Wachsende Verbotslust. Anschwellende Verfügungslaunen.

Nun aber frisch begonnen:

Internet? Schluss mit dem infantilen Quatsch. Fernsehen? Ab dafür! Mobiltelefonie? Weg damit. Schleunigst. Keine Leute mehr mit Headsets, die vor sich hin palavern und den Anschein erwecken, als führten sie wirre Selbstgespräche. Ist doch peinlich.

Stracks kommen nun die so genannten SUVs an die Reihe. Diese gewaltförmigen „Spaß“-Tonnagen mit gefühlten tausend PS. Alltagskriegsgeräte, Macht-Maschinen. Ab zum Schrottplatz, wo sie alle sinnvoll zu Granulat zermahlen werden. Wie lieblich das bröselt.

Übrigens, damit das klar ist: Gockelhaftes Skrotumkratzen zieht allgemeine Ächtung nach sich. Nein, nicht Achtung. Ächtung.

Wenn wir schon mal sackerment dabei sind: Sofort runter mit Rucksäcken, deren Träger(innen) sich immer im falschen Moment raumgreifend umdrehen. Weitere Begründung überflüssig. Ist ja `ne Diktatur.

Die MP3-Stöpselei, der vollverkabelt einher tapernde Passant? Selbstverständlich streng verboten. Das Zeug ist samt Zubehör bei den Sammelstellen abzugeben.

Strikt unterbunden wird überhaupt das Geschrei um angebliche „Must-haves“ und vermeintlich unverzichtbare Marken. In stinkreichen Vierteln von Frankfurt/Main, so heißt es, werden Schüler gemobbt, die nicht das neueste iPhone, sondern nur ein gewöhnliches Handy bei sich tragen. Für derlei Drangsalierung betrüge das Strafmaß in der „gütigen Diktatur“ fünf Jahre Computerspielverbot nebst Bücherlesezwang und Sozialdienst.

Schließlich das tägliche Alarm- und Sirenengeheul der medialen Hypes: Ab in den Orkus, Deckel drauf. Ruhe im Karton!

Nun mögen manche einwenden, hier werde dem Leben jegliche Farbe und Freude ausgetrieben, man lande so geradewegs im eisgrauen Kommunismus altbekannter Prägung. Wartet nur, bis es erst richtig anfängt, bis Geld und Besitz gänzlich abgeschafft werden und das Paradies auf Erden befohlen wird!

Danke für die Aufmerksamkeit.




Absurditäten des Alltags

Manche Tage beginnen mit einer Ansammlung von Skurrilitäten.

Es fing schon am Kiosk an. Auf die Frage „Haben Sie auch einen Spiegel?“ sah mich die Verkäuferin derart entgeistert an, dass ich schnell hinzufügte „Also, ich meine, die Zeitschrift.“ Da jauchzte die Frau, kriegte sich kaum noch ein und japste „Danke für den besten Witz des Morgens.“

Am Bahnhof dann stand und saß eine Klasse schwer pubertierender Jugendlicher auf dem Weg zu einem Schulausflug, mitsamt einer um Ordnung bemühten Lehrerin. Nach und nach rief sie die Schüler zu sich, um ihre Handynummern abzufragen. Zwischendurch die Durchsage, dass ein Zug ausfällt.

„Frau …, der Zug fällt aus.“ „Ja, aber wir nehmen den nächsten.“
„Tiiiiiiimmmm, kommst Du mal!“ Ein Junge schlurft herbei und jammert. „Ich hab ihnen meine Nummer doch schon per SMS geschickt.“ „Ich habe aber kein Handy dabei, also sag sie mir.“ „Na toll, jetzt hab’ ich meinen Sitzplatz verloren.“
„Frau…., der Zug fällt aus!“ Tiefes Seufzen.

Im Zug schließlich entdecke ich in der Welt kompakt eine herrliche Meldung: Ein Mann in Verden hat für eine über die Straße laufende Katze eine Vollbremsung hingelegt. Was dazu führte, dass er eine Mülltonne plus zwei Findlinge rammte, aus der Tonne eine Bratpfanne flog und in die Windschutzscheibe eines anderen Wagens knallte, was die 68-jährige Fahrerin schockte. Das Ergebnis, so schreibt die Welt kompakt schön: „Beide Autos wurden erheblich beschädigt, die Katze blieb unverletzt.“

Als ich schließlich durch die Stadt lief, traf ich auf ein H&M Schaufenster, das mit weiß verhüllt war, was mit den Worten kommentiert wurde: „Auch Schaufensterpuppen wissen manchmal nicht, was sie anziehen sollen.“

Das wird ein Tag!




Gereimtes oder Ungereimtes

Ich möchte hier einen Versuch wiederholen. Beim für immer entschlafenen
Kulturblog Westropolis (2007-2010) hat es der entsprechende Thread über die
Jahre hinweg auf rund 1500 Wortmeldungen gebracht. Man verzeihe mir den preiswerten kleinen
Stolz, damit einen Rekord angestoßen zu haben, der dort nicht mehr gebrochen werden kann, weil jene Plattform der WAZ-Mediengruppe Anfang 2011
unwiederbringlich gelöscht worden ist.

Die Idee, wenn man sie überhaupt so nennen soll, ist denkbar
simpel und keineswegs originell:

Statt eines Kommentars hinterlässt man/frau hier just einen selbst verfassten Zweizeiler, Vierzeiler,
ein Sonett oder sonst etwas Gereimtes / Ungereimtes mit lyrischer Anmutung bis Zumutung.

Einstiegsschwelle niedrig, Skala der Ansprüche nach oben offen.

Als die A40/Bundesstraße 1 im Sommer 2010 fürs
kulturhauptstädtische „Stilleben“ gesperrt wurde, gab es etliche Stände, an
denen die Passanten Gedichtetes hinterlassen sollten, meist auf meterlangen
Textrollen. Ein Werk der Vielen. Es sollte „volkstümlich“ sein, und da ist – bei halbwegs strenger Observanz – peinliche „Volkstümelei“ nie allzu weit
entfernt. Kulturell etwas kleidsamer, doch ebenfalls zwiespältig, ist die immer wieder
gern kolportierte Auffassung von Joseph Beuys, jeder Mensch sei Künstler.

Hier möge es, wenn es denn in Gang kommt, vor allem freudig
zugehen. Gerade gereimte Zwei- oder Vierzeiler führen nicht selten zu (höherem) Nonsens und
blühendem Blödsinn.

Warum auch nicht? Wir werden sehen.




Das Menetekel der Giraffe

Eigentlich wollte ich gestern ein paar Absätze über Bin Laden schreiben. Es wäre beispielsweise um Rechtsstaatlichkeit und christliche Werte gegangen. Dann aber dachte ich mir: Jeder Terrorexperte unserer Breiten hat bereits seine (Fern)-Diagnose auf den Markt der Meinungen geworfen. Da mache ich lieber was Abseitiges – und wenn ich’s aus der Archivkiste hervorzerren müsste. And here we go:

Kürzlich hat Katrin Pinetzki an dieser Stelle über eine Sprachmarotte der Pixi-Bücher geschrieben. Ich möchte ihre Analyse mit einem Deutungsversuch ergänzen, und zwar am Beispiel einer literarischen Hervorbringung der komplexen Sorte. Kenner ahnen es bereits beim ersten Blättern: Ohne hochspezialisiertes interpretatorisches Besteck wird in diesem Falle nichts zu gewinnen sein. Proust, Joyce und Musil lassen nolens volens grüßen.

Das vorliegende Buch hat weder einen erkennbaren Autor noch einen Titel. Aufs allzu bequeme Abrufen von Vorkenntnissen über Leben, Werk und Wirkung müssen wir also verzichten, ebenso auf schnellfertige Assoziationen. Was nun? Beharrlichkeit, Spürsinn und Geschick sind in hohem Maße gefragt.

Die zumeist lakonisch, doch bildmächtig und universal verständlich entfaltete Fülle des Stoffs ist immens, sie gemahnt an Großmeister wie Dostojewski oder Tolstoi. Ein Register der handelnden Personen am Ende dieses Folianten wäre hilfreich gewesen, rankt sich doch das furiose, oft bestürzende Geschehen um einen Elefanten, eine Schildkröte, eine Ente, ein Schiff, zwei (!) Seepferdchen, einen Fisch, einen Seelöwen und schließlich (ebenso lang- wie waghalsige Wendung am Schluss) um eine veritable Giraffe. Darüber wird noch zu reden sein.

Subtil und anspielungsreich ist die Struktur der weit ausgreifenden, ungemein welthaltig hin und wider wogenden Handlung gewoben. Über fast allen Figuren dieses theatrum mundi scheint die vermeintlich liebe (in Wahrheit gnadenlose) Sonne prangend gelb, dazu gesellt sich jeweils ein harmlos sich gebendes blaues Wölkchen.

Eine besondere Funktion kommt dem Schiff zu. Es verkörpert – wenn man so sagen darf – die unbelebte Materie, sofern man etwaige Passagiere ausblendet. Allerdings deuten keinerlei Anzeichen auf Kabinen-Insassen oder Deckbewohner hin. Hier klingt offenbar das alte Motiv vom Geisterschiff an. Was aber besagen die beiden stilisierten Möwen, die über dem nahezu tortenförmigen Schiff kreisen? Künden sie nicht von ewiger Wiederkehr, vom Werden und Vergehen, vom Kreislauf der Zeiten und Gezeiten?

Alle Protagonisten sind von scharf umrissenen, pfützenförmigen Wassermengen eingefasst (der Kunstgeschichtler würde sagen: „hinterfangen“), wobei Elefant, Schildkröte, Seelöwe und Giraffe jeweils mittendrin auf gelben Inseln naiv sich ergehen, als gäb’s kein Morgen und als herrschten noch ungebrochen paradiesische Zustände. Ente, Schiff, Fisch und Seepferdchen haben hingegen derlei Refugien nicht nötig. Diese charakterstarken Figuren setzen sich vielmehr dem nassen Element existenziell aus, sind nicht auf falsche Sicherheiten bedacht. Sie nehmen die Wahrheit so feucht, wie sie nun einmal ist.

Unterdessen enthüllt sich nach und nach der horrible Kontext der bei näherem Hinsehen gar nicht mehr harmlosen Vorfälle: Es ist die finale Klimakatastrophe, die sämtliche Rückzugsgebiete vor dem stracks ansteigenden Meeresspiegel rigoros eingrenzt und die Spezies Mensch in dieser zeit- und ortlos gewordenen Welt womöglich schon längst dahingerafft hat. Übrig geblieben sind offenkundig nur noch grotesk entfremdete, animalische Wesen mit dem Intelligenzquotienten von Steckrüben. Welch ein Menetekel, welch eine Apokalypse!

Die hirnlos fröhlichen Gesichter und all das kindisch bunte Lärmen können auf Dauer nicht über die desolate Lage hinwegtäuschen, ja überhaupt weist der heitere Oberflächen-Eindruck der Szenen recht eigentlich darauf hin, dass sich diese Gestalten (unter Einwirkung von Drogen?) bestenfalls zu Tode amüsieren. Hier walten zunächst insgeheim, sodann immer fratzenhafter: Verlogenheit, Zynismus, Sarkasmus. Oder sollte es sich nur noch um Idiotie im fortgeschrittenen Stadium handeln? Fürwahr: Da haben wir ein pralles Sittengemälde im Stile eines Hieronymus Bosch.

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Zur bewegenden Schlüsselszene gerät in dieser Hinsicht der zentral gestellte, einzige Dialog des gesamten Bandes, der freilich mäandert, beziehungsreich ausufert und unterdessen ungeheure Mengen von Bildungsgut anschwemmt: Gemeint ist das Gespräch zwischen den beiden Seepferdchen. Man beachte, wie die Luftbläschen, die sie absondern, mit jenen korrespondieren, die hernach dem Fische zu eigen sind. Mehr noch: Fisch und Seepferdchen sind die einzigen, die in diesem Roman-Kosmos ohne Sonne auskommen. Man beachte ferner den sprachspielerischen Anklang der Worte Fisch und Schiff. Er rührt mit seiner Buchstaben-Umkehr an die tiefsten Geheimnisse des Sagenmüssens und Nichtsagenkönnens.

Hintersinnigster Kunstgriff des anonymen Autors, dessen Effekt uns wie ein Keulenschlag trifft: Unter dem Signum der Ente hat er (oder etwa: sie?) einen diabolischen Mechanismus verborgen, der quietscht, wenn man auf die Buchseite drückt. Somit wird der Leser unversehens selbst zum hilfswilligen Agenten der allgemeinen Verblödung – was einen nachhaltigen Bewusstwerdungsprozess auslösen dürfte. Wenigstens wäre es innig zu wünschen.

Der wache, empfindsame Rezipient wird sich schließlich Rechenschaft ablegen wollen über sein bislang verpfuschtes Dasein, ja er wird sich – ganz im Sinne Rilkes – am Ende betroffen eingestehen: „Du musst dein Leben ändern.“

D a r u m also ragt auf der letzten Seite die Palme als vertikales Hoffnungszeichen neben der Giraffe auf. Hieß es nicht schon einst bei Günter Grass, jemand habe sich einen von der Palme gelockt? Gewiss doch. Ein gigantisches Symbol mithin, Mahnung genug.

Ein erschütterndes Schluss-Tableau beschließt den Reigen: Diesen abschiedswehen Blick der Giraffe wird man so schnell nicht vergessen, er sengt sich in die Seele ein. Für immer.




Ceci n’est pas un texte.

Und diejenigen, die dachten, jetzt käm doch einer, muss ich enttäuschen. Ich schreib nämlich nur, um zu schreiben, dass ich nix schreibe – heute zumindest. Morgen hingegen mach ich einen Ausflug in eure Ecke, und von dem erzähl ich euch dann.

Da wir uns aber grad so nett unterhalten, fällt mir was Grundsätzliches zum Thema „wieso eigentlich NOCH ‘n Blog?” ein.

Immer & überall.

Schließlich geht die Zahl der Blogs seit Jahren zurück und noch immer übersteigt das Angebot die Nachfrage. Auch ich folge längst nicht allen, die mich interessieren, zumal ich dank dreier Zeitschriften-Abos auch noch monatlich Papier abzuarbeiten habe. Warum also ein Format reanimieren, wo doch auf Facebook alles schneller und unter viel mehr netten Leuten stattfindet?

Antwort: Weil alle Medien spezielle Eigenschaften haben und daher nicht besser und schlechter sondern anders sind.

Meine Lieblingseigenschaft der Blogs besteht in ihrem ausgewogenen Verhältnis von Verfall und Nachhaltigkeit. Einerseits wird der eben noch aktuelle Beitrag zügig genug vom nächsten ins Archiv gekickt, um eine gewisse Unbefangenheit zu ermuntern. Niemand braucht zu befürchten, ungebührlich lange für spontane Eingebungen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Vielmehr kann man sich seelenruhig unter dem Einfluss irgendwelcher Affekte in leidenschaftliche Tiraden hineinsteigern, denn noch während der geistige Ausnahmezustand abklingt, wandert sein verbaler Fallout aus den Augen, aus dem Sinn.

Doch ungeachtet dieser beruhigend geringen Halbwertszeit bietet der Blog Platz zur einem angenehm temperierten Maß an Ausführlichkeit, irgendwo zwischen Tiefenschürf und 140 Zeichen. Insofern reicht die vom Informationsgehalt eines Blog-Eintrags geweckte Neugier, um das Opfer zu eigenen Recherchen zu motivieren, oder zumindest, um als „Schonmairgendwogehört“ wiedererkannt zu werden. Und daher behaupten sich Blogs im Mittelfeld zwischen Print und Facebook: Anders als Gedrucktes erlauben sie zeitnahe Reaktionen, aber auch wieder nicht so zeitnah, dass sie – wie auf Fb – binnen Stunden jenseits des Scroll-Horizonts verschwunden sind.

So, die Botschaft dürfte klar sein: Blogs sind a) untot und b) ist das gut so.

Warum aber noch einen, wo ich doch grad selbst zugegeben habe, dass es mehr lesenswerte als lesbare gibt?

Face a Blog each day.

Das lässt sich mit Hilfe einer anderen Antiquität, dem Fernsehen, erläutern:

In der Prä-Privat-Periode – unplugged und ganz mit ohne Schüssel – speiste sich Fernsehen aus drei bis vier Kanälen, aufgelockert von Testbild und Sendeschluss. Damals gab es QuerulantInnen, die keine der verfügbaren Sendeanstalten so richtig in Freudentaumel versetzte und die daher ständig über das Medium an sich jammerten. Fernsehen schien irgendwie grundsätzlich böse. So wie Cola und Autos und generell der überwiegende Teil der ZeitgenossInnen. Daher hab ich kurz vor Ausbruch des Privatfernsehens aufgehört, dem bösen Treiben zuzuschauen.

Einen Fernseher besitze ich nach wie vor nicht, habe mich aber inzwischen über das Angebot informiert und festgestellt: Ob drei oder dreihundert Programme – das alleinseligmachende ist noch immer nicht dabei.

Kann auch nicht, muss auch nicht.

Selbstverständlich gibt es ungeheuer viele ungeheuer gute Sendungen, nur leider verteilen die sich über ungeheuer viele Sender.

Und damit zurück zum Thema, denn gleiches gilt für das Online-Angebot. Und angesichts der ungeheuer individuellen Vorlieben der ungeheuer vielen AbnehmerInnen halte ich neue Seiten für ungeheuer begrüßenswert.

Und deswegen noch ein Blog. Noch immer nicht alleinseligmachend – aber wir arbeiten dran.




Überall Bananen!

Heute ein weiterer Beitrag in der Reihe „Man muss nicht alle Künstler mögen.“

Vor einiger Zeit habe ich mich an dieser Stelle über Ottmar Hörl und seine Plastik-Viecher ereifert. Dessen Hervorbringungen sind aber noch gar nichts gegen die Monokultur des Thomas Baumgärtel. Der Mann hatte mal eine Idee, nämlich möglichst den ganzen Globus mit Bananen zu bedecken. Diesen Einfall verfolgt er seither mit Furcht erregender Besessenheit.

1983 begann es mit der „Kreuzigung einer Banane“. 1986 verzierte Baumgärtel erstmals einen Kunstort mit einer gesprayten Banane. Die gebogenen Schablonen hat er seither denkbar häufig eingesetzt. Man glaubt es kaum, wie sich dies zur Manie steigern konnte: Bis heute hat er rund 4000 Stätten (vornehmlich Museen und Galerien) bananig und bananisierend heimgesucht. Dafür ist er rastlos unterwegs zwischen Ruhrgebiet und New York, Berlin und Moskau, London und Mallorca. Und und und. Rette sich, wer kann.

Ziert eine Galerie in der Nachbarschaft: gesprayte Baumgärtel-Banane (Foto: Bernd Berke)

Ziert eine Galerie in der Nachbarschaft: gesprayte Baumgärtel-Banane (Foto: Bernd Berke)

Alles Banane: Baumgärtel schuf die Bananenwand und die Felsenbanane, er kreierte Bananenzimmer, Bananenautos und eine Bananenbrücke. Auch erfand er die Kunstrichtung des „Bananenpointillismus“, sorgte beizeiten für eine Bananensprengung und montierte eine Banane in die erhobenen Hände des Papstes. Er entwarf für seinen Wohnort Köln einen Karnevalswagen, auf dem eine Banane durchs Brandenburger Tor stößt bzw. (je nach Deutung) das berühmte Bauwerk vor dem Einsturz bewahrt. Zur Finanzkrise in Hellas gab’s von Baumgärtel die Griechenflagge mit dem gekrümmten Euro-Zeichen: € = Banane. Wenn das nicht subtil ist…

Auf seiner Internet-Seite http://www.bananensprayer.de dokumentiert Baumgärtel penibel jedes Projekt. Wer alles durchklickt, wird hinterher wahrscheinlich wochenlang keine Bananen mehr sehen wollen. Es ist, als würde man immer wieder den selben Witz hören.

Baumgärtel hat nicht nur Kunst (an der Fachhochschule Köln) studiert, sondern auch Psychologie an der Kölner Uni. Das mag ihm zupass kommen, wenn er Museumsleute und Galeristen von seinem immergleichen Tun überzeugen will. Sie müssen schließlich zustimmen. Bisher hat er noch die allermeisten überredet. Er ist wahrscheinlich ein netter Kerl. Einer, dem man halt die kleine Narrenfreiheit lässt. Nur, dass die sich auf Dauer penetrant potenziert.

Zudem finden sich notfalls immer ein paar Professoren, die – ob nun augenzwinkernd oder nicht – kunsthistorisch beglaubigte Gütesiegel ausstellen und Baumgärtel etwa in die Tradition von Dada, Duchamp oder Andy Warhol (Bananen-Cover für „Velvet Underground“) stellen. Geschenkt.

Mag sein, dass in der Inneren Mongolei noch keine Baumgärtel-Banane prangt. Sonst aber kann man seinen krummen Dingern schwerlich entkommen. Auch gleich bei mir um die Ecke leuchtet eine knallgelbe Frucht neben dem Eingang einer Galerie (siehe Foto). Immerhin halbwegs unaufdringlich, wenn auch herzlich nichtssagend. Doch just in Dortmund, das er leider besonders ins Herz geschlossen zu haben scheint, will Baumgärtel aufs Ganze gehen, indem er eine gigantische Bananen-Skulptur aus gelb eingefärbtem Stahl (ca. 30 Meter lang) in 65 Metern Höhe auf einem ausgedienten Hochofen anbringt. Sie wäre in weiten Teilen der Stadt grell sichtbar. Bewahre!

Während Baumgärtel für die Hochofen-Verhunzung noch Sponsoren sucht, ist gottlob ein anderes Vorhaben ähnlich monströsen Kalibers bereits abgelehnt worden: Aufs neue Wahrzeichen Dortmunds, das Kulturzentrum „Dortmunder U“, wollte er – na, was wohl?! – eine Riesenbanane setzen, die den goldenen Buchstaben „U“ penetriert hätte.

Es ist an der Zeit, die eine oder andere Bananigkeit (frei übersetzt: Banalität) zu verweigern. Und ich meine keineswegs die DDR, wenn ich ausrufe:

„Es lebe die bananenfreie Zone!“




Schlingensief: Erst kommt das Chaos des Lebens

Der Regisseur Christoph Schlingensief ist mit 49 Jahren an Krebs gestorben. Im November 2006 hatte er einen nunmehr doppelt denkwürdigen Auftritt im Dortmunder Konzerthaus. Dieser zwangsläufig noch nicht pietätvolle Artikel des jetzt trauernden B. B. stand am 15.11.2006 in der Westfälischen Rundschau und lässt vielleicht ein wenig ahnen, wie vital und springlebendig Schlingensiefs irrlichternder Geist gewesen ist. So viele überschießende Ideen wie er haben jedenfalls nur wenige Menschen. Längst nicht alle hat er ins Werk setzen können.

Dortmund. Konzerthauschef Benedikt Stampa hat das Publikum gewarnt: Heute werde es kulturell „ans Eingemachte“ gehen. Kein leeres Versprechen. Denn der Mann, der danach die Bühne betritt, ist Christoph Schlingensief. Dieser umtriebige Aktionskünstler, Theater- und Filme-Macher („Terror 2000“) gilt vielen als „Provokateur“ und „Enfant terrible“ der Szene. Wegen des enormen Andrangs ist der Auftritt (in der Reihe „Lektionen zur Musikvermittlung“) vom Foyer in den großen Saal verlegt worden.

Schlingensief (46) ist gebürtiger Oberhausener – wie Hape Kerkeling. Noch so ein witziger „Entlarver“. Kommt ‚rein, wirft Rucksack und Jacke achtlos hin, entert wie im Handstreich das Rednerpult. Eine Performance beginnt. Schlingensief spricht ohne Punkt: über Gott, Gesellschaft, Kindheit, Welt. Erst kommt das Leben mit Urängsten, Urantrieben. Dann vielleicht Kultur. Zum Schluss die blöden Kritiker.

Oft macht er den Klassenkasper, doch stellenweise erinnert er an einen sendungsbewussten Power-Prediger, freilich um Selbstironie bereichert. Schlingensief als „Maschinengewehtr der Anarchie“? Mit Chaos und Taumel ist er jedenfalls per Du. „Deswegen mögen mich Leute mit Bausparvertrag nicht.“ Das Leben sei nun mal ungeordnet und rasch vergänglich. In sieben Jahren (so führt er ein Zitat von Joseph Beuys fort) könne sowieso alles zerstört sein, dann gebe es statt des Konzerthauses vielleicht wieder den Drogenstrich…

Und inhaltlich? Schwer zu sagen. Ein paar Vorlieben und Abneigungen kristallisieren sich jedoch heraus. Alle Wege, die geradeaus führen sowie einfach belichtete Filme, Menschen und Dinge sind Schlingensief ein Graus.

Schluss mit den Festlegungen! Her mit den vielfach überblendeten, undeutlichen Verhältnissen; mit dunklen Momenten zwischen den (Film)-Bildern. Oder mit dem Übermaß, in dem man sich vor andrängenden Bildern nicht mehr retten kann. Hier geschehe, ob in Kunst oder Leben, das wahrhaft spannende.

Sein manischer Redefluss gefällt nicht jedem. Alsbald stürzt ein erboster Herr aus dem Saal und ruft Schlingensief zu: „Machen Sie weiter mit Ihrem Geschwätz!“ So nennt er, was durch den kreativen Kopf kreist und schnell zur Zunge drängt. Dabei hat Schlingensief etliches erlebt und gelesen. Ganz gewiss kein Dummkopf, sondern einer, der aus Wirrnis munter schöpft. Einer, der sich alle (Narren)-Freiheit nimmt und das wilde Denken zelebriert.

Zudem ist er ein Entertainer, begabt auch fürs spontane Impro-Theater. Wie er den Stil der Dirigenten von Bayreuth (Boulez, Thielemann) parodiert, wo er als Regisseur den „Parsifal“ in Bilderfluten getränkt hat! Übrigens: Auch Richard Wagner sei unsteter Chaot gewesen und somit lebensnah.

Wenn Schlingensief durch assoziative Achterbahnen saust, von Wagner auf seine eigenen Eltern, Marihuana und katholische Demut kommt, dann blitzt es zuweilen – oder läuft ins Leere. Egal.

Den Spruch, er sei ein „Provokateur“, mag Schlingensief nicht mehr hören: „Wenn ich einer bin, was sind dann die Politiker?“ Für den wohlfeilen Satz gibt’s Szenenapplaus.

Schließlich noch sein kurzer Dialog mit Holger Noltze, der den Dortmunder Studiengang „Musikjournalismus“ leitet und tapfer versucht, Schlingensiefs Gedanken ein wenig zu sortieren. Zwecklos.

(Bild: Schlingensief bei der Verleihung des Nestroy-Preises, 2009 – Copyright Manfred Werner/Tsui – Wikipedia Creative Common Lizenz)




Chatroulette: Menschen wegklicken

Immer wieder neue Hypes im Netz. Und welche Sau wird jetzt gerade durchs globale Dorf getrieben? Nun, ein angeblich ganz dickes Ding dieser Tage und Wochen sind „Chatroulette“-Angebote, bei denen Bilder, Töne und Texte in Echtzeit ausgetauscht werden. Es soll Leute geben, die süchtig danach sind. ABC News zitiert eine US-Studentin: „I think it’s a little creepy. And I can’t stand away.“ Ein bisschen gruselig und dennoch unwiderstehlich also?

Seiten dieses Zuschnitts sind an der Benutzer-Oberfläche sehr simpel und locken mit ausgesprochen laxen Bedingungen: völlig anonyme Teilnahme am weltweiten Video-Chat, keine Passwörter, Alterskontrollen, besondere Pflichten, Spielregeln oder sonstige Barrieren. Kein Wunder, dass sich angesichts solcher Vorgaben auch ungemein viele arme Würstchen (wahlweise „arme Teufel“), Spinner und Idioten mehr oder weniger offen hervorwagen. Ich werde mich hüten, hier einen Link zu setzen, denn etliche Vorgänge auf derlei Seiten sind alles andere als jugendfrei.

Die bislang bei weitem erfolgreichste, explosionsartig wachsende Seite des insgesamt expandierenden Genres wurde vom 17-jährigen Moskauer Andrej Ternowskij programmiert und auf Frankfurter Servern platziert: Nach dem „peer-to-peer“-Prinzip und per Zufallsgenerator werden überwiegend jüngere Leute aus allen Ländern zusammengeschaltet. Im Regelfall sehen sie sich selbst und (auf einem zweiten Screen) jeweilige „Partner“ via Webcam. Klingt doch im Ansatz spannend, oder?

Es gibt selbstverständlich –zig Arten, sich trotz Webcam zu verbergen. Ich bin etlichen Herrschaften mit Affen- oder vereinzelt gar Gasmasken „begegnet“. Andere verzerren ihre Gesichtszüge elektronisch, decken das Kameraauge ab, setzen z. B. Spielzeugfiguren davor oder richten ihre Kamera auf Heimkino-Filme – bevorzugt mit sexuellem oder sonstigem Schock-Potenzial, das sich freilich enorm abnutzt. Inzwischen gibt’s „best of“-Seiten, die im voyeuristischen Doppel den jeweiligen Anlass und die darüber empörte Mimik des Empfängers eingefroren haben. Zur weiteren Erheiterung…

Doch viele zeigen sich auch und setzen sich der Mitwelt aus: Über allem waltet ein gnadenloses „Ex und Hopp“, eine Wegwerf-Mentalität, die hier auf die soziale Ebene übertragen wird und Netzwerke wie „facebook“ vergleichsweise tiefgründig und dauerhaft erscheinen lässt. Denn jeden Menschen, der einem „nicht passt“, kann man hier sofort mit einem Extra-Button („Next“) wegklicken. Falls der andere einen nicht noch schneller von seinem Bildschirm fegt.

Es gilt die Parole: Her mit dem nächsten Gesicht! Das rücksichtslos rasche Aussortieren wird weidlich genutzt, oft genug im Sekundentakt. Wer psychisch auch nur ein wenig labil ist, könnte damit Probleme bekommen. Zumal sich da schadenfrohe Cliquen zum kollektiven Auslachen oder gestisch-verbalen Demütigen der Verletzlichen einfinden. Geile Partys! Diese Mobbing-Grüppchen kann man zwar ebenfalls wegzappen. Aber wer weiß, wie viel Kränkung da unterschwellig weiter wirkt. Unfrei nach Sartre: „Die Hölle, das sind die anderen.“

Erbärmlicher noch. Man weiß ja zur Genüge, wie fies viele Internet-Ecken sind. Und doch hält man es nicht für möglich, wie viele Typen vor laufender Kamera Hand an sich legen. Grob geschätzt betätigt sich auf den Roulette-Seiten jeder zehnte Teilnehmer so. Männer sind ohnehin in erdrückender Mehrheit. Unter den wenigen Frauen im Chat dürfte es kaum eine geben, die nicht aufgefordert wird, sich zu entblößen. Um es mal ganz vornehm zu sagen. Das hier zwischen allen Nationen flottierende Englisch hat da eine hohe Ausdrucksvarianz aufzuweisen, und Vokabeln wie „boobs“ gehören entschieden zu den harmloseren.

Notorische Netzbewohner werden schon den Hauch kulturkritischer Nachfragen verschnarcht finden. Sei’s drum. Wenn man noch mit den Füßen in der wirklichen Welt steht, fragt man sich bang: Welche ohnehin grassierenden Haltungen werden da eingeübt? Beispielsweise ein schriller Wettstreit um die größtmögliche Aufmerksamkeit des Moments. Viele quälen sich damit ab. Sie glauben offenbar, gleichsam „Quote machen“ zu müssen wie ein Stand-up Comedian. Dem entspricht auf diabolische Art das gnadenlos sprungbereite Sofort-Urteil über Mitmenschen. Denkbar übrigens, dass hier abermals ein atavistisches Erbteil unserer Gattung („Fluchtreflex“ zwischen Steinzeit und Fußgängerzone) aktiviert wird.

Sicher: Zwischen all den Flüchtigkeiten im Menschenzoo sind wirklich herzwärmend nette Begegnungen möglich – mit Erdenbürgern, die man sonst niemals „getroffen“ hätte. Man erzählt einander von kleinen Freuden und Sorgen. Ein Japaner spielt dir einen Song auf seiner Gitarre vor, eine Schwedin ist zum Scherzen aufgelegt, eine freakige Amerikanerin stopft sich beim Plausch erst mal gemütlich „Gras“ ins Pfeifchen. Und so weiter. Auch ist so manches „Gesicht aus der Menge“ einfach sympathisch oder anrührend.

Vor allem aber: Wie viel trübe, betrübliche Einsamkeit da allenthalben umgetrieben wird! Wie sangen die Beatles: „All the lonely people – where do they all come from?“




Die Causa Helene Hegemann – Plagiat? Ach was! Oder doch?

Die Angelegenheit konnte schon frühzeitig Unbehagen wecken. Die wie verabredet wirkende Weise, in der die erst 17-jährige Helene Hegemann kurzerhand zur Autorin der Stunde (nein: des Jahrzehnts!) hochgejubelt wurde, hatte von Anfang an etwas haltlos Penetrantes.

Die überregionalen Feuilletons überboten einander mit äußerst umfangreichen Lobpreisungen für den mit Sex- und Drogenexzessen gesättigen Debütroman „Axolotl Roadkill“. Auch der sonst oft ätzend angriffslustige Maxim Biller stimmte als Rezensent in den Halleluja-Chor ein. Ein Effekt: Das Buch kletterte bis auf Platz fünf der Bestseller-Liste. All das spricht natürlich auch noch nicht g e g e n Hegemanns Buch.

Inzwischen hat sich allerdings herausgestellt, dass Helene Hegemann sich gleich absatzweise in Texten des Bloggers „Airen“ bedient hat. Der ist schon etwas älter als die Schriftstellerin und durfte daher wüste Berliner Locations („Berghain“) aufsuchen, von denen sie wohl eher vom Hörensagen wusste, über die sie aber jetzt kundig schreiben konnte. Vulgo: Hegemann hat entsprechende Passagen offenkundig abgekupfert, und zwar nicht zu knapp, quasi per copy and paste. Inzwischen sind auch Belege eines Kaufvorgangs beim Internet-Versand Amazon an die Öffentlichkeit gelangt, die darauf hindeuten, dass Hegemanns Vater (Dramaturg an der Volksbühne) seiner Tochter den bis dato nur unter Schwierigkeiten greifbaren Roman „Strobo“ (SuKuLTuR-Verlag) des besagten Airen besorgt hat.

Peinlich für die Autorin und ihre begeisterten Kritiker? Ach was! Die FAZ warf sich gleich mehrfach für ihr neues Idol Hegemann in die Bresche und erklärte nunmehr eilfertig, dass in Zeiten von Google derlei „Übernahmen“ völlig normal seien. Plagiate habe es im Lauf der Geschichte ohnehin immer gegeben. Erst recht sei das Kunstwerk sei im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und im Zeichen der Remix-Kultur eben längst kein Original mehr, es erlange – so auch die Einlassung der Autorin – bestenfalls einen Status der „Echtheit“. Natürlich wurde auch wieder fleißig Bert Brechts legendär „laxe Haltung in Fragen des geistigen Eigentums“ zitiert. Wird in solchen Fällen immer gern genommen.

Kurzum: Fort mit allen kleinlichen Bedenken! Gerade indem man sich umstandslos im Web bedient, bekundet man demnach seine coole Zeitgenossenschaft. Wer sich Texte noch von A bis Z selbst herausquält, wäre also hoffnungslos von vorgestern und selbst schuld an seiner Mühsal?

Der Ullstein Verlag, in dem „Axolotl Roadkill“ erschienen ist, schätzt wenigstens die urheberrechtliche Lage realistischer ein und rückt eine unmissverständliche Quellenangabe in die zweite Auflage. Auch soll der unfreiwillige Ideengeber Airen angemessen entschädigt werden. Immerhin könnte man’s zur Not so hinbiegen: Sein Bekanntheitsgrad ist durch die Plagiats-Affäre immens gestiegen. Genau diesen Trost spendet auch die FAZ, die mutmaßt, Airen sei vielleicht „einfach dankbar für die Aufmerksamkeit, die sein Roman jetzt findet.“




Funny van Dannen: Saugefährliche Katzenpisse

Denn siehe, hier kommt eine gute Nachricht: Funny van Dannen klampft wieder. Er versprüht abermals seinen skurrilen Charme – auf der neuen CD „Saharasand“. Alles andere wäre aber auch jammerschade gewesen.

Wie soll man das musikalische Tun und Trachten dieses Mannes jemandem beschreiben, der ihn noch nie gehört hat? Nun, er klingt meistens so, als schrammle und singe er unverzagt am immerwährenden Lagerfeuer. Manchmal hört er sich schier nach altvorderen Schlagerbarden wie – im Extremfalle – Martin Lauer („Taxi nach Texas“) an. Sag ich jetzt mal ganz ungeschützt. Aber irgendwie bringt Funny van Dannen (Jahrgang 1958) es fertig, selbst solche Vorlagen mit „Kult“-Verdacht zu veredeln. Ohne großen Aufwand, just mit einer (scheinbaren?) Naivität des frischen Zugriffs gesegnet. Auch der Titel „Saharasand“ könnte ja gut und gern aus späten 50er oder frühen 60er Jahren stammen, Freddy Quinn & Artgenossen grüßen aus der Ferne. Wie? Stimmt gar nicht? Na, dann nicht.

Dann eben die nächste steile Behauptung. Eine hörbare Basis und Quelle seiner Lieder sind so genannte Protestsongs seligen Angedenkens, deren Stimmlage er freilich meistens ins liebenswert Komische und Harmlose wendet. Er ist so gar kein aggressiver Mensch und mag eigentlich niemanden verletzten. Und so schießt er denn sogar auf die gierigsten Banker und Börsianer lediglich mit einer „Katzenpissepistole“. So heißt der Auftakt-Song seines neuen Albums, das 21 Titeln enthält und auch in bluesnahe Spielarten ausgreift.

Just aus der Friedfertigkeit des Urhebers bezieht gleich der zweite Song seine gelinde Komik. Funny van Dannen versichert uns da, er wolle auch einmal „saugefährlich klingen“. Ausgeschlossen! Nimmermehr! Er doch nicht! Nicht einmal richtig grimmig kann er werden. Aber das weiß er natürlich selbst am besten. Und er weiß auch, wie sich ein Mann tröstet, der seiner Freundin ein „Simpsonsplakat“ schenken möchte und besuchsweise feststellen muss: „Sie war nackt und sie war nicht allein.“ Wie es danach weitergeht, wird hier natürlich nicht verraten.

Sagen wir’s mal siebtelkritisch so, klagend auf hohem Niveau (reimt sich): Die Platte ist derart aus einem Guss, dass man sie nicht unbedingt in einem Rutsch durchhören, sondern eher dosiert genießen sollte. Monotonie? Nein, das wäre das verkehrte Wort. Schließlich sind erneut ein paar „Ohrwürmer“ dabei, freilich keiner vom genialischen Kaliber der „Infrastruktur“ auf dem Album „Nebelmaschine“. Auch hat sich der Künstler für meinen Geschmack etwas zu weit aufs glitschige Terrain der Wirtschaftskrise locken lassen. Es ist nicht sein Hauptmetier.

Mehrere Nummern der neuen CD handeln von der Unübersichtlichkeit unserer wirren Zeitläufte. Der menschliche Instinkt drohe daran zuschanden zu gehen, heißt es einmal sinngemäß. Hochtrabend ausgedrückt: Funny van Dannen sehnt sich nach Komplexitäts-Reduktion. Sprich: Er hätte die Dinge gern näher, fassbarer, einfacher. Wer könnte ihm solche Wonnen der Simplizität nicht nachfühlen?

Und also summt man immer mal wieder selbstvergessen mit. Schön wäre es, wenn… das gelingende Leben so einfach zu haben wäre. Noch schöner, wenn es zum vollen, runden Glück eines gemeinsam feiernden Freundeskreises nur noch einer solchen Unter-dem-Pflaster-der-Strand-Wandlung bedürfte: „Wenn die Straße ein Fluss wäre und die Autos Schiffe…“

Tatsächlich wiegen sich gerade die besten Lieder im Gefühl einer ungeahnten Leichtigkeit – am Rande sanft schwirrenden Irrsinns. Etwa die Legende vom Mann, dem überall (un)willkürlich das Wort „Sozialismus“ entfährt. Ganz einfach so. Egal, ob beim Zahnarzt, im Supermarkt oder selbst beim Orgasmus. Wie das die Mitwelt irritiert! Oder die Ballade vom Paar, das aus dem Museum kommt und kurzerhand beschließt, dass ihm die ganze gesehene Richtung nicht passt: „Scheiß-Jugendstil“ tönt es mit wünschenswerter Klarheit im Refrain. Und schon hebt sich merklich die Stimmung in der sonst wahrscheinlich etwas öden Zweierkiste – auf Kosten einer ganzen Kunstrichtung.

Funny van Dannen hat halt immer wieder diese leicht schrägen Einfälle, so auch diesen: In eine Disco zu gehen, wo Pflanzen tanzen. Man denke nur und spinne die Idee ein wenig weiter… Und wenn das Leben ein Würfelspiel wäre? Dann lautet die schlichte Frage eben: „Wie viele Augen wirfst du?“ Ach, ist das herrlich, wenn die Sinnsuche dermaßen deliriert und trudelt.

Trotz aller (letztlich nebensächlichen) Sorgen und Zerknirschungen ist Funny van Dannen zwar keine „Stimmungskanone“ (Gott bewahre!), jedoch auf sehr spezielle und originelle Weise gelegentlich ein Gute-Laune-Sänger. Wogegen ja nun mal prinzipiell nichts einzuwenden wäre. Wer das teils munter gepfiffene Lied von der „Magnolie“ hört, weiß gleich Bescheid. Da hellt sich etwas wundersam auf. Fast so schön wie einst bei „Singin’ in the Rain“…

CD „Saharasand“. JKP / Warner Music. Ca. 16,99 €.

P. S.: Ab 23. September geht Funny van Dannen auf Tournee. Jetzt möchte ich ihn endlich mal live sehen. Schon um einen Eindruck zu bekommen, wie seine Fans denn so aussehen. Es müssen doch wohl ziemlich sympathische Leute sein.




Der ganze Wahnwitz in einem Buch – „Narratorium“ von Ulrich Holbein

Jetzt wollen wir’s aber wissen: Welches Buch hat in dieser Saison die größte thematische Spannweite? Welcher Band versammelt in hochkonzentrierter Form den meisten Wahnsinn?

Nun, da mag es einige Kandidaten geben, doch die reichhaltigste Fundgrube in beiderlei Hinsicht dürfte das „Narratorium” sein. Im Titel klingt Doppelsinn an: Es geht um schier unerschöpfliche Vorräte an Erzählstoff (also „narrative” Qualitäten), zugleich aber um Narretei und Besessenheit jeder denkbaren Sorte. Da steht nun der finstere Terrorfürst Osama bin Laden neben einem Fuzzi wie Dieter Bohlen, der erzpessimistische Denker E. M. Cioran neben der erotischen Tanzikone Josephine Baker, Jesus neben Hitler, Klaus Kinski neben Kafka, Joseph Beuys, Bhagwan, Rudolf Steiner, Janis Joplin oder Prinz Charles. Und so weiter. Gütiger Himmel, hilf!

255 Kapitel zum Kopfschütteln

Der enzyklopädisch belesene, allzeit scharfzüngige Autor Ulrich Holbein hat recherchiert wie ein Berserker. Er ist in Auswahl und Darstellung nicht zimperlich; er jagt echte Genies (z. B. den Romancier Jean Paul), Visionäre und halbwegs harmlose Apostel, doch auch Diktatoren und Mörder durchs Panoptikum.

Holbein hat ein radikal subjektives, verstörendes, höchst unterhaltsames Lexikon der „Verrückten” aus zweieinhalbtausend Jahren Menschheitsgeschichte zusammengetragen. Die meisten Gestalten haben tatsächlich gelebt, einige der Porträtierten sind fiktiv, haben aber das kollektive Bewusstsein geprägt. Man lernt hier bizarre Leute kennen, von denen man noch nie gehört hat. Und über die, von denen man schon etwas wusste, erfährt man oft noch Bestürzendes.

In rasanten, stark zugespitzten und süffig formulierten Porträts filtert Holbein die Essenz von 255 größtenteils irrwitzigen Lebensläufen, garniert mit typischen Zitaten und Selbsteinschätzungen der Beschriebenen. Da kommt man aus dem Kopfschütteln oft gar nicht mehr heraus. Religiös, aber auch weltlich Verzückte und Verirrte aller historisch verbrieften Zeiten betreten da die Bühne; ferner Schamanen und Sonderlinge, Weltverbesserer, Gurus, Exzentriker, Extremisten, Unholde, Verbrecher und überhaupt auffällige Gestalten jeder Schattierung.

Methoden zur „kunstgerechten Kreuzigung“

Wir greifen willkürlich ein Beispiel heraus: den irrlichternden Freigeist namens „Mynona” (alias Salomo Friedlaender), der von 1871 bis 1946 sein schrilles Wesen getrieben hat. Dieser Mann, den man mit Fug randständig nennen könnte und der doch auch etwas Genialisches hatte, dachte sich mit Akribie Methoden zur „kunstgerechten Kreuzigung” von Heilanden aus, schrieb Abhandlungen über die „Funktion der Milz auf der 3. transzendentalen Ebene” sowie „über Stimmbandverkümmerung in der Vagina von Hermaphroditen”. Seltsam genug.

Zudem focht „Mynona” leidenschaftlich für die Nichtverbesserung von Druckfehlern und verlangte im Laden stets „Toilettenpapier mit Trauerrand”. Genug, genug. Es ist nur ein Bruchteil seiner gehäuften Absonderlichkeiten. Jetzt rechnen Sie das mal auf 255 Lebensläufe hoch! Dass „Mynonas” Biographie in der NS-Zeit eine tief tragische Wendung nahm, verleiht der Darstellung – weit über kuriose Aspekte hinaus – historische Tiefenschärfe. Genau diese Einordnung in größere Zusammenhänge ist die Stärke des Buches. Ulrich Holbein ist ein Durchblicker sondergleichen – und klingt manchmal selbst ganz schön hochmütig. Geschenkt.

Glückliche Erschöpfung nach der Lektüre

Und der Nutzen? Wenn man das Buch gelesen hat, darf man glücklich erschöpft feststellen: Man hat gedanklich den ganzen Kreis dessen durchschritten, was Menschen anrichten können. Auch lernt man, mit welchen Ideen und Taten sich Menschen im Lauf der Zeiten verführen ließen. So erkennt man womöglich die Muster wieder und wappnet sich gegen böse Wiederholungen.

Diese ungeheure alphabetische Ansammlung erträgt man allerdings nur dosiert. Schon einzelne Lebensbilder strapazieren Toleranzbereitschaft und Vorstellungsvermögen, nötigen aber auch immer wieder ungläubiges Staunen ab über ungeahnte Grenzgänge des Lebens.

Wer man auch sei: Am Ende dieser aufregenden Lektüre kommt man sich selbst in aller Bescheidenheit wohl „fürchterlich normal” vor. Wenn das kein Zugewinn an höherer Weisheit ist!

Ulrich Holbein: „Narratorium”. 255 Lebensbilder. Ammann Verlag. 1008 S., 39,90 Euro.

(Der Autor Ulrich Holbein, Jahrgang 1953, lebt abseits vom großen Getriebe im hessischen Knüllwald. Bisherige Bücher von ihm hießen z. B. „Die vollbesetzte Bildungslücke”, „Ozeanische Sekunde”, „Das Schwein der Erkenntnis”, „Typologie der Berauschten”, „Weltverschönerung”).

Weitere Infos u. Debatte im Internet: http://www.narratorium.net




Nico: Die Frau mit der Sirenenstimme

Köln. Christa Päffgen war ein Weltstar, ja geradezu eine Ikone der Popmusik. Wie bitte? Christa Wer? Nun, weitaus bekannter war die gebürtige Kölnerin unter ihrem Künstlernamen „Nico“ – und geradezu legendär wurde sie als zeitweilige Sängerin der Kultband „Velvet Underground“.

Zur Erinnerung: Diese formidable Formation um Lou Reed und John Cale spielte anfangs unter der Ägide des Pop-Künstlers Andy Warhol, der auch das berühmte Bananen-Cover für ihre Debüt-Platte schuf. Das immens einflussreiche Album hieß „The Velvet Underground & Nico“ und war mit düsteren Titeln („I’m Waiting for my Man“, „Venus in Furs“, „Femme Fatale“, „Heroin“, „All Tomorrow’s Parties“) ein Meilenstein der Rockgeschichte. Nicht zuletzt lag es an Nicos suggestivem Sirenengesang, der sich mit hartem deutschen Akzent im Niemandsland zwischen Minimalismus und Nihilismus erging.

Die Ausstellung, mit der das Kölner Museum für Angewandte Kunst jetzt an Nico (1938-1988) erinnert, erweist sich mit zahlreichen Doku¬menten (Bilder, Texte, Filme und Töne – auch via Audioguide) als weit verzweigte Spurensuche. Sie ist mehr als eine bloße Reliquienschau.

Kaum zu glauben, in welchen Sphären sich diese Nico bewegt hat. Ihr Dasein als öffentliche Frau begann beileibe nicht erst im Pop-Geschäft. Nico wurde in hohem Maße zur Projektionsfläche diverser Männerphantasien. Wahrscheinlich ist sie daran zerbrochen; vielleicht auch am Überangebot der Freiheiten, das sich damals aufgetan hat.

Schon mit 16 Jahren wurde sie in Berlin als Model (damaliger Ausdruck: Mannequin) der Marke „Lolita“ entdeckt und zog bald nach Paris, wo sie den Künstlernamen „Nico“ annahm. Sie zierte die Titelseiten von Magazinen wie dem „Stern“ (1959 – Fotograf: Charles Wilp) oder des Zeitgeistblattes „Twen“ (1961). Auch die Glamour-Postillen „Elle“ und „Vogue“ wurden aufmerksam auf die Blondine mit der Aura zwischen Unschuld und Erfahrung. Später mengten sich mehr und mehr Schattierungen todessüchtiger Traurigkeit und von Dämonie mit hinein.

Eigentlich kein Wunder, dass ein auf optische Sensationen versessener Mann wie Federico Fellini sie dann 1960auch für den Film rekrutierte. Nico spielte eine kleine, aber seltsam faszinierende Rolle in dem Klassiker „La dolce vita“ (Das süße Leben) – neben den Stars Marcello Mastroianni, Anita Ekberg und Anouk Aimée. Einem gewissen Bob Dylan prägte sich Nicos kurzer Kinoauftritt derart ein, dass er ihr den Song „I’ll keep it with mine“ (1965) widmete. Folgenreicher Vorfall jener Jahre: Der Filmschönling Alain Delon schwängerte sie, wollte aber den gemeinsamen Sohn Ari nie anerkennen.

Nach dem furiosen Einsatz bei „Velvet Underground“ vagabundierte Nico durch die wildesten „Szenen“ der späten 60er Jahre. Klischee-Stichworte sind schnell genannt: Sex, Drogen, überdrehtes Leben am Rande des Todes. Nico faszinierte denn auch andere, früh verstorbene Rockgrößen: Jim Morrison (1943-1971) von den „Doors“ überredete sie zu musikalischen Solo-Projekten. Eine Zeit lang gehörte sie zu den Groupies im Gefolge der Rolling Stones, besonders der Gitarrist Brian Jones (1942-1969) war ihr zugetan. Stärkste Platte dieser Phase: „Chelsea Girl“ mit dem phänomenalen Titel „These Days“.

Zunehmend stilisierte die einstige Blondine zur dunklen, schläfrig wandelnden Erscheinung. Schwarz gefärbtes Haar, finster umflorter Blick, ausgezehrtes Gesicht. Später, in den 80er Jahren, gibt es erschreckende Bilder von einer aufgedunsenen, durch harte Drogen vorzeitig vergreisten Frau.

Den windungsreichen Weg, der immerzu bergab führt, kann man anhand der in Köln kenntnisreich ausgebreiteten Dokumente eingehend verfolgen. Hie und da könnte man glauben, Nico sehr nahe zu kommen; so etwa, wenn man die rasch hingefetzten Postkarten von ihrer zittrigen Hand liest. Diese fahrige, flüchtige Schrift, diese ziellose Signatur eines verletzlichen Menschen, der alle Wurzeln gekappt hat und sich nicht mehr zurechtfindet: Wort-Bruchstücke aus Herzen der Finsternis.

„Nico – Stationen einer Pop-Ikone“. Museum für Angewandte Kunst, Köln, An der Rechtsschule (neben dem Dom/Hauptbahnhof). Bis 1. Februar 2009. Geöffnet Di-So 11-17 Uhr. Eintritt 5 Euro. Internet: http://www.nico-cologne.de

(Der Beitrag stand am 21. November 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




„Die Stadt der Blinden“: Wie das Böse anschwillt

Diese heillose Bestürzung ist eigentlich unvorstellbar: dass man urplötzlich erblindet und einem die sichtbare Welt gefährlich fremd wird. In „Die Stadt der Blinden” erfasst die rätselhafte Epidemie nach und nach fast die gesamte Bevölkerung.

Fernando Meirelles (bekannt durch seine knallharte brasilianische Favela-Sozialstudie „City of God”) hat das Wagnis auf sich genommen, den 1995 erschienenen Roman des Literaturnobelpreisträgers José Saramago in Bilder zu fassen.

Wie aber kann man im Kino eine Geschichte vermitteln, die unter Blinden spielt? Der Regisseur hat sich nicht für partielle Finsternis, sondern für ein grellweißes Gleißen entschieden, das viele Passagen des Films durchzieht und ins Surreale hebt. Die Wirklichkeit bleicht aus.

Anfangs ist es ein einziger Mann, der sein Augenlicht verliert. Dass ihm gleich darauf das Auto gestohlen wird, ist die Ursünde, die auf kommende Übel vorausdeutet. Als nächsten trifft es einen Augenarzt (Mark Ruffalo), dann mehr und mehr Menschen – bis das ganze öffentliche Leben verwahrlost und brachliegt. Im dreckigen Chaos werden noch die letzten Läden gewaltsam geplündert. Schreckliche Endzeit-Vision.

Das Böse schwillt ungeheuerlich an. Aus Angst vor Ansteckung werden die Blinden massenhaft in Lager eingesperrt und nur notdürftig versorgt. Bald ruft sich in „Block eins” ein blinder Mann zum „König” aus. Er und seine Schergen haben die restlichen Lebensmittel-Rationen an sich gebracht und verlangen für die spärliche Herausgabe erst Schmuck, dann willige Frauen aus den anderen Blöcken. Ein Mädchen, das bei dieser widerlichen Zwangsorgie nur stillhält und keine „Lust” erkennen lässt, wird bestialisch erschlagen.

Es gibt viele beklemmende Szenen, vor denen man am liebsten – die Augen verschließen würde. Doch zwischendurch lugt die Konstruktion durch, die auch den Roman prägt und die den Darstellern das ehrbare Handwerk erschwert. Hier werden anhand einer apokalyptischen Extremsituation globale Moralfragen durchgespielt. Es ist wie eine große, finale Prüfung – vielleicht von einem zornigen Gott verhängt.

Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch: Dem finsteren „König” treten der Augenarzt und seine couragierte, aus unerfindlichen Gründen als einziger Mensch noch sehtüchtige Frau (Julianne Moore) entgegen. Sie und ein paar Gefolgsleute sind das Häuflein der Aufrechten.

Diese Blinden begreifen ihr Schicksal als Chance zur ungeahnten Gruppenerfahrung: Als im Radio ein Lied erklingt, lauschen sie ergriffen. Im strömenden Regen tanzen sie wie zu Anbeginn des Menschengeschlechts. Aus solcher Gemeinschaft wachsen schließlich Glaube, Liebe, Hoffnung wie zarte Blüten.

In derlei erhabenen Momenten wird der Film so bild- und gefühlsmächtig, dass er denn doch jede angestrengte Konstruktion vergessen lässt.




Warnung vor den „Übermenschen“ – Michael J. Sandels Buch „Plädoyer gegen die Perfektion“

Wer möchte nicht manchmal perfekt sein? Doch wäre Vollkommenheit wirklich so gut? Und ist es nicht sowieso verwerflich, diesen übermenschlichen Zustand anzustreben? Um solche heiklen Fragen geht es in dem neuen Buch „Plädoyer gegen die Perfektion”. Nicht zuletzt taugt der Band als Beitrag zur Doping-Debatte.

Der Autor Michael J. Sandel lehrt Politische Philosophie an der Harvard Universität. Er gehörte zum illustren Kreis der Bioethik-Berater von US-Präsident Bush. Für die deutsche Ausgabe hat Jürgen Habermas das Vorwort geschrieben. Wir bewegen uns also in gewissen Geisteshöhen.

Doch Sandel hebt nicht ab. Er spürt dem wachsenden Perfektionsdrang auf verschiedenen Feldern nach, nennt konkrete Fakten und überzeugt durch klare Beweisführung.

Argumente zu Doping
und Gentechnik

Besonders die unentwegt fortschreitende Gentechnik weckt sein Unbehagen. Doch dabei bleibt der Autor nicht stehen. Er prüft gewissenhaft, worin dieses Gefühl wurzelt und ob es berechtigt ist.

Heute kann man mit bestürzend hoher Wahrscheinlichkeit (je nach Methode bis zu 91 Prozent) das Geschlecht eines Babys vorherbestimmen. Auch Muskelaufbau, Gedächtnis oder Körpergröße lassen sich vor der Geburt „programmieren”. Das weckt Begehrlichkeiten.

Wie man weiß (und bei Olympia bestätigt findet), versuchen besonders Leistungssportler, ihre Physis zu optimieren. Gewisse Dopingmittel können schon bald gentechnisch hergestellt werden, so dass sie kaum noch nachweisbar sind. Und: Manche Musiker nehmen Betablocker gegen Lampenfieber, damit sie cool bleiben. Wo sind die Grenzen des Erlaubten?

Der Autor unterscheidet sehr genau. Beim Sport müsse es im Kern darum gehen, natürliche (!) Begabungen vorzuführen. Was sich damit verträgt, soll zulässig sein. Sonst müsste man ja auch systematisches Training verbieten. Anders aber verhält es sich laut Sandel, wenn das gegebene Talent verschleiert und zum Zwecke bloßen Spektakels künstlich gesteigert wird.

Aus vielen Fallschilderungen arbeitet Sandel behutsam eine moralische Grundposition heraus, hinter die man nach seiner Ansicht nicht zurückfallen darf. Er nennt es die prinzipielle „Offenheit für das Unerbetene”. Das bedeutet: Eltern dürften ein Kind nicht nach ihren Wünschen zurichten, sondern sie sollten es zuerst grundsätzlich so annehmen, wie es nun einmal ist. Erst dann möge korrigierende Erziehung einsetzen.

Die Entwicklung von Kindern sei von Natur aus unvorhersehbar – und diese Unbestimmtheit mache einen Großteil menschlicher Freiheit aus. Jedes Leben solle deshalb als Gabe angenommen werden. Sandel spricht gar von Ehrfurcht und Demut – Worte, die im Rahmen von Kosten-Nutzen-Rechnungen nicht so gebräuchlich sind.

Die „voraussetzungslose Liebe”, so Sandel, werde der Sucht nach Perfektion häufig geopfert. Er kritisiert krankhaft ehrgeizige Eltern, die schon kleine Kinder auf intellektuelle, sportliche oder musikalische Höchsteistung trimmen. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn man ihnen gentechnische Wege ebnen würde. Es wäre wie ein Rüstungswettlauf.

Unterdessen wanken Bastionen, die gefestigt zu sein schienen: Die „Eugenik” (zweifelhafte Lehre von der „Verbesserung” des Menschen, etwa durch „Zuchtwahl”) war wegen der Nazi-Verbrechen für Jahrzehnte diskreditiert. Heute erlebt sie in den USA offenbar eine Renaissance – unter gentechnischen Vorzeichen und mit marktliberalem Zungenschlag. Sandel warnt eindringlich davor.

Naturwissenschaft und Technik sind der moralischen Debatte meist ein paar Schritte voraus. Mit Büchern wie diesem kann die Moral ein wenig aufholen.

Michael J. Sandel: „Plädoyer gegen die Perfektion – Ethik im Zeitalter der genetischen Technik”. Verlag Berlin University Press. 174 S.; 24,90 Euro.

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INFO:

  • Der 1953 geborene Autor Michael J. Sandel ist Professor für politische Philosophie an der Harvard University (USA).
  • Eine seiner Überzeugungen lautet, dass dem „ungebundenen Selbst”, wie es der Liberalismus entwirft, Schranken gesetzt werden müssen; vor allem durch soziale Gruppen und Traditionen.
  • Diese Gegenposition zum Liberalismus wird in der Fachsprache Kommunitarismus genannt.



Manfred Deix: Explosion der Gemütlichkeit

Oberhausen. Drei Namen, drei Marken: Helnwein – Haderer – und Deix. Österreich hat wahrlich nicht nur einen Zeichner hervorgebracht, der menschliches Treiben mit bitterbösem Blick schildert. Und bei der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen haben sie diese „hundsgemeinen” Kerle ganz besonders ins Herz geschlossen.

Jetzt also Manfred Deix. Er zeigt samt und sonders Typen, vor denen es einen graust. Widerliche Fleischberge, ekelhafte Visagen, geifernde Gier, abgründige Lustbarkeiten. Durch und durch vulgär geht es da zu – ja, es ist ein einziges Vulgarien. Doch Deix behauptet, er übertreibe keineswegs. Augen auf! Solche Herrschaften könnten einem tatsächlich begegnen.

Schwarzeneggers
bizarre Jugend

Der Kurator der umfangreichen Schau, Prof. Peter Pachnicke, sieht bei Deix etwas schwellend „Barockes” am Werke, während dessen Freund und Konkurrent Haderer eher für graziles Rokoko stehe. So findet jeder Cartoonist seine kulturhistorische Nische. Man muss sich abheben; erst recht in einem übersichtlichen Land wie Österreich. Trotzdem werden sie meist in einem Atemzug genannt. Künstlerschicksal.

Man fragt sich, ob Deix auch in ferneren Ländern derartige Aha-Erlebnisse auslöst. Dort dürfte die Wahrnehmung weniger detailscharf sein. Denn thematisch und typologisch quillt vieles ganz tief aus den Innereien der Alpenrepublik. Gerade mal süddeutsche Gefilde können sich direkt mitgemeint fühlen, dann aber lässt es wohl schon nach. Braucht etwa jedes Land seinen eigenen Deix?

Polit-Darsteller Österreichs sind bevorzugte Ziele des Spotts. Allen voran Figuren wie Waldheim und Haider. Doch auch ihre Anhänger, die Rassismus hinter explosiv gefährlicher Gemütlichkeit verbergen, geben geradezu apokalyptische Bilder her. Deix hat sie bis zur Kenntlichkeit entstellt. Kein Soziologe schaut so scharf hin.

Satte 238 Arbeiten summieren sich in Oberhausen zur Werkschau. Fast durchweg sind es Kleinformate. Um den Rundgang optisch zu rhythmisieren, hat man jedoch einige Motive auf nie zuvor gesehene Übergröße aufgeplustert. Namenloser Schauder, wenn die Groteske den Betrachter auch noch in solchen Dimensionen überfällt.

„Special Guest: Arnold Schwarzenegger” hieß es auf den Einladungskarten zur Oberhausener Eröffnung. Manche haben nachgefragt, ob „Arnie” vorbeischauen werde. Nicht doch! Aber Deix hat sich dem Aufstieg seines steirischen Landsmanns zum Gouverneur von Kalifiornien äußerst hartnäckig gewidmet. Er phantasiert sich in eine bizarre Kindheit und Jugend des einstigen Hollywood-Muskelprotzes und „Terminators” hinein und zeigt den Mann später auch schon mal bigott und bitterlich weinend, weil er leider, leider wieder einen Hinrichtungsbefehl unterzeichnen muss.

Abgründig auch jene Bilderreihen, auf denen ungeschlachte Erzspießer sich in unheimlicher Weise an kleinen Kindern belustigen, ja aufgeilen. Pornöse Phantasien dringen da bis in die letzten Hirnwindungen von Hintertupfingen. Fleisches-Lust als Fleisches-Ekel. Erhebt da vielleicht doch ein Moralist seinen Zeigefinger? Nein, da leidet einer am Zustand der Zeit – und spaßt das Schlimmste zornig nieder.

„Deix in the City”. Ludwig Galerie Schloss Oberhausen. Bis 8. Juni. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 6,50 Euro. Zwei Kataloge: 14,90 und 17,95 Euro.

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ZUR PERSON:

  • Manfred Deix wurde 1949 in St. Pölten (Niederösterreich) geboren.
  • Im zarten Alter von etwa acht Jahren, so sagt er selbst, habe er für andere Jungs auf deren dringliches Verlangen hin nackte Frauen gezeichnet. Zum Lohn gab’s ein paar Groschen – erste Einnahmen eines Künstlers.
  • 1960 (mit elf Jahren also) brachte Deix wöchentliche Comicstrips bei einer Kirchenzeitung (!) unter.
  • Ab 1968 Kunststudium an der Wiener Akademie.
  • 1972 Erste Beiträge für Magazine. Von nun an ging es steil bergauf.
  • 1980 erstes Cartoon-Buch, dem viele weitere folgten.



Funny van Dannen: Einmal fröhliche Anarchie und zurück

Jetzt klampft und schrammelt er wieder: Funny van Dannen bleibt sich auf seiner neuen CD „Trotzdem Danke“ treu. Vielfach klingen seine Lieder spontan und unbehandelt, wie frisch am Lagerfeuer zubereitet.

Doch was mitunter naiv erscheint, ist natürlich ganz schön durchtrieben – und dann eben doch wieder herrlich unbekümmert. Mal so, mal so, oft beides verwoben. Mal scheu, mal keck. Der Mann ist kaum zu fassen.

Nicht weniger als 24 Songs hat der schräge Barde auf seine Einzelscheibe gepresst. In dieser Überfülle verpufft manch‘ nette Miniatur. Und es stellen sich gewisse Abnutzungseffekte ein. Aber insgesamt ist’s ein Vergnügen.

Man ahnt, welchen Vorläufern Funny van Dannen gelauscht hat. Beileibe nicht nur den ewigen Blues-Größen, sondern auch 70er Jahre-Liedermachern à la Hannes Wader und wohl sogar Erscheinungen wie Martin Lauer. Das war jener 110-Meter-Hürden-Weltklasseläufer, der in den frühen 60ern plötzlich grausliche Schlager mit Western-Touch vorgetragen hat. Andererseits reicht das breite Spektrum bis hin zu harschen Heavy Metal-Anklängen oder punktuellen Punk-Attitüden.

Sandra Bullock
einen Korb gegeben

Aus all dem gewinnt Funny van Dannen mit parodistischem Humor sein ganz eigenes Gebräu. Gleich zu Beginn schlüpft er in die Maske eines Hartz-IV-Empfängers, den vor Jahren Sandra Bullock hat heiraten wollen. Doch damals habe er dem noch unbekannten Hollywood-Sternchen einen Korb gegeben. Bei Funny van Dannen wirkt die hanebüchene Story nicht etwa zynisch, sondern (auf raffinierte Weise) unbeholfen.

Überhaupt diese kleinen, peinlichen Liebesdramen, die hier mit unschuldigem Sinn erzählt werden. Einem Kerl brennt die Gespielin mit einem Chinesen durch – „Scheiß-Globalisierung“. Ein penetrant wohlmeinender Freund verpetzt bei ihrem Partner eine gewisse Linda, denn – so der eingängige Refrain – „Linda treibt sich mit Bauarbeitern ‚rum“. Es ist eines der absurden Spitzlichter dieser Platte; allenfalls übertroffen vom „Dicken Ticket“, einer mutwillig selbstgebastelten Fahrkarte, die unversehens zum Zeichen utopischer Freiheit gerät. Bitte einmal fröhliche Anarchie und zurück. Fensterplatz.

Auch das Jammern beherrscht van Dannen: In „Mütter“ klagt der vierfache Vater die unverwüstlichen Glucken an, welche die Kinder allzeit fürs Leben verderben. Im waghalsigen „Kaputt“ werden im Sekundentakt sämtliche Leiden der Welt angehäuft. Wahrlich: Selbst ein Dichter wie Ernst Jandl hätte sich dafür nicht schämen müssen.

Aus solchen Verhältnissen erwächst eine Sehnsucht nach Einfachheit und Ruhe, nach Freiheit von bleischweren Gedanken. „An manchen Tagen geht nichts ohne Prager Gurken“, weiß eine bärige Blues-Zeile. Und überhaupt sollte man einfach mal die Straße runterlaufen wie Hund – so empfiehlt’s weiterer Song. Doppelter Frevel also, wenn einer seinen Fiffi „Gasprom“ nennt und so bei jedem Zuruf an politische Übel erinnert. Stoßseufzer im Lied: Warum denn nicht Hasso oder Purzel?

Immer wieder traut sich van Dannen auch, Momente des kleinen Glücks aufleuchten zu lassen – wie kaum sonst jemand. In „Genug gute Menschen“ spendet er umfassenden Trost: Wo immer man auch ist, es leben überall ein paar warmherzige Wesen. Dies ist gewiss die durchlittene, ungleich intelligentere Variante von „Du bist nicht allein“.

Funny van Dannen: „Trotzdem Danke“. CD bei JKP/Warner Music, ca. 16 Euro

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INFOS

  • Funny van Dannen wurde am 10. März 1958 in Tüddern an den Grenze zu den Niederlanden geboren. Der Ort gehört heute zu Selfkant (Kreis Heinsberg/NRW) und nennt sich „westlichste Gemeinde Deutschlands“.
  • Er ist gelernter Grafikdesigner, hat diesen Beruf aber nie ausgeübt.
  • 1978 siedelte er nach Berlin über. Er ist verheiratet und hat vier Söhne.
  • 1988 war er Mitbegründer der „Lassie Singers“. Deren Frontfrau Christiane Rösinger gründete wiederum 1998 die Gruppe „Britta“.
  • Viele Lieder der „Toten Hosen“ wurden von Fanny van Dannen geschrieben, beispielsweise „Bayern“ oder „Schön sein“. Auch Udo Lindenberg hat gelegentlich auf Funny van Dannens Schöpfungen zurückgegriffen.
  • CD-Auswahl: „Clubsongs“ (1995), „Uruguay“ (1998), „Herzscheiße“ (2003), „Nebelmaschine“ (2005).



Buergelmaschine: Mona Lisa trifft Krümelmonster

Das Problem kennt man nicht nur aus Kassel: Wenn Kunst selbst nicht mehr deutlich „spricht” (weil sie in „Konzepten” erstickt), dann müssen die Interpreten umso weitschweifiger reden. Allen voran der documenta-Chef Roger M. Buergel. Sein mit allerlei intellektuellem Lametta geschmückter Jargon beim Beschreiben der Kunst wird jetzt auf einer Internet-Seite trefflich verulkt.

Dem Manne fällt noch zu jedem Kunstprojekt eine sprachliche Wendung ein, die manchmal auf wolkige Art – so gut wie gar nichts besagt. Das hat auch die Leute des Blattes „Exot” (Zeitschrift für komische Literatur) dermaßen entnervt, dass sie ihre Computer mit den 50 geschwollensten Original-Phrasen gefüttert haben, die immer wieder neu zu irrsinnigen Sätzen komibiniert werden können. Das Resultat? Wohlfeil, aber vielfach auch witzig.

Das Verfahren im Netz ist simpel: Man lädt ein beliebiges Bild hoch, versieht es mit dem wirklichen oder einem Wunschtitel – und fordert per Mausklick die Deutung an. Und schon rattert sie, die zufallsgesteuerte „Buergelmaschine”, die jegliches Kunstwerk gründlich plättet – wie nur je eine Bügelmaschine.

Mehrere Nutzer haben Leonardos berühmte „Mona Lisa” eingestellt. Wir erfahren dazu im typischen Buergel-Sound, dieses Gemälde sei „die Projektion eines Gesellschaftskörpers im Sinne einer Gemeinschaft der Gleichen.” Passt nie und immer. Im zweiten Anlauf heißt es über dasselbe Bild, Leonardo versuche, „die Strukturen der digitalen Informationsgesellschaft zu verstehen.” Dieser Maler war eben weitsichtig.

Ein biedermeierliches Idyll von Carl Spitzweg wird so „erklärt”: „Grundthese der klimaveränderungsgebeutelten Arbeit ,Der Bücherwurm‘ ist die lyrische oder sogar ekstatische Seite der Kunst.” Gut, dass es mal einer sagt. Auch das mit dem Klima.

C. D. Friedrichs romantischer „Wanderer über dem Nebelmeer” bleibt auch nicht ungeschoren: „Trotz der Partydekadenz des Kunstmarktes ermutigt Caspar David Friedrich (dazu), Betroffenheitskitsch zu aktivieren . . .”

Richtig abstrus wird es aber erst, wenn die User keine anerkannten Kunstschöpfungen, sondern populäres Bildwerk hochladen. Ein Porträt des Krümelmonsters etwa, das lauthals „Kekse!” verlangt. Dazu heißt es ganz beherzt: „Das Spannungsfeld von Konvention und Imagination der konsumistischen Arbeit ,Kekse!‘ ist das bloße Leben.” Man hat es doch immer schon geahnt, oder?

Ein Briefmarken-Doppelbildnis der alten Existenzialisten-Haudegen Käpt’n Blaubär und Hein Blöd haben wir bisher freilich nie zu würdigen gewusst – bis wir diese durchtriebene Auslegung gelesen haben: „Im Rahmen von Performances fordert Hein Blöd, die Formentypologie der Moderne zu vernichten (…) Das bestimmende Moment der Irritation der leisen und differenzierten Arbeit ,Käpt’n Blaubär‘ ist Jean-Paul Sartre.”

Maus, Ente und Elefant aus der „Sendung mit der Maus” erfüllen gleichfalls eine Mission: „Das Verhältnis von Unterwerfung und Freiheit auslotend”, will das Trio nämlich den „negativen Raum als Provokationsstrategie” zur Debatte stellen, und das auch noch in der „traumlosen Hölle des Realen”. Mauseken, wie haste dir verändert!

Natürlich können es manche nicht lassen und setzen Bildnisse unbekleideter Damen völlig ungeschützt dem deutenden Zugriff aus. Eines heißt vielsagend „Höhepunkt”. Die Deutung erhebt sich weit übers Fleischliche: „Triviale Erkenntnis der unterkomplexen Arbeit ,Höhepunkt‘ ist das Grundgefühl der Verlorenheit in Kassel.”




Der Sex von damals ist nur noch ein fader Aufguss – Robert van Ackerens Nachlese „Deutschland privat 2 – Im Land der bunten Träume“

Von Bernd Berke

Ach, wie lang sind sie vorüber: die 60er und 70er Jahre – mitsamt den Super-8-Filmchen, die damals im familiären Kreise oder in zweisamer Verschwiegenheit gedreht wurden.

Als Robert van Ackeren („Die flambierte Frau“) 1980 solche Kostproben unter dem Titel „Deutschland privat“ ins Kino brachte, da hatte man noch den Nachgeschmack jener Jahre auf der Zunge. Es ging einen noch an. Auch deshalb waren die oft neckischen Blicke in Alltag und Intimsphäre der Nation ein Lacherfolg in den Programmkinos. Wer da lauthals geierte, dünkte sich meist weitaus weniger spießig als die Leute auf der Leinwand. Derlei billige Gewissheiten haben sich längst verflüchtigt.

Jetzt gibt’s – aus gehöriger Distanz – den wohl endgültigen Abgesang auf die Ära derSuper-8-Streifen (eine Weltfirma hat kürzlich die Produktion des Materials völlig eingestellt). Der passionierte Super-8-Sammler Van Ackeren zieht jetzt eine späte Fortsetzung ans Licht: „Deutschland privat 2 – Im Land der bunten Träume“.

Wiederum liegt ein Schwerpunkt auf den inzwischen so fern gerückten 70er Jahren. Der Rückgriff ähnelt fast archäologischer Feldforschung. Da schwappt noch die Sexwelle, und die DDR existiert bräsig vor sich hin.

All das Getue und Geschiebe auf Super-8-Filmchen

Gut die Hälfte der 25 Streifen befasst sich explizit mit Sex. Ganz ehrlich: All dies Getue und Geschiebe könnte einem die Freude an der Sache beinahe verleiden. Wir sehen „die“ Deutschen als Exhibitionisten, als heillos enthemmte Nackte. Sexuelle Leistung wird geliefert, gelegentlich bis zum Übersoll. Bloß nicht prüde sein. Von Erotik bleiben höchstens Spurenelemente. Nicht gerade schön, zuweilen trist oder gar abstoßend. Deutschland bizarr.

Das Ganze riecht wie fader Aufguss. Van Ackeren schwört weiterhin auf die Wahrhaftigkeit solcher Amateurfilme. Doch das ist naiv.

Die Auswahl schmort im eigenen Saft

Natürlich waren Formen und Inhalte vielfach anderweitig vorgeprägt – durch Fernsehen, Werbung, kommerzielle Pornos usw. Immerhin: In besseren Momenten werden alteingeführte filmische Mittel als Klischees bloßgestellt. Gleichsam nebenbei. Und rührend unbeholfen.

Zudem erschrickt man über ein paar veritable Fundstücke. Der wohl stärkste Beitrag zeigt, wie sich rebellische DDR-Jugendliche bei ihrem übermütigen Tun gefilmt haben. Vollends abgründig ist die Episode „Ich auf Brautschau“: Ein Mann, der noch bei Mutti wohnt, holt sich gegen Bares blutjunge Frauen aus dem Asien-Katalog ins traute Heim und filmt gierig drauflos. Verklemmt und unverfroren zugleich.

Aufschlussreich wären Vergleiche – mit ähnlichen Filmen etwa aus Frankreich, Italien und England. Oder mit heutigen privaten Hervorbringungen auf DVD und im Internet. Doch Van Ackerens Auswahl schmort im eigenen, schon lange vergorenen Saft.




Toll trieben es die alten Römer – Schneller, größer, weiter: „Das Buch der antiken Rekorde“ verzeichnet Unglaubliches

Von Bernd Berke

Das musste ja so kommen: Es war nur eine Frage der Zeit, dass Hitparaden-Sucht und Listen-Wahn sich auch des Altertums bemächtigen würden. Jetzt liegt das „Das Buch der antiken Rekorde“ vor. Und siehe da: Es ist bei aller Kurzweil ein recht seriöses Werk geworden.

Cecilia und Allan Klynne sind Altertumsforscher am Schwedischen Archäologischen Institut in Rom. Sie sitzen somit gleichsam an einer „Quelle“ bzw. an wichtigen Grabungsstätten. Der Band ist denn auch ein wenig Rom-lastig geraten, die Griechen und andere kommen etwas kürzer.

Aus sämtlichen Bereichen des antiken Lebens haben die emsigen Schweden allerhand Kuriosa zusammengetragen. Für jede Behauptung nennen sie die Quelle und melden selbst so manches Mal Zweifel am Wahrheitsgehalt an.

Die böseste Stiefmutter

Längst nicht alles geht als lupenreiner „Rekord“ durch. Viele Mitteilungen sind dem subjektiven Empfinden anheimgegeben, etliches lappt ins Sagenhafte hinein. Wer will schon mit Bestimmtheit sagen, welches das seinerzeit „seltsamste Pferd“ (es hatte angeblich menschenähnliche Zehen und gehörte Caesar) oder wer die „böseste Stiefmutter“ gewesen ist?

Verblüffend genug: Es gab zu jenen Zeiten ein Volk (die Dardaner), dessen Angehörige sich insgesamt nur dreimal wuschen bzw. gewaschen wurden (Geburt, Hochzeit, Tod), während der römische Kaiser Comodus täglich acht Bäder zu nehmen pflegte.

Eine Frau soll gleich viermal jeweils Fünflinge geboren haben. Ein Sizilianer konnte der Überlieferung zufolge bis zu 210 Kilometer weit spähen, ein anderer heimlicher Heros des Altertums ist angeblich an einem Tag 238 Kilometer zu Fuß gerannt. Beim „Weitsprung“ sollen antike Athleten 16 bis 17 Meter geschafft haben. Man nimmt daher an, dass es sich um eine Art Dreisprung gehandelt hat. Aber selbst dann wär’s eine famose Leistung.

Orgie mit rund 7000 Menschen

Weitaus wüstere „Höchstgrenze“: An der größten Orgie im dekadenten Rom sollen rund 7000 Menschen teilgenommen haben. Danach verschärfte der Senat die Gesetze.

Schier Unglaubliches auch im Pflanzenreich: In Nordafrika reiften damals Weintrauben von der Größe eines Säuglings. Und die Tiere? Es tobte mal ein blutiger „Krieg“ zwischen Delphinen und Krokodilen, den Letztere kläglich verloren haben sollen.

Unter der Rubrik Schauspieler/Künstler findet man diesen Wahnwitz: Caesar zahlte einem Darsteller namens Laberius für einen einzigen Auftritt eine Millionengage, der bedankte sich mit härtester Staatskritik von der Bühne herab. Ein reicher Römer ließ derweil 100 Männer kastrieren, damit sie seiner Tochter ebenso hellstimmigen wie gezwungenermaßen sittsamen Musikunterricht erteilen konnten. Ein wahrhaft schmerzlicher Rekord…

Ein Glas Landwein gab es für 2 Euro

Literaturkritik muss übrigens im 3. Jhdt. vor Christus ein gefährliches Geschäft gewesen sein. Als ein gewisser Zoilos in der Bibliothek von Alexandria seine Lyrik vorlas und dabei den Dichter Homer schmähte, wurde er auf Herrscher-Geheiß hingerichtet. Da haben es heutige Rezensenten gelegentlich leichter.

Nach bestem Wissen und Gewissen haben die Autoren Maße, Gewichte und sogar Währungen umgerechnet. Das Durchschnittsvermögen römischer Senatoren taxieren sie demnach auf rund 6 MillionenEuro. Unteres Enden der Skala: Ein Glas einfachen Landweins mag etwa 2 Euro gekostet haben. Prosit!

Allan & Cecilia Klynne: „Das Buch der antiken Rekorde“, C. H. Beck, 288 Seiten, 18 Euro.

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FAKTEN

250 000 konnten beim Pferderennen zusehen

  • Der Circus Maximus in Rom fasste bei Pferderennen 250 000 Zuschauer. Damit verglichen sind heutige Fußballstadien intime Versammlungsstätten.
  • Natürlich wird auch der größte Vulkanausbruch der Antike erwähnt: Im Jahr 79 n. Chr. zerstörte der Vesuv-Auswurf Pompeji und Herculaneum.
  • Die größte Bibliothek befand sich seinerzeit in Alexandria und hortete 700 000 Textrollen.
  • Ein Kapitel behandelt die „Sieben Weltwunder“.



Kleiderhaken bürgen für Qualität – Max Goldts Buch „QQ“

Wenn man mal wieder nicht so recht weiter weiß im (Gesellschafts)-Leben, dann ist es an der Zeit, Max Goldt zu lesen. Er weist Wege, er schlägt Schneisen.

Sein neuer Band heißt „QQ”. Das Kürzel steht angeblich für „quiet quality”, also stille Güte. Nun ja. Gewiss. Der begnadete Kolumnist des Satireblattes „Titanic” steuert stets einen Schlingerkurs. Er kommt gedanklich von Hölzchen auf sonstwas, so dass man oft fürchtet: Jetzt trägt es ihn wirklich aus der Kurve, das kriegt er nicht mehr heil über die Runden. Doch man täuscht sich. Über dem assoziativen Gewimmel waltet denn doch sein gesunder Menschenverstand, der sich durch keine herrschende Meinung, keinen Trend und keinen Lifestyle blenden lässt.

Was lernen wir diesmal? Beispielsweise etwas über den Unterschied zwischen dem klugen und dem dusseligen Staunen. Zitat: „ . . . man sollte selbstdisziplinarische Maßnahmen ergreifen, um nicht an jene Grenze zu stoßen, hinter der das Staunen in Gaffen und entfesseltes Plappern übergeht.” Es folgt ein aberwitziges Beispiel: Jemand wird auf einer Party einem Moraltheologen vorgestellt, worauf man eben verschieden reagieren kann. Etwas weniger feinfühlige Variante: „Wow! Ich glaub, ich spinne: ein Moraltheologe! Ich dachte, die gäbe es nur im Fernsehen . . . Darf ich Sie mal fotografieren? Oh Schock, mein Akku ist fast alle . . .”

Mit Goldt sieht und hört man genauer hin: Da lernt man etwa den blasierten TV-Komponisten kennen, der für alle möglichen Sendeformate immerzu Mönchschöre einsetzt. Ferner geht’s um die bestürzend putzige Wesensart jener Frauen, an deren Handtaschen Teddy-Figürchen baumeln. Auch das soziale Prestige von Serien-Schauspielerinnen bei gewissen Privatsendern wird zeitdiagnostisch erörtert, es ist demnach vergleichbar mit dem eines Losverkäufers im Zoo. Wie präriehundsgemein!

Liebevoll geraten hingegen die kleinen Porträts wunderlicher alter Damen, die das Bild wahrer Großstädte laut Goldt mehr bereichern als jede schrille Jugend-Fraktion. Man schlürft dabei Formulierungen wie diese hier: „. . . während die andere mehr dem Typus des glückhaft im Eigenleben versumpften ,alten Mädchens‘ entsprach.”

Zwischendurch zerpflückt Goldt einen ebenso branchenüblichen wie bodenlosen Kritikersatz („Radikale Bestandsaufnahme des Lebensgefühls einer Generation”) in seine dummdreisten Bestandteile. Der Beitrag gehört in künftige Leitfäden für Leute, die über Kultur schreiben.

Ein Ausflug führt sodann in diverse Gaststätten. Als ein Qualitätsmaßstab wird da die Anzahl der Kleiderhaken hinzugezogen. Je mehr davon, umso solider und bodenständiger das Lokal! Sagen wir’s folglich mal so: Dieses Buch von Max Goldt ist ungelogen randvoll mit Kleiderhaken.

Max Goldt: „QQ”. Rowohlt Berlin, 156 Seiten, 17,90 €.




Helge – der Schamane des Unsinns / Programm „I Brake Together“: Auftakt zur langen Tournee in Paderborn

Von Bernd Berke

Paderborn. „Paaaderboorn – Bi-hie-lefeld – Minden.“ Der Kerl macht sogar aus den Ortsnamen seiner ersten Tournee-Stationen noch einen kleinen Song. Helge Schneider ist wieder unterwegs, und die Reise soll bis ins Jahr 2008 dauern.

Jetzt gab’s den Auftakt just im kreuzbraven Paderborn. Ein Testgelände abseits der kulturellen Hauptrouten. Helge treibt natürlich seine kleinen Scherze mit der Stadt. Mal nennt er sie „Kaff“, mal „kafkaesk“. Alles furchtbar nett gemeint. Daran, dass hier und andernorts nichts los ist, sei ohnehin nur Angela Merkel schuld, bemerkt er feixend.

„I Brake Together“ heißt sein neues Musikprogramm. Das kann man kaum übersetzen. Genau genommen, hieße es nicht „Ich breche zusammen“, sondern etwa „Ich bremse zusammen.“ Aber bei Helge Schneider darf man nicht zum Wortklauber werden. Kichernde Sinn-Zerstäubung ist seit jeher sein Pläsier.

Hauptsächlich besteht der Abend aus exzellent dargebotenen Jazz-Spielarten, Blues und traditionssattem Rock’n’Roll – meist in schön verjaulte Schräglage versetzt, was die Musik oft erst richtig auf den Begriff bringt.

Dass Helge (51) ein Virtuose auf vielen Instrumenten (Klavier, Saxofon, Trompete, E-Gitarre etc.) ist, hat sich herumgesprochen. Und wer einen Pete York in seiner (betagten) Begleitband hat, muss sich erst recht keine Sorgen um den Sound machen. Der seit den frühen 1960er Jahren aktive Drummer (Spencer Davis Group, Hardin & York etc.) bekommt auch bei Helge sein bärenstarkes Solo. Wow!

Vor allem aber lechzt das überwiegend junge Publikum nach Helge Schneiders Liedtexten und Überleitungen. Es giert nach herrlich hirnrissigen Titeln wie „Lady Suppenhuhn“ oder „Telefonmann“, die dieser Schamane des Unsinns schlichtweg gekonnt herunter-eiert. Sein neuer Hit vom „super-sexy Kä-Kä-Käsebrot“ zerrt einen biederen Tonfall („Käsebrot ist ein gutes Brot“ – das klingt wie aus den 50er Jahren) über alle Zwischenzeit hinweg ins Jetzt. Er bringt auch solche halsbreçherischen Sachen halbwegs heil um die Kurve.

Gipfelpunkt ist seine ingeniöse Parodie auf Udo Lindenberg. Da scheint tatsächlich „uns‘ Udo“ zu röhren – im schlingernden Dialog mit einem gewissen Helge Schneider. Der bringt es sogar fertig, beide Singstimmen (fast) auf einmal ertönen zu lassen. Und beim neuen Lied „Trompeten von Mexiko“ („sie laden dich ein“) spielt er dieses Blasinstrument und das Piano zugleich. Solche simultanen Zauberstücke macht ihm so leicht keiner nach.

Man spürt, dass er mittlerweile entspannt in sich ruht. Er muss sich und uns nichts mehr beweisen. Wo er ehedem schon mal etwas krampfhaft witzelte, lässt er’s heute durchweg locker laufen. Und es blitzen sogar Zwischentöne durch – allerhand Sottisen gegen Konsumwahn und TV-Flachsinn inbegriffen. Besser so. Heute ist heute, morgen improvisiert er gewiss wieder ganz anders. Und bei all dem wird dieser Chaot unversehens zum Perfektionisten.

Blöd ist er sowieso nicht. Es springen gar hinterhältige (Anti)-Weisheiten heraus. Etwa diese Erkenntnis über Einsamkeit, die auf Gelegenheiten lauert: Liebe bestehe doch oft darin, dass man jemanden „irgendwo abfängt“. Oder zum Ladenschlussgesetz: „Endlich kann man mal bis 20 Uhr pennen.“ Zur Weihnachtszeit mahnt er als oberstes Ziel „Zufriedenheit“ an. Was man jetzt überhaupt nicht gebrauchen könne, seien Leute, die „ins Tannenbaumzimmer rasen und in die Ecke pinkeln“. Ist doch wahr!

Das Publikum in der ausverkauften Paderhalle ist lachlustig. Die Fans goutieren ja praktisch alles, was Helge so treibt. Doch enthusiastisch steigert sich der Beifall nur stellenweise. Vielleicht liegt’s ander mitunter bedächtigen ostwestfälischen Wesensart?

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HINTERGRUND

Platte, Buch, Kinofilm und Tournee

  • Helge Schneider kommt jetzt in diversen Medien auf uns zu:
  • Die CD zur Tournee „I Brake Together“ kommt am 19. Januar 2007 heraus.
  • Kürzlich ist sein neues Buch „Die Memoiren des Rodriguez Faszanatas“ erschienen.
  • Am 11. Januar 2007 startet Dany Levys Kino-Tragikomödie „Mein Führer“ – mit Helge Schneider in der Rolle Adolf Hitlers…
  • Die langwierige Tournee führt u. a. nach Mülheim (16. und 17. Dez. 2006), Essen (15.2.2007) – und erst im Herbst 2007 nach Gelsenkirchen, Olsberg, Attendorn, Hamm, Dortmund und Hagen.

 




Erst das Chaos des Lebens, dann vielleicht die Kultur – Christoph Schlingensiefs wortreicher Auftritt im Dortmunder Konzerthaus

Von Bernd Berke

Dortmund. Konzerthaus-Chef Benedikt Stampa hat das Publikum gewarnt: Heute werde es kulturell „ans Eingemachte“ gehen. Kein leeres Versprechen. Denn der Mann, der danach die Bühne betritt, ist Christoph Schlingensief. Dieser umtriebige Aktionskünstler, Theater- und Filme-Macher („Terror 2000″) gilt vielen als „Provokateur“ und „Enfant terrible“ der Szene.

Wegen großen Andrangs war der Auftritt (in der Reihe „Lektionen zur Musikvermittlung“) vom Foyer in den großen Saal verlegt worden. Schlingensief (46), gebürtiger Oberhausener, kommt ‚rein, wirft Rucksack und Jacke achtlos hin, entert im Handstreich das Rednerpult. Eine Performance beginnt. Schlingensief spricht ohne Punkt: über Gott, Gesellschaft, Kindheit, Welt. Erst kommt das Leben mit Urängsten, Urantrieben. Dann vielleicht Kultur. Zum Schluss die blöden Kritiker.

Oft macht er den Klassenkasper, doch stellenweise erinnert er an einen sendungsbewussten Power-Prediger, freilich um Selbstironie bereichert. Schlingensief als „Maschinengewehr der Anarchie“? Mit Chaos und Taumel ist er jedenfalls per Du. „Deswegen mögen mich Leute mit Bausparvertrag nicht.“ Das Leben sei nun mal ungeordnet und rasch vergänglich. In sieben Jahren (so führt er ein Zitat von Joseph Beuys fort) könne sowieso alles zerstört sein, dann gebe es statt des Konzerthauses vielleicht wieder den Drogenstrich…

Und inhaltlich? Schwer zu sagen. Ein paar Vorlieben kristallisieren sich jedoch heraus. Alle Wege, die geradeaus führen sowie einfach belichtete Filme, Menschen und Dinge sind Schlingensief ein Graus. Schluss mit den Festlegungen! Her mit den vielfach überblendeten, undeutlichen Verhältnissen; mit dunklen Momenten zwischen den (Fîlm)-Bildern. Oder mit dem Übermaß, in dem man sich vor andrängenden Bildern nicht mehr retten kann. Hier geschehe, ob in Kunst oder Leben, das wahrhaft Spannende. Alles klar? Ach, ums bloße Vermitteln und Verstehen geht’s bei ihm ja kaum.

Sein manischer Redefluss gefällt nicht jedem. Alsbald stürzt ein erboster Herr aus dem Saal und ruft Schlingensief zu: „Machen Sie weiter mit Ihrem Geschwätz!“ So nennt er, was durch den kreativen Kopf kreist und schnell zur Zunge drängt. Dabei hat Schlingensief doch etliches erlebt und gelesen. Gewiss kein Dummkopf, sondern einer, der aus Wirrnis munter schöpft. Einer, der sich alle (Narren)-Freiheit nimmt und das wilde Denken zelebriert.

Zudem ist er ein Entertainer, begabt auch fürs spontane Impro-Theater. Wie er den Stil der Dirigenten von Bayreuth (Boulez, Thielemann) parodiert, wo er als Regisseur den „Parsifal“ in Bilderfluten getränkt hat! Auch Richard Wagner sei unsteter Chaot gewesen und somit lebensnah.

Wenn Schlingensief durch assoziative Achterbahnen saust, von Wagner auf seine eigenen Eltern, Marihuana und katholische Demut kommt, dann blitzt es zuweilen – oder läuft ins Leere. Egal. Den Spruch, er sei ein „Provokateur“, mag Schlingensief nicht mehr hören: „Wenn ich einer bin, was sind dann die Politiker?“ Für den wohlfeilen Satz gibt’s Szenenapplaus.

Schließlich noch sein kurzer Dialog mit Holger Noltze, der den Dortmunder Studiengang „Musikjournalismus“ leitet und tapfer versucht, Schlingensiefs Gedanken ein wenig zu sortieren. Zwecklos.




Gernhardt, Waechter, Bernstein – das Dreikönigstreffen des höheren Sinns und Unsinns in Menden

Von Bernd Berke

Menden. Man beachte den Unterschied: Es war kein Event, es war ein Ereignis. Der vor rund dreieinhalb Jahrzehnten geschmiedete Dreierbund des parodistischen Nonsens erneuerte sich am Samstag glorreich im Kinocenter Menden: Robert Gernhardt. F. K. Waechter und F. W. Bernstein waren da – gleichsam das Dreikönigstreffen des feinfühligen Humors.

Die Briten hatten „Monty Python“, unsereins hatte Loriot und diese drei: Zur Mitte der 60er-Jahre war’s, als das unvergleichliche Trio die „Welt im Spiegel“ (WimS) schuf, jene legendären Seiten für höheren Sinn und Unsinn, die dem Satiremagazin „Pardon“ beigeheftet waren. Als so genannte „Neue Frankfurter Schule“ haben sie gewiss den Humor des sensibleren Teils der 68er-Generation mitgeprägt.

Drei einflussreiche Pioniere des geistvollen, oft das Philosophische streifenden Ulks also. Gernhardt gilt längst auch der hochmögenden Literaturkritik als feste Größe, Waechter machte seinen weiteren Weg nicht zuletzt als Kinderbuch- und Theaterautor.

Wie schön, dass ihre Bruderschaft noch besteht. Und wie gut, dass sie ins sauerländische Menden fanden, wo der rührige Verein „Katastrophen Kultur e.V.“ ihnen allerdings weder das Theater Scaramouche (wegen angeblicher Einsturzgefahr geschlossen) noch das Theater am Ziegelbrand anbieten konnte. Also zog man ins Kinocenter. Und der große Saal war derart ausverkauft…

Es geht um „Mann und Maus, Mensch und Frau“

Gernhardt gab die globale Leitlinie vor: Um „Mann und Maus, Mensch und Frau“ werde es in den Texten aus 35 Jahren gehen. Sogar der „Page Herbert“, eine Figur aus den Anfangsjahren, hatte nochmals einen absurd-frechen Auftritt antiautoritären Zuschnitts: Wiederum dürfte er seinem zornigen König den Kauz ins Gesicht werfen und siedende Fettmasse hinterdrein gießen („…und das heiße Schmalz / zischt dir an den Hals^).

Oder dies: Die Viktor-Schlawenz-Gesellschaft will Leben und Werk dieses Mannes fördern. Doch leider gibt es nirgendwo einen, der so heißt. Tja. Die Goethe-Gesellschaft hatte eben unverschämtes Glück: Da lebte einer dieses Namens, der sogar Meisterwerke schrieb. Oder das: Ein selbsternannter Experte behauptet, die Zentralgestalt der Kunstgeschichte sei ja wohl die Bisamratte. Gewiss doch. Etwa bei Rembrandt, dem alten „Bisamratten-Pinsler“.

Oh, ihr tiefen Wonnen der Albernheit! Allerlei hintersinnige Dichtungen und Dramolette wurden mit verteilten Rollen gelesen. Sündiger Sex und seliger Suff bilden das Gerüst, um das sich ausgefeilte Reime ranken. Gar oft ist auch der Tod zu Gast, der alte Sensenmann. Doch selbst ihm wird Hohn und Spott zuteil.

Ältere Texte erklären sich aus der Reibung an überkommener Sexual-„Moral“ der 50er- und frühen 60er-Jahre. Damals waren es befreiende Akte, inzwischen sind sie mit Würde gealtert. Nicht Patina haben sie angesetzt, wohl aber Jahresringe. Ganz so wie F.K. Waechter, der immer noch die gleiche (inzwischen schlohweiße) Freak-Frisur trägt wie „damals“; ganz so wie Bernstein, der vielleicht Skurrilste, Verschrobenste von den Dreien (was einiges heißen will). Mag sein, dass es ihnen ergeht wie Bob Dylan, dem die Fans immer wieder die Songs aus den 60ern abverlangen. Sie lassen sich keinerlei Routine anmerken. Im Gegenteil. Hut ab!




„art open“ in Essen: Mumpitz des Jahres oder mutiges Durcheinander?

Von Bernd Berke

Essen. Plakate in der Stadt? Fehlanzeige. Irgendein Hinweis am Messegelände? Nichts. So klammheimlich wollen die Veranstalter der als Weltkunstschau angepriesenen „art open“ bis zum 8. August über eine Million Besucher nach Essen locken?

Plakatflächen seien ausgebucht, hieß es gestern zur Pressekonferenz. Vielleicht hätte man sich ja frühzeitig darum kümmern müssen. Zu sehen gab’s nur wenige der angeblich 900 Kunstwerke von der Steinzeit bis heute, die man in fünf Messehallen zeigen will. Zwei Tage vor Eröffnung herrschte vielfach gähnende Leere, in etliche Bereiche wurden die Journalisten wohlweislich gar nicht geführt. Ein Katalog war auch noch nicht fertig.

Selbst ein Mikrofon, mit dem man die versammelten Berichterstatter akustisch hätte erreichen können, war nicht vorhanden. Derweil übertönte eine Voodoo-Kultgruppe aus Benin jedes unverstärkt gesprochene Wort. Das sei ein Ritus, den man nicht einfach abbrechen könne, hieß es.

Voodoo als Schwerpunkt

Voodoo ist ein, wenn nicht d e r Schwerpunkt dieser obskuren Schau. Voodoo-Figürchen durfte man also bestaunen, es folgten diverse russische Ikonen, sodann vorwiegend zweit- bis drittklassige Bilder zwischen Barock und 19./20. Jahrhundert, offenbar größtenteils aus kleineren osteuropäischen Museen geliehen, die über ein paar Devisen-Scherflein froh sein dürften.

Je ein Bild von Rubens („Gottvater, von den Evangelisten verehrt“) und El Greco („San Juan“) sollten „später“ noch eintreffen. Ist dies nun der Mumpitz des Jahres, oder kann die Regellosigkeit und billige Beliebigkeit gar befreiend wirken? Lassen wir die Antwort gnädig offen.

Von 30 auf unter 10 Mio. DM ist der Etat abgespeckt worden. Auf Veranstaltungen im Freigelände hat man völlig verzichtet, wobei man sich von der Messe Essen eh stiefmütterlich behandelt fühlt.

Verzehr soll das Finanzrisiko mindern

Dieter Walter Liedtke, Mentor des Ganzen, der unser aller Bewußtsein mit der Ausstellung und seiner simplen Kunst-Erklärungsformel erweitern will, tapste etwas ratlos durch das, was er da (nicht) angerichtet hat. Angeblich steht Liedtke für finanzielle Risiken gerade. Mit über 1 Million Besuchern (ob diese Zahl wohl je erreicht wird?) soll sich die Sache selbst tragen; bei freiem Zugang (Konzert-Eintritte kosten aber kräftig) rund um die Uhr. Gewinn bringen soll ein Verzehr von etwa 30 DM pro Kopf. Dann zahlt man für Bier oder Saft also 10 DM? Nein, gerade mal 3 DM. Höchst rätselhaft.

Der weltbekannte Ausstellungsmacher Harald Szeemann (documenta, Biennale in Venedig), nicht mehr mit der „art open“ befaßt, war gestern gleichwohl zugegen. Vieles, so Szeemann, mißfalle ihm an der Schau. Doch Liedtke selbst, der ein mutiges Durcheinander angestiftet habe, sei das eigentliche Kunstwerk; seine „Spinner-Potenz“ gehöre in ein „Museum der Obsessionen“. Da sagt’s mal einer.




Wenn Rubens dem Voodoo-Kult begegnet – Wirre Pläne zu einer „Weltkunstschau“ in den Essener Messehallen

Von Bernd Berke

Essen. Vollmundiger kann man eine Schau nicht ankündigen: Die „spektakulärsten Ausstellungsräume der Welt“ würden sich ab 10. Juli in fünf Essener Messehallen für eine „kulturelle Revolution“ auftun, und zwar 24 Stunden am Tag bei freiem Eintritt.

„Erstmals“, so tönen die Veranstalter weiter, werde man bei diesem „Event“ die Entwicklung der Kunst wirklich verstehen können. Das klingt so merkwürdig wie so manches am Projekt „art open“.

Die wahrhaft simple Formel, die uns zum Verständnis aller Künste führen, ja sogar „jede Idee erklären“ soll, lautet so: „Leben (Bekanntes) + Bewußtseinserweiterung (Innovation) = Kunst“.

Aha! So einfach ist das also. Ersonnen wurde die Wunderformel vom gebürtigen Essener Dieter Walter Liedtke (54), der auf Mallorca ein kleines Museum mit Selbstgemaltem betreibt, bisher aber vor allem durch die Erfindung eines „luftgepolsterten Turnschuhs“ auffiel, was nicht unbedingt als Qualifikation für die Weltspitze der Kunst taugt.

Ungenannte „Originalwerke“

Liedtke („Alles ist Kunst“) will sich in Essen bei seiner „Weltkunstausstellung“ nicht lumpen lassen. Hier ist nur Platz für eine kleine Auswahl aus dem bisherigen Wust marktschreierischer Pressemitteilungen: angebliche „Originalkunstwerke“ von Rubens, Picasso, Dalí, Beuys und vielen anderen (wobei bisher kein einziges Werk benannt wird); eine Schau über die Steinzeit; dazu die (natürlich) „europaweit erste“ Ausstellung zum Voodoo-Kult. Rubens und Voodoo – welch eine aparte Kombination!

Doch damit längst nicht genug im Gemischtwarenladen: Talkshows („Werden wir alle zu Genies?“), Filme, Konzerte von Klassik bis Techno, die bisher nicht so arg vermißte „Weltpremiere“ des Ex-Scorpion Hermann Rarebell mit seinem „Monte Carlo Pop Orchester“ und viel anderes Zeug füllen die Programmpläne.

Erleuchtung wie in einer Sekte

Dafür bürgt als Regisseur ein gewisser Vladimir Egorov, „am 25. Juni 1953 im Ural geboren“ und Absolvent der Moskauer Zirkusschule. Der gut Mann wird so zitiert, als habe er bei einer Sekte den Weg der Erleuchtung beschritten: „Als ich von der ,art open‘ hörte, fand ich meinen Lebensinhalt in Liedtkes Kunstformel wieder.“

Wahrhaft erstaunlich: Ruhrgebiets-Kunsttalente sollen ebenso präsentiert werden wie nicht weniger als 2000 (!) internationale Künstler, die vorführen sollen, warum diese Erde liebenswert ist. Namen? Fehlanzeige. Schließlich sollen die Besucher (man rechnet ganz locker mit einer Million bis zum 8. August – aber haben Sie schon mal ein einziges „art open“-Plakat gesehen?) ihren röhrenden Hirsch gegen wahre Kunst tauschen oder im Wettstreit auf allen möglichen Gebieten selbst kreativ werden, z. B. indem sie aus abgeschnittenen Haaren Bilder und Skulpturen zaubern. Gipfel: Eine Massenhochzeit „in vier Religionen“ soll die „spirituelle“ Bedeutung der Heirat beweisen. Ganz klar: Auch die Ehe ist ein Kunstwerk.

24 Stunden am Tag – alles kostenlos?

Überdies gehen die Veranstalter mit hochkarätiger Schirmherrschaft hausieren. Spaniens Königin Sofia soll ebenso eingewilligt haben wie Michail Gorbatschow und Norbert Blüm. Der hat sich darauf eingelassen, weil er sich mit Sofia und „Gorbi“ in bester Gesellschaft wähnte. Auch der Name Harald Szeemanns, des hochrenommierten documenta- und Biennale-Machers, ziert noch die „art open“-Werbung. Doch Szeemann soll seine Zusage als Ausstellungsleiter des Bereichs Bildende Kunst bereits zurückgezogen haben. Falls es so ist, war er wohl gut beraten.

Die Messe Essen, die die Inhalte der Schau lieber nicht kommentieren mag, teilt unterdessen mit, daß laut Ordnungsamt eine 24stündige Öffnungszeit auf keinen Fall in Frage komme. Gleichwohl wird noch damit geworben. Man stelle sich vor: Versicherungssummen, Wachdienst rund um die Uhr, Anmietung der Messehallen samt Freigelände – das kostet enorm. Und dies alles bei freiem Eintritt? Man wird sehen. Und man darf zweifeln.




Komik des Kosakenzipfels – Deutschlands prominentester Humorist Loriot wird heute 75 Jahre alt

Von Bernd Berke

So feinsinnig, charmant und verbindlich wirkt der distinguierte Herr, daß man kaum merkt, wie rigide seine Komik manchmal ist. Aber ja! Wir reden wirklich von Vicco von Bülow alias Loriot, der heute 75 Jahre alt wird.

Er selbst hat einmal Buster Keaton und W. C. Fields als Vorbilder genannt, denn deren Komik sei „erbarmungslos“. Charlie Chaplin hingegen sei, bei allem Respekt, zu sentimental und moralisch. Bei Loriot „menschelt“ es nicht nur unverbindlich daher, sondern er zielt und trifft. Schon die steifen Posen des deutschen „Wirtschaftswunders“ hat er dem Gelächter preisgegeben. Und dabei wirkten seine Knollennasen-Männchen aus Büchern wie „Der gute Ton“ oder „Der Weg zum Erfolg“ doch so harmlos.

Was wirkliche Haltung und was bloße „Mache“ war, weiß der in Brandenburg geborene Sproß einer alten preußischen Offiziersfamilie gewiß haargenau zu unterscheiden.

„Man muß sich über alles wundem“

Mit solchem Gespür begabt, mußte man in den verdrucksten 50er Jahren nur noch mit offenen Augen durch die Welt gehen, um an jeder Ecke komische Situationen zu entdecken. Wenn sich gewisse Leute im Bewußtsein des „Wir sind wieder wer!“ reckten, so schrie das ja geradezu nach humoristischer Weiterverarbeitung. „Man darf nichts als selbstverständlich hinnehmen und muß sich über alles wundern“, so lautete eine von Loriots Humor-Regeln. So ist es.

Mit Cartoons und Sketchen in Fernseh-Sendereihen wie „Cartoon“ (ab 1967), „Telecabinet (ab 1974) oder „Loriot I bis VI“ (1976) erlangte er unverwüstliche Popularität. Endlich war da mal einer, der nicht die vordem landläufige, eher krachlederne Variante „deutschen Humors bediente! Loriot (französisches Wort für Pirol – der Vogel ist das Wappentier seiner Familie) dürfte Einflüsse ausgeübt haben, die etwa über die „Neue Frankfurter Schule“ (Robert Gernhardt & Co.) bis hin zur Kabarettszene neuester Prägung unterschwellig gewirkt haben.

Unvergeßliches TV-Requisit war jenes Gründerzeit-Sofa, auf dem Loriot mit gekräuselten Lippen seine Beiträge ansagte. Man fängt schon an zu grinsen, wenn man nur an all diese Szenen denkt, die längst zum Standard-Repertoire gehören. Da war z. B. jener Mann, der sich im Restaurant eine glühende Liebeserklärung abquält („Sagen Sie jetzt nichts, Fräulein Hildegard!“) und dabei einen Nudelrest in seinem Gesicht nicht bemerkt, während die Angebetete (Lieblings-Sketchpartnerin Evelyn Hamann) immerzu fassungslos dorthin starren muß.

Von der Gummiente zum Jodeldiplom

Urkomisch auch die Herren Müller-Lüdenscheidt und Dr. Klöbner, die aus unerfindlichen Gründen in derselben Hotelbadewanne stranden und nun streiten, ob und wie man die Gummiente „zu Wasser lassen“ solle.

Man könnte endlos weiter memorieren: den ausufernden Streit zweier Ehepaare, die sich im Campingurlaub kennengelernt haben. Anlaß: jene Nachtisch-Leckerei namens „Kosakenzipfel“; das „Jodeldiplom“ für die unausgefüllte Hausfrau („Da hat man was Eigenes“); das Ehepaar Hoppenstedt und seine Chaos-Besuche beim Herrenausstatter oder in der Bettenabteilung. Es waren im Grunde kleine Tragödien einer allseits gründlich fehlschlagenden Kommunikation, die einen trübsinnig machen könnten, wenn bitterernste Autoren sie aufbereitet hätten.

Apropos Paare: Nicht nur bei den Hoppenstedts und der ehelichen Groteske ums Vierminuten-Ei erweist sich die tiefe Wahrheit der Loriot-Formel „Frauen und Männer passen eigentlich nicht zusammen“. Sie versuchen’s halt immer wieder, ob’s nicht doch geht…

Daß die von Loriot gezeichneten Maskottchen „Wum und Wendelin“ jahrzehntelang für die „Aktion Sorgenkind“ warben, haben wir bei all dem noch gar nicht erwähnt. Bayreuth-Stammgast Loriot hat zudem gelegentlich Opern inszeniert und zwei der erfolgreichsten deutschen Kinofilme der letzten Jahrzehnte gedreht, „Ödipussi“ und „Pappa ante portas“.

Die Ruhe, die er sich neuerdings antut, sei ihm von Herzen gegönnt. Doch wie schade auch, daß er, sich so zurückhält! Wir vermissen etwas.

Das ARD-Fernsehen bietet heute um 21.45 Uhr viel Prominenz auf, um Loriot gebührend zu gratulieren. Programmänderung: Um 23.45 Uhr schließt sich Theatermann August Everding als Solo-Gratulant an.




Selbst in der Liebeslust lauert Verzweiflung – Retrospektive zum Werk von Tomi Ungerer in Oberhausen

Von Bernd Berke

Oberhausen. Wenn der Zeichner und Cartoonist Tomi Ungerer von Liebesdingen erzählt, steht immer der Tod in der Nähe. Bizarre Körpermaschinen verbohren und verschrauben sich ineinander, daß es nicht nach Lust, sondern nach Verzweiflung aussieht. Vielleicht will er uns bedeuten, daß wir in diesen Zeiten zur Liebe gar nicht fähig sind?

Überhaupt ist der gebürtige Straßburger ein Pessimist von hohen Graden. Doch er kennt, wie jetzt eine umfangreiche Retrospektive mit 360 Exponaten im Schloß Oberhausen zeigt, auch idyllische kleine Fluchten vor dem Elend der Welt.

Nach Erfolgsjahren in New York hat sich Ungerer (inzwischen 64 Jahre alt) seit einiger Zeit auf die grüne Insel Irland zurückgezogen, wo er nebenher eine kleine Schafzucht betreibt. Auf manchen Bildern träumt er nun die Utopie von Frieden und Harmonie.

Verhaßte Technik macht sich breit

Doch auch in diesen entlegenen Winkel dringt allmählich der Moloch vor, den Ungerer offenbar abgrundtief haßt: die „verfluchte Technik“. So heißt denn auch eine der sieben Abteilungen des Oberhausener Überblicks. Auf einen schlichten Nenner gebracht: Von Menschen geschaffene Mechanik und Elektronik bringen die Erde um, man ist nirgendwo mehr sicher. Da schlagen sogar Bleistifte als Raketen ein, eine riesige Sprühdose vergiftet das All, und die Weltkugel trägt bereits einen wackligen Totenkopf, wenn sie sich mit einer Spritze den „goldenen Schuß“ setzt. Wichtig: Wenn man auf die Datierungen achtet, merkt man, daß Ungerer mit solchen schwarzen Visionen kein Nachbeter, sondern ein Vorläufer der Umwelt-Bewegung war.

Manchmal nimmt Ungerer gängige Begriffe allzu wörtlich oder greift zur einfachen Übertreibung. Es sind nicht seine besten Einfälle. Wäre ja auch ein Wunder, wenn er – bei einer Produktion von bislang rund 40 000 Blättern – immer ganz auf seiner Höhe bliebe. Überzeugend ist er dann, wenn Drastik und Verbitterung unmittelbar aus der Form erwachsen und nicht aufgesetzt sind. Dies gilt etwa für Ungerers Kriegs-Bilder mit schweinsköpfigen Faschisten, blutrünstigen Generälen und weinenden Gerippen. Derlei Szenarien erinnern gelegentlich an die Tradition eines George Grosz, John Heartfield oder Otto Dix. Freilich: Deren unerbittliche Schärfe erreicht Ungerer selten. Doch er zeigt das Obszöne am Krieg, das alle sexuellen Perversionen bei weitem übersteigt.

Die Zeichen der großen Misere schleichen sich auch ins Private ein, zumal auf den Kampfplatz der Geschlechter. Sexuelle Taten wirken in Ungerers Sicht oft wie plötzlicher Wahnsinn, der alle Gepflogenheiten außer Kraft setzt. Auf solche Verrenkungen könnte sogleich der Tod folgen. Es ist dies keine Pornographie zum leichten Konsum für Voyeure, wie manche Fundi-Feministinnen wähnen.

Der Teddybär ist erstochen worden

Selbst bei den Kindern, auf die Ungerer im wirklichen Leben noch vage Zukunftshoffnung setzt, scheint nicht alles in schönster Ordnung: Ein Teddybär ist brutal mit der Schere erstochen worden; ein kleiner Junge führt die Spielkameradin am Nasenring, als sei sie ein Tanzbär – und auf einem bösen Blatt vergnügen sich die Kleinen mit Fischebraten, wobei sie sich den Nachschub aus dem heimischen Aquarium angeln.

Sind wenigstens die Tiere brav? Auch nicht immer, denn sie nehmen sich die Menschen zum Vorbild: Der Kater, der sich seine Maus aus dem Münzautomaten zieht, ist gleichfalls der teuflischen Technik verfallen.

Tomi Ungerer: „Das Spiel ist aus“ – Werkschau 1956-1995. Städt. Galerie Schloß Oberhau. sen. Konrad-Adenauer-Allee 46 Tel. 0208/825-27 23) Vom 3. September bis 29. Oktober, tägl. 10-18 Uhr. Donnerstag 10-20 Uhr, Montag geschlossen. Eintritt 6 DM, Katalog 38 DM.




Lachend die Zeichen der Zeit erkennen – Dicker Sammelband des vielseitigen Robert Gernhardt

Von Bernd Berke

Welcher deutsche Gegenwartsautor ist vielseitiger als Robert Gernhardt? Der 57jährige hat etliches auf Lager – von der Satire und dem niveauvollen Nonsens bis zum beachtlichen Roman; von der trefflichen Zeitkritik bis zum raffiniert gereimten Gedicht.

Mehr noch: Ohne Gernhardts Texte wäre Otto Waalkes nicht halb so gut gewesen. Und er ist einer der besten Cartoon-Zeichner. Wen wundert’s, daß der Vielfältige jetzt mit einem üppigen Sammelband zum Klassiker erhoben wird. Der Titel („Über alles“) weist schon auf Gernhardts kreative Bandbreite hin.

Seit seinen Anfängen beim Satire-Blatt „Pardon“ (frühe 60er Jahre), wo er mit F. K. Waechter und F. W. Bernstein „Welt im Spiegel“ schuf, jene legendäre Beilage für den  höheren Blödsinn, zählt Gernhardt zu den produktivsten Grenzgängern zwischen Ernst und Scherz, zwischen Sinn und Widersinn. Das ist – gerade in deutschen Landen – ein Vorzug sondergleichen.

Jenseits der gängigen Meinungen

Im Sammelband kann man genußvoll nachlesen, welch ein versierter Stilist dieser Mitbegründer der „Neuen Frankfurter Schule“ ist. Er läßt sich keine wolkigen Formulierungen durchgehen. Gerade indem Gernhardt seine kleinen Künstler-Eitelkeiten offen ausspricht, vermeidet er selbstgerechten Zungenschlag. Derlei stete Wachsamkeit macht auch den Zeitbeobachter aus, der sich schwerlich von gängigen Meinungen beirren läßt.

Im Rückblick ist es frappierend, wie behutsam und differenziert er z. B. 1982 eine Reise in die DDR beschrieben hat. Darin steckt schon das Unbehagen an der innerdeutschen Fremdheit, mit der wir uns heute plagen. Und Prägnanteres ist – zumal in dieser unterhaltsamen Kürze – auch über die deutschen „Fifties“ kaum geschrieben worden als Gernhardts mal eben neun Buchseiten langer Beitrag „Die geile Welt der 50er Jahre“.

Die neue Art der Geistes-Schnüffelei

Gernhardt geißelt nicht nur konservative Widersacher, sondern auch linke Auswüchse: Hinter manchen Spiegel gehören seine Texte über die Stellvertreter-Empörung, die im Namen von Minderheiten alle Geistesprodukte einschließlich Satire auf politische Korrektheit abklopft und dabei jedes Maß verliert. Verständlicher Seufzer: Da sei man mühsam der autoritären Schnüffelei der 50er Jahre entronnen und falle einer neuen, sich fortschrittlich gebenden Inquisition anheim, die einem gar noch die Mülltonnen inspiziert, um nachzusehen, ob man auch ja sortenrein gesondert hat.

Apropos Müll: Auch das ewig „betroffene“ Gewühle im Abraum der Psyche geht Gernhardt auf den Geist: „Daß Beziehungen problematisch waren, lag in ihrer Natur begründet, sie zusätzlich noch zu problematisieren war ungefähr so sinnvoll wie – ach, ihm fiel gar kein Vergleich für diesen Unfug ein … Die Panzerknacker problematisierten ihre Brüche doch auch nicht“.

Straßen, in denen Kanzler Kohl aufwuchs

Aufgelockert durch Zeichnungen und allerlei Gedichte (irgendeine Doktorarbeit wird gewiß mal seine lyrische Verwandtschaft zu Peter Rühmkorf nachweisen), werden mit Leichtigkeit, die bekanntlich so schwer zu erzielen ist, Grundfragen abgehandelt: Die Kapitel heißen „Kunst und Leben“, „Mensch und Tier“, „Mann und Frau“, „Wort und Bild“, „Zeit und Raum“, „Gott und die Welt“, „Spaßmacher und Ernstmacher“.

Gernhardt schlägt Funken aus unscheinbaren Dokumenten. So gewinnt er etwa den Unterwäsche-Seiten von Versandhauskatalogen eine kleine Nonsens-,,Philosophie“ der Geschlechter ab. Beim Gang durch die Straßen, in denen Kanzler Kohl aufwuchs, erspürt Gernhardt mehr vom Gepräge dieses Politikers als mancher Groß-Essayist. Oder er entlarvt Zeitgeist-Hanseln wie den Psycho-Autor Wilfried Wieck („Männer lassen lieben“) durch Vergleich mit dem großen christlichen Bekenner Augustinus. Da sieht Wieck ganz alt aus. Und der Leser hat abermals die doppelte Portion bekommen: Lachen und Erkenntnis auf einen Streich.

Robert Gernhardt: „Über alles“. Ein Lese- und Bilderbuch. Haffmans-Verlag, Zürich. 479 Seiten, 44 DM.




Haßtiraden gegen die Kunst und Vandalismus bei der Kasseler documenta 7

Van Bernd Berke

Kassel. Das Team des Hessischen Rundfunks traute den Ohren kaum. Sechs Wochen lang hatte man ein „Mecker-Tonband“ auf der Kasseler documenta postiert. Was den Funkleuten beim Abhören der Bander entgegentönte, erinnerte vielfach an längst überwunden geglaubte Zeiten. Da verschaffte sich Besucherzorn mit Haßtiraden gegen ,,entartete Kunst“ Luft. Ein wütender Zeitgenosse wünschte sich die endgültige Aktion von Joseph Beuys: der Künstler moge sich doch vom hohen Dach des Fridericianums stürzen.

Bei den markigen Worten ist es nicht geblieben. Noch nie wurden auf der im Vier-Jahre-Rhythmus stattfindenden Kunstschau dermaßen viele Schäden durch mutwillige Zerstorung angerichtet wie diesmal. Vorsichtige Schätzungen beziffern den materiellen Verlust auf annahernd 100000 DM. Spektakulärster Fall: Ein Jugendlicher ging mit dem Stock auf eine Spiegelplastik Dan Grahams los. Das Kunstwerk ist nur noch als Torso vorhanden, denn weder die documenta GmbH noch der Künstler haben die Mittel für eine Restauration. Da die Plastik unter freiem Himmel stand und nicht bewacht war, winkten auch die Versicherungen ab.

documenta-Pressesprecher Klaus Becker hält die zahlreichen Zerstörungen nicht fur das Werk einzelner Psychopathen, sondern vermutet einen allgemeinen gesellschaftlichen Trend. ,,Die Einstellung zur Gewalt 1st durchweg laxer geworden.“ Auch Gewalt gegen Personen sei auf dieser documenta bereits einige Male vorgekommen. So wurden mehrere der 80 Kasseler Wärter, die die Kunst vor Unbill schützen sollten, von aggressiven Besuchern mit Fausthieben traktiert. Ohnehin konnen die eigens angeheuerten Studenten gegen die Zerstörungswut wenig ausrichten. Fast alle Schäden werden erst bemerkt, wenn die Verursacher längst über alle Berge sind.

Pressesprecher Becker: „Ich habe zwar kein Verständnis, wohl aber eine Erklärung fur diese Vorfälle. Eine ganze Reihe von modernen Kunstwerken besteht aus Alltagsgegenständen, etwa aus Kuchengerät oder Autoschrott. Vor diesen Werken steht man mit weniger Ehrfurcht als vor einem Rembrandt-Bild und deshalb langt mancher auch schon mal eher hin.“ Hinzu komme, daß sich die documenta 7 nicht mehr allzu betrachterfreundlich gebe, sondern ganz bewußt so konzipiert sei, daß das Kunstwerk einen Teil seiner musealen Eigenständigkeit wiedererlange. An das Publikum sei erst in zweiter Linie gedacht worden. Vermutliche Folge: Der Besucher wird mit seinem Unverständnis (wer ist schon Experte für moderne Kunst) alleingelassen und dies Gefühl schlägt häufig in Angriffslust um.

Am kommenden Wochenende ist ,,Halbzeit“ bei der doumenta 7. Der 6,9-Millonen-Etat ist zwar schon jetzt überschntten, doch hofft man, das Defizit durch einen neuen Besucherrekord wettzumachen. 162 000 Menschen sahen das Sektakel schon. Da die zweite Hälfte der Ausstellung erfahrungsgemäß noch mehr Zuspruch findet, hofft man bis zum Ende (28. September) auf 350 000 bis 400 000 zahlende Gäste.

Wären die Zerstörungen nicht, so könnte man von einer recht positiven Halbzeit-Bilanz sprechen. Die internatiole Presse lobte die Ausstellung teilweise über den grünen Klee. US-Journalisten zeigten sich besonders begeistert von den Arbeiten Anselm Kiefers und stellten das KasseIer Ereignis in ihrer Wertung turmhoch über die Biennale in Venedig. Unerbittliche „Verrisse“ gab es nur in wenigen Alternativblättern, die die Exponate elitär und realitätsfern fanden. Der Großteil der Besucher interessierte sich offenbar am meisten für Malerei, weniger für neuere Kunstformen wie Aktionen und Persformance.