Advent, Advent, die Menge rennt – Impressionen vom verkaufsoffenen Sonntag in Dortmund

Im Advent gibt es Rituale, die ich immer wieder zelebriere. Zum Beispiel gehe ich an jedem ersten Adventsonntag mit meiner Patentochter ins Weihnachtsmärchen. Dann wiederum gibt es im Advent Rituale, an denen ich mich noch nie beteiligt habe. Zum Beispiel verkaufsoffene Sonntage. Seit gestern weiß ich auch, warum.

Die Patentochter und ich machten uns des Mittags auf in die Stadt mit dem größten Weihnachtsbaum der westlichen Hemisphäre (oder so ähnlich). Wir wollten uns anschauen, was Dorothy und der Herr von Oz auf die Bühne des Schauspielhauses zaubern. Nun gibt es Ortskundigere als mich und so plante ich, der Einfachheit halber das Parkhaus der Thier-Galerie zu beehren. Wovon wir nicht wussten, war der verkaufsoffene Sonntag. Ich wunderte mich zwar über den Andrang und die freundlichen Einweiser im Parkhaus, fand es aber eher nett, als dass bei mir mal eine Adventglocke geklingelt hätte. Um kurz vor eins betraten wir, aus der obersten Etage des Parkhauses kommend, das Einkaufszentrum, wir sahen eine zwar kitschige, aber das Herz meiner Patentochter durchaus entzückende Riesen-Weihnachtskugel und dann bot sich uns folgendes Bild:

Völlig fasziniert harrten wir an unserer Galerie-Brüstung der Dinge, die da kommen würden. Erleuchtung? Weihnachtsmänner? Heiliger Geist? Ach nee, den hatten wir tags zuvor ja schon bei einer Firmung. Punkt ein Uhr schoben sich langsam und gemächlich Rolläden in die Höhe und das Wunderland in Gestalt einer irischen Billig-Textilkette machte hoch die Tür, die Tore ganz weit. Es begann ein Gerenne, ein Geknuffe, ein Gezerre – besinnlich geht anders.

Ganz ehrlich, ich hab sowas noch nie gesehen. Und ich möchte es auch nie mehr sehen. Muss man das verstehen? Macht das Spaß? So am ersten Adventsonntag mit der Meute durch die Einkaufszentren der Städte zu hetzen? Dafür zauberte das Ensemble des Schauspielhauses ein Lächeln auf das Gesicht der Patentochter. Aber sie können sich noch so viel Mühe geben im Theater, so einen Hexenkessel wie einige hundert Meter weiter entfachen die nie im Leben.




Die dreiste Markt-Strategie des Iman Rezai oder: Folter ist kein Mittel der Kunst!

Wäre Schweigen in diesem Fall eigentlich Gold? Warum dem Törichten eine öffentliche Plattform bieten?

Die Zeiten, in denen der Kritik das Wahre der Kunst von anderen Waren zu unterscheiden als Kernpflicht oblag, sind längst vorbei. Das System hat neben dem scheinbar reinigenden Meinungsgeblähe der Medien seinen eigenen Filter, um Qualität von, na sagen wir Scharlatanerie zu scheiden. Dennoch, wider den Stachel zu löcken ist im vorliegenden Fall einer unangenehmen Aktion von Iman Rezai angebracht, und zwar bewusst bildlos und linkfrei. Sie macht deutlich, dass eine neue Generation von Biografie-Designern am Werk ist, denen es vor allem um eins geht: PR. Und damit um Kohle. Hierbei sind die eingesetzten Mittel offensichtlich vollkommen zu Werkzeugen dieses Vermarktungssystems verkommen.

Das ist keine Kunst, das ist schlicht degoutant. Iman Rezai, 1981 im iranischen Schiraz geboren, im vergangenen Jahr Abschlusskandidat der Berliner Universität der Künste, tritt mit scheinbar provokanten Aktionen an die Öffentlichkeit. Neuester „Coup“: Er bietet – sofern es nicht ein Fake ist – dem geneigten Probanden zwischen dem 29.11. und 6.12. ein waschechtes Waterboarding an. Also diejenige Foltermethode, mit der das Opfer nicht getötet, sondern durch gewaltsames Untertauchen gequält und zermürbt wird. Diese menschenverachtende Perfidie kam während der Präsidentschaft George W. Bushs durch CIA und andere US-amerikanische Regierungsbehörden bei der Vernehmung von Terrorverdächtigen zum Einsatz und damit breiten Kreisen weltweit zu Bewusstsein.

Betroffenheitsklauseln aus der Hobbykiste

Man kann sich den ganzen hobbytheoretischen Begründungssermon hinter Rezais Pseudo-Polit-Anliegen sehr gut vorstellen. Denn seine PR-Maschine läuft wie geschmiert. In etwa so? „Der Berliner Künstler Iman Rezai kreiert Ausnahmesituationen, in denen Kunstbesucher mit einer Realität konfrontiert werden, die sie ansonsten nur aus den Medien zu kennen glauben…“ Noch ein paar Betroffenheitsklauseln in Fremdwort-Teig geknetet: Fertig ist die „große Kunst“. Besuche man nur die Webseite. Abstruse Sentenzen ummanteln in der Produktwerbung den eigentlichen Zweck mit billigen kulturhistorischen Behauptungen, um die Ausstellung – lasse man sich den verschwurbelten Titel auf der Zunge zergehen – „Die performative Postmoderne als Ausdruck moderner Austerität im Zeitalter der Prekarisierung Edition 1 – Illusion H2O“, in deren Kontext die Aktion stattfindet, zu bewerben. Neben Rezai bespielen zudem fünf weitere Nachwüchsler den Bereich eines Hotels am Checkpoint Charlie. Schaut man sich deren Werk an, wird die Lage auch nicht unbedingt interessanter.

Aktionen für den Boulevard

Wie unendlich differenzierter hat es 2006 Santiago Sierra mit „245 Kubikmeter“ in der von ihm mit Abgasen von sechs Pkw gefluteten Synagoge Stommeln vorgemacht, dass man – schockierend – Kunstbetrachter auf freiwilliger Basis in Extremsituationen bringen kann. Aber hier liegt der Fall anders, weil sinntragend und historisch kontextualisiert und auf die Gegebenheiten hin lokalisiert. Iman Rezai hingegen setzt ausschließlich auf Boulevard. Hinter ihm steht eine Agentur mit Namen „The Coup“, die sich selbst mit den Sätzen „Wir verstehen weder Fashion, Lifestyle noch Kunst als Charitybranchen. Im Fokus steht der Mehrwert und folglich der Profit des Kunden“ anpreist. Und wenn das kein Witz ist, heißt es: Wir verhökern jeden Dreck auf dreckige Weise, wenn’s nur Profit einbringt. Es geht also ausschließlich um Publicity und ums Kasse machen. Wie anders erklären sich die zwei törichten Vorläuferaktionen, mit denen Rezai sich ins Gespräch gebracht hat.

Zwischenruf: Sollen wir uns allen Ernstes an den Zustand gewöhnen, dass Modefotografen als Künstler proklamiert und von ein und derselben Agentur wie Rezai im gleichen sprachlichen Duktus vertreten werden? Der Künstler und die Kunst als gelabelte Luxushandtaschen. Und wie verkommen sind eigentlich diese „Nachwuchskünstler“, dass sie auf jene unverschämte Weise mit gestylter Dummheit in den Markt drängen und sich von PR-Schleudern wie „The Coup“ ein Image und Sprachgewand verpassen lassen?

Fingierte Guillotinen-Abstimmung

Doch zurück zur Sache: Das erste Mal fingierte Rezai im Internet eine Abstimmung über das Guillotinieren eines Schafs. Über 2,5 Millionen Klicks soll das eingebracht haben. Das Mordwerkzeug hat ein Sammler angeblich für 2,3 Millionen Dollar erworben. Anfang November verschickte er im Namen der der Neuen Nationalgalerie E-Mails, die behaupteten, Rezai habe den Server des Instituts unter Kontrolle gebracht. Täuschung wohin man schaut. Die Erregungsmaschinerie fand ihr Futter und der Schaumschläger seine billige Propaganda. Selbst gestandene Nachrichtenagenturen fielen auf den Blödsinn herein. Und nun dieses Wasserspielchen mit dem Publikum. Nein, das ist nichts. Das tut nur so, als ob es Kunst sei, dieses Deckmäntelchen niederer Interessen. Es ist ein albernes Spektakel für eine profitgeile Aufmerksamkeitsindustrie, das die niederen Instinkte einer ennuyierten Gesellschaft bedient, in der die Anliegen der künstlerischen Kritik und Aufklärung in Form rhetorischer Vehikel zum Rauschmittel des Glamours verkommen sind. Das einzig Kunsthafte an der Sache ist höchstens noch die Dreistigkeit, mit der Iman Rezai in den orchestrierenden Medien seine dürftige Karriere fingiert.




Die große Parallelaktion: Wenn Rewe und Edeka mit Pandabärchen locken

Immer nur hochkulturelle Themen? Ach nein. Dieser Text befasst sich en passant mit einem Doppel-Phänomen der Bestsellerauflagen, die alle grauen Schatten weit hinter sich lassen dürften.

Es geht um die seltsame Parallelaktion der beiden großen deutschen Lebensmittelketten. Sowohl Rewe als auch Edeka offerieren für gewisse Einkaufsbeträge jeweils ein paar Tütchen oder Briefchen mit Tierbildern, die man in Sammelalben einkleben soll. Sagen Sie jetzt nichts. Besonders kleinere Kinder kann man damit allemal ködern. Und die Kundschaft von morgen fragt bald in kurzen Abständen quengelnd nach, wo denn der Nachschub bleibe.

Welche Kette diesmal zuerst an der Reihe war, vermag ich nicht zu sagen, zur knallharten Recherche habe ich in solchem Falle keine Lust. Sie haben wohl ungefähr gleichzeitig begonnen. Ansonsten könnte man mutmaßen, dass ein womöglich enttäuschter Manager von der einen zur anderen Firma gewechselt ist und dem neuen Arbeitgeber gesteckt hat, was die Konkurrenz plant. Dann hätten die anderen die (im Grunde uralte) Idee windeseilig abgekupfert und nur noch notdürftig variiert. Aber wahrscheinlich war es ganz anders und wir müssen nicht schon wieder von Plagiaten reden, sondern nur von einem dummen zeitlichen Zusammentreffen. Bei den Konferenzen in den Konzernzentralen hätte ich trotzdem gern mal gelauscht.

Mit Tieren um die Welt: Sammelalben und Bildertütchen von Edeka und Rewe. (Foto: Bernd Berke)

Mit Tieren um die Welt: Sammelalben und Bildertütchen von Edeka und Rewe. (Foto: Bernd Berke)

Die Ähnlichkeit der Aktionen ist wahrhaftig verblüffend. Beide Sammelalben haben dasselbe Format und etwa gleiches Volumen, beide gibt es zum Lockvogelpreis. Auch die Titelbilder ähneln einander, wobei wobei dem Pandabären offenbar per se ein Konzern übergreifender Stammplatz gebührt. Er ist und bleibt der Niedlichkeits-Champion, dicht gefolgt vom klimatisch bedrohten Eisbären.

In beiden Alben werden die Sammelbilder nach Kontinenten sortiert. Beide sind nach dem Prinzip einer abenteuerlichen Weltreise aufgebaut. Beide geben sich natürlich ökologisch. Das Edeka-Buch firmiert gleich als WWF-Album (World Wide Fund for Nature), auch das andere gibt sich mit Umwelt-Infokästen naturnah und verheißt mit einem Aufkleber, dass jeder, der das Büchlein erwirbt, die SOS-Kinderdörfer mit 50 Eurocent unterstütze. Man ist allseits so unumschränkt gut. Und just dieses Wohlgefühl soll sich auf die Marken übertragen.

Rewe setzt noch ein paar optische Lockungen drauf, verkitscht freilich auch seinen Bilderfundus (neben Tieren vereinzelt auch berühmte Gebäude und spektakuläre Naturformationen) hie und da: Zum einen gibt es diverse Glitzerbilder (z. B. Pinguin inmitten von blinkenden Silbersternchen), zum anderen 3D-Sticker. Die übliche Papp- und Plastikbrille liegt bei. Auch zapft man die jüngsten Smartphone-Besitzer oder deren Eltern an, indem eine App angeboten wird, die zu Begleitfilmchen führt. App steht hier auch für Appellcharakter.

Nur ein flüchtiger Eindruck, durch nichts zu beweisen: Rewe-Mitarbeiter scheinen Anweisung zu haben, die Tütchen etwas unbürokratischer herauszurücken und nicht allzu genau auf die Einkaufsbeträge zu schauen. Dafür sind die Edeka-Bildchen leichter und ohne lästigen Fummelkram abzulösen.

Doch bevor ich jetzt Stiftung Warentest im Kleinstformat spiele und mich in einer Rezension von Petitessen verliere, stelle ich lieber fest: Es gibt sicher wesentlich Wichtigeres als diese Alben, die gleichwohl das Naturbild vieler Kinder mitprägen. Auch hinter derlei unscheinbaren Dingen lauern ideologische Muster. Mal ganz abgesehen vom kommerziellen Kalkül. Diese Natur ist nicht rundweg natürlich.




Alles mehrt sich mehr und mehr

Es nervt seit geraumer Zeit und sicherlich haben schon Leute darüber geschrieben. Doch sei’s drum. „Wiederholung schafft Verständnis“, wie es unter scherzbereiten Journalisten heißt, wenn sie drauf und dran sind, eine Doublette zu verzapfen.

In den Zeitungen grassiert seit jeher, doch selbstredend zunehmend, also immer mehr das „Immermehr“ (etwa so: „Immer mehr Blondinen unter 25 gehen zum Schönheitschirurgen“, „Immer mehr Päpste wohnen im Vatikan“ o. ä.), auch wenn es nur um erstunkene Bruchteile von Steigerungsprozentsätzen geht. Der Herr gebe ihnen ihre tägliche Trendgeschichte. Mega. Turbo. Jumbo. Hechel. Lechz.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Das erbarmungswürdig schlichte Mehr (gern auch in schenkelklopfträchtigen Wortspielen mit „Meer“ verballhornt, so wie Leere und Lehre allzeit miteinander als Flachwitze krepieren) ist also immerzu – aaargh! – „angesagt“.

Folglich benennen Hinz und Kunz ihre Projekte nach dem Muster „Kneipe und mehr“, „Haarschnitt und mehr“ oder dergleichen. An jeder zweiten Ecke begegnet einem diese Mehrerei. Es ist zum Haareraufen.

Eins bis fünf und mehr... (Foto: Bernd Berke)

Eins bis fünf und mehr... (Foto: Bernd Berke)

Gibt man die Wortfolge „und mehr“ in die Suchmaschine seines Vertrauens ein, so wird man beispielsweise vorfinden: „Leonardo – Wissenschaft und mehr“ (WDR-Sendung), „Tiergesundheit und mehr“, „Arbeit und mehr“ (Personalvermittlung), „Schilddrüse und mehr“, „Afrika und mehr“ (Reiseangebote) oder „Hefe und mehr“ (Backtipps). Die Zahl der Beispiele ließe sich nahezu beliebig steigern. Wer findet noch absurdere?

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der erste Arzt „Heilen und mehr“ offeriert, Anwaltskanzleien „Klagen und mehr“ verheißen oder ein Bordell mit „Vö**** und mehr“ lockt.

Da wird einem rundum etwas vorgegaukelt. Der so genannten Phantasie wird ein so genannter Spielraum gelassen. „Kneipe und mehr“, das heißt doch eventuell: …und Seelentrost …und Wohlfahrtsinstitut …und Drogenberatung …und Partnerbörse …und Alltagskulturstätte. Und. Und. Und. Kneipe und alles. Oder halt nix.

Stöbert man öfter in Feuilletons, so fällt einem jetzt vielleicht einer der dämlichsten aller Rezensionssätze ein, nämlich dieser hier: „Weniger wäre mehr gewesen.“ Auch malt man sich womöglich den ultimativen Titel einer Kunstschau aus: „Vermeer und mehr“.

Was denn, was denn? Sie lassen gerade den Blick nach oben links auf dieser Seite schweifen? Und Sie finden dort als Untertitel der Revierpassagen die nichtswürdige Floskel „Kultur und mehr…“?

Das kann doch wohl nicht wahr sein. Das wäre ja peinlich. Da lassen Sie sich mal schleunigst etwas Besseres einfallen!

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Nachtrag am 29. September:

Der Untertitel dieses Blogs lautet jetzt nicht mehr „Kultur & mehr…“, sondern „Kultur & weiteres…“ Auch keine Offenbarung, aber immerhin.




Wenn der Bürgermeister das Lokalblatt lobt

Ach, es ist ein gar schönes Ding um die Wächterrolle der Presse, zumal im lokalen Bereich, wo die Redakteure ganz nah am Geschehen und an den Akteuren sind – manchmal allerdings auch allzu nah.

Oder umgekehrt. Da kann es mitunter vorkommen, dass der Bürgermeister eines Ortes sich allzu sehr der Zeitung anbequemt. Beispiel Schwerte, Beispiel heutige Lokalausgabe der Ruhr Nachrichten. Da prangt auf Seite eins oben links die Kolumne „Guten Morgen“ mit dem halbspaltig abgebildeten Kopf des Bürgermeisters Heinrich Böckelühr (von Scherzbolden auch schon mal „Hein Böck“ genannt). Er selbst kommt hier zu Wort. Aha! Da muss es sich doch vermutlich um eine gewichtige Frage des Gemeinwohls handeln.

Was also hat das Stadtoberhaupt mitzuteilen? Dies hier: „Ich freue mich sehr auf die große Radrallye XXL der Ruhr Nachrichten…“ Fast ganz Schwerte werde auf den Beinen sein, um daran teilzunehmen. Über gedrechselte Formulierungen wie „Ganz besonders toll finde ich“ und „Ich finde es einfach super“ hangelt sich CDU-Mann Böckelühr bis zum hymnischen Schlusssatz, der da lautet: „Danke, Ruhr Nachrichten, für diese Idee!“

Heftiger kann man das blaue PR-Fähnchen kaum schwenken. Mal schauen, wie das derart gepriesene Blatt in nächster Zeit mit Böckelührs politischen Entscheidungen umgeht.




Wie ein Bochumer Kaufhaus zu dem Namen eines Dichters kam

Bochum war in meiner Kinder- und Jugendzeit unser Sommer-Urlaubsziel, weil meine Großeltern dort lebten, und auch der Kohlenstaub machte uns nichts – schließlich waren Opa und Onkels alle Bergleute gewesen. Eine Cousine arbeitete im Kaufhaus Kortum, und schon damals wunderte es mich sehr, dass man ein Kaufhaus nach der Straße benennt, an der es liegt, nämlich der Kortumstraße.

Carl Arnold Kortum

Erst sehr viel später verdrängten bessere Kenntnisse diese Idee, es war nämlich genau umgekehrt: Der Arzt und Dichter Carl Arnold Kortum (1745 bis 1824) war zwar in Mülheim geboren, gilt aber als einer großen Söhne der Stadt Bochum (neben Grönemeyer natürlich) und gab der heutigen Einkaufsstraße in der Fußgängerzone ihren Namen und später auch dem Kaufhaus.

Es gehörte zunächst zum Warenhauskonzern Alsberg, von einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Bielefeld aufgebaut, die mit ihren Geschäften nach Hermann Tietz (Kaufhof) und Rudolf Karstadt nach Umsatz an dritter Stelle im Deutschen Reich standen. 1933 enteigneten die Nationalsozialisten das Kaufhaus Alsberg in Bochum und die anderen Alsberg-Warenhäuser und nannten das Bochumer Haus um in „Kaufhaus Kortum“. Der alte Inhaber starb 1936, sein Sohn wurde 1941 im Konzentrationslager ermordet. Einer der Gewinner der „Arisierung“ des Alsberg-Konzerns war übrigens der Mitarbeiter Helmut Horten. Er stand den Nazis nahe und baute aus den „Erwerbungen“ den Kaufhauskonzern Horten auf.

Kortum und auch Horten gibt es heute nicht mehr. In Bochum wurde das imposante Haus zu einer Art Galerie umgebaut. Auch Horten musste aufgeben. Kaufhof und Karstadt teilen sich den Markt – noch. Vielleicht schließen sie sich ja demnächst zusammen. Kaufstadt wäre doch ein schöner Name.




Mit der Mark kam die Mode

Ab und zu sollte man seinen Blick vom Alltag lösen und versuchen, von ferne auf unsere Probleme zu blicken. Das gilt nicht nur räumlich sondern auch zeitlich. Zum Beispiel aus dem Jahre 1950.

Damals war der Krieg gerade fünf Jahre vorbei, die neue Währung gab es seit zwei Jahren, und doch ging es aufwärts. In Gevelsberg fand sogar 1951 schon eine Modenschau statt: “Entzückende modische Neuheiten auf dem Laufsteg“, schrieb die Westfälische Rundschau am nächsten Tag über das Ereignis im hinteren Saal einer Gaststätte. Große und schlanke Frauen zu kleiden, das sei ja kein Kunststück, schreibt der Reporter, aber „wie steht es mit jenen, denen ein Sahneteilchen und eine Tasse Bohnenkaffee wichtiger ist als die tägliche Sorge um die schlanke Linie?“ Das war die eine Seite der Sorgenliste, aber es gab auch größere Probleme. Wer im selben Jahr die Berichte über die Kreistagssitzungen las, der bekam andere Nöte vermittelt. Allein die öffentlichen Fürsorgeaufgaben verschlangen große Teile des Kreisetats. Dazu gehörten die „Krüppelfürsorge“ und die „Hausratshilfe“, Mittel für die auswärtige Unterbringung von Männern in Lehrlingsheimen, die Ausgaben für ein neues „Alten- und Siechenheim“ oder die Fürsorgemaßnahmen für Geschlechtskranke. Auch Erholungsmaßnahmen für Jugendliche finanzierte der Kreis für die zahlreichen Familien, in denen der Vater als Soldat gefallen oder vermisst war.

Es ging aber auch in der Politik teilweise schon optimistisch zu – allein eine halbe Million D-Mark brachte der Ennepe-Ruhr-Kreis 1951 für den Siedlungsbau auf.

Schöner wohnen, schicke Mode, gut essen – das waren in den Anfangsjahren der Bundesrepublik auch an der Ennepe die erstrebenswerten Ziele der Menschen. Da ging es noch nicht um das schnellste Smart-Phone oder den größten Flachbildschirm. Das sind erst heute unsere Probleme.




Hemden ohne Taschen – eine Verlustmeldung

Wo sind bloß die Brusttaschen geblieben? Welche textile Verschwörung ist da im Gange?

Gestern in drei Geschäften gewesen, um 1 bis 2 Oberhemden zu erwerben. Gestaunt. Geärgert. Nichts gekauft. Alle Hersteller scheinen sich – gleichsam über Nacht – darauf geeinigt zu haben, keine Brusttaschen mehr aufzunähen. Eine Verkäuferin begründet das mit dem schlanken Schnitt, der jetzt en vogue sei. Unsinnige Mode. Doch auch die Marke, die seit jeher für den umfänglicheren Herrn schneidert, lässt die Taschen weg. Also ist das mit dem engen Schnitt wohl nur eine Ausrede.

Es ist wie damals in den blöden 80er Jahren, als allüberall Bundhosen aufkamen – mit wahrhaft elefantigen Silhouetten. Wenn man engere Röhrenform haben wollte, schaute man in die (nicht mehr vorhandene) … Genau!

Altmodische Verwendung? Sei's drum! (Foto: Bernd Berke)

Altmodische Verwendung? Sei's drum! (Foto: Bernd Berke)

Wozu ich Brusttaschen brauche? Welch eine Frage. Ich will da gelegentlich Notizzettel hineinstecken. Oder einen Stift. Eine Brille. Drei oder mehr Gummibärchen. Früher hatte die Zigarettenschachtel dort ihren angestammten Platz – nebst Feuerzeug. Egal. Das geht die Hersteller oder sonstwen einen Kehricht an. Ich brauche solch eine Tasche als beruhigende Verstau-Reserve, weil ja nicht alles in die Hosentaschen passt. So aber fingere ich ins Leere.

Man hat plötzlich keine Wahl mehr. Ganz so, als wäre realsozialistischer Mangel ausgebrochen. Oder bräsige Service-Verweigerung. „Haben wir nicht, kriegen wir auch nicht mehr rein.“

Hätte ich in der Branche was zu sagen, würde ich jetzt diese Nische bedienen. Sinngemäß: „Nur bei uns: extragroße Brusttaschen!“ Gut, am Slogan kann man noch feilen.




Niederungen des Alltags (1): Räderwechsel beim Bobby Car

Werkstattbesuche sind meist ärgerlich. Reparaturen kosten reichlich, ohne Scherereien kommt man selten davon. Wie aber, wenn bloß ein Bobby Car umgerüstet werden soll? Da wird doch wohl alles ganz kinderleicht von der Hand gehen?

Testfall „Whisper Wheels“. Flüsterreifen also, die nachträglich ans Plastikauto montiert werden, wenn man’s gern etwas geräuschärmer hätte. Ein Unding übrigens, dass die deutlich leiseren Räder erst neuerdings serienmäßig drauf sind. Bei älteren Exemplaren muss man folglich werkeln.

Bevor man loslegt, sieht alles so einfach aus... (Foto: Bernd Berke)

Bevor man loslegt, sieht alles so einfach aus... (Foto: Bernd Berke)

Die Anleitung ist etwas für Tüftler. Die Skizzen sehen verwirrend aus. Nach ersten vergeblichen Versuchen, die alten Reifen zu lockern, schaut man vielleicht ratsuchend im Netz nach – und findet virtuelle Kummerkästen.

Ein erschütternder Erfahrungsbericht auf www.doyoo.de trägt gar den windschiefen, nahezu apokalyptischen Titel „Leidensweg und Martyrium der Flüsterreifen“ und erzählt die Gräuelmoritat von angerosteten Metallclips, die nur mit einer Flex und Brachialgewalt hätten entfernt werden können. Im Fazit des Beitrags heißt es: „Es war wirklich ein Martyrium, ich habe nicht übertrieben.“ Was soll man dazu sagen? Dass viele Menschen nicht mehr wissen, was wirkliches Leiden ist?

Dermaßen gewarnt und wohl auch entmutigt, gibt man seine handwerklichen Bemühungen allerdings rasch auf.

Schließlich die scheinbar goldene Idee. Einfach mal bei einer richtigen Autowerkstatt nachfragen. Aber das hieße doch gleichsam, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Wäre das nicht peinlich? Und wenn schon.

Also hin. Dort feixt man freundlich, nimmt sich aber der Sache an. Doch ach! Auch dort ist man hilflos. Sie haben Angst, mit allzu groben Maßnahmen das Kinderauto zu zerstören. Wahrscheinlich fürchten sie, es käme dann eine Prozessflut auf sie zu…

Ja, ist es denn zu glauben?

Last Exit: Baby-Fachgeschäft. Und siehe, dort kennen sie das Problem. Es wächst das Rettende. Sie hämmern und schrauben an den richtigen Stellen. Hosianna!




„Mächtiger Körper, Wahnsinn im Glas“: Das Vokabular der Weinverkostung

In vino veritas! Wer wollte bestreiten, dass im Wein der Widerschein von Weisheit und Wahrheit funkeln kann? Das edelste aller Getränke spornt den Menschen seit jeher auch zu sprachlichen Anstrengungen an, mit denen er den zahllosen Geschmacksnoten halbwegs gerecht werden will – ein ähnlich schwieriges Unterfangen wie die verbale Umschreibung musikalischer Nuancen.

Von einem Schloss zum anderen... (Foto: Bernd Berke)

Von einem Schloss zum anderen… (Foto: Bernd Berke)

Der mindestens ebenso starke Hang zur Bequemlichkeit hat allerdings eine standardisierte, vielfach zu Formeln geronnene Sprache mit sich gebracht, die sich derart in Schwärmerei und Huldigung ergeht, dass oft genug die Gefilde des Lächerlichen gestreift werden. Da wird geraunt, rhapsodiert, psalmodiert und in die Harfe gegriffen, dass es nur so rauscht.

Aus zwei umfangreichen Weinkatalogen renommierter Häuser (Hanseatisches Wein- und Sektkontor sowie Tesdorpf) habe ich gängige Floskeln des Rühmens herausgepickt, wie sie nach der Verkostung offenbar so anfallen. Am Schluss dieses Beitrags finden sie sich in einer Auflistung, quasi fürs Vokalbelheft.

Mutmaßung: Wer die wichtigsten Signalwörter einigermaßen stilsicher anwendet, der ist schon ziemlich gut für den Verkauf gerüstet. In diesem Sinne ist es eine peinliche Entgleisung, wenn hie und da von „Powerwein“ gemunkelt wird. Die unbedarfte Wortschöpfung passt nicht in eine Welt, in der ansonsten Jahrhunderte währende Traditionen beschworen werden und in der etwa die Punktewertung des Wein-Gurus Robert Parker wie in einer Monstranz einhergetragen wird.

Bei all dem vermengen sich Begrifflichkeiten für Duft- und Geschmacksnoten manchmal bis zur Unschärfe. Überhaupt gewinnt man bei fortlaufender Lektüre solcher Beschreibungen den Eindruck, dass man die häufigsten Weinwörter nahezu beliebig kombinieren und stapeln kann – schon klingt es nach dem Jargon der Eingeweihten. Doch fragt man sich bang, wie die stille Post von den hochsensiblen Degustierern zu den Werbetextern gelangt. Ob da immer alles so ankommt, wie es gemeint war?

Vollmundige Lobpreisungen setzen bereits bei Gewächsen an der 12-Euro-Grenze ein, so dass bei edlen Tröpfchen zu mehreren tausend Euro pro Flasche auch sprachlich die Luft nach oben ganz dünn wird. Die stets selig schwelgenden Texter haben ihr Pulver, so scheint es, schon längst auf dem Gelände der moderaten Einstiegspreise verschossen. Was soll man verbal noch nachlegen, wenn man schon den einen oder anderen 25-Euro-Wein der „Weltklasse“ zugerechnet hat? Hier empfiehlt es sich vielleicht, die Fachsprache noch entschiedener zu systematisieren, also auf strenge Hierarchie zu trimmen und bestimmte Worte nur den teuersten Weinen vorzubehalten…

Es fällt auf, dass der Hanseaten-Katalog immerzu mit dem Begriff „Körper“ („saftiger Körper“, „mächtiger Körper“) wuchert und so manchen „Abgang“ („warm und schön lang“) getreulich verzeichnet, während es Tesdorpf eher mit Struktur, Statur und Finale hält. Im Großen und Ganzen aber überschneidet sich das wabernde Vokabular der Weinbeschreibung, wie es sich in vielen Jahrzehnten verfestigt hat. In aller Regel sind die angepriesenen Weine zumindest harmonisch und gut ausbalanciert, sodann beispielsweise nobel oder vital. Mit steigenden Preisen mehren sich denn doch Verzückungsworte wie diese: umwerfend, atemberaubend, betörend, hinreißend, bezaubernd, aristokratisch, majestätisch, zum Niederknien, monumental, unergründlich oder unbegreiflich. Man muss sich das mit tremolierender Stimme und weit ausholender Geste von einer gülden umrahmten Bühne herab gesprochen vorstellen. Oder gleich vor einem Altar mit Tabernakel.

Da wir hier in einem Kulturblog sind, folgen jetzt noch vier erlesene Wein-Vergleiche aus dem Reich der Künste. Bitte festhalten, es geht gleich scharf in die Kurve:

Tänzerisch wie der leichtfüßige Tanz des legendären Rudolf Nurejew.

Hier perlen die Aromen wie Bach’sche Fugen.

…zart konturiert wie ein Bild von Claude Monet

…überrascht mit aromatischen Wendungen wie eine Oper von Verdi

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So. Und nun der samt und sonders aus Originalzitaten geschöpfte Lernstoff, der beim nächsten Mal „sitzen“ soll, ganz nach dem altbewährten Motto: Hefte `raus – Klassenarbeit!

Kleines Weinbeschreibungs-Lexikon

ABGANG, FINALE & Co.

Erstaunlich frischer Abgang

Der Abgang ist warm und schön lang

Nachhaltiges Finale

Mit grandiosem Feuerwerk im Finale

Im Finale macht sich eine leicht malzige Würze bemerkbar

Mit einem sehr langen Finish

Ewig langes Finish

Konzentrierter, zugleich aber filigraner Nachhall

Tiefer und langer Nachhall

Langer, saftiger Nachhall

Beträchtliche Persistenz

Von beeindruckender Persistenz

FRUCHT

Die Aromen sind fruchtig und floral

Reife Frucht und kühle Mineralität wunderbar ausbalanciert

Geradlinig fruchtig

Schön prononcierte Fruchtaromen

Fruchtbetont

Delikate Frucht

Richtige Balance von Frucht, Frische und Volumen

Sehr schön ausgefeiltes Frucht-Säure-Spiel

Mit prallen Frucht-Aromen und überbordender Vitalität

Subtile, hochelegante Frucht

Üppige, elegante Frucht

Üppige und auskleidende Frucht

Saftig pikante Frucht

Brillanz der prallen Frucht

Feuerwerk delikat fruchtiger Aromen

GAUMEN

Der Gaumen ist samtig

Am Gaumen schmelzig und rund

Am Gaumen vielschichtig und samtweich

Am Gaumen sauber und erfrischend

Am Gaumen substanzreich und komplex

Am Gaumen wirkt er schlüssig und stimmig

Am Gaumen ein Schmeichler

Die Präsenz am Gaumen ist geschmeidig und sehr samtig, zeigt aber durchaus Kraft und Muskeln

…der den Gaumen liebkosend willkommen heißt

…dessen Präsenz am Gaumen einem Vulkanausbruch gleichkommt

Am Gaumen entwickelt sich ein regelrechter Sturm der Aromen

Der Gaumen wird von runden, samtigen Gerbstoffen zart gestreichelt

KÖRPER

Beeindruckt mit Frucht, gutem Körper und Tiefe

Hat einen vollen Körper

Mit charakteristischem und stabilem Körper

Mächtiger Körper

Am Gaumen mit tollem Körper

Der Körper ist stabil

Saftiger Körper

MINERALITÄT

Mineralische, erdige und leicht florale Noten

Hintergründige Mineralität

Beinahe salzige Mineralität

Rassige Mineralität

Hintergründige, feinherbe Mineralität

Säurespiel mit mineralischem Nerv

Cremige Mineralität

Erfrischende Mineralität

…ruht die Frucht auf einem mineralischen Kissen

NASE

Die Nase ist klar

Zeigt eine reife Nase

Vielschichtige Nase

Eine saubere, klare Nase

Hat eine konzentrierte Nase

STRUKTUR

Plus an Struktur und Kraft

Elegante Struktur

Subtile Struktur

Samtig-weiche, noble Struktur

Tiefgründig strukturiert

Von verwobener Struktur

Nobel strukturiert

Türmt sich die aromatische Struktur geradezu auf

Weit ausholende Struktur

Sehr reich in seiner Struktur

Verzaubernd strukturiert

Bezaubernd im reich strukturierten Duftspiel

Fein geschliffene Struktur

TANNINE

Angenehme Tanninstruktur

Seidenfeine Tannine

Seidige Tannine

Durch sechs Monate Barrique geschmeidig gewordene Tannine

Tanninrückgrat

Mit seidigen Tanninen gut strukturiert

Tannine sind fest und stabil

Runde Tannine

Weiche Tannine

Tannine sind fein und zurückhaltend

In Samt und Seide gehüllte Tannine

Zart schmelzende Tannine

Feinmaschige Tannine

Zarte, reife Tannine ummanteln den Säurenerv

TEXTUR

Die Textur ist viskos

Seidenfeine Textur

Feincremige Textur

Perfekt eingebundene Textur

TERROIR

Schieferkalk-Terroir

Schiefer-Terror

Terroirbezogen

Nektar des Bordelaiser Terroirs

VERSCHIEDENES

Spritzig frisch, lebendig

vital

juvenil

Mit dem besonderen „Pfefferl“

Maskulin im Auftreten

Geradezu muskulös

Blumige Akkorde

Herrlich saftig

Atemberaubendes Elixier, das sprachlos macht

Er ist tiefdunkel und deutet schon mit prächtigen „Kirchenfenstern“ Viskosität und Volumen an.

Samtig, sanft und auskleidend

„Outstanding“ schreibt Parker über diesen „Wahnsinn im Glas“.

Sensationell, nobel, feingliedrig, distinguiert und tiefgründig

Sagenhaft samtig, unglaublich dicht, hochelegant und doch kraftvoll

Kostümiert sich mit einem filigranen Duftspiel

Hinreißender Wein mit magischem Tiefgang

Komplexes aromatisches Geflecht

Schmeichelt den Sinnen wie eine warme, sternklare Nacht

…dass die Sinne nicht nur vibrieren, sondern beben

AROMEN, BOUQUET

Ananas Anis Apfel Aprikosen

Backpflaumen Beerenkonfitüre Birne Bittermandel Bitterschokolade Blaubeere Brioche Brombeere

Cassis

Datteln Dunkle Beeren Dunkles Steinobst

Eichenholz Erdbeeren Espresso Eukalyptus Exotische

Früchte Feigen Feuerstein Flieder Florale Komponenten

Gelbe Früchte Gewürzschränkchen Grapefruit

Haselnuss Himbeere Holunder Holz Honig Honigmelone

Jasmin Johannisbeere

Kaffee Kandierte Früchte Karamell Kernobst Kirsche Kirschkompott Konfitüre Koriander Kräuter der Provence

Lakritz Lavendel Lebkuchengewürz Leder Limetten Limonen Lorbeer Lychees

Mandelblüten Marillen Marzipan Maulbeeren Melone Minze Mokka Mokkabohnen

Nektarinen Nelke Nüsse

Orangenblüten Orangenschalen Orient-Tabak

Paprika Pfirsich Pflaumen Pflaumig-malzig-traubig Pfeffer Pilze

Quitte

Rhabarber Rosen Rosenholz Rosinen Rosmarin Röstaromen (dezente…) Rumtopffrüchte

Sandelholz Schattenmorellen Schokolade Schwarze Johannisbeeren Schwarze Oliven Schwarzer Tee Schwarzkirsche Stachelbeere Steinobst Süßholz Süßkirsche

Tabak Tarte au Citron Thymian Toastbrot Toffee Trockenfrüchte Trüffel

Vanille Veilchen

Waldbeeren Waldboden Waldfrüchte Walnüsse Weichselkirsche Weihrauch (Anmutung von…) Weinbergpfirsiche Weiße Blüten Weißer Pfeffer Wiesenblumen Wildkräuter

Zabaione Zartbitter Zedernholz Zigarrenkiste Zimt Zitronenbaiser Zitronengras Zitrusfrüchte Zwetschgen




„Stilvoll und lichtdurchflutet“ – Maklerdeutsch ist pure Poesie

Wer sich auf Wohnungssuche begibt, der lernt nach und nach die sprachlichen Bemäntelungen kennen, die in der Maklerzunft üblich sind. Sie lassen sich in manchen Punkten mit den notdürftig beschönigenden Formeln in Arbeitszeugnissen vergleichen.

Hier wie da werden Texte nach Baukastenprinzip aus Standardfloskeln gefügt. Hier wie da verständigt man sich gleichsam im ironisch gebrochenen Modus mit kaschierten Hintergedanken. Es gibt sozusagen eine imaginäre Interlinearversion, die den eigentlichen Sinn enthält.

Damit driftet das Genre der Immobilien-Annonce in literarische Gefilde. Nicht, dass jemand von Rosstäuscherei spreche! Nein, hier sickert Poesie in den tristen Alltag, die Makler schildern uns in herzerwärmenden Worten die herrlichsten Idyllen.

Der Befund ist gewiss nicht neu – und doch staunt man immer wieder über die Chuzpe, pardon, über die dichterische Freiheit, mit der hier die Tatsachen aufs Prächtigste verwandelt werden.

So ahnt man ja längst, dass eine Bleibe, die „mit inneren Werten“ angepriesen wird, just der äußeren Werte ermangelt, sprich: Es herrscht umfangreicher Renovierungsbedarf. Ähnliche Unbill verheißt die Formulierung, bei diesem Objekt könne der Mieter/Käufer seine Phantasie spielen lassen. Dann erfordert es enorme Vorstellungskraft, sich die Behausung als bewohnbar auszumalen. Ähnliches gilt, wenn vom „Potenzial“ einer Wohnung die blumige Rede ist.

Hier schmieden sie betörende Texte... (Foto: Bernd Berke)

Hier schmieden sie betörende Texte... (Foto: Bernd Berke)

Im gängigen Maklersprech kehrt eine an sich schon hübsch-hässliche Vokabel häufig wieder, nämlich „stilvoll“. Damit werden beileibe nicht nur Jugendstilfassaden, Stuckornamente oder dergleichen historische Reminiszenzen bezeichnet, sondern das nostalgische Anwandlungen evozierende Wort wird nahezu wahllos ausgestreut. Selbst die triste Baulichkeit lädt in dieser Lesart „zum Verweilen ein“.

Zu den Klassikern im Maklerianischen, die man geradezu liebgewinnen kann, zählt natürlich „lichtdurchflutet“. Das Wort benennt eigentlich alles, was nicht eben stockfinster ist. Jedes Fensterlein erfährt damit seine Würdigung. Kurzum: Die frei fabulierende Maklersprache lehrt uns, auch die kleinen, unscheinbaren Dinge wieder zu schätzen. Obwohl: Was heißt denn hier klein? Eigentlich ist ja per se immer alles „großzügig“. Darunter tun sie’s nur höchst ungern.

Aus immer gern genommenen Versatzstücken lässt sich – fast ohne näheres Ansehen einer konkreten Wohnung – eine idealtypische Anzeige generieren. Ich probier’s mal:

„Absolute Rarität: Repräsentative, lichtdurchflutete XYZ-Zimmer-Wohnung mit besonderem Charme, rundum stilvoll, äußerst großzügig geschnitten. Ruhig und doch zentral gelegen, optimal angebunden. Parkähnliches Grundstück in bevorzugter, gehobener, durchgrünter Lage in Waldnähe, traumhafter, unverbaubarer Fernblick mit idealer Südwest-Ausrichtung. Mit viel Liebe zum edlen Detail aufwendig und hochwertig kernsaniert. Gönnen Sie sich den Luxus, Sie haben es sich verdient: Diese Wohnung besticht mit einzigartigen Elementen, wird höchsten Ansprüchen gerecht und lässt keine Wünsche offen…“

Na, und so weiter. Doch wehe, wenn man die Hütte besichtigt.

Selbstverständlich beschränkt sich die Flunkerei nicht auf die Sprache, sondern setzt sich kongenial in der Bebilderung fort. Man muss das Geschick bewundern, mit dem unliebsame Schattenseiten ausgeblendet werden. Und man kann im Umkehrschluss mutmaßen: Was nicht im Bild auftaucht, liegt wohl besonders im Argen. Die Defizite ließen sich beim besten Willen nicht mehr ausbügeln, also ließ man sie kurzerhand weg.

Aber was soll’s? In allen Zweifelsfällen tritt eh dieser klein gedruckte, doch eherne Kernsatz in Kraft: „Für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Angaben wird keine Haftung übernommen.“




Zurüstungen für die heimische Kaffeefabrik

In Versuchung geraten, eine nagelneue Kaffeemaschine zu kaufen. Einen von diesen polierten Lifestyle-Apparaten als Schaustück für die Küche, ihr wisst schon. Rasch vom Wunsch kuriert gewesen.

Der fix geschulte Fachverkäufer schüttet Familie B. mit Fachbegriffen zu und weidet sich daran, dass wir so gut wie nichts richtig verstehen. Wir sollen offenbar weichgekocht werden, bis wir dastehen wie Trottel. Doch mit dem erlösenden Kauf tritt man ja garantiert ein in die strotzmodern mittelschichtige, allzeit kreative, rundum verwöhnte, prenzlauerberghafte, politischökologischkorrekte Gesellschaftsschicht, welche die schicken Innenstadtviertel der Metropolen okkupiert. Keine Angst: Das Fass mit den Aufschriften „Gentrifizierung“ und „Bionade-Biedermeier“ machen wir an dieser Stelle nicht weiter auf. Friede den Altbau-Idyllen. Einstweilen.

Zurück zum Schnellkursus in Sachen häuslicher Kaffeefabrik. Mit Imponiergeste zeigt der Ladenschwengel sündhaft teure Boliden vor, mit denen man – wenn’s hoch kommt – gerade mal je zwei Tässchen Espresso, Cappuccino oder Latte auf einmal herstellen kann. Ergo: Wenn etwas mehr Besuch kommt, muss jemand permanent an der Maschine stehen und für stetigen Nachschub sorgen. Wenn einem das keine 1200 Euro oder mehr wert ist, dann gehört man eben nicht dazu!

Dessen ungeachtet, schwafelt der auf smart getrimmte Verkäufer über die konkurrierenden Systeme der Vollautomaten und Siebträger. Nein, nicht Vollidioten und Sargträger. Bitte sachlich bleiben!

Die simple Variante (Foto: Bernd Berke)

Die simple Variante (Foto: Bernd Berke)

Doch weiter, weiter, bloß kein Innehalten, man könnte sonst zur Besinnung kommen: Nun geht’s um Einknopf-Bedienungen und die „absolut erforderlichen“ 15 Bar Druck. Auf den Einwand hin, man könne Espresso – wie viele ältere Italiener dies tun – doch auch mit herkömmlichen Metallkännchen (siehe Foto) machen, empört er sich geradezu. Das sei doch kein Espresso, sondern nur Mokka. Ach, wir müssen wohl hoffnungslos zurückgebliebene Bergbauern sein. Er geißelt alles, was vordem war. Und er geißelt uns mit.

Mal ernsthaft ins große Ganze aufgeblendet: Es ist der Geräteindustrie im Verein mit den Röstern offensichtlich gelungen, auf breiter Front das heimische Kaffeebrühen völlig neu zu definieren. Wahrscheinlich nennen sie es Kaffee 2.0 oder so ähnlich. Das Pulver häufelt man demnach nicht mehr selbst, sondern bekommt es in Dutzenden Sorten als Einheitsmenge fertig dosiert vorgesetzt.

So kommt es, dass die Tasse mit Pad- und Kapselsystemen ungleich mehr kostet und dass man möglichst immer wieder dieselbe Marke kaufen muss. Schon die bloße Vorstellung, dass jemand fragt „Liebling, haben wir noch Pads im Haus?“, lässt den hohen Affigkeits-Quotienten ahnen.

Vom wachsenden Abfallaufkommen mal abgesehen. Auch würde man gern wissen, wie viel Strom all die automatischen Spülsysteme und Warmhalteplatten fressen. Die meisten dieser Geräte haben tatsächlich überhaupt keinen Ausschalter mehr. Vier bis sechs Großkraftwerke laufen vielleicht nur für Kaffee. Aaaargh!

Da hilft nur harsche Konsumverweigerung: Die gute alte Kaffeemaschine für acht bis zehn Tassen tut’s in aller Regel auch; es wäre gut, wenn sie bald unter Denkmalschutz stünde. Meinethalben plus Espressokanne und Milchaufschäumer, wenn’s denn unbedingt mal der unsägliche Latte Macchiato sein muss. Jawohl, laut Duden ist das Gesöff maskulin. Nix mit „Ich sitz‘ hier und trinke meine Latte…“

Wie bitte? Ausdifferenzierung des Geschmacks sei auch ein Stück Kultur? Na, geschenkt. Hauptsache lecker, woll?




Oberhausen zeigt die Plakate von Keith Haring: Schlicht und einfach universell

Die meisten kennen Keith Haring vor allem als legendären Graffiti-Künstler. Doch irgendwann drängten seine Schöpfungen vom buchstäblichen Underground (ab 1979 bildliche „Kurznachrichten“ auf freien Werbeflächen in der U-Bahn von New York) in den oberirdischen öffentlichen Raum, sodann auch in Galerien, Museen und auf Plakatwände, ja sogar in die Produktwerbung. Jetzt ist unter dem Titel „Short Messages“ sein komplettes Poster- und Plakatschaffen (85 Entwürfe) im Schloss Oberhausen zu sehen. Die Leihgaben stammen aus dem Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe.

Keith Haring: "National Coming Out Day" (Offsetlithographie, 1988 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: "National Coming Out Day" (Offsetlithographie, 1988 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Haring (1958-1990) ist nur 31 Jahre alt geworden, er starb an Aids. Doch in der kurzen Spanne zwischen 1982 und 1989 ist in eminent starken, bis heute nachwirkenden Ansätzen bereits ein veritables Lebenswerk von ganz eigener Güte entstanden. Man vermag sich kaum vorzustellen, was daraus noch hätte sprießen und blühen können.

Für hehre Anliegen wie etwa atomare Abrüstung oder Leseförderung zog Haring ebenso plakativ zu Felde wie für eigene Ausstellungen oder für Alkohol- und Zigarettenreklame (Absolut Vodka, Lucky Strike). In allen Fällen gab er sich ersichtlich gleichermaßen Mühe, zur optischen Essenz zu gelangen. Eine Neigung zu kommerziellen Darbietungen kam nicht von ungefähr: Von 1976 bis 1978 hatte er in Pittsburgh Werbegraphik studiert.

Keith Haring: "Absolut Vodka" (Schweden, 1988, Offsetlithographie) (Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: "Absolut Vodka" (Schweden, 1988, Offsetlithographie) (Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Schon früh sind die wesentlichen Zeichen und Chiffren beisammen, die immer und immer wiederkehren, so beispielsweise Hund, Roboter, Engelswesen, vor allem aber das „Strahlen-Baby“ (sozusagen ein zweites Ich des Künstlers) und überhaupt von Strahlkränzen umfasste Figuren, die in ihrem schlichten Sosein und simplen Aktionen aufleuchten, vor allem anfangs so selbstgewiss und optimistisch, dass es europäischen Betrachtern wohl ganz besonders auffallen muss. In der besagten Wodka-Reklame steigert sich denn auch eine Menge unter der Flaschen-Apotheose so selbstverständlich in Verzückung hinein, als könnte es gar nicht anders sein.

Einfachste Handlungsmuster (Fußtritt, Schlag) bezeichnen andererseits auch die Richtung etwaiger Attacken. In „Crack Down“ wird das verhasste Rauschgift schlichtweg zertreten. Weg damit! Es heißt, der kleine Keith hätte unter Anleitung seines Vaters schon mit 3 Jahren Comics kopiert. Man glaubt es ohne weiteres. Es waltet eine höchst prägnante Strichmännchen-Ästhetik, unter der die wenigen Textzeilen nahezu verschwinden. Die universelle Botschaft versteht sich auch und gerade so.

Keith Haring: "Montreux 1983. - 17ème Festival de Jazz" (Siebdruck / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: "Montreux 1983. - 17ème Festival de Jazz" (Siebdruck / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Aber Vorsicht: Wer sich in flotten Deutungsversuchen erginge, käme nicht so schnell an ein Ende. Hin und wieder windet Haring seinen überschaubaren Kosmos ins wuchernd Ornamentale, ja Labyrinthische, so dass man doch mühselig entwirren und entziffern muss. Auch arbeitet er bisweilen „gegen den Strich“, indem er etwa zum Jazzfestival von Montreux (1983) Breakdance-Figuren ihre dynamischen Spiralen vollführen lässt. Wer den gar hübschen Fachbegriff dafür vermissen sollte, erhält ihn hier gratis dazu: „Figura serpentinata“. Schlängelnd verdrehte, verzwirbelte Welt.

Das allererste Plakatmotiv kam zur großen Antiatom-Demo (12. Juni 1982 in New York) heraus, Keith Haring ließ 20000 Exemplare auf eigene Kosten und daher auf preiswertem Papier drucken. Aus gleichem Grund sind manche Exponate heute so empfindlich, dass man auch in Oberhausen nicht umhin kommt, das Licht zu dimmen.

Keith Haring: Poster for Nuclear Disarmament (1982 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Keith Haring: Poster for Nuclear Disarmament (1982 / Copyright Keith Haring Foundation, Fotografie Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg)

Interessante Querverweise ergeben sich, weil Haring gern mit Künstlern wie Andy Warhol, Jean-Michel Basquiat oder Yoko Ono kooperiert hat. Sogar der Eigenbrötler Roy Lichtenstein (den Oberhausen im letzten Jahr präsentiert hat) ließ sich zu einer solchen Gruppenarbeit herbei. Wiederum fürs Jazzfestival in Montreux (1986) hat Warhol ein Notenbild angelegt, zwischen dessen Linien sich typische Haring-Figuren tummeln. Allerliebst.

Für seine Ausstellung im Stedelijk Museum zu Amsterdam plakatiert Haring 1986 seinen Namen und bezieht ihn bildwitzig auf den Hering. Hier strotzt sein Schaffen noch vor ungebändigter Kraft.

1987 dann die niederschmetternde Diagnose: Keith Haring leidet an Aids. Nun entwirft er vor allem Plakate zum Kampf gegen die Immunschwäche und zum schwulen Selbstbewusstsein – mit aller grellen Dringlichkeit. Den rosa Winkel, den die Nazis zur Brandmarkung der Homosexuellen benutzt hatten, dreht er kurzerhand um, so dass er als Pyramide historische Dignität gewinnt und gleichzeitig zukunftsfroh himmelwärts weist.

Eine Haring-Figur, die denkbar kurzlebige Seifenblasen in die Luft pustet (und auf diese eh schon vergänglich schillernden Gebilde auch noch einsticht), mag als zeitgemäßes Todesbild gelten. Ab 5. Februar wird diese Qualität im ungewohnten Kontext womöglich noch deutlicher. Dann werden an gleicher Stätte auch einige Todesdarstellungen aus der frühen Neuzeit gezeigt.

Keith Haring: „Short Messages“. Poster und Plakate 1982-1990. Vom 22. Januar (Eröffnung 19 Uhr) bis zum 6. Mai 2012. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 6,50 Euro (ermäßigt 3,50 Euro), Familie 12 Euro. Infos/Buchung Schulführungen 0208/41 249-28. Internet http://www.ludwiggalerie.de




Lob des Scheibenwischers

An einem solchen Regentag *** kann man glatt drauf kommen: Es gibt Dinge, die offensichtlich nicht mehr wesentlich zu verbessern sind. Seit etlichen Jahrzehnten, ja in diesem Falle seit über einem Jahrhundert, sind sie weitgehend gleich gelieben. Hier reden wir nicht vom Rad, sondern vom Scheibenwischer.

Eigentlich eine simple, altmodisch anmutende Sache. Mechanisch, in stupiden Wiederholungsmustern gefangen, wenn auch inzwischen mit Regensensor versehen und raffinierter geschaltet als früher, nämlich in vielfältigen Intervallen. Aber ansonsten sieht er beim Billigauto ähnlich aus wie beim luxuriösen Fahrzeug. Fast schon gleichmacherisch.

Nur ein bisschen schade, dass seine knarzende und klackernde Verwandtschaft verschwunden ist – die Kurbel, mit der man die Scheiben herauf und herunter gedreht hat; der Winker, der längst durch den schnöden Blinker ersetzt wurde.

Ich bin ungefähr das Gegenteil von einem Ingenieur und habe von der Materie keine Ahnung. Über Parallelogramm- oder Doppelarmscheibenwischer sowie über gelenklose Flachbalkenwischer habe ich mir bislang nicht den Kopf zerbrochen und mag das auch künftig nicht tun. Wahrscheinlich machen Gummisorten feine Qualitäts-Unterschiede aus. Sei’s drum.

Als Laie kann ich mir vorstellen, dass man vielleicht schon Föntechniken zur Scheibentrocknung erprobt (nach dem Vorbild der Waschanlagen) oder gar an Lösungen im Nano-Bereich werkelt. Nur zu!

Wir warten das mal in aller Ruhe ab. Jetzt aber ein Hoch auf die Amerikanerin Mary Anderson! Jawohl, eine Frau hat den Scheibenwischer erfunden, 1903 erhielt sie das Patent. Und schon damals bestand die Vorrichtung aus einem Gummiblatt, welches auf einem Schwingarm saß, der sich sinnreich hin und her bewegen ließ. Einfach genial!

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*** Jaja, ich weiß, dass manche heute auch im Schnee stecken




Enzensberger und die Luxusuhren

Hans Magnus Enzensberger ist allzeit ein federführender Intellektueller gewesen, der uns allen meist zwei bis fünf Drehungen voraus war. So einen, der auch im leuchtenden Jahr 1968 zur schreibenden Avantgarde gezählt hat, wünscht man sich gleichsam rein, möglichst ohne Fehl und Tadel. Ach, wie naiv!

So kommt es einer gelinden Irritation gleich, wenn man jetzt auf jene mit goldenem Krönchen verzierte Anzeige stößt: HME gibt sich dafür her, die Uhrenmarke Rolex im Gespräch zu halten.

Nein, ich möchte nicht all die Goldkettchen-Typen kennen, die sich ein Produkt dieser Firma ums Handgelenk winden.

Gedichtband von und Anzeige mit Enzensberger (Foto: Bernd Berke)

Gedichtband von und Anzeige mit Enzensberger (Foto: Bernd Berke)

Rolex gibt sich die Ehre, jeweils einen Mentor und einen Meisterschüler miteinander zu koppeln und zum fruchtbaren Dialog anzuregen. So jedenfalls die krampfhaft dezent plakatierte Idee. Ein paar mäzenatische Euro- oder Dollar-Scheinchen werden sicherlich auch noch dransitzen. Hat Enzensberger das auf seine älteren Tage noch nötig?

Enzensberger also unterhält sich, ausweislich des Annoncen-Fotos, mit der ihm zugeordneten Dichterin Tracy K. Smith. Man reibt sich mehr oder weniger verwundert die Augen, wenn man sieht, wer noch teilnimmt an dieser nicht allzu transparenten, wohl aber durchsichtigen Aktion. Auszug aus der illustren Namensliste:

Tahar Ben Jelloun, Brian Eno, Stephen Frears, David Hockney, Rebecca Horn, Toni Morrison, Martin Scorsese, Wole Soyinka, Mario Vargas Llosa, Robert Wilson.

Mich würde interessieren, wen die Rolex-Werbestrategen sonst noch gefragt haben und wer also abgesagt hat. All denen möchte ich meinen Dank aussprechen.




Verehrter Apfel

Steve Jobs ist tot – und natürlich ist das traurig, wie es bei beinahe jedem Menschen traurig ist, wenn er stirbt, zumal so jung. Und sicherlich war Steve Jobs ein Visionär, einer, der nur wenige Grenzen im Denken akzeptiert hat, der neue Wege gegangen ist und den Umgang mit Handys, Computern, Musik verändert hat. Der beinahe religiöse Hype aber, der jetzt um seine Person gemacht wird, ist mir fremd. Manchen gilt dieser Mann, der doch auch nur Mensch war, schon beinahe als Erlöser, dem seine Jünger folgen, ohne auch nur die geringste Kritik zuzulassen.

Warum?Ein Apfel ist ein Apfel ist ein...

Weil er dafür gesorgt hat, dass wir auf einem Handy mit Wischbewegungen Fotos, Musik, E-Mails verwalten und allerlei andere Spielereien nutzen können?

Weil er mit dem Ipad ein Gerät auf den Markt gebracht hat, dass möglicherweise den Zeitungsmarkt revolutionieren wird, weil es den Medienkonsum interaktiver und mehrdimensionaler machen kann?

Weil er Musik auch auf dem digitalen Markt zu einem wirtschaftlich erfolgreichen Produkt gemacht hat?

Weil er Ästhetik in den sonst so tristgrauen Bereich von technischen Gerätschaften gebracht hat?

Sicherlich sind all das bemerkenswerte und bequeme Errungenschaften, die ich bewundere für ihre innovative Kraft.

Aber ich unterstelle: Steve Jobs war auch ein gewiefter Geschäftsmann, einer der verkaufen, der Geld machen wollte. Was völlig legitim ist – die Verehrung seiner Person aber erst recht suspekt macht. Was sagt es eigentlich aus über unsere Gesellschaft, dass wir einen auf einen Sockel stellen, der es mit einer unglaublich geschickten Geschäftsstrategie geschafft hat, uns vorzugaukeln, dass ein Massenprodukt individuell ist? Dass wir durch seinen Besitz anders sind? Unser Leben gar einfacher, hipper, begehrenswerter wird – durch ein Kaufprodukt?

Arno Frank schreibt in seinem kritischen Nachruf in der „taz“ gar von einem breitbeinigen Idealismus, der „inzwischen längst das Markenzeichen eines synkretistischen Mischkonzerns mit esoterischem Einschlag und käuflichen Ikonen“ geworden sei.

Mehr zum Weiterlesen gibt es hier.




Nicht fein genug?

Die Edeljuwelierkette Wempe hat mal wieder die Anzeige geschaltet, in der ein smarter, souverän entspannter, rundum arrivierter, aber noch nicht vollends saturierter Top-Entscheider-Vater seinem gleichfalls schon rundum veredelten Sohnemann (welcher gewiss zu den schönsten Hoffnungen berechtigt), gleichsam feierlich gelobt, ihm dereinst die aber so was von kostbare Uhr einer Nobelmarke zu vererben, denn: „…eigentlich bewahrt man sie schon für die nächste Generation“.

Unter dem Schmonzes steht eine Liste von Wempe-Niederlassungen. Vergleicht man diese mit der Aufstellung aller bestehenden Filialen auf www.wempe.de, so fällt auf, dass – abgesehen von einem Luxusschiff – genau drei Orte fehlen. Kampen/Sylt muss wohl wegen der Insellage aussortiert worden sein. Bei Mannheim und Dortmund kann man sich hingegen andere Gründe denken. Vielleicht sind diese beiden Städte einfach doch nicht fein genug für besagte Botschaft. „Mannemer Dreck“ ist sprichwörtlich – und Ruhrgebiet, nun ja! Sagt selbst. Ihr wisst doch Bescheid.

Reden wir nicht mehr drüber.




Die vertraute Markenwelt

Es mag ja betrüblich zu sagen sein, doch ist es wahr: Unter allen Dingen und Verhältnissen, die uns Weltvertrauen einflößen, sind nicht zuletzt die seit Kindheit vertrauten Marken. Ziemlich klar, woran es liegt: Unser Weltausschnitt ist vorwiegend eine Markenwelt.

Einige Beispiele, ohne jeden Schleichwerbe-Effekt, abseits jeder Qualitätsvermutung, streng alphabetisch: Bosch, Hansaplast, Haribo, Langnese, Märklin, Miele, Nivea, Opel, Osram, Persil, Philips, Pril, Rama, Ritter Sport, Tempo, Tesafilm, Volkswagen. Und viele andere, je nach Generation wechselnd. Für manche beginnt die Erinnerung mit Nogger oder Nutella. Kaufartikel halten längst für die Benennung ganzer Altersgruppen her, siehe „Generation Golf“ etc. etc. Ich kaufe das, also bin ich. Ich stilisiere mein Leben mit Waren, also gelte ich.

Schon wenn man erfährt, dass sich hinter den gewohnten Namen neue (meist globale) Besitz- und Produktionsverhältnisse verbergen, fühlt man sich ein wenig verunsichert. Erst recht wird einem mulmig zumute, wenn solche Namen gänzlich getilgt werden. AEG, Borgward, Eduscho, Grundig, Nordmende, Simca, Telefunken, neuerdings Saab. Selbst um die dürftigen Ost-Labels von Trabant bis Rotkäppchen wird seit Jahren nostalgischer Kult getrieben. Oder mal aus Dortmunder Nahsicht betrachtet: Hoesch als „Name für Stahl“ (früherer Slogan) und etliche Biermarken gehören einer immer mehr entgleitenden Vergangenheit an.

Hin und wieder tauchen alte Namen wieder auf, doch meist handelt es sich um billigen Etikettenschwindel. Mit Markenrechten soll altbewährtes Vertrauenskapital umgemünzt werden. Pah! Auch ihr dreht die Zeit nicht um.

Und wie schnell der Schwund, dieser Wandelfraß sich ausbreitet! Man schaue sich nur Filme aus den 1970er oder 1980er Jahren an. Wie anders wirken da Kleidung und Straßen. Ja, die gesamte Farbpalette sieht fremdartig aus; ganz zu schweigen vom Takt der Wahrnehmung, der sich im Filmschnitt zeigt.

Zurück zu den Marken. Bereits im nahen Ausland verschieben sich Koordinaten des Konsums. Trotz regen internationalen Handels ist diese und jene Marke schon in geringer Entfernung nicht mehr vertreten, dafür tauchen andere auf, die einem zunächst oder auf Dauer nicht geheuer sind. Es sei denn, man wäre ein Anbeter des Immer-wieder-Neuen, des Täglich-Anderen. Allmählich scheint es ja zu gelingen, diesen kapitalistisch dringlichst erwünschten Menschentypus zu züchten. Dass dieser Typus wiederum weltweit das Vorhandensein gewisser Leitmarken verlangt, gehört zum Kraftfeld, das keineswegs widerspruchsfrei ist.

Die Beharrenden aber ahnen: Fortwährender Markenschwund ist ein Zeichen der Vergänglichkeit und ragt bis ins Existenzielle, kündigt also Stück für Stück das Sterben an.




Der Koloss von Dortmund

Dortmunds Innenstadt steht unmittelbar vor dem radikalsten Umbruch der letzten Jahrzehnte. Am 15. September wird ein Einkaufscenter mitten in der City eröffnet, das rund 160 Geschäfte umfasst und sich (wesentlich auf dem Gelände der früheren Thier-Brauerei) vom Wallring bis zum Westenhellweg erstreckt.

Schon jetzt steht fest, dass sich mit der „Thier-Galerie“ Charakter und Schwerpunkte des Stadtzentrums gründlich ändern werden. Der Investor und Betreiber ECE hat etwa 300 Millionen Euro in den weitläufigen Bau gesteckt und kalkuliert mit einem Einzugsgebiet, in dem etwa 3 Millionen Menschen leben. Das sind schon höhere Hausnummern.

Der riesige Komplex prunkt auf seiner Schauseite mit einer nahezu klassizistisch anmutenden, machtvollen Säulenformation und zitiert damit eine uralte Würdeformel der Architektur. Im Kontext der Dortmunder City wirkt dies besonders imposant, doch auch einigermaßen grotesk. Geborgte Grandezza…

Schauseite der "Thier-Galerie", 14 Tage vor Eröffnung (Foto: Bernd Berke)

Schauseite der "Thier-Galerie", 14 Tage vor Eröffnung (Foto: Bernd Berke)

Gewiss: Manche Filialisten lassen sich hiermit erstmals in dieser Stadt nieder und bringen neue Jobs. Doch etliche Händler ziehen aus anderen Dortmunder Lagen in den neuen Kauftempel. Deren bisherige Domizile werden in aller Regel frei, es gibt mithin erst einmal zahlreiche Leerstände. Reihen sich solche Punkte über die Maßen aneinander, so entstehen rasch Zonen der Unwirtlichkeit und Verwahrlosung. Man kann dies schon an bestimmten Stellen der Stadt beobachten. Doch das alles könnte nun weit übertroffen werden.

Auch die lokale Presse barmte zwischenzeitlich, dass so genannte 1-B-Lagen wie Ostenhellweg und Brückstraße gefährdet seien. Doch man kann wohl sicher sein, dass sich derlei skeptische Anwandlungen schnell beruhigen werden. Denn wer will es sich schon auf einen Schlag mit 160 potenziellen Anzeigenkunden verderben?

Aufblick zur "Thier-Galerie" (Foto: Bernd Berke)

Aufblick zur "Thier-Galerie" (Foto: Bernd Berke)

Der Autoverkehr, den der neue Koloss anziehen wird, dürfte gelegentlich einem Kollaps gleichkommen. Zwar gehört ein neues Parkhaus mit 730 Plätzen hinzu, doch wenn man diese Zahl durch jene der Geschäfte teilt, so kommt man bei 160 Läden auf gerade mal je viereinhalb. Der Autoschwall wird sich also auch in andere Parkhäuser und Tiefgaragen ergießen, die ohnehin oft schon gut gefüllt sind.

Gespannt darf man sein, wie sehr sich das Center vom sonstigen Stadtleben abschotten wird. Konsumpaläste dieser Größenordnung kommen schwerlich ohne Security-Kräfte aus; zumal, wenn die Geschäfte freitags und samstags bis 22 Uhr geöffnet bleiben. Man wird sehen, wie strikt die Sicherheitsleute gegen „unliebsame Personen“ vorgehen und wie sie diesen Begriff auslegen.




Nun hat sie ausgeglüht

Diesen 31. August 2011 hat sie noch, dann muss sie aus unserem Alltag für immer verschwinden, weil es EU-Gewaltige in Brüssel so wollen, weil Umwelt mit ihr immer schon Schaden genommen haben muss, weil von mir natürlich stets gemutmaßte wirtschaftliche Interessen dahinter stecken: Die 60-Watt-Glühbirne ist alsbald nur mehr im Museum zu betrachten – natürlich außer Betrieb, denn der ist von mächtigen EU-Kommissaren strikt untersagt.

In der „Reina Sofia“ konnte mensch sie schon lange als museales Objekt betrachten. Öl auf Leinwand, in exponierter Situation von Pablo Picasso auf der „Guernica“ verewigt. Demnächst vielleicht ein finaler Auftritt im Ruhrmuseum auf Zeche Zollverein in Essen. Oder direkt neben Exponaten aus dem umfänglichen Schaffen eines Joseph Beuys.

Nun preisen alle die, die etwas zu sagen haben (oder auch nichts), neue, hochtechnische Leuchtmittel an wie E 10 fürs Automobil, künden, dass dieser Einschnitt ein Schritt hin zur unmittelbar bevorstehenden Sanierung des Weltklimas sei, aber von möglichen Problemen redet niemand.

Ich selbst könnte ja noch damit leben, dass meine Abendlektüre energiesparend kühl beleuchtet wird, nachdem die Birne anfänglich flackernd angesprungen ist. Wie aber ist es mit Sehgewohnheiten wie etwa auf „Betende Hände“ oder Expressionistisches, beispielsweise aus der Hand von Macke? Wird solches nicht gänzlich anders angeleuchtet und uns somit ganz anders präsentiert? Wie sieht ein Bild, das womöglich bei Kerzenschein oder Glühbirnenfunzellicht entstand, ganz neu beleuchtet aus?

Oder wie wird es zukünftig im Zentrum für internationale Lichtkunst zu Unna gehandhabt, geben die Kunstwerke mit Glühbirnenbeleuchtung nicht zukünftig, ernergiesparend strahlend ein völlig anderes Bild ab?

Fragen über Fragen, und ich bin mir sicher, dass die herstellende Industrie optimale Lösungen finden wird, um auch die letzten Nörgler zufrieden zu stellen. Und dennoch: Ade, du ineffiziente Glühbirne.




Ungereimtheiten auf der Alm

Man macht das ja manchmal so. Reime erzwingen um des Reims willen. Und vielleicht für ein wenig Haha. Bei Geburtstagsfeiern oder auf Grußkarten zum Beispiel. Ich hab es gerade erst wieder getan, in einem der klassischen Orte für solcherlei Wortpressversuche: In einem Gästebuch einer Ferienwohnung, in der wir uns sehr wohlfühlten, habe ich willkommen auf gern wiederkommen gereimt und sogar Drachenfels mit Zahnschmelz gepaart.  Ein bisschen rote Ohren, ein

Das Bild zeigt einen Screenshot der Suche auf Google und des Ergebnisses von Pro7.

Das Bild zeigt einen Screenshot der Suche auf Google und des Ergebnisses von Pro7.

bisschen Schmunzeln – und die nachfolgenden Gäste können sich dran ergötzen.

So etwas aber geschieht in der stillschweigenden Übereinkunft einer Halböffentlichkeit, die nur wenige Zeugen kennt. Weil letztlich doch alle Beteiligten wissen, dass solches Gereime von Dichtkunst so weit entfernt ist, wie eine Baumscheibenbemalerin von Frida Kahlo.

Diese Übereinkunft empfinde ich nun als gebrochen. Heute bin ich an einer Litfaßsäule vorbeigefahren, auf der mit einem kernigen alten Hutzelmännchen für eine Sendung namens „Die Alm“ geworben wurde. Die Unterzeile brannte in meinen Augen. „Promischweiß und Edelweiß“.

Liebe Menschen von Pro7 oder wer auch immer sich diese Zeile ausgedacht hat – das tut doch weh! Ihr habt das schöne Edelweiß mit solch einem ekligen Bild zusammengebracht – und damit ausgerechnet eine Blüte, die als stark gefährdet gilt, in den Dunstkreis von mediengeilen X-Prominenten gebracht, die leider keinesfalls selten sind. Wäre es doch nur andersrum!

Und dann diese Wortschöpfung: „Promischweiß“. Mal abgesehen davon, dass ich allein schon den Ausdruck „Promi“ furchtbar finde, bei Betrachten der „Alm“-Website aber auch niemanden gefunden hätte, der überhaupt prominent wäre. Was offenbart sich denn da für ein Menschenbild? Schwitzen „Promis“ etwa anders, als die sonstigen Erdbewohner? Sollte das sogar ihr hervorstechendstes Merkmal sein (was einiges erklären würde)? Und wie sähe die prominente Schweißflüssigkeit wohl aus? Gülden, der hervorgehobenen Stellung angepasst, und dazu noch lieblich duftend?

Wer weiß. Vielleicht verkauft der Sender am Ende des ganzen Prominentenschaffens ihr Ausgedünstetes im Supermarkt. Ich hätte auch schon einen tollen Slogan: Promischweiß – günstiger Preis!




„Anrührend, mitreißend, feinfühlig“ – die Prospekt-Prosa der Buchverlage

Klappentexte tendieren bekanntlich dazu, noch das vertrackteste Werk in rasch konsumierbare Formeln zu pressen. Da sind nicht selten Meister der gerade gängigen Floskeln am Werk. Ein lesenswerter „Zeit“-Artikel hat das Genre jüngst wieder aufgegriffen.

Ganz ähnlich, ja zuweilen wortgleich ergießt sich der Schwall aus der Prospekt-Prosa der Buchverlage. Ob nun Testimonials oder lobhudelnde Pressezitate ausposaunt werden, oder ob der Marktjubel direkt aus den PR-Abteilungen tönt – vieles scheint abrufbereit auf den Sicher-Hole-Tasten zu liegen. Manchmal hört sich das an wie auf dem Hamburger Fischmarkt, dann wieder raunt und säuselt es so filigran feingeistig, dass einem Rilke die Tränen kämen.

Die folgende kleine Kollektion aus Originalzitaten wird ganz bewusst ohne Ansehen der Einzelbücher präsentiert, es geht ja allgemein um den Sound solcher Werbung. Die Beispiele entnehme ich den aktuellen Herbstkatalogen einiger bekannter Verlage, wobei ich in kursorischer Durchsicht ausschließlich bei der Belletristik nachgeblättert habe. Mehr wäre über meine Kräfte gegangen.

Wie bitte? Doch, doch. In kleinen oder größeren Feuilletons finden sich immer mal wieder ähnliche Formulierungen. Es ist halt nicht leicht, dem jeweils waltenden Jargon zu entgehen. Und so wage niemand zu sagen, er wäre gänzlich frei davon. Als Essenz dieser laufenden Saison empfehlen sich übrigens Satzmuster, in denen wahlweise von bewegender, funkelnder oder schonungsloser Sogwirkung die Rede sein müsste. Oder so ähnlich.

Hier nun ein paar Beispiele, hilfsweise einsortiert:

Aufhebung der Gegensätze
„Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll, aber das macht nichts. Das Komische und das Tragische sind hier in höchster Form vereint.“ (Wagenbach)
„Ein Feuerwerk aus Mord und Schönheit“ (Galliani)
„Ein zeitdiagnostisches und ein Warnbuch also und doch auch ein Buch der Courage und der Glückserfahrung…“ (Suhrkamp)

Zielgruppenarbeit
„Ein herrlich lakonisches Buch für Rotweinliebhaber, in die Jahre gekommene Motorradfreaks, Geschiedene, Gelegenheitsphilosophen und Lebenskünstler…“ (Wagenbach)
„700 000 glückliche Leserinnen freuen sich“ (Knaur)

Dreifacher Ausruf
„Sogwirkung! Psychohölle! Grausige Faszination!“ (Droemer)
„Rasant, waghalsig, schonungslos“ (Hoffmann und Campe)
„Anrührend, mitreißend, feinfühlig“ (Kiepenheuer & Witsch)

Die Kunst des Vergleichs
„Der britische Philip Roth!“ (Daily Mail-Zitat bei DVA)

Schneller, höher, weiter
„Der härteste…, den es je gab“ (Grafit)
„Der ungewöhnlichste erotische Roman, den Sie je gelesen haben“ (Rowohlt)
„Der schönste Roman, den…je geschrieben hat“ (Hoffmann und Campe)
„Einer der lustigsten Romane aller Zeiten“ (Daniel Kehlmann-Zitat bei Suhrkamp)
„…läuft zur Höchstform auf“ (Kindler)

So sind sie, die Schriftsteller
„Wie kaum ein zweiter versteht er es, Spannung mit Tiefgang zu erzeugen, indem er Seelen in all ihren Schattierungen auslotet. Dabei erweist er sich zudem als schonungsloser Chronist unserer Zeit.“ (Grafit)
„…ist ein großer Kenner der Menschen und ihrer Einsamkeit“ (SZ-Zitat bei Suhrkamp)
„…ist ein Meister der Ambiguität und setzt mit seiner präzisen, schlichten Sprache Katastrophen wirkungsvoll in Szene“ (Wagenbach)
„…vibriert das Temperament einer wirklichen Erzählerin“ (Kunstmann)

Unverwüstliche Klassiker / Retro-Stil
„Eine bewegende Lebens- und Liebesgeschichte in Zeiten von Krieg und Revolution“ (Insel)
„Ein überraschendes Buch eines außergewöhnlichen Künstlers“ (Aufbau)
„Ein verstörender Roman, der wie ein konventioneller Thriller beginnt und sich langsam in einen surrealen Albtraum verwandelt.“ (Kunstmann)
„…tief anrührende Parabel über das Leben und die Liebe, das Schreiben und den Tod.“ (Kiepenheuer & Witsch)
„…klanglich genau komponierte und einen heimlichen Sog ausübende Gedichte“ (Luchterhand)
„Ihre Erzählungen sind von geradezu elementarer Wucht“ (Diogenes)

Ein weites Feld
„Natur- und Landschaftsbilder von äußerster Konzentration und eigentümlicher Stille“ (Suhrkamp)
„Ein groß entfalteter und bewegender Roman über die Möglichkeit des Bösen und die Unmöglichkeit einer Liebe“ (Insel)
„Ein Roman, der sich den Lesern in einem unausweichlichen Sog tief ins Gedächtnis gräbt“ (Rowohlt)

Tröstungen
„Dieses Buch dementiert die weitverbreitete Meinung, angesichts des Todes sei alles sinnlos.“ (Suhrkamp)
„…schlägt…einen großen Bogen von tiefer existentieller Qual zu Hoffnung und Versöhnung.“ (Luchterhand)

Alles drin, alles dran!
„Überdosis Leben. Der schonungslose Roman…über eine Generation zwischen Freiheit und Gleichgültigkeit“ (Rowohlt Berlin)
„Sex, Gewalt, Unschuld und die unbestimmte Sehnsucht nach Leben“ (Eichborn)
„…und liefert zugleich ein flirrend lebendiges, atmosphärisch beeindruckendes Zeitporträt“ (Kiepenheuer & Witsch)
„…als Zeitdokument, als anrührende Autobiographie und als sinnlicher Roman“ (Diogenes)

Der besondere Ratschlag
„Dieses Buch sollte man mehrmals inhalieren“ (Gary Shteyngart-Zitat bei Eichborn)

Das Gottesurteil
„Günter Grass ging beim gespannten Zuhören die Pfeife aus“ (FAZ-Zitat bei Rowohlt)

Was sonst noch unsortiert im Baukasten herumliegt
Kultstatus, unwiderstehlicher Sog, eines der schönsten Bücher des Jahres, die literarische Sensation des Herbstes, einer der besten spanischen Romane, der wahrscheinlich interessanteste Autor seiner Generation in der französischen Gegenwartsliteratur, Kultbuch aus Griechenland, der wichtigste Roman eines Amerikaners dieser Generation, ist in einem Atemzug mit dem großen Halldór Laxness zu nennen, das wohl persönlichste Buch des großen Erzählers, packender historischer Justiz-Thriller, beängstigend realistischer Politthriller, der Weltbestseller, es gibt keine Steigerung, herzerwärmender Roman, ein außergewöhnlicher Roman, sein letzter Roman, funkelnde literarische Kleinode, geschichtensatter großer Roman, aufrüttelndes Buch, ein literarisches Meisterwerk, einfach brillant, große deutsche Literatur, ein Frauenroman im allerbesten Sinne, kommt ein neuer Ton in die deutsche Literatur, taumelnde Allegorie, erzählt bei aller journalistischen Nüchternheit von berührenden Schicksalen, herzzerreißend komischer Roman, Lesevergnügen der amüsanten Art…

Bonus-Track: Debütanten
Berührender Debütroman, ein aufregendes Erzähldebüt, erfrischendes Romandebüt, ein begeisterndes Debüt, ein erstaunliches Debüt, umwerfendes Debüt, „Ein Debüt, das funkelt, flirrt und fiebert“




Soziale Miniaturen (11): Einkaufserlebnis

Der kleine Dortmunder Supermarkt hat seit einiger Zeit jeden Abend bis 22 Uhr geöffnet und so seinen Einzugsbereich erweitert. Ab 19 Uhr ändert sich rasch die Struktur der Kundschaft, besonders ausgeprägt freitags und samstags. Wer früher vielleicht „anne Bude“ ging oder zur Tanke fuhr, um späten Saufstoff zu holen, taucht nun schon mal hier auf. Es ist ja auch billiger. Obwohl das wiederum vielen egal ist.

Hinzu kommen traurige Gestalten von einiger Art, die hier tatsächlich so etwas wie ein „Einkaufserlebnis“ suchen – auf äußerster Schwundstufe. Am Tage trauen sie sich kaum noch heraus. Dies hier gehört zu ihren letzten Verbindungslinien zur „Normalität“, die dem Namen jedoch Hohn spricht. Aber wenn diese Fäden auch noch gekappt werden…

Manche von denen, die erbärmlich wenig Geld haben, gehen unsanft damit um, als hätten sie Unmengen davon: Da werden 50-Euro-Scheine so verächtlich aufs Warenlaufband geworfen, als sei es nichts. Wer derart wenig besitzt, der hasst die „Kohle“ und zeigt es.

Wie grell manche ihre unwiderrufliche Hoffnungslosigkeit und Hinfälligkeit sehen lassen. Wie sie auf nichts mehr halten, weder auf sich noch auf andere.

Zwischendurch dröhnende Streits wie aus den übelsten Reality-Soaps im Privatfernsehen. Einige reißen das Maul beim geringsten Anlass gleich weit auf. Man hat es ihnen vorgemacht.

Diese Verwahrlosung, nicht selten aggressiv gewendet, oft aber auch nur noch das schutzlos blanke Elend. Diese umfassende Achtlosigkeit. Diese rundum ausstrahlende Rücksichtslosigkeit.

Nach 21 Uhr ist hier kaum noch jemand nüchtern.

Nun ziehen hin und wieder junge Horden hindurch und bedienen sich freihändig in den Regalen. Dosen aufreißen, gleich austrinken, leer zurückstellen oder auf dem Boden zertreten – und raus aus dem Laden… Das Personal, vielfach Hilfskräfte auf Abruf, wagt es nicht, sich entgegenzustellen. Für die paar Kröten etwas riskieren? Den breitbeinig gebellten Satz „Hast du ein Problem damit?“ möchten sie lieber nicht hören. Geschweige denn erleben, was dann vielleicht folgt.

Kampfbereite Gratis-Mentalität also. Es gehen öfter mal Flaschen zu Bruch. Man kann sich beinahe vorstellen, wie das ist, wenn nach Katastrophen marodiert und geplündert wird.

Nachdem kürzlich bei laufendem Abendbetrieb Schaufensterscheiben zersplittert sind, hat der Supermarkt-Konzern reagiert und postiert jetzt einzelne Security-Kräfte am Eingang. „Damit Sie in Ruhe einkaufen können“, versichert einer von ihnen leutselig. Er kann auch anders.

Und wie geht es weiter?




Soziale Miniaturen (2): Kontoauszug

Ein stilecht abgewrackter Punk schlurft daher, heftig tätowiert, flächendeckend gepierct. Wie es das Klischee verlangt.

Auf seinem rissigen Shirt prangt die Aufschrift „Ihr seid alle ätzend!“ Hasserfüllt die ganze Haltung, jeder Blick Abwehr und Angriff. Oh, der hat Schluss gemacht mit allen Übereinkünften. Der ist sternenweit entfernt von jedem Spießertum, von jeder Normalität. Fast könnte man ihn beneiden.

Doch was tut er jetzt? Er nestelt aus dem abgewetzten Rucksack seine EC-Karte der Volksbank hervor, verschafft sich routiniert Zutritt zum Raum mit den Geldautomaten seines Vertrauens. Zieht alsdann noch die Kontoauszüge, damit das gleichfalls seine Ordnung hat. Gewiefte Marketing-Strategen könnten mit ihm ein Filmchen drehen und so für die allseits tolerante Bank werben. Man will nicht wissen, über wie viel Geld er verfügt. Doch posiert er mit blindwütiger Verachtung gegen allen Besitz. Darf man das nicht Verlogenheit, gar Idiotie nennen?

Jaja, gewiss: „Das System hat alle vereinnahmt, man kann ihm nicht entrinnen.“ Welch eine betrüblich billige Schlussfolgerung aus solch einem winzigen Vorfall. Doch ist sie falsch?




Soziale Miniaturen (1): An der Kasse

Die Frau, wahrscheinlich in den Fünfzigern, ist vielleicht
ein wenig verhuscht, aber überhaupt nicht verwahrlost. Sie hält noch etwas auf
sich, wenn auch nicht mehr so viel wie ehedem. Sie ist auf unscheinbare,
gläsern verletzliche Art adrett. Es ist, als stünde sie auf papierenen Füßen.
Sie lebt allein, so viel scheint gewiss.

Sie steht an der Kasse. Bevor sie an die Reihe kommt,
sortiert sie ihren bescheidenen Einkauf auf dem Laufband sehr sorgfältig um und
um. Geradezu liebevoll. Unsinnig liebevoll.

Der Kassierer tippt die Beträge ein und drückt die
Additionstaste. 19 Euro und… Mit Mühe kratzt sie knapp 16 Euro zusammen. Ihr
hilfloser Blick.

Dieser Kassierer, ein massiver Mensch, schlägt vor: „Was
brauchen Sie denn nicht so dringend? Dann lassen Sie das weg.“ Schüchtern rückt
sie zwei Joghurt-Becher beiseite. Er, gnadenlos pragmatisch: „Das bringt
nichts. Das ist nur ein Euro zehn.“ Ihr hilfloser Blick.

Es liegt schmerzlich zutage. Sie kann nicht einfach
per Karte zahlen. Was da liegt, ist das, was sie jetzt aufbieten kann.

Von hinten aus der Schlange meldet sich ein Gutmeinender:
„Wieviel fehlt denn?“ Keinerlei Reaktion. Noch einmal, ebenso vergebens:
„Wieviel fehlt?“ Achselzucken. Was soll man machen?

Sie verzichtet nochmals auf zwei, drei Posten, so dass ihre
Habe nun gerade reicht.

Ihr Lächeln ist fein, doch hört man nicht ein Klirren?




Der Tod des Margarine-Mädchens

Seit kurzem ist sie nicht mehr da. Sie hat uns wohl für immer verlassen;  eine Gestalt, die das deutsche Alltagsleben durch viele Jahrzehnte recht unscheinbar, doch stetig begleitet hat: das „Rama-Mädchen“.

Auf Schachteln, Bechern und Einwickelfolien war sie (in einer zunehmend stilisierten Tracht) all die Jahre treulich und sittsam zugegen. Ihr Erscheinungsbild hatte sich mit der Zeit gewandelt, aber man hat sie immer gleich wiedererkannt.

Doch die Hersteller der Margarine (Konzern Unilever) haben sich nun mal entschieden, der Marke ein völlig anderes Design beizumessen. Dafür haben sie ihre „Ikone“ geopfert, die – wie man nun gleichsam posthum erfährt – sogar einen Namen hatte, nämlich Jule. So hat das Seufzen der Nostalgiker wenigstens eine benennbare Adressatin: „Ach, Jule, kehr zurück!“ Doch solches Flehen wird wahrscheinlich nicht erhört.

Und jetzt? Jetzt prangen auf den Packungen nur noch vier halbwegs liebliche Blümchen, die den Urhebern zufolge allen Ernstes für die Mitglieder einer „typischen“ (?), sicherlich ebenso konsumfreudigen wie klimagerechten, nachhaltig naturnahen, vierköpfigen Kleinfamilie stehen sollen. Man könnte jetzt weit ausholen, um hier eine herzlich unverbindliche, völlig austauschbare „grüne“ Fühl- und Denkungsart (oder einfach: Attitüde) als Nährboden auszumachen. Wie wir zur Genüge wissen, befinden wir uns damit in der gar nicht mehr so neuen „Mitte“, im durchaus mehrheitsfähigen Bereich, der bis weit ins ehedem bürgerliche Lager reicht. Lassen wir das.

Warum aber hat man sich von einer derart eingeführten, nachgerade legendären Figur getrennt? Wie eine Diskussion auf der Internet-Seite „Designtagebuch“ (dort gibt’s bildliche Vorher-Nachher-Darstellungen) ahnen lässt, kritisieren auch etliche Leute vom Fach diesen Schritt weg von der Tradition. Man gebe ein „Alleinstellungsmerkmal im Kühlregal“ auf, heißt es beispielsweise. Einer vermutet gar, der Abschied sei vielleicht auf „political correctness“ zurückzuführen: Frauen sollten halt nicht mehr in bildlichen Zusammenhang mit Nahrungsmittelzubereitung gebracht werden…

Gerade Zeitschriften mit ländlicher Thematik heben derzeit in ungeahnte Auflagenhöhen ab. Vor diesem Hintergrund gibt man eine weibliche Figur auf, die idealtypisch fürs gesunde Landleben gestanden hat? Unerfindlich. Und das alles für eine dürre, laue, beinahe an die putzigen „Prilblumen“ der 1970er Jahre erinnernde Schöpfung. Es sind, wie einer in der besagten Debatte bebend bemerkt, eigentlich just die Blumen auf dem Grab des Rama-Mädchens. Wer jetzt nicht ein Tränchen verdrückt, muss wohl von sehr roher Wesensart sein.




„Was du nicht kennst, das schieß nicht tot!“

Durch Zufall ist mir die Juli-Ausgabe des Verbandsorgans „Rheinisch-Westfälischer Jäger“ in die Hände geraten. Welch unverhoffte Chance zum Einblick in eine unbekannte Lebenswelt! Sonst sieht man die lodengrünen Herrschaften höchstens mal auf Halbdistanz, wenn die Meute zur Dortmunder Messe „Jagd und Hund“ schnürt. Was also bewegt denn wohl die organisierten Jäger im Lande?

Zunächst einmal Jagdpolitik: Man zeigt sich betrübt übers Amtsende des bisherigen NRW-Landwirtschafts- und Umweltministers Eckhart Uhlenberg (CDU). Kein Wunder: Verbandspräsident der NRW-Jäger ist der einstige Bundes-Landwirtschaftsminister Jochen Borchert (ebenfalls CDU). Unter den beiden Parteifreunden hat bestimmt bestes Einvernehmen über waidmännische Belange geherrscht, zumal Uhlenberg selbst passionierter Jäger ist. So dürften sie sich z. B. rasch und geräuschlos über die schrittweise Abschaffung der Jagdsteuer geeinigt haben (jährlicher Einnahmeverlust fürs Land: rund 8,3 Mio. Euro).

Wer aber weiß, was Rot-Grün nun im Schilde führt! Da kann es nicht schaden, wenn der Präsident höchstselbst im Editorial einige unverzichtbare Grundwerte markiert. Das Jagdrecht müsse ans Grundeigentum geknüpft bleiben, zudem ans jagdgenossenschaftliche Reviersystem. Auch in Naturschutzgebieten müsse das Jagen weiterhin flächendeckend erlaubt sein. Kurzum: Freier Schuss für freie Bürger!

Vom „Ansprechen“ der Schmalrehe
bis zur Kormoran-Verordnung

Wenn man als Laie von Ansitzdrückjagd, Schwarzwildbewirtschaftung, dem „Ansprechen“ der Schmalrehe oder der Kormoran-Verordnung liest, so schwirrt einem ordentlich der Kopf. Solche Stichworte werden in dieser Zeitschrift mit Kenner-Attitüde nur so hingeworfen, man ist schließlich unter seinesgleichen. Da wird ein den Jägern missliebiges Naturschutz-Gutachten verbal „zerfetzt“, weil es Befunde über Rehe ausgerechnet durch solche über „Weißwedel-Hirsche (!)“ ersetze, was natürlich bitteres Gelächter der Grünröcke hervorgerufen habe. Alles klar?

Die organisierten Jäger, das wird schon beim flüchtigen Durchblättern ihrer Postille deutlich, mühen sich, ihr Tun und Trachten so darzustellen, als stünde es allzeit im Einklang mit der Natur. Das Titelbild mit zwei Rehlein kündet von ungetrübter Idylle. Eine gebetsmühlenartig wiederholte Botschaft: Konflikte „zwischen Jagd und Forst“ gebe es praktisch nicht mehr, das jagdbare Wild könne auch nicht – so wörtlich – „als Buhmann“ für Waldschäden herhalten, wenn man sich die „Verbiss-Situation in deutschen Wäldern“ einmal vorurteilsfrei anschaue. Von Statistiken, die besagen, dass jährlich Tausende Katzen und Hunde der Jägerei zum Opfer fallen, erfährt man hier allerdings nichts.

Der blutige Laie, der sich vielleicht die Jägerei als halbfeudales Halali allhier auf grüner Heid‘ oder gar als wüstes „Abknallen von Tieren“ nebst instinktiver Freude am Schießen und Treffen ausmalt, soll sich gefälligst was schämen. Die Jäger reagieren ja bereits empört, wenn jemand die Herabsetzung ihrer Höchstpachtzeiten fordert. Ideologisch verblendete Widersacher sprächen von „Wohnzimmermentalität“, mit der es sich langjährig abgesicherte Jagdpächter in den Wäldern gleichsam bequem machten. Solch üble Nachrede sei eine „Sauerei“, schäumt das Verbandsblättchen.

Was lesen wir sonst noch? Beispielsweise einen ausgiebigen Autotest des Geländewagens „Daihatsu Terios Pirsch“, der nicht nur so heißt, sondern eigens für Jäger ausgerüstet ist und an Verbandsmitglieder (ebenso wie andere Marken) mit ohnehin handelsüblichen 15 Prozent Rabatt abgegeben wird. Der Test fällt ausgesprochen wohlwollend aus. Blättert man ein paar Seiten weiter, ahnt man einen möglichen Grund: eine Daihatsu-Farbanzeige preist eben jenes Modell an…

Ein weiterer, fachterminologisch gespickter Warentest stellt eine Doppelflinte aus italienischer Fertigung vor. Die „Fausti Style“, so erfahren wir glasklar im Resümee, „schießt sehr gut“, auch wenn der wahre Luxus vor allem aus englischer und belgischer Fabrikation komme. Gut zu wissen.

Mit den Flinten soll freilich nicht wahllos herumgeballert werden. Bewahre! Ein ausführlicher Artikel erläutert Details auf der Grundlage von Tier-Verhaltensstudien. „Führende Stücke“ (gemeint sind Eltern und sonstige Leittiere von Kälbern und Kitzen) dürfen demnach in der Setz- und Brutzeit gar nicht bejagt werden. Generell gelte überdies das klassische Gebot: „Was du nicht kennst, das schieß nicht tot!“ Klingt unfreiwillig komisch, aber bitte sehr. Es gibt jedenfalls penible Prozent- und Quotenregelungen, unter deren Fuchtel man sich eine ökologisch korrekte Jagd mit Taschenrechner vorstellen kann. Nimrods Jünger haben‘s nicht leicht.

Übers „Bild des Monats“ (suhlendes Wildschwein), den Bericht zum Landesbläserwettbewerb („ein voller Erfolg“), das Kalendarium (ab 16. Juli darf wieder der Waschbär aufs Korn genommen werden) und allerlei Tabellen der Bezirks-Schießmeisterschaften wühlt man sich schließlich zu den Kleinanzeigen vor. Präparierte Füchse finden sich hier ebenso annonciert wie Gewehre und Waffenschränke jeder Güte, Schießlehrgänge, Jagdhunde und Feldstecher. Auch einige spezialisierte Rechtsanwälte (Jagd- und Waffenrecht) bieten in diesen Spalten ihre Dienste an. Falls doch mal etwas schiefgehen sollte.




Mythos Minox: Nicht nur für Spione

Wer weiß noch, was eine Minox ist? Selbst in manchen Fotofachgeschäften kann man nicht mehr sicher sein, dass dort einschlägige Kenntnisse über den einstigen Mythos der Kleinstbildfotografie (Negativformat 8 x 11 Millimeter) vorhanden sind. Ein Jammer.

Etwas ältere Leute, sofern nicht allseits desinteressiert, erinnern sich wahrscheinlich: Das waren doch diese Mini-Kameras, mit denen damals so viele Spione ihre illegalen Aufnahmen gemacht haben. Das ist zwar zu kurz gegriffen, aber sicherlich richtig. Die Liste prominenter Minoxianer früherer Tage ist jedenfalls lang, sie reicht von Queen Elizabeth bis Heinz Erhardt und Götz George.

Ausführlich erfährt man die Einzelheiten jetzt (etwas abseits von den üblichen Kulturpfaden) im Stadtmuseum zu Iserlohn. Dort breitet der Hagener Sammler Reinhard Lörtz noch bis zum 19. April seine Minox-Kollektion aus. Er weiß so gut wie alles über das Phänomen. Wenn sich Privatleute derart leidenschaftlich in ein Hobby versenken, so häuft sich eben manches Spezialwissen an.

Erfinder der fotografischen Winzlinge war in den 1930er Jahren der hochbegabte Tüftler und Autodidakt Walter Zapp (1905-2003), der anfangs in seiner Geburtsstadt Riga (Baltikum) wirkte. 1936 lag die noch nicht zum Verkauf bestimmte Ur-Minox vor. Zapp, so geht die Legende, war höchst betrübt, als er erfuhr, wer 1938 der erste Erwerber eines marktreifen Modells war: ein osteuropäischer Diplomat. Da fing’s also offenbar schon an mit den Heimlichkeiten.

Alles andere wäre aber auch verwunderlich gewesen. Denn eine Kamera, die flugs in jeder Jackentasche verschwinden konnte, rief geradezu nach hinterlistigen Anwendungen. So gab’s denn auch bald passendes Spionage-„Zubehör“ wie etwa Rasierpinsel, in deren Holzgriff der Fotoapparat über Staatsgrenzen geschmuggelt werden konnte.

Nach 1945 wurden die Kameras in Wetzlar bzw. zwischenzeitlich in Heuchelheim (Kreis Gießen) gefertigt. Im „Kalten Krieg“ kam die ganz große Zeit der Minox. Auch der DDR-Topspion Günter Guillaume, der sich das Vertrauen des Bundeskanzlers Willy Brandt erschlichen hatte, soll auf dieses offenbar zuverlässige Arbeitsgerät zurückgegriffen haben. Eine Folge war bekanntlich der Kanzlersturz im Mai 1974.

Kurios: Erst sehr spät ließ sich die Firma Minox die längst berühmte Markenbenennung schützen, als nämlich in den USA Salben und Seifen gleichen Namens angeboten wurden. Verwechslungsgefahr war da eigentlich nicht gegeben.

In der reichlich bestückten Iserlohner Vitrinenschau sieht man die praktisch lückenlos dokumentierte Entwicklung der verschiedenen Baureihen. Die Vielfalt der Geräte, die sich hinter Kürzeln wie Minox A, B (ab 1958), C (ab 1969), BL, LX verbergen, ergibt weit verzweigte Stammbäume. So unübersichtlich ist diese „Familie“, dass nur der Eingeweihte diverse Fälschungen als Markenpiraterie erkennt. Auch solche Täuschungs-Exemplare finden sich in der Ausstellung, überdies etliche Sonder-Editionen wie etwa jene Minox-Modelle, die für besonders betuchte Kundschaft mit einer 24 Karat-Goldschicht veredelt wurden.

Original-Schaukästen und andere Reklamemittel, die im Lauf der Jahrzehnte eigens für die Kultmarke eingesetzt wurden, zeugen vom wandelbaren Zeitgeist. Ein Stoffteddy mit Minox-Mütze ist das Relikt einer gemeinsamen Werbeaktion mit der nicht minder legendären Firma Steiff. Einschlägige Literatur und Zubehör (Filme, Stative, Taschen etc.) runden den musealen Minox-Kosmos ab.

Wie es bei solchen Ausstellungen mit Nostalgiefaktor häufig zu gehen pflegt: Der Ablauf der Zeiten erscheint (gewollt oder ungewollt) als allmähliche Entfernung von den einzig wahren, authentischen Ursprüngen, mithin als gewisse Dekadenz.

Reinhard Lörtz hat sich zunächst vor allem auf Trödel- und Sammlermärkten umgetan, später auch bei Internet-Auktionen. „Bis vor einiger Zeit konnte man dort noch fündig werden, heute ist der Markt weitgehend leergekauft.“

Natürlich haben sich Minox-Sammler in einem Club organisiert, der weltweit rund 400 (überwiegend ältere) Mitglieder hat. Eins steht für den Bahnangestellten Lörtz’ fest: „Wenn ich in ein paar Jahren pensioniert bin, habe ich endlich Zeit, ein Minox-Museum einzurichten – irgendwo in Westfalen.“

„Die Minox“. Noch bis zum 19. April im Stadtmuseum Iserlohn, Fritz-Kühn-Platz 1. Geöffnet Di, Mi, und Fr. bis So. 10-17, Do 10-19 Uhr (Karfreitag, Ostersonntag und Ostermontag geschlossen). Eintritt frei. Tel.: 02371/217-1963.




Guido und das Grubenpferd quälen das Ruhrgebiet

Es wird mal wieder höchste Zeit für eine kleine kulturhauptstädtische Nestbeschmutzung. Diesmal geht’s um die manchmal unscheinbaren, beim ersten Hinhören halbwegs harmlos klingenden, doch im Grunde reichlich bescheuerten Ausgeburten der Sprach- und Lifestyle-Designer.

Gut möglich, dass häufig auswärtige Agenturen oder sonstige „Kreative“ zum Zuge kommen, die unser Leben im Revier noch cooler ausschildern sollen – sicherlich stets im Vollgefühl vermeintlich avancierter Zeitgeistigkeit. Oder wissen sie etwa zynisch genau, dass sie uns nur die Brosamen ihrer Brainstormings hinstreuen?

Nicht nur in dieser Hinsicht ist der idr-Pressedienst des RVR (Regionalverband Ruhr) eine verlässliche Fundgrube. Die getreulichen Essener Chronisten verzeichnen allwochentäglich aktuelle „facts und events“ aus der Möchtegern-Ruhrstadt. Zuweilen sind es bloße Peinlichkeiten, die allerdings nie als solche erscheinen dürfen. Da sei der Regionalstolz vor.

Beispiele gefällig? Bitte sehr, willkürlich herausgegriffen und jederzeit beliebig vermehrbar:

Vor ein paar Wochen wurde stolz die bevorstehende Eröffnung des „Aquapark“-Spaßbades in Oberhausen vermeldet: „Mittelpunkt des neuen Spaßbades ist der 18 Meter hohe Nachbau eines Förderturms mit integrierter Fallrutsche.“ Auch andere „Gestaltungselemente“ – beispielsweise „Bubi, das Grubenpferd“ – erinnerten an die „Bergbaugeschichte der Metropole Ruhr“, heißt es weiter.

Erinnern. An die Bergbaugeschichte. Da kann man nur noch stammeln.

Mit solchen Reminiszenzen verglichen, kommt einem selbst Disneyland noch authentisch vor. Und man fragt sich fassungslos, wer sich solche kumpelhaften Putzigkeiten ausdenkt. Vielleicht hat ja mal wieder der „Mann mit dem Koks“ geholfen.

Just gestern liefen gleich zwei Kopfschüttel-Nachrichten ein.

Die eine besagt, dass an der Dortmunder Uni ein „Kompetenz- und Dienstleistungszentrum“ (was sonst?!) für Ingenieurwissenschaften entstehe. Und wie heißt das gemeinsam mit Bochum und Aachen betriebene Projekt? „TeachING-LearnING.EU“. Geht’s noch grauslicher?

In der Sparte „unfreiwillig lächerlich“ rangiert auch die zweite Mitteilung ganz oben. Ein neuer „Ruhr-Gastro-Guide“ fimiert unter dem – haltet euch fest! – unglaublich witzigen Namen GUiDO. Jawohl, ihr habt richtig gelesen. GUiDO. Hahaha!

Wenn das keine spätrömische Dekadenz ist, dann weiß ich auch nicht.




Die Causa Helene Hegemann – Plagiat? Ach was! Oder doch?

Die Angelegenheit konnte schon frühzeitig Unbehagen wecken. Die wie verabredet wirkende Weise, in der die erst 17-jährige Helene Hegemann kurzerhand zur Autorin der Stunde (nein: des Jahrzehnts!) hochgejubelt wurde, hatte von Anfang an etwas haltlos Penetrantes.

Die überregionalen Feuilletons überboten einander mit äußerst umfangreichen Lobpreisungen für den mit Sex- und Drogenexzessen gesättigen Debütroman „Axolotl Roadkill“. Auch der sonst oft ätzend angriffslustige Maxim Biller stimmte als Rezensent in den Halleluja-Chor ein. Ein Effekt: Das Buch kletterte bis auf Platz fünf der Bestseller-Liste. All das spricht natürlich auch noch nicht g e g e n Hegemanns Buch.

Inzwischen hat sich allerdings herausgestellt, dass Helene Hegemann sich gleich absatzweise in Texten des Bloggers „Airen“ bedient hat. Der ist schon etwas älter als die Schriftstellerin und durfte daher wüste Berliner Locations („Berghain“) aufsuchen, von denen sie wohl eher vom Hörensagen wusste, über die sie aber jetzt kundig schreiben konnte. Vulgo: Hegemann hat entsprechende Passagen offenkundig abgekupfert, und zwar nicht zu knapp, quasi per copy and paste. Inzwischen sind auch Belege eines Kaufvorgangs beim Internet-Versand Amazon an die Öffentlichkeit gelangt, die darauf hindeuten, dass Hegemanns Vater (Dramaturg an der Volksbühne) seiner Tochter den bis dato nur unter Schwierigkeiten greifbaren Roman „Strobo“ (SuKuLTuR-Verlag) des besagten Airen besorgt hat.

Peinlich für die Autorin und ihre begeisterten Kritiker? Ach was! Die FAZ warf sich gleich mehrfach für ihr neues Idol Hegemann in die Bresche und erklärte nunmehr eilfertig, dass in Zeiten von Google derlei „Übernahmen“ völlig normal seien. Plagiate habe es im Lauf der Geschichte ohnehin immer gegeben. Erst recht sei das Kunstwerk sei im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit und im Zeichen der Remix-Kultur eben längst kein Original mehr, es erlange – so auch die Einlassung der Autorin – bestenfalls einen Status der „Echtheit“. Natürlich wurde auch wieder fleißig Bert Brechts legendär „laxe Haltung in Fragen des geistigen Eigentums“ zitiert. Wird in solchen Fällen immer gern genommen.

Kurzum: Fort mit allen kleinlichen Bedenken! Gerade indem man sich umstandslos im Web bedient, bekundet man demnach seine coole Zeitgenossenschaft. Wer sich Texte noch von A bis Z selbst herausquält, wäre also hoffnungslos von vorgestern und selbst schuld an seiner Mühsal?

Der Ullstein Verlag, in dem „Axolotl Roadkill“ erschienen ist, schätzt wenigstens die urheberrechtliche Lage realistischer ein und rückt eine unmissverständliche Quellenangabe in die zweite Auflage. Auch soll der unfreiwillige Ideengeber Airen angemessen entschädigt werden. Immerhin könnte man’s zur Not so hinbiegen: Sein Bekanntheitsgrad ist durch die Plagiats-Affäre immens gestiegen. Genau diesen Trost spendet auch die FAZ, die mutmaßt, Airen sei vielleicht „einfach dankbar für die Aufmerksamkeit, die sein Roman jetzt findet.“




Ästhetik aus der Tüte

Was haben die Künstler Max Liebermann, Otto Modersohn, Fritz Overbeck und Max Slevogt gemeinsam?

Sie alle entwerfen um 1900 Reklame-Bilder für die Schokoladenfabrik Stollwerck. Der Impressionist Slevogt geniert sich allerdings ein wenig dafür und lässt seine Signatur in diesem Umfeld beiseite. Werbung gilt nicht als sonderlich fein. Kann man sich damit gar den künstlerischen Leumund ruinieren? Vorsicht, Vorsicht!

Im Herner Emschertal-Museum wird das Wort Kunst hingegen schon graphisch im Titelschriftzug betont. Die aus Berlin kommende Wanderschau heißt „ReklameKunst auf Sammelbildern um 1900“, auch die aufdringlichere Schreibweise „ReklameKUNST“ findet sich im Faltblatt. Wir haben es also mit einem Phänomen im weiten Grenzgelände zwischen Kultur und Kommerz zu tun. Die Ursprünge der Gattung liegen um 1870 in Paris. Die Drucktechnik (Farblithos) erreicht zur Jahrhundertwende eine ungeahnte Blüte, vorherrschende Richtung ist der Jugendstil. Dass es bei aller Ästhetik knallhart um Absatzmärkte geht, steht rückseitig auf demselben Blatt.

Firmen wie Stollwerck, Liebig (Fleischextrakt), Palmin und Knorr haben mit ihren teilweise sehr liebevoll gestalteten Bilderserien zeitweise großen Erfolg. Schon bald gibt es zahlreiche Sammelalben und eine staunenswerte Themen-Differenzierung. Schulkinder sind zunächst die hauptsächliche Zielgruppe, später kommen auch beflissene Erwachsene aus dem Bürgertum hinzu. Neben halbwegs humorige Idyllen sowie frühe Sport- und Märchen-Motive tritt pittoresk aufbereitetes Bildungsgut mit leicht fassbaren Botschaften, etwa in Gestalt von Herrscherporträts, Bildnissen historischer Gestalten (Sokrates, Hannibal, Galilei, Luther) oder simplifizierende Ansichten zur Welt des Mittelalters. Volksbildung, sozusagen aus der Tüte. Ideologie raschelt vernehmlich mit.

Kein Wunder, dass ein solch massenhaft verbreitetes Medium irgendwann politisch in Dienst genommen wird. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs legt Palmin die deutschnationale Reihe „Unsere Kolonien“ auf, und der Süßwaren-Produzent Stollwerck feiert das stramm Soldatische mit heroischen Schlachtenmotiven. Eine ausgesprochene Rarität sind dagegen jene Ansichten von Mietskasernen aus dem Dickicht der Städte. Fast könnte man dahinter eine soziale Anklage vermuten, doch dies wäre sicherlich eine Überinterpretation.

Der erläuternde Untertitel klingt umständlich: „Eine Ausstellung des Museums Europäischer Kulturen – Staatliche Museen zu Berlin im Rahmen des Föderalen Programms der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.“ Mit solchen Übernahmen sparen regionale Museen Geld und Aufwand, sie müssen aber mit der vorhandenen Aufarbeitung und Präsentation vorlieb nehmen. Fix und fertig bedeutet auch lückenhaft. Im Falle der Reklamepostkarten wäre eine prägnantere Darstellung wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Hintergründe wünschenswert.

So vermittelt die Kollektion (Sammlung Detlef Lorenz) vorwiegend nostalgische Schauwerte, und zwar vielfach en miniature. Für Details ist hin und wieder gar eine Lupe ratsam, denn einzelne Bilder haben Briefmarkenformat. Liebling, ich habe die Werbung geschrumpft…

„Reklamekunst auf Sammelbildern um 1900“. Emschertal-Museum / Städt. Galerie im Schlosspark, 44629 Herne, Karl-Brandt-Weg 2. Bis 3. Januar 2010. Öffnungszeiten Di-Fr 10-13 und 14-17, Sa 14-17, So 11-17 Uhr. Tel.: 02323/16 26 59. Eintritt frei. Kein Katalog. Weiterführende Literatur: Lorenz, Detlef „Reklamekunst um 1900. Künstlerlexikon für Sammelbilder“, Berlin 2000.




„Ruhrgold“ und silberne Pommes-Picker

Hurra! Jetzt gibt es kein Halten mehr. Heute (9.9.09) ist der Online-Shop der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 ins Netz gegangen.

Jetzt soll es also heißen: Her mit den Logo-verzierten Kulis, Tassen, Lesezeichen, Schirmen, T-Shirts („schikkobello“), Ansteckern, Feuerzeugen etc. etc. Wozu das Zippo dient? Na, klar: „Die Kulturhauptstadt anfachen“ und „entflammen“. Und überhaupt: Mit all diesen Produkten kann man nun laut Werbung zeigen, dass man dabei ist und dazugehört. Kein Geknötter und keine Widerrede jetzt! Auf einer Tasse prangt die Losung zur Revierbürgerpflicht: „Metropole Ruhr. Alles andere ist kalter Kaffee.“ Na, bitte!

Nun gut. Bei den eigentlichen kulturellen Projekten von Ruhr2010 gibt es noch so manche Unwägbarkeit, auch mussten leider schon ein paar Vorhaben aus Finanzgründen abgeblasen werden. Da mutet es ein wenig vorschnell an, wenn die Souvenirs schon so zeitig da sind – längst bevor etwas Erinnernswertes geschehen ist. Aber immerhin: Da ist mal etwas (über)pünktlich zur Stelle – und schon wird wieder gemeckert. Hier nicht! Hier haben weder Queru noch Lanten eine Chance.

Die beiden Design-Linien für Ruhr2010 heißen „Metropole Ruhr“ (im Zuschnitt eher konventionell) und „leet speak“ – was immer dieser Begriff (hergeleitet aus „Elite“) dem nicht gar so hippen Normalbürger auch sagt. Hierbei ersetzen die gern von Computerfreaks verwendeten Sonder- und Zahlzeichen die üblichen Buchstaben, was selbstredend megacool und ungemein zukunftsweisend aussehen soll. Mal so gewagt gesagt (über eine Umhängetasche): Sie wirke „wie ein begehrtes Einzelstück für Insider der Kreativszene.“ Designerdeutsch. Da gerät denn auch der Porzellanbecher zum „Eyecatcher auf dem Frühstückstisch.“

Die von der Ruhr2010 GmbH gemeinsam mit der Dortmunder Werbemittel-Agentur Dicke & Partner vertriebenen Souvenirs werden sicherlich hier und da noch ergänzt. Eine auffällige Leerstelle gab es gestern noch. Unter der Rubrik „Kinder“ fand sich der irgendwie hübsch irritierende Trost: „In Vorbereitung“. Äh, wie? Nein, nein, nicht die Kinder. Angebote für die Kleinen sind gemeint.

Und sonst? Laut Pressestelle sind Grubensalz und „Ruhrgold“ (Senf mit Honig) gleichfalls zu haben, ferner finden sich Brotdosen mit A 40-Motiv, silberne Pommes-Picker, Luftballons mit Ruhr2010-Logo (100 Stück für 28,45 €) und ein ebenso geschmückter Fußball (13,95 €). Immerhin gibt’s k e i n e Ruhrgebietsluft in Dosen.

Jetzt rufen natürlich alle ganz laut und ungeduldig: „Schnüss! Gib endlich Ruhe! Wie komme ich hin, wie heißt der Link?“ Ist ja schon gut:

http://www.ruhr2010-shop.de




Wenn uns die Gier beim Kragen packt – über ein menschliches Grundgefühl

Von Bernd Berke

Ja, darüber kann man sich von Herzen moralisch empören: Wie schrecklich gierig sind doch jene Menschen, die viele Millionen auf dem Konto haben und dann auch noch Steuern hinterziehen! Oder Leute, die an der Börse zocken, bis nichts mehr geht. Anlässe zur Entrüstung gab’s jüngst genug. Aber ist man selbst frei von solchen Regungen?

Wohl kaum. Die Gier ist zwar mit einiger Mühe halbwegs beherrschbar, doch gehört sie zur menschlichen Grundausstattung. Erst wenn wir Lust- und Glückshormone wie das Dopamin abgeschafft hätten, wäre vielleicht auch die Gier verschwunden. Bei allem furchtsamen Respekt vor der Gentechnik: Damit ist auf mittlere Sicht denn doch nicht zu rechnen.

Geiz und Neid sind nur die Spiegelbilder

Unsere Wirtschaft und das Profitstreben, auf dem sie basiert. sind nicht allein rational zu erklären. In Banken- und Börsenkrisen ahnen wir, wie sehr das ganze Metier von Stimmungen, Mutmaßungen (eben: Spekulationen) und schwankenden Gefühlen abhängt. Wahrlich keine, verlässliche, logische Mechanik.

Wenn uns die Gier beim Kragen packt, so tritt noch ein Effekt ein, der an die sprichwörtlichen Lemminge erinnert. Viele tun irgendwann mit, wenn eine anschwellende Masse etwas vormacht; schon aus Angst, eine Gewinnchance zu verpassen. Auch da ist’s wie im Sprichwort: Den Letzten beißen die Hunde. Doch der hat dann hoffentlich wenigstens etwas fürs weitere Leben gelernt.

Ohne Habgier würde ja der ganze Kapitalismus nicht funktionieren. Wenn keiner mehr (und immer noch mehr) haben wollte als die anderen, so würde der Antrieb zu Geschäften aller Art fehlen. Die Gier besiegt auch die Angst vor etwaigen Risiken.

Maßlosigkeit gehört wesentlich dazu. Man kriegt den Hals nicht voll. Es ist wie beim steinreichen Enterich Dagobert Duck, der bekanntlich in Geld und Gold badet. Die Schatzkammern können nie groß genug sein. Und wehe, es fehlt ein einziger Taler.

Wer ängstlich seinen Besitz hortet, verhält sich nur spiegelbildlich. Beim Geiz ist gleichfalls Habgier der Antrieb – wenn auch in defensiver Spielart. Doch die „Geiz-ist-geil“-Phase, so hämmert man uns weiblich ein, sei sowieso vorüber. Im Zeichen des (schon brüchigen?) Aufschwungs darf und soll wieder gescheffelt und geprasst werden. Keine Zeit für Askese oder fürs „Maßhalten“, wie es einst der Altkanzler Ludwig Erhard empfahl. Statt dessen heißt es wieder: „Ich will alles – und zwar jetzt.“

Die katholische Kirch rechnet die Habgier (Lateinisch: avaritia) zu den berühmten „Sieben Todsünden“ – ebenso wie den Neid. Ein beliebtes, weil schauriges Thema in der Kunst. Nicht nur Hieronymus Bosch und Otto Dix haben sich drastisch und orgiastisch ausgemalt, wie der teuflische Sündenpfuhl wohl ausschauen mag.

Die Gier kann sich, weil sie zu Sucht und Exzess tendiert, wahl- und zügellos auf schier alles richten. Gier nach Geld ist beileibe nicht die einzige Form. Man denke nur an die rauschhafte Gier nach Sex oder Drogen. Eine solche Aufzählung könnte schier endlos geraten. Auch hier ist wohl die Biochemie der Hormone am Werk. Sie gibt keine Ruhe. Gier ist ein großes Lebensthema, das alle betrifft. Und Natürlich hat sie auch zutiefst mit unserer Sterblichkeit zu tun. Lebten wir ewig, müssten uns nicht ständig einbilden, etwas Unwiederholbares zu yersäumen und ein für allemal „zu kurz“ zu kommen.

 

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HINTERGRUND

Auch für Künstler ein Thema

  • Die sieben Todsünden nach dem Verständnis der katholischen Kirche:
  • Stolz, Neid, Zorn, Faulheit, Geiz, Gier und Wollust.
  • Das Thema hat immer wieder Künstler inspiriert. Das Spektrum reicht von Bert Brechts „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“ bis zum Song der Simple Minds:„Seven Deadly Sins“.
  • „Gier“ ist ein häufiger Titel von Kunstwerken. Zu nennen sind etwa Erich von Stroheims monumentaler Film „Gier“ (Greed) von 1924, Gabriele Wohmanns Erzählsammlung „Habgier“ oder der Roman „Gier“ von Elfriede Jelinek.
  • Neueres Sachbuch: Hans Leyendecker „Die große Gier“ (Rowohlt, 299 S., 19,90 €).



Als die Radios noch Gesichter hatten – Im beschaulichen Bad Laasphe hat Hans Necker Deutschlands größte Gerätesammlung aufgebaut

Von Bernd Berke

Bad Laasphe. „Schreiben Sie nicht so viel über mich, es geht um die Sache“, bittet Hans Necker. Ganz sachlich also: Der 61-Jährige hat praktisch im Alleingang am südlichen Rande Westfalens das größte deutsche Radiomuseum eingerichtet.

Kaum zu glauben: Ungefähr 3500 verschiedene Röhren-Geräte verwahrt Necker heute – überwiegend aus der Vorkriegszeit und aus den 50er Jahren. Die Sammlung wäre jeder Metropole würdig. Für manche ist es pure Nostalgie, andere berauschen sich eher an der Technik.

Neckers Passion begann in seiner Düsseldorfer Kindheit. Wegen einer Sehschwäche verbrachte er fast jede freie Minute vor dem Hörfunkgerät. 1952 bekam er zur Einschulung von einer Tante sein erstes eigenes Radio – einen prachtvollen belgischen Empfänger, Baujahr 1938.

Grundstock aus dem Sperrmüll der 60er Jahre

Ein großer Grundstock seiner jetzigen Sammlung stammt aus dem Sperrmüll der 60er Jahre. Hans Necker: „Damals wollten die Leute alles Alte wegwerfen.“ Hinzu kamen eine umfangreiche Schenkung und etliche Gelegenheiten bei Sammlertreffs der „Radioten“, wie Necker Seinesgleichen nennt.

Schon seit langem hatte der gelernte Bürokaufmann die Südzipfel Westfalens im Urlaub besucht. Vor 17 Jahren zog es ihn dann endgültig ins beschauliche Bad Laasphe im Wittgensteiner Land. Die Radios brachte er mit.

Wohl kaum eine Ehefrau würde eine solche Leidenschaft klaglos dulden. Necker ist denn auch unverheiratet geblieben. Er hat alle Schätze penibel katalogisiert und beschriftet. Ganz so, als hätte er zeitig geahnt, dass solche Gerate wieder „salonfähig“ werden würden. Längst baut die Industrie im Zeichen des Retro-Designs historische Apparate nach – allenfalls ein matter Abglanz der Originale.

Etwa um 1965 hat Necker die Grenzlinie gezogen: „Transistor-Radios – ach nee. Das wäre ein anderes Sammelgebiet.“ Schade, ich hätte gerne noch einmal eine Philips Evette von 1962 betrachtet. Mein erstes, damals zu Weihnachten heiß ersehntes Kofferradio. Doch hier findet sich ja weitaus Wertvolleres. Beim Gang durch schier endlose Regalreihen hält man häufig inne. Es ist wie mit alten Automobilen: Auch Radios hatten „damals“ Charakter, ja gleichsam Gesichter, und sie blickten aus „magischen Augen“ (so hießen leuchtende Empfangsanzeiger).

Kleinode wie die „Pfeifende Johanna“

Manche Geräte erstrahlen geradezu triumphal. Und auch die, die sich formal bescheidener geben, sind vielfach eine Augenweide. Einflüsse aus Kunst- und Kulturgeschichte sind unverkennbar. Einige Radios sind vom Jugendstil inspiriert, andere etwa vom Bauhaus. Notfalls mit „gutem Zureden“ funktionieren die allermeisten Geräte noch. Hans Necker hält alles selbst in Schuss.

Zu jedem Gerät weiß der Mann eine Geschichte zu erzählen, als wären es lauter gute Freunde. Auch in der Historie des Mediums kennt er sich aus. Jahre bevor am 29. Oktober 1923 der öffentliche Rundfunk in Deutschland begann, ging es los: „Um 1918 gab es in Frankreich einen Börsenfunk.“ Damit hat es also begonnen!

Alles scheint vorhanden: Detektoren, die man nur mit,Kopfhörer benutzen konnte; die in der NS-Zeit diktatorisch verordneten „Volksempfänger“ oder Kleinode wie die „Pfeifende Johanna“, ein 1934 von Telefunken gefertigtes, nicht richtig ausgereiftes Modell mit argen Tonproblemen. Man staunt über einen Boudoir-Spiegel, der sich als Radio für die elegante Dame erweist. Man bewundert Apparate mit kathedralenförmigem Gehäuse oder veritabler Breitwand-Senderskala. Ganz großes Hörkino!

DDR-Geräte gefällig? Es gibt dafür eine ganze Abteilung. Kuriosa von jederlei Art? Auch die werden gebührend gewürdigt. Die mitunter abenteuerlichen Entwicklungslinien einzelner Firmen wie etwa Braun („Schneewittchensarg“) oder Körting? Bitte sehr, reichlich dokumentiert. Einzelne Länder Europas? Na, klar. Als Laie denkt man, alles wäre komplett, aber einer wie Hans Necker sieht die Lücken: „Ich habe immer noch eine lange Wunschliste.“ Sein Appell an alle Entrümpler: „Bitte nichts voreilig in den Container werfen!“

Und die Zukunft? Die Stadt Bad Laasphe werde sich etwas einfallen lassen müssen, mahnt Necker. Seine Sorge: „Was wird aus der Sammlung, wenn ich nicht mehr bin?“

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INFOS

Eintrag im „Buch der Rekorde“

  • Radiomuseum Hans Necker. Bad Laasphe, Bahnhofstraße 33. Geöffnet März bis Okt. Di, Do, Sa, So 14.30 bis 17 und nach Vereinbarung (02752/97 98). Eintritt 2 Euro.
  • Untergebracht ist das Museum im ersten Stock eines früheren Gymnasiums, das man sich mit Schützen und einem Jugendtreff teilt. Die Stadt stellt die Räume, Hans Necker betreut seine Sammlung ehrenamtlich.
  • Von 3500 Geräten werden rund 1000 ständig gezeigt, der breite Rest befindet sich im Depot – es reicht für einen Eintrag im „Buch der Rekorde“.
  • Auch Grammophone (Edison-Walzenphonograph von 1897), Tonbandgeräte (mit Spezialitäten wie dem „Tefifon“), TV-Truhen, Lautsprecher, Antennen usw. zählen zur Sammlung.
  • Eine annähernd ebenbürtige Fülle gibt es bundesweit nur in Fürth.

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Nachtrag: Link zur Homepage des Museums, Stand Februar 2019:

http://www.internationales-radiomuseum.de/




Wo Kummer sich auf Nummer reimt

Poesie auf Straßen und Autobahnen? Das muss wohl ein Irrtum sein, denkt man spontan. Doch dann besinnt man sich: Es sind einem – auf Lkw und Lieferwagen – unterwegs doch schon manche muntere Sprüche begegnet. Oder etwa nicht?

Wenn man zu heftig danach Ausschau hält, wird es freilich nichts. Umweltschützer, bitte weghören: Auf der Suche nach poetischen, möglichst sogar gereimten Lkw-Botschaften bin ich eigens von Dortmund nach Arnsberg und Schwerte gefahren – mit recht magerer Ausbeute. Man muss sich eben Zeit lassen und Sätze sammeln. Es könnte ja auch ein (Familien)-Spiel zum Zeitvertreib werden.

Welche Texte sieht man also auf der Autobahn? Nun, allerhand Wegweiser natürlich – und die Nummernschilder der Autos, deren Anspielungsreichtum oft vergnüglich ist – beispielsweise im österlichen Stau. Nicht alle sind ja so simpel wie DO-SE, HA-SE, OE-SE oder EN-DE.

Hier aber geht es vor allem um die Aufschriften der Lastkraftwagen, die für Abwechslung auf langen Strecken sorgen könnten. Beim Feldversuch drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass die Tendenz zur Ernüchterung geht: Mindestens jedes dritte Lastfahrzeug, so scheint’s, führt etwas mit „Logistik” im Schilde – gern auch in coolen Verbindungen wie „intelligent logistics”, „logistic solutions worldwide” oder „temperature controlled logistics”.

Auch sonst häufen sich die Anzeichen der Globalisierung – mit ziemlich sinnfreien Prägungen wie „Innovation in motion” oder „Because we care”. Die Fahrzeuge der Filialketten sorgen für noch mehr verbalen Einheitsbrei.

Das Gros der Aufschriften ist nur sachlich: Firmenname, Branche, Internet-Adresse, Telefonnummer. Das war’s meist schon. Wo bleibt da die Vorstellungskraft? Mit lauen Sprüchen wie „Erfolgreich Hand in Hand” ist ihr kaum aufzuhelfen.
Angesichts solcher Ödnis schmunzelt man bereits, wenn eine Firma, die „Kater Planen” heißt, mit einer aufgemalten Katze wirbt. Vom Tierlaster herab grüßen glücklich lachende Comic-Schweine. Wenn man bedenkt, dass die Tour wohl geradewegs zum Schlachthof geht . . .

Von der bildenden Kunst zurück zur Literatur. Beliebt sind offenbar bescheidene Sprachspiele mit Mehrdeutigkeiten wie „Alles läuft gut” (für Mineralöl), „Der gute Ton beim Bauen” (das Material klingt freundlich mit an) oder „Carolinen – Aus gutem Grund” (die tiefe Mineral-Quelle ist eben mitgemeint).
Dann gibt’s noch die prolligen Klassiker wie diesen Lkw-Slogan: „Damen, aufgepasst: Meiner ist 18 Meter lang”. Just bei solchen Fahrzeugen prangt häufig noch das Namensschild „Manni” im vorderen Fenster. Tja, es geht doch nichts über richtig gut gepflegte Vorurteile.

Wir wollen keine Literaturtheorie daran knüpfen, aber: Auch die Abwesenheit von Text kann die Phantasie anregen. Denn was liefern eigentlich völlig unbeschriftete Lkw? Man darf rätseln und spinnen. Ebenso wie über die Worte etwa auf polnischen oder baltischen Wagen.

Mit Reimen aber haben die meisten gar nichts mehr am Hut. Früher erheiterten Slogans wie „Im Falle eine Falles / klebt Uhu wirklich alles” oder „Otto Mess / mit zwei ,s‘ / mit zwei ,o‘ / macht uns froh”. Dichter wie Peter Rühmkorf oder Robert Gernhardt haben später bewiesen, dass auch zeitnahe Lyrik Reime verträgt. Und Rolf Dieter Brinkmann hat einst mit dem „Gedicht auf einem Lieferwagen” das Genre literaturfähig gemacht. Warum also diese Nüchternheit? Kalauer frei: Dichter Nebel scheint schon der größte Dichter auf unseren Straßen zu sein. Hoho.

These: Reimschmiede jeder Güte toben sich fast nur noch auf den Lieferwagen der Handwerker aus – bevorzugt Elektriker, Installateure und TV-Reparaturfirmen. Die Verse, in denen sich „Kummer” auf „Nummer”, „fern” auf „gern” oder „verzagen” auf „fragen” reimt, sind poetisches Graubrot. Hübscher schon dies: „Ob groß, ob klein, ob steil oder flach / Mh-Mh (keine Schleichwerbung!) macht ihnen jedes Dach.” Oder: „Nur Döner macht schöner”. Und hier noch ein diamantenes Fundstück: „Zu Werner geh‘ ich gerner.”

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Sprüche im Internet:

Für Freunde der gereimten Werbelyrik gibt es eine Internet-Seite – auch mit vielen nostalgischen Sprüchen aus früheren Tagen: http://www.einzelhandelspoesie.de/
Offenbar authentische, mit Fundorten belegte Kostproben: „Beim Fußball ruft man freudig Tor! / Bei Fernsehsorgen ruft man Mohr!” Noch viel schöner: „Der Sommer naht – kauft Draht!”
Weiterer Internet-Tipp: www.ffhex.de/lkw.htm – dort werden allerlei Sprüche zum Thema Lkw gesammelt.




Alles ist schön – besonders das Geld / Ein Phänomen des Zeitgeistes: Heute vor 20 Jahren starb der Pop-Künstler Andy Warhol

Von Bernd Berke

Der Kerl war ziemlich unfassbar, und er gibt bis heute Rätsel auf. Eine verstörend maskenhafte Erscheinung war diese bleiche männliche Diva – mit starkem Hang zu Kommerz und Glamour, doch auch zum düsteren Inferno des Lebens. Heute vor 20 Jahren ist der legendäre Pop-Künstler Andy Warhol nach einer Gallen-Operation gestorben – unter letztlich ungeklärten Umständen.

Der vormalige, schon gegen Ende der 50er Jahre gut bezahlte Werbegrafiker hat nach 1960 gar vieles in die Kunst eingeschleust, was vorher nicht drin war. Vor allem: blanke Reklame-Ästhetik, grelle Konsum-Fetische. Und eine „coole“ Haltung, wie man sie vorher kaum gekannt hatte. Nicht nur die Kunst, auch die Gestalt des Künstlers hat sich mit ihm noch einmal schillernd gewandelt. Gelegentlich hat Warhol gar das Menschenbild überschritten und sich zum quasi maschinellen Phänomen stilisiert.

Glorienschein für die banale Welt der Waren

Bevor die Linke sich anschickte, den „Konsum-Terror“ zu geißeln, glorifizierte Warhol die banale Warenwelt mit Serienbildern von Campbell’s-Suppendosen, Cola-Flaschen und Dollarnoten, die unter seiner Hand zu Ikonen der Zeit wurden. Ehe liebreizend harmlose Hippies von befriedeten Blumenwelten träumten, vervielfältigte er 1963 ungeniert schockierende Pressefotos von Unfällen und Selbstmördern ins Riesenhafte. Und wo andere mal vorsichtig Haschisch probierten, kursierten in Warhols kaputten Kreisen ganz selbstverständlich die harten Drogen.

Andy Warhol hat sich und seine Kunst vermarktet wie niemand zuvor. Ja, er hat just Geschäfte als Kunstform gepriesen. Zitat: „Ein gutes Business ist die faszinierendste Kunst überhaupt.“ So könnte auch ein Börsen-Guru reden. Joseph Beuys behauptete, jeder Mensch könne ein Künstler sein. Warhol postulierte: „Alles ist schön.“

Anything goes – auch schon mit Videotechnik

Klingt ja wirklich tolerant, kann aber geradewegs auf Verächtlichkeit und auf fürchterliche Nivellierung hinauslaufen. Alles gilt dann gleichermaßen viel oder wenig. Warhol ist Vorläufer einer so genannten Postmoderne, die sich um ästhetische Wertigkeiten und Hierarchien nicht mehr bekümmert: Anything goes. An der Spitze des Zeitgeistes betrieb er seine Sache so multimedial, wie es seinerzeit nur irgend möglich war. Auch die Videotechnik hat er als einer der ersten Künstler genutzt. Hätte er das Internet schon gekannt, so hätte er es wohl entscheidend mitgeprägt.

In seiner New Yorker „Factory“ (Fabrik) jedenfalls, wo sich Durchgeknallte jeder Sorte unter seinem Leitstern ausleben durften, entstanden nicht nur Siebdruck-Bilder (Porträt-Motive von Monroe bis Mao) wie am Fließband. Hier tobte sich die von Warhol geförderte Rockformation „Velvet Underground“ (Lou Reed, John Cale, Nico & Co.) im Stroboskop-Gewitter aus. Warhol schuf das berühmte Bananen-Cover der finster charismatischen Gruppe.

Monströse Filme aus der „Factory“

Im Umfeld der „Factory“ entstanden monströse Filme wie etwa „Empire“ – ein achtstündiger, starrer Kamerablick auf das Empire State Building. Oder wüste Streifen mit schäbigem Porno-Touch wie „Flesh“, „Trash“, „The Chelsea Girls“ und „Blue Movie“. Es war Warhol keinesfalls wurscht, was diese chaotische Werkstatt ausstieß. Alles musste am Ende seinen Stempel tragen. Trotz allem Laissez-faire ließ er in diesem Punkt nicht mit sich spaßen. Er galt als „Kontrollfreak“.

Wie ein Vampir, der das Leben aussaugt, fotografierte Warhol alles und jeden mit seiner Polaroid-Sofortbildkamera (damals eine avancierte Apparatur), am liebsten freilich Prominenz wie etwa Brigitte Bardot oder Bianca Jagger, die er auch bei den berüchtigten Partys im New Yorker „Studio 54″ um sich scharte. Denn da witterte er stets schon den Duft des Geldes, das diese Bilder einbringen würden. Er verlangte (und bekam) alsbald um die 30 000 Dollar für jedes Porträt.

Apropos: Die Preise für seine Werke haben jüngst noch einmal enorm zugelegt. Ein Mao-Bildnis von 1972 erzielte kürzlich in New York den Rekordpreis von 17,4 Millionen Dollar. Solche Zahlen hätten Warhol sicherlich gefallen.

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ZUR PERSON

Eltern aus der Slowakei

  • Warhol wurde am 6. August 1928 als Andrej Warhola in Pittsburgh (USA) geboren.
  • Seine Eltern waren slowakische Einwanderer.
  • Mit 21 zog er nach New York, wurde Werbegrafiker und zeichnete für Magazine wie „Glamour“, „Vogue“ oder „Harper’s Bazaar“.
  • Seine erste Ausstellung als Künstler hatte er 1962 in einer Galerie in Los Angeles. Er zeigte Bilder von Campbell’s-Suppendosen.
  • 1963 gründete er die „Factory“ in New York.
  • 1968 schoss die radikale Frauenrechtlerin Valerie Solanas auf Warhol. Er wurde lebensgefährlich verletzt.
  • Später vermarktete er jene Bilder, die durch die Schüsse durchlöchert worden waren .. .

 




Navigation oder: Im Alltag schwindet das Abenteuer

Sie waren der absolute „Renner“ – nicht nur im letzten Weihnachtsgeschäft: mobile Navigationsgeräte fürs Auto. Fast 2 Millionen Stück hat die Industrie 2006 in Deutschland abgesetzt. Da fragt sich doch allmählich: Was bedeuten die erstaunlichen Apparate für unsere Alltagskultur?

Es ist ähnlich wie einst mit dem Handy. Als die ersten Leute es benutzten, fand man es affig. Dann hat man sich irgendwann eins zugelegt. Und heute ist kaum noch vorstellbar, wie man früher „ohne“ ausgekommen ist.

Irgendwann gönnt man sich vielleicht auch so ein tragbares „Navi“ und gewöhnt sich sogar an das piefige Kurzwort. Trotzdem ist es ein Kauf mit gemischten Gefühlen. Denn das bedeutet ja, dass man Gewohnheiten aufgibt: Nie mehr während der Fahrt fluchend in Stadtplänen blättern, nie mehr in der Patentfaltung grabbeln.

Es heißt ferner: Nie mehr die Scheibe runterfahren lassen (vom früheren Handkurbeln gar nicht zu reden), um Passanten nach dem Weg zu fragen. Nie mehr deren umständliche Beschreibungen. Wahrscheinlich (fast) gar kein abenteuerliches „Verfransen“ mehr. Da gehen einem ganze Erfahrungsbereiche verloren. Das manchmal so schöne Chaos des Alltags wird abermals geschmälert.

Überdies fühlt man sich von dem Gerät manchmal fürsorglich bevormundet. Man muss es nur mal in der „eigenen“ Stadt benutzen. Da will die kleine Bildschirm-Kiste partout besser wissen, wo es lang geht. Ha, von wegen! In Dortmund fahre ich meine Strecken so, wie ich will. Schweig stille, Navi!

Wenn man eine vorgeschlagene Strecke ignoriert, berechnet das Gerät die Fahrtroute neu. Vielleicht täuscht man sich ja, aber es wirkt dabei irgendwie nervös. Vorher will es einen aber noch zum Wenden überreden – mit jener freundlichen Frauenstimme, die jede ihrer Weisungen höflich einleitet: „Bitte – jetzt rechts abbiegen.“ Danke, verehrte virtuelle Begleiterin, wird (eventuell) gemacht.

Ob es wohl viele Menschen gibt, die mit ihrer Navigation sprechen? Man kennt es vom Computer her („Oh, nein! Mach hin!“). Ohnehin ist der Gedanke nicht absurd: Das mühsame Eintippen der Zieladresse soll bald der Vergangenheit angehören. Tatsächlich werden zur Zeit Navigations-Geräte entwickelt, die im Dialog mit dem Nutzer an der Stimmlage auch dessen Emotionen „erkennen“ sollen. Verweigern sie den Dienst, wenn man sie anblafft?

Dass Apparaturen einem das Denken abnehmen, ist sowieso schon eine machtvolle Tendenz. Man denke nur ans Auto selbst, falls es etwas neuerer Bauart ist. Für jeden kleinen Fehlgriff blinkt mindestens eine Lampe – oder es piept aufgeregt. Herrje, ein kleines bisschen Verantwortung möchte man selbst auch noch behalten, oder?

Sodann die Sache mit der „Stau-Umfahrung“. Per Zusatzantenne (prima Kabelgewirr an der Frontscheibe) empfängt die „Navi“ Verkehrsmeldungen der Rundfunksender – und will sie sogleich berücksichtigen. Schon vor kleinen Stockungen schreckt das Gerät mitunter zurück. Es führt einen auf Umwegen durch Vororte, von deren Existenz man bisher nichts geahnt hat. Das ist denn doch ein Stückchen Abenteuer. Hier darf man sich meditativ einreden: Der Weg ist das Ziel . . .

Möglicher Effekt auf Dauer: Je mehr die elektronischen Fährtensucher verbreitet sind, umso mehr Menschen werden den Stau just auf diese Weise umgehen wollen – und vielleicht alle auf denselben Ausweichstrecken landen. Aus dem Stau in den Stau. Alle Herdentiere gemeinsam.

Ein mulmiges Gefühl beschleicht einen, wenn man an die „Big Brother“-Komponente denkt, die ja ursprünglich aus der Militärtechnik herrührt: Die GPS-Satelliten im Weltraum „wissen“ praktisch metergenau, wo man gerade unterwegs ist. Da trifft mal wieder die alte Schnulze zu: Du bist nicht allein . . .

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Der Originalbeitrag stand am 12. Januar 2007 in der Westfälischen Rundschau (WR)




Wenn Autoren zu Autonarren werden – Bildband folgt berühmten Schriftstellern auf Fahrstrecken und in die Garagen

Von Bernd Berke

Literarischer Geist und Technik stehen einander fremd, ja feindlich gegenüber. So weit ein gängiges Vorurteil. Ein neues Buch räumt jetzt mit dem Unsinn auf. Es handelt von berühmten Schriftstellern, die Autonarren gewesen sind.

Viele Edelfedern gaben sich freilich nicht mit einem x-beliebigen Fahrzeug zufrieden. Aldous Huxley („Schöne neue Welt“) bevorzugte die Luxusmarke Bugatti, Hermann Hesse („Steppenwolf“) hielt es mit Mercedes, für Truman Capote musste es schon ein Jaguar sein. „Dschungelbuch“-Autor Rudyard Kipling und Krimi-Schriftsteller Edgar Wallace nahmen fürstlich im Rolls Royce Platz. Sie legten wohl auch Wert auf die hohe Lauf-Kultur der Motoren.

Der Pole Witold Gombrowicz („Ferdydurke“) hingegen schält sich – wie ein Foto zeigt –  aus einer verbeulten Citroën-„Ente“. Bescheidenheit war seine Zier, wenigstens in diesem Punkt. Motorradfan Samuel Beckett („Warten auf Godot“) fuhr ebenfalls diverse „Enten“, wegen arger Sehschwäche allerdings zuweilen fast im Blindflug.

Françoise Sagan war wohl die Schnellste von allen

Ulf Geyersbach hat für seinen mit aussagekräftigen Schwarzweiß-Fotos illustrierten Band „…und so habe ich mir denn ein Auto angeschafft“ (O-Ton Thomas Mann) liebevoll gründlich recherchiert. Er folgt den Geistesgrößen gleichsam bis in die Garagen. Auch schreibt er einen gepflegten, dem Gegenstand angegossenen Stil. Und so haben wir denn ein Weihnachtsgeschenk für kluge Autofans und aufgeschlossene Literaturliebhaber.

Reichlich perlen hier die Anekdoten. Im Verhältnis zum Auto zeigt sich stets ein Stück des Charakters. Françoise Sagan („Bonjour tristesse“) war, wie auch sonst im Leben, am Steuer rastlos; eine Raserin, die kein Risiko scheute und in diverse Unfälle verwickelt wurde. Sie lenkte u. a. Modelle von Maserati und Aston Martin.

James Joyce und Carl Zuckmayer galten nicht als Fahrkünstler, sondern als Könige des eleganten Aussteigens. Wenn sich der Wagenschlag öffnete, zelebrierten sie ihre Auftritte. Vladimir Nabokov nutzte ein Oldsmobile gar als Schreibstube: Auf der Rückbank soll er seinen Skandalroman „Lolita“ verfasst haben.

Als James Joyce im Taxi Marcel Proust ins Gesicht paffte…

„Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ glitt Marcel Proust gern mit etlichen PS durch die Landschaft, verguckte sich in den einen oder anderen Chauffeur und billigte dem Auto erheblich mehr Poesie zu als der Bahn. Doch als der Raucher James Joyce („Ulysses“) einmal zu ihm ins Taxi stieg und den Asthmatiker Proust anpaffte, war der pikiert. Genies unter sich…

Auch Thomas Mann („Buddenbrooks“) lenkte nicht selbst. Der Patriarch ließ sich von Frau Katia und den Kindern chauffieren. Tochter Erika brachte es später immerhin zu Rallye-Erfolgen zwischen Finnland und Marokko. Ihr Vater hingegen schätzte Autos als schützende „Austern“ – gegen die Zumutungen der schnöden Welt.

Einen expliziten Auto-Verächter gibt es auch in diesem Kabinett. Robert Musil („Der Mann ohne Eigenschaften“) konnte sich freilich von seinen spärlichen Einnahmen kein Kfz leisten. So war’s wohl auch Neid eines Besitzlosen.

Sodann die Fotos! Wer etwa den feinsinnigen Österreicher Arthur Schnitzler („Reigen“)in gen“) Beifahrer mit verwegener Rennbrille und Lederkappe sieht, dem wird dieses Bild bei künftigen Lektüren kaum aus dem Kopf gehen. Prächtig auch dieses Fundstück: Bert Brecht anno 1926 in hautenger Lederkluft, die Hände lässig in den Hosentaschen, Zigarre im Mundwinkel. Kurzum: coole Pose vor seinem neuen Opel.

Ein SteyrModell bekam der findige Brecht einst vom Hersteller als Gegengabe für gereimte Werbesprüche. Von ihm stammt aber auch dieses etwas garstige Gebrauchsgedicht: „Ford hat ein Auto gebaut / Das fährt ein wenig laut. / Es ist nicht wasserdicht / Und fährt auch manchmal nicht.“ So kann selbst aus Pannen Lyrik entstehen.

Ulf Geyersbach: „.. ..und so habe ich mir denn ein Auto angeschafft – Schriftsteller und ihre Automobile“. Nicolai Verlag. 126 Seiten Großformat, zahlreiche Schwarzweiß-Abbildungen. 34,90 €.

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ZITATE

Wie in der Höhlenzeit

  • Schriftsteller-Zitate zum Autofahren:
  • „Das Mindeste, was man von einem Großschriftsteller verlangt, ist darum, dass er einen Kraftwagen besitzt.“ (Robert Musil)
  • „Autofahren ist genau so ein Talent wie beispielsweise Dichten.“ (Walter Hasenclever)
  • „Leben ohne Auto in einer Welt ohne Pferde, das ist ein wenig unbequem…“ (Rudyard Kipling)
  • „Die Großmannssucht hat uns ja nun dahin gebracht, eine sehr prachtvolle 8cylindrige Horch-Limousine zu bestellen …“ (Thomas Mann)
  • „Bald werden wir auf unsere Vor-Auto-Zeit zurückblicken, wie wir jetzt auf unsere Höhlenzeit zurückblicken.“ (Virginia Woolf, 1927)
  • „Ich verwandelte mich in einen sehr schnellen Fahrer. In Arizona sieht man kaum je einen Verkehrspolizisten.“ (Raymond Chandler).

 




„Papa mit Grill“ und die Boxenluder – ein kleiner Streifzug durch die aktuellen Spielzeug-Kataloge

Von Bernd Berke

Spielzeugkataloge blättert man doch immer wieder gern durch – nicht nur vor Weihnachten. Über manche bunten Sachen freuen sich auch Erwachsene, denn die Welt des Spielens verheißt Entspannung.

In dieser Sphäre gibt es seit Jahrzehnten ein paar Ankerpunkte. Zum Beispiel auch in den neuesten Katalogen von Lego oder Playmobil: Bauernhof und Zoo, Klinik und Eisenbahn, Polizeirevier und Tankstelle, Ritterburg und Piratenschiff. Alles ein bisschen schnittiger als früher. Die Freibeuter der Meere scheinen übrigens, wohl auch wegen des Kinohits „Fluch der Karibik“, als Spielthema wieder besonders begehrt zu sein. Kaum eine Firma verzichtet darauf. „Harry Potter“ legt hingegen eine Pause ein, auch auf dem Spielzeug-Markt.

Indianer und Dinos aber bleiben wohl unverwüstlich. Und zur Puppenbühne gehören immer noch die klassischen Figuren Kasper und Krokodil. Solche Traditionspflege wirkt anheimelnd. Auch die (wirtschaftlich gebeutelten) Modellbahn-Herstelller Märklin, Trix und Fleischmann beschwören die gute alte Zeit und bieten mit Vorliebe Züge aus den Wirtschaftswunder-Jahren an – digital aufgerüstet, versteht sich. Wahrscheinlich sind sie pünktlicher als die „richtige“ Bahn von heute. Man wird jedenfalls den Verdacht kaum los, dass sie in erster Linie für Väter hergestellt werden.

Klare Bereiche für Mädchen und Jungen

In den Spielzeug-Prospekten sieht man selbstverständlich nur aufgeweckte und allzeit fröhliche Kinder. In diesem Leben ohne Nervensägen, Langeweile und Verdruss sind die Sphären der Jungen und Mädchen sehr deutlich voneinander geschieden. Es gibt immer was zu tun: Hier werden Jungs eben als Technik-Tüftler oder Hand- und Heimwerker gezeigt. Ob sie uns später den Samstag zur Lärmhölle machen werden?

Die Mädchen kümmern sich derweil putzmunter um Spielküche und Puppenstube. Ganz selbstverständlich. Im Karstadt-Prospekt lautet die lockende Zeile so: „Süße Puppen für kleine Mamas.“ Von wegen „neue Väter“ der Zukunft. Verfechter einer „politisch korrekten“ Pädagogik (Anhänger wertvollen Holz-Spielzeugs) wenden sich mit Grausen. Aber die Verwandtschaft schenkt ja doch, was diese Eltern nicht gutheißen.

Schon die Farbgebung signalisiert es: Wenn die Rosa-Töne anschwellen, sind garantiert Spielsachen für Mädchen dran. Kämmbare Pferdchen mit langer blonder Mähne, Barbie & Co, die herzallerliebste „Kutsche für 12 Prinzessinnen“. Das ganze Programm. Nicht wenige Mädchen entwickeln später trotzdem ästhetisches Empfinden. Womöglich sind sie ja irgendwann zu Lehrreichem wie dem Memory „Weltkulturerbe“ (ab 8 Jahre!) sanft überredet worden?

Bei näherem Hinsehen fallen im Stapel der Kataloge nette Details auf: So gibt es etwa die alltagsnahe Spielfigur „Papa mit Gril“ und zum Krankenhaus-Umfeld gehört das Set „Pflegerin mit Patient“. Wir spielen Gesundheitsreform, wer spielt mit?

Auf etwas andere Weise wirklichkeitsgetreu: An den Rändern der Carrera-Rennstrecken kann man spärlich bekleidete „Boxenluder“ aufstellen. Für den Mann im Kinde oder das Kind im Manne. Selbst eine antike Arena ist für gutes Geld zu haben: mit Imperator, Gladiatoren, Tigern und Löwen. Alles zum Kampf bereit. Große Geschichte.

Eigentlich klar, dass kein Spiel „Das kleine Finanzamt“ oder „Buchhaltung“ heißt. Grellere Action muss beim Spielzeug meist schon sein, gemäß dem Motto: Alles rennet, rettet, flüchtet. Möglichst knatschbuntes Plastik, elektronisch betrieben. Mindestens blinken soll es. So jedenfalls stellen es sich (erwachsene) Spiel-Produzenten vor, die ihre Angebote als „cool“ anpreisen. Man möchte in ihren gewiss gewichtigen Produkt-Konferezen mal Mäuschen spielen. Für Jungs haben sie jedenfalls beängstigend aggressiv dreinblickende Fahrzeuge und scheußlich geklonte Monster parat – wahrscheinlich zwecks unschädlicher Aggressionsabfuhr.

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HINTERGRUND

„Kein Spiel macht dumm“

  • Umsatz mit traditionellen Spielwaren in Deutschland pro Jahr: rund 2,3 Milliarden Euro.
  • In Großbritannien bzw. Frankreich werden jährlich je Kind über 200 Euro für Spielzeug ausgegeben, bei uns 145 Euro.
  • Vor allem die chinesischen Importe machen den deutschen Herstellern zu schaffen.
  • Kluge Sätze zum Spiel: „Atome spalten ist ein Kinderspiel, verglichen mit einem Kinderspiel.“ (Albert Einstein)
  • „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Friedrich Schiller)
  • „Etwas Gescheiteres kann einer doch nicht treiben in dieser schönen Welt als zu spielen.“ (Henrik Ibsen).
  • „Nur Arbeit und kein Spiel macht dumm.“ (Karl Marx).



Bilder aus einer aufgeräumten Welt – Der neue Ikea-Katalog ist da / Nur die Bibel und Harry Potter haben höhere Auflagen

Von Bernd Berke

Bei diesem Druckwerk ist die Multi-Millionenauflage garantiert. Fast alle haben es dieser Tage im Briefkasten. Die einen nennen es den neuen Ikea-Katalog. Für andere ist es auch ein Dokument zur Alltagskultur.

„Lebst du schon?“, ruft einem der diesmal 380 Seiten starke Bilderroman vom Wohnen auf der Titelseite zu. So ist denn auch der Anfangsteil gleichsam der Lebensphilosophie vorbehalten. Kernsatz: „Arbeiten, machen, tun, hierhin hetzen, dahin hetzen – wo ist es geblieben, das herrliche Nur-zu-Hause-Sein im gemütlichen Nest daheim?“ Nachdrückliche Werbe-Prosa mit dem Verstärker-Effekt der variierten Wiederholung: zu Hause, daheim, Nest. „Einfach mal einen Termin sausen lassen“, rät man uns sodann. Alles klar, Chef. Nein, nein, in solchen Fragen hören wir nur bedingt auf Ikea.

Alles wirkt so adrett und fürsorglich

Welche lebenswerte Welt gaukelt uns dieser Katalog vor? Eine durchweg aufgeräumte. Hin und wieder tollen hier zwar Kinder herum, um zu demonstrieren, dass die Möbel es aushalten würden. Doch das Chaos soll keine Chance haben. An vielen Stellen wird betont, wie man seinen Alltag übersichtlich ordnen könne. Alles wirkt hier so adrett, fürsorglich, praktisch, robust – und gibt sich den Anstrich des Zeitlosen. Der Katalog gilt für zwölf Monate, er muss alle Jahreszeiten überdauern und darf sich nicht auf gar zu kurzatmige Moden einlassen.

Dennoch ahnt man, dass es mit Zeitlosigkeit nicht getan ist, dass vielmehr ganze Abteilungen bei Ikea die soziologischen Trends studieren. Kuschelige „Nestwärme“ in einer kalten, hektischen Welt wäre demnach als Zuflucht mal wieder angesagt. Nicht erst seit gestern.

Jugendliche und Senioren kommen kaum vor

Die jeweils kurz vorgestellten Designer, mehrheitlich aus der 30-plus-Generation, haben überdies nicht nur Form und Funktion, sondern allzeit auch Ökologie, soziale Standards und das Wohl der Dritten Welt im Blick. So jedenfalls die vorgegebene Linie. Man wird schon wissen, was man der angepeilten Klientel schuldig ist. Und man wird gewiss viel diskutiert haben, bevor man damals auf den Elch als Werbe-Emblem verzichtet hat oder als man 2004 beschlossen hat, auch die deutschsprachige Kundschaft einfach zu duzen. In solchen Arbeitsgruppen möchte man gerne mal Mäuschen spielen.

Der Katalog zeichnet dezent das Bild der idealen Ikea-Familie: jüngere Leute mit Kindern bis höchstens zehn oder elf; mehrheitlich brave Töchter, die oft beim eifrigen Lesen gezeigt werden. Der einstige Multikulti-Touch im Ikea-Kinderzimmer scheint jedoch deutlich abgenommen zu haben. Jugendliche und Senioren kommen praktisch gar nicht vor. Es sind wohl keine Zielgruppen.

Was sagt Anna zur Hochzeits-Frage?

Auffallend sind die offenbar exakt kalkulierten Farbenwechsel. Über viele Seiten hinweg geht es zurückhaltend zu, doch dann kommen zuverlässig schrillere, buntere, gelegentlich gar orientalisierende Anwandlungen –  vielleicht für eine wachsende Kundschaft mit Migrations-Hintergrund? Jedenfalls: Bloß keine Monotonie aufkommen lassen. Dies gilt auch für den Mix aus Klassikern und Neuerungen. Zur Beruhigung: Das Billy-Regal ist immer noch dabei.

Hübsch sind manche Details: So etwa der stolz ganzseitig präsentierte, kopfüber auf der Spüle stehende Kaffeebecher, dem man eigens eine Rinne zum Abfluss des Wassers spendiert hat. Oder der Stuhl, dessen Röhren man ohne Schraubarbeit zusammensteckt. Alle, die schon mal beim Aufbau eines Ikea-Teils geflucht haben, werden hier aufmerken.

Zum guten Schluss sind wir bei Ikea ins Internet gegangen und haben die virtuelle blonde Anna, die einem dort weiterhelfen soll, spaßeshalber gefragt: „Willst du mich heiraten?“ Was hat sie geantwortet? „Liebe ist für viele ein sehr wichtiges Thema… Aber frage mich doch lieber etwas über Ikea.“ So sind sie halt. Immer nett und freundlich. Aber manchmal auch ein wenig nüchtern.

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HINTERGRUND

Gesamtauflage 175 Millionen Exemplare

  • Seit Montag wird der deutsche Ikea-Katalog in einer Auflage von 31~Millionen Exemplaren (!) an die Haushalte verteilt.
  • Weltweite Auflage des Katalogs: 175 Millionen Stück. Laut Wikipedia-Onlinelexikon werden nur Bibel und Harry Potter-Bücher häufiger gedruckt.
  • Die Namensgebung hat System: Stühle und Schreibtische erhalten Männernamen, Betten norwegische, Teppiche dänische Ortsbezeichnungen usw.
  • Das Möbelhaus wurde 1943 in Schweden vom damals erst 17jährigen Ingvar Kamprad gegründet. 1951 gab es den ersten Ikea-Katalog.
  • Die erste deutsche Ikea-Niederlassung wurde 1974 in Eching bei MÜnchen eröffnet. Derzeit gibt es 38 Häuser in Deutschland. Es ist weltweit der größte Markt für die Schweden.