Familienfreuden auf Reisen: Verrückte Hühner

San Francisco versus Normen mit Kinderwagen. (Foto: Albach)

San Francisco versus Normen mit Kinderwagen. (Foto: Albach)

San Francisco wurde nicht für Kinderwagen gebaut. Ganz sicher nicht. Kaum wagen wir uns in die spannenden Gebiete der Stadt vor, wird es anstrengend.

Sportlicher Kinderwagen hin oder her, ich gebe ziemlich schnell auf und an Normen weiter. Der ächzt und stemmt sich mit seinem ganzen Körper gegen Fionas Porsche, um die gefühlten 90 Grad. Steigung zu packen. Wir sehen Autos die berühmte Lombard Street hinab fahren, Fiona lallt fröhlich unter ihrem Regenschutz und Normen kommt ins Schwitzen. Wir suchen Erfrischung in einem Café, Fi sucht Erleichterung. Wickeltisch? (Was heißt das bloß auf Englisch?) Fehlanzeige. Wir entwickeln Wickelfindigkeit und schaffen den Wechsel auf einem halbem Quadratmeter vor dem Klo.

Später, an Fishermans Wharf, zeigt Fi wenig Gespür für die vom Lonely Planet vorgeschlagenen Sehenswürdigkeiten und bestaunt statt der strunzenden Seelöwen die herrlich im Wasser glitzernde Sonne.

Dabei zeigt sie durchaus so etwas wie Tierliebe oder zumindest Interesse. Gut, den Elchen, die wir in den Redwood State Parks sehen, kann sie nur aus der Ferne zuwinken – was mehr an unserer Zurückhaltung liegt als an ihrer. Aber der Riesenameise, die an ihrer Picknickdecke vorbeikrabbelt, will sie am liebsten direkt hinterher. Und der lustige blaue Vogel mit Punkerfrisur erntet Applaus. Unser Zusammenzucken bei jedem knackenden Ast im Wald nimmt sie hingegen verwundert zur Kenntnis – die Propaganda, wonach überall Bären lauern, die selbst auf unsere Brötchenkrümel scharf sind, lässt Fi kalt.

Erstaunt beobachtet Fi allerdings den schrägsten Tierbesuch: ein kleiner Vogel fühlt sich durch unseren Camper so gestört, dass er aufgeregt auf unserer Motorhaube entlang hüpft und die Spiegel angreift. Noch beim Einschlafen hören wir ein rhythmisches toctoctoc. Radkappe gegen Vogel, Eins zu Null.




Familienfreuden auf Reisen: Die mauen Herren

Ankommen! Und das möglichst gut. Das war eigentlich der einzige Gedanke, der uns antrieb beim Abflug. Dass unsere Reise in die USA mit Fiona zu einer ganzen Reihe von seltsamen Begegnungen mit mauen und merkwürdigen Herren werden würde, konnten wir ja nicht ahnen.

Startschuss war schon am Gate. Ein kleiner, wohlproportionierter Herr mit Lupe in der Hand fragte uns mit unnachgiebiger Miene und Ungeduld im Blick, ob wir unser Gepäck a) selbst gepackt und b) jemand anders dazu Zugang gehabt hätte. Fi schaute den Herren ebenso erstaunt an, wie wir beide.

Trotzdem schafften wir es in den Flieger. Obwohl wir fast eine Stunde bis zum Abflug warten musste und die arme Fiona schrie wie am Spieß, sagte der ältere Herr in der Reihe hinter uns später zu mir, wir würden einen sehr guten Job machen und tätschelte meinen Kopf. Als Fi eingeschlafen war, war ich geneigt, seinen Worten Glauben zu schenken – vor allem, als die Landung ohne befürchtete Druckausgleichsschreie erledigt war. Elf Stunden Flug – wir hatten es geschafft!

Oder zumindest fast. Uns stand noch der immigration process bevor. Der Herr mit der schnittigen Frisur (gerade wie ein Lineal) und dem dazu stark kontrastierenden Armtattoo sagte, kaum, dass er einen Blick auf uns geworfen hatte: „Guten Abend!“ und demonstrierte fortan sein bestes Deutsch. Da wundert man sich nach elf Stunden Flug schon. Bereitwillig erzählte er, dass er in Deutschland stationiert gewesen war. „In Bad Tölz. Aber ich bin nicht der Bulle von Tölz! Dafür fehlen mir ein paar Kilos.“ Breites Lachen. Waren wir wirklich gerade in Amerika angekommen?

Der asiatische Taxifahrer, der uns nahezu alle unsere Gepäckstücke einladen ließ, bevor er meinte, dass das wohl doch nicht passe, wunderte uns da schon kaum noch. Als wir schließlich, die Augen kaum noch auf haltend, in unserem Hotel ankamen, schien es kein Geringerer als der Bruder von Forest Whitaker zu sein, der uns die Tür aufhielt und uns herzlich willkommen hieß. Fiona goutierte alles mit einem königlichen Winken.

Die seltsamste Begegnung bescherte uns allerdings ihre Schlafstätte: Als wir um ein Babybett baten, klopfte wenige Minuten später ein Herr an unsere Zimmertür: Schwarzer langer Mantel, Sonnenbrille, Goldkette – und vor allem zwei Uhren, so groß wie Joghurtbecher, in strahlendem Gold, besetzt mit unzähligen, glitzernden Diamanten. In der einen Hand hielt er: Fionas Babybett! Er, der sonst sicher eher unliebsame Klienten zurechtstutzte oder kruden Geschäften seinen Segen gab, ächzte nun beim Zusammenbauen des kleinen Bettchens. Ein Bild, das uns in unsere Träume begleitet hat.




Familienfreuden auf Reisen

Es geht ein Sonderflug nach San Francisco. (Bild: Albach)

Es geht ein Sonderflug nach San Francisco. (Bild: Albach)

Jetzt geht es also los. Auf große Reise. Ganz ernsthaft. Was haben wir uns da angetan?

Ok, das war jetzt wieder so ein kurzer Schreckgedanke – aber eigentlich freue ich mich tierisch. Denn: Wir fliegen gleich los, nach San Francisco. Unsern Traum erfüllen. Fünf Wochen wollen wir mit Fi durch die Gegend cruisen, hoch bis nach Seattle, auf dem Weg viele Nationalparks, die nicht so bekannt sind, aber so klingen, als würde man sie nie wieder vergessen. „Schuld“ an diesem Vorhaben ist ein munteres Pärchen, das wir vor Jahren in Australien mit ihrem Baby getroffen haben und das uns vorschwärmte, dass man seine Elternzeit kaum besser verbringen könne als mit so einem Trip. Stimmt eigentlich, dachten wir. Und da war der Floh im Ohr.

Hinter uns liegen jetzt einige Monate der schrägsten Reisevorbereitungen, die ich bisher erlebt habe. Dem Herrn im Reisebüro dürften noch heute die Ohren klingeln von all unseren Fragen. Seinen Vorschlag, ein neun (!) Meter langes Wohnmobil zu nehmen statt des jetzigen, stolzen siebeneinhalb Meter langen – weil günstiger – haben wir trotzdem abgelehnt. Ich sah uns schon kurvenreiche Nationalparks durchfahren, beobachtet von sich Tatzen reibenden Bären, die sich auf den nächsten leckeren Snack in der Dose freuten.

Weitaus weniger einfach war die Frage, ob unser Kindersitz im Flugzeug zugelassen wäre. Der erste Anruf bei der amerikanischen Fluglinie brachte die Bekanntschaft eines jungen Amerikaners, der seine (mäßigen) Deutschkenntnisse strikt an mir ausprobieren wollte und schlussendlich vorschlug, ich könne das sicher googeln. Beim zweiten Versuch, direkt bei der amerikanischen Hotline, wurde mein Mann Normen mit den munteren Worten abgespeist: „If it’s approved by the Germans, it’s ok!“ Na, da scheint der Ruf der Deutschen ja noch gut zu sein…

Letzte Woche habe ich dann eine mir bislang unbekannte Form der „ich muss horten“-Panik erlebt: Mindestens eine halbe Stunde stand ich vor dem Babynahrungs-Regal im Drogeriemarkt meines Vertrauens und überlegte, ob jeweils ein Glas Schinkennudeln und Bio-Kalb mit Karotte reichen würden. Als ich mit einer zum Bersten gefüllten Tasche nach Hause kam, rieb Normen sich die Augen, als wäre er in Alices Wunderland. Behutsam erklärte er mir, dass wir sicher auch in den USA Babynahrung bekämen, was ich ihm nach Vorlage diverser Supermärkte in San Francisco Downtown auf Google Maps auch glaubte (obwohl ich doch im Internet noch einmal recherchiert habe, ob die angebotenen Gläschen auch wirklich ohne Zusatzstoffe auskommen). Tja, als Ma lernt man sich selbst neu kennen…

Jedenfalls sind die Koffer gepackt, der Bauch fliegt jetzt schon – und Fiona erlebt gleich den ersten Flug ihres Lebens!

 




ARD-Porträt über Gunter Sachs – ein Sittenbild aus rauschenden Zeiten

Welch ein missliches Zusammentreffen: Da hat die ARD seit langem ein Porträt unter dem Titel „Der Gentleman-Playboy. Gunter Sachs“ geplant – und dann platzt wenige Tage vor der Ausstrahlung die journalistische Affären-„Bombe“ der so genannten „Offshore-Leaks“, bei der auch Gunter Sachs in den Ruch der Steuerhinterziehung gerät.

Auf ihn beziehen sich jedenfalls offenbar einige der Millionen Datensätze, die aus anonymen Quellen an die Weltpresse gelangt und von Journalisten aus vielen Ländern über viele Monate ausgiebig analysiert worden sind. In Deutschland waren die „Süddeutsche Zeitung“ und ausgerechnet der Norddeutsche Rundfunk (NDR) beteiligt, der just auch fürs Sachs-Porträt verantwortlich zeichnet. Doch offenbar haben die Recherche-Kollegen ihre Geheimnisse bis zum Schluss gewahrt und den Filmemachern vom gleichen Sender vorab keinen Tipp gegeben. So mussten Kay Siering und Jens Nicolai ihr Porträt gleichsam in letzter Minute ummodeln.

Lebe wild und gefährlich: Gunter Sachs und Brigitte Bardot mit Raubkatze, 1969 in Saint-Tropez. (© NDR/Privatarchiv der Familie Sachs)

Lebe wild und gefährlich: Gunter Sachs und Brigitte Bardot mit Raubkatze, 1969 in Saint-Tropez. (© NDR/Privatarchiv der Familie Sachs)

Ganz vorsichtig mit Steuer-Vorwürfen

Dabei haben sie sich wohlweislich sehr zurückgehalten und die Vorwürfe an zwei Stellen nur ganz am Rande erwähnt. In gewisser Weise kann man diese Vorsicht nachvollziehen. Denn erstens gilt – bis zum Beweis des Gegenteils – die Unschuldsvermutung natürlich auch für Gunter Sachs, der sich im Mai 2011 das Leben genommen hat. Und zweitens bestreiten seine Nachlassverwalter entschieden ein schuldhaftes Verhalten. Etwas anderes zu behaupten, wäre einstweilen juristisch sehr riskant. Die nachträglich ins Porträt eingeflochtene Formulierung, der „Finanzjongleur“ Gunter Sachs und sein Geld seien in aller Welt zu Hause gewesen, entbehrt allerdings nicht der Süffisanz.

Der Mann mit lauter guten Eigenschaften

Der aktuelle Nachtrag war freilich auch schon das dunkelste Fleckchen in diesem doch ausgesprochen wohlwollenden Lebensbild. Kaum eine positive Eigenschaft, die Gunter Sachs von der langjährigen Ehefrau Mirja Larsson, von seinen Kindern, Freunden und Wegbegleitern n i c h t nachgesagt worden wäre. Er war demnach ungemein charmant, charismatisch, großzügig, aber nicht verschwenderisch, kreativ, verführerisch, doch letzten Endes auch treu und verlässlich wie sonst nur wenige. Der studierte Mathematiker (hätten Sie’s gewusst?) war nicht nur als Playboy, sondern auch als Kunstsammler, waghalsiger Sportler und Fotograf höchst erfolgreich.

Die besondere Stärke des 75-minütigen Films lag nicht so sehr in der manchmal gar zu ehrfürchtigen Kommentierung, sondern im Materialreichtum, den man aufbereitet hatte und in dieser staunenswerten Fülle erstmals präsentieren konnte. An etlichen Stellen verdichteten sich die zahllosen Filmausschnitte zum prägnanten Sitten- und Gesellschaftsbild jener Jahre.

Gegen das Image vom spießigen Deutschen

Was waren das für Zeiten, als Gunter Sachs – gleichsam stellvertretend für die Nation – lustvoll gegen das Image vom steifen und spießigen Deutschen anlebte; als er reihenweise einige der schönsten Frauen seiner Zeit eroberte (allen voran Brigitte Bardot) und zwischen St. Moritz, Saint-Tropez, Sylt und Palm Springs rauschende Feste mit dem internationalen Jet Set feierte! Selig lächelnd erinnerte sich sein Freund, der Filmregisseur Roman Polanski, dass damals ja auch die Zeit der sexuellen Revolution begonnen habe.

Selbstverständlich hat einer wie Sachs auch kolossalen Neid auf sich gezogen. Als Firmenerbe (Fichtel & Sachs) verfügte der gebürtige Schweinfurter über die Millionen, um sich die Freiheit zu leisten, von der wohl fast alle träumen. Verbinden sich derlei glückhafte Umstände auch noch mit erotischen Husarenstücken, so sehen manche vom Leben Frustrierte Rot.

Flotte und markige Sätze

Siering und Nicolai hingegen schmolzen lieber in Bewunderung vor dem tollen Hecht Gunter Sachs dahin. Sie peppten ihren Film genüsslich mit flotten Sätzen auf. Über Sachs und Bardot: „Sie liebten sich auf dem Heck seines Motorboots – bei voller Fahrt“. Das Risiko, am nächsten Felsen zu zerschellen, hätten sie dabei in Kauf genommen. Donnerlittchen!

Bei weitem härter klang allerdings der mehr als markige Satz aus der Kino-Wochenschau von 1966, Gunter Sachs habe die Bardot „heim ins Reich“ geführt. Was für eine unsägliche Idiotie, noch 21 Jahre nach Kriegsende!

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Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Der Weg zu den Oscars: Was taugen die nominierten Filme? (Teil 1)

Ich hab’s geahnt. Es ist soweit: „Ich bin zu alt für diesen Scheiß!“ So resigniere ich immer öfter vor den Werken, die zur Prämierung bei den Oscar-Festivitäten (diesmal am 24. Februar) freigegeben werden. Die Ausbeute wird geringer. Also meine jetzt.

Das geneigte Hollywood-Publikum bekifft sich ja nach wie vor am eigenen Ruhmesdunst, rotiert im Glanze der Ritte in Sonnenuntergänge, Shoot-outs und Show-downs. Das muss so, denn wozu sonst der ganze Firlefanz.

Nun ist es ja auch nicht so, dass ich plötzlich keine Filme mehr mag, aber offenbar haben sich (mein) Geschmack und (deren) Angebot etwas auseinandergelebt. Tapfer hab ich nun an Auge und Hirn vorbei laufen lassen, was an Krumen vom Tisch des Freundes „in da bizzness“ zu meinen Füßen fiel.

Wie voriges Jahr konzentriere ich mich auf die Nominierungen in den Hauptkategorien. Mein Töpfchen Senf steht bereit:

Best Picture

„Beasts of the Southern Wild“: Ein unsentimentaler, leider wenig beachteter Film über eine bunte Gruppe von Menschen, die im „Bathtub“ – einer kleinen Insel im Mississippi-Delta von Louisiana – leben. Alle Darsteller sind Laien. Die phantasievolle und sehr niedliche kleine Hushpuppy (Quevenzhané Wallis ist für „Best Actress“ nominiert) philosophiert viel für eine Sechsjährige und nimmt ihr Leben in die Hand, als ihr Vater stirbt. Benh Zeitlin „Best Dirctor“. Aber egal. Für mich auch in diesen beiden Kategorien leider chancenlos. Schade um die schöne Geschichte. Es sei denn, Hushpuppys Niedlichkeitsfaktor obsiegt. Und der rekordträchtige Nebensatz: jüngste Oscargewinnerin aller Zeiten.

„Silver Linings Playbook“ – musste ich nach gefühlten drei Stunden abbrechen, was echten 40 Minuten entsprach. Verspürte das starke Verlangen nach Valium. Robert de Niro und Jacki Weaver für „Best supporting…“, David O. Russell „Best Director“, Bradley Cooper „Best Actor“, Jennifer Lawrence „Best Actress“. Bin ich so verpeilt? Von mir gibt’s nix, bin immer noch gerädert, wenn ich nur dran denke. Und vielleicht tu ich damit all den Darstellern großes Unrecht. But who said life is fair?

„Lincoln“: Eine Geschichtsstunde für Amerikaner und alle, die an amerikanischer Historie interessiert sind. Etwas dröge. Im Zusammenhang mit „Django Unchained“ wertvolle Verständnishilfe zur Sklavenbefreiung. Nicht besonders unterhaltsam für den europäischen Kinogänger, aber sehr gute Schauspieler: Tommy Lee Jones und Sally Field für „Best supporting…“, Daniel Day Lewis „Best Actor“, Steven Spielberg „Best Director“. Wenn solche Oscars dazu beitragen könnten, dass das Leben des bunten Volks derer, die sich alle Amerikaner nennen, friedlicher vonstatten gehen könnte, dann sollen sie meinetwegen abräumen. Alles.

„Les Miserables“: Ein Musical, gar nicht mein Genre. Galeerensträflinge, die in Reih und Glied im hüfthohen Wasser stehen, an armdicken Tauen zerren und dabei singen… danke, nein danke! Sorry, Anne Hathaway („Best Supporting“), Hugh Jackman („Best Actor“), ihr seid sicher toll, aber ich hab euch nicht sehen können.

„Life of Pi“: Oh je, oh je. Das Buch hab ich nicht geschafft. Der Film, so dachte ich, wird einfacher. Schöne Bilder, viel Meer, viel Abenteuer, tolle Tricks mit Wasser, Dschungel, Tiger und seafood. Und am Ende hab ich mich dann doch gefragt: wie denn, was denn nun? Ich bin zu wenig Emo, Epi und Eso für solche Filme, die bestimmt ganz, ganz toll und wunderschön sind. Nur eben für mich nicht. Ang Lee ist auch für „Best Director“ nominiert.

„Argo“ Eine moderne „Cloak and Dagger“-Geschichte (Mantel- und Degenstück). Ein aufwändiges „böhmisches Dorf“ wird aufgebaut in Form eines Filmsets im Iran, wo nach der Stürmung der amerikanischen Botschaft sechs Mitarbeiter in die kanadische Botschaft flohen. CIA und Kanadier schmieden die Befreiungspläne. Unter dem Vorwand, einen Film drehen zu wollen, etabliert sich ein kanadisches Team, um die Flüchtlinge als „production crew“ außer Landes zu schaffen. Alan Arkin ist für „Best supporting…“ nominiert. Das ist ein spannender Film und sicher auch Aufarbeitung eines amerikanischen Traumas. Eines der vielen. Wie z.B. auch

„Zero Dark Thirty“. OMG – Terroristen und deren Bekämpfung und Verhörung. Sehr brutal (Folterungen in epischer Breite), eine verbissene, aber sehr gute Jessica Chastain („Best Actress“ Nomi) auf der (erfolgreichen) Jagd auf Bin Laden, auch für „Best Original Screenplay“ nominiert. Spannend, aber nichts für schwache Nerven.

– Fortsetzung folgt –




Als Gernhardt die traurigen Tropen sah

Wird Robert Gernhardt (1937-2006) jetzt das posthume Schicksal gewisser Rockstars zuteil? Wird man fortan jede klitzekleine Notiz oder Skizze publizieren, die er je zu Papier gebracht hat?

Es gibt tatsächlich ein paar banale, nichtssagende Abschnitte in seinen Reisenotizen „Hinter der Kurve“, die einen solchen Argwohn nahelegen könnten, etwa diesen Absatz: „Die Thai können in der Tat kein ‚R’ aussprechen: ‚You have loom foltyfoul’ oder ‚Hello, Mistel! Der Thai liebt Inschriften und versteht es nicht, Karten zu lesen.“ Ach so.

Gernhardt selbst hätte für eine solche Buchausgabe bestimmt strenger ausgewählt, er hätte mehr verworfen, als sich die Herausgeberin Kristina Maidt-Zinke getraut hat. Offenbar mochte sie keine Gernhardt-Sätze antasten. Auch musste der Band ja einen ordentlichen Umfang erreichen. Und so fanden auch ein paar schwächere Passagen Einlass.

Robert Gernhardts Erdenwallen habe ich bislang immer hauptsächlich in und um Frankfurt am Main bzw. in der Toskana verortet. Welchen Lesern war schon bewusst, dass dieser begnadete Schriftsteller und Maler auch Kanada, die USA, Jamaica, Brasilien, Indonesien, Thailand, Südafrika und Botswana bereist hat? Um nur die außereuropäischen Destinationen zu nennen. Somit wird es also doch wieder interessant: Was hat einer wie Gernhardt aus fernen Ländern zu berichten?

Das Buch beginnt freilich in Europa – und dort mit Gernhardts Geburtsstadt Reval (Estland). Alsbald erfahren wir, warum Reisen trotz allem immer noch bildet und ermuntert: „(…) weil der durch lange Seßhaftigkeit bereits schwerfällig Gewordene sich auf einmal wieder als Möglichkeitswesen begreift…“

Man ahnt es schon: Gernhardt sucht, wenn überhaupt, dann eher widerstrebend die touristisch überlaufenen Sehenswürdigkeiten auf und beobachtet statt dessen lieber Tierwelt, Landschaft oder den Alltag der Menschen, soweit man dies als Fremder überhaupt vermag.

Doch gerade an entlegenen Orten erfasst ihn das touristische Weh und Ach. Grundmuster: Der Westler beute quasi mit jedem Blick die „Dritte Welt“ aus, im Gegenzug werde er übers Ohr gehauen, wo es nur geht.

Unentwegt reflektiert Gernhardt seine Rolle als Reisender. Seit den 50er Jahren, als er nach Italien und Griechenland aufgebrochen war, zählte er zu jenen, die Gelände erkundet haben, das später Mengen oder gar Massen anzog. Auf diese Weise blieb nichts mehr „unberührt“. Doch auch Kritik an allzu wohlfeiler Tourismus-Kritik gehört hier zum Lieferumfang. Ständige Zerknirschung bringt eben auch keinen sonderlichen Ertrag. Also wird der „sensible Tourist“ seinerseits zur komischen Figur.

Und überhaupt. Versäumt man nicht eh immer das Beste, weil man ein prinzipiell Zuspätgekommener ist? „Je länger man lebt, häufen sich solche Geschichten, in denen einem das Gefühl vermittelt wird, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein: Berliner Künstlerbälle direkt nach dem Krieg…Bali vor 1970…Die Welt vor der Revolution 1789…“

Auf europäischen Pfaden durchstreift der Augen- und Sinnenmensch Gernhardt natürlich auch die wichtigen Museen. Dabei ist ihm ein von Vermeer, Frans Hals oder Velázquez gemaltes Detail im Zweifelsfalle lieber als eine noch so triumphale „Siegesallee der Moderne“. In der National Gallery zu London hält er fest: „All diese Konzeptmaler, die kein gescheites Handwerk mehr erlernt oder es über Bord geworfen hatten, um ihre Persönlichkeit zu verwirklichen (…) Van Goghs rohe Farben, Cézannes Unfähigkeit, nackte Weiber zu zeichnen bzw. sie so zu gruppieren, daß aus dem Sujet nicht eine unsägliche Arsch- und Ballonparade wird – welch ein Niedergang!“ Ein couragiertes Urteil, fürwahr. Es mündet in den Stoßseufzer: „Schade, daß es so enden mußte. Daß nicht Manets Fackel weitergetragen wurde, sondern Cézannes fragwürdiger Kienspan…“

Dann also weit, weit hinaus; dorthin, wo museale Kultur so gut wie keine Bedeutung hat. In Indonesien verspürt Gernhardt Momente wahrer Fremdheit und buchstäblicher Exotik, was ihn bei aller Faszination nicht hindert, auch solche nüchternen Feststellungen zu treffen: „Das Meer schlägt hier mit tödlicher Gleichmäßigkeit an den Strand – eigentlich ein dämliches Geräusch.“ Die über allem schwebende große Gleichgültigkeit, die fließenden Geschlechter- und Körpergrenzen werden ihm zu Signaturen einer gänzlich anderen Welt. Er spricht von düsteren, traurigen Tropen. Zugleich sieht er einen schmerzlich grellen Kontrast zwischen den schönen, anmutigen Einheimischen und überwiegend hässlichen Besuchern aus reichen Ländern.

Gernhardt standen bekanntlich nicht nur die Feinheiten sprachlicher Beschreibung zu Gebote. Die eingestreuten Illustrationen belegen abermals seine zweite Begabung. In schwungvoller zeichnerischer Linienführung erfasst er das Wesenhafte eben auf andere, unmittelbar einleuchtende Art.

In Thailand beschleicht ihn der schon fast ketzerische Gedanke, was ihn eigentlich diese ganze buddhistische Kultur anginge? Dann aber der Zwiespalt: „Und doch könnte er den Moment nicht ertragen (…), in welchem ihm einer sagt: Du warst in Bangkok und hast den Smaragd-Buddha nicht gesehen?“ Ferner geht ihm das Klischee auf den Geist, in Bangkok herrsche chaotischer Verkehr und mittendrin stünden immer Tempel. Doch genau darin bestehe ja „das spezifisch Bangkokische“ (…) Wahnsinnsverkehr und Mittendrintempel“. Es ist vertrackt.

In Botswana fällt ihm auf, wie sehr das Fernsehen mit seinen Tierfilmen die Wahrnehmung geprägt hat. Europäer oder Nordamerikaner wollen folglich “nicht lediglich Tiere sehen, sondern Tiere in Ausnahmesituationen. Wie sie gezeugt, geboren, getötet oder gefressen werden. Bzw.: Wie sie kämpfen oder spielen.“ Die Wirklichkeit bei der Jeep-Safari sieht dann meistens etwas stumpfer aus: „Da stehen die Tiere rum, gucken, fressen.“

Robert Gernhardt: „Hinter der Kurve. Reisen 1978-2005“. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 302 Seiten. 19,99 €




„Krawomm, Tatatat, Zischzasch“ – der deutsche Afghanistan-Einsatz als Comic

Seit 10 Jahren verteidigen deutsche Truppen unsere Freiheit am Hindukusch. Doch der Einsatz der Bundeswehr ist hierzulande umstritten und wird mit jedem toten Soldaten in Frage gestellt. Ob das Buch, das jetzt unter dem Titel „Wave and Smile“ erschienen ist, eine Argumentationshilfe in der Debatte um das Für und Wider des Bundeswehr-Einsatzes sein kann, scheint auf den ersten Blick zweifelhaft. Denn der Autor und Zeichner Arne Jysch thematisiert den Afghanistan-Krieg mit den Mitteln der Graphic Novel und der Ästhetik von Comics.

„Wave and Smile“ („Winken und Lächeln“), das war lange Zeit die Strategie der ISAF-Truppen in Afghanistan, wenn sie ihre militärischen Camps verließen und sich unters afghanische Volk mischten: Das hat sich als ziemlich naiv und tödlich erwiesen, denn die Taliban sind längst nicht besiegt. Im Gegenteil. Die Sicherheitslage hat sich dramatisch verschlechtert, auch im nördlichen Afghanistan, in der Region um Kunduz, also dort, wo die Geschichte der Graphic Novel spielt und die Bundeswehr stationiert ist, die sich heute nur noch in gepanzerten Wagen und schwer bewaffnet vor die Tür wagt und ein ständiges Ziel von terroristischen Attacken ist. Schon der Titel „Wave and Smile“ ist ein ironischer Abgesang auf die verlogene Kriegsstrategie und ein erster Hinweis, dass da etwas schief läuft mit der Bundeswehr in Afghanistan.

Arne Jysch hat sich eine dramatische, von Tod und Terror, von Liebe und Verrat handelnde Geschichte ausgedacht. Die drei Hauptpersonen, Hauptmann Chris, Hauptfeldwebel Marco und Fotoreporterin Anni, erdulden die Tristesse und Einsamkeit des Alltags im Bundeswehrcamp in Kunduz und werden bei ihren Einsätzen in blutige Kampfhandlungen verwickelt. Bei einem Gefecht wird Marco von den Taliban entführt, Chris traumatisiert und zur Heilung nach Deutschland geschickt. Doch dort wartet nur die Scheidung von seiner Frau auf ihn und die quälende Frage, was aus seinem Freund geworden sein mag. Also entschließt sich Chris, als Privatperson nach Afghanistan zurückzukehren und auf eigene Faust und mit Hilfe von Fotografin Anni nach Marco zu suchen.

Jysch erzählt in der Bildsprache eines realistischen Comics: die Zeichnungen der Soldaten, der Waffen, der Saufgelage im Camp und des Verhaltens Kampf wirken authentisch, jede Figur hat eine eigene Kontur, man merkt deutlich: Jysch hat sich Rat geholt bei Fotografen und Filmemachern. Auch hat er wohl viele Informationen bekommen von der Presseabteilung der Bundeswehr. Die immer wieder eingeflochtenen Debatten über die Kampfstrategien und Kriegsziele versuchen ein möglichst großes Argumentationsspektrum abzudecken und verzichten auf billige Phrasen. Der Comic versammelt ca. 1000 einzelne Bilder, bietet knallige Sprechblasen, deftige Wortfetzen und Lautmalereien. Vor allem wenn geschossen wird und Bomben krachen, fliegen riesige Buchstaben mit viel Krawomm, Tatatat und Zischzasch durchs Bild.

Aber eine Auftragsarbeit oder ein Gefälligkeitsbuch ist es nicht, denn der Einsatz der Bundeswehr und die Gesamtstrategie der ISAF wird in all ihren Widersprüchen und Ungereimtheiten geschildert. Wer sich als potentieller Rekrut am Ballern labt, kommt zwar auf seine Kosten, muss aber mit ansehen, dass er als Soldat für politisch zweifelhafte Zwecke missbraucht und verheizt wird. Und wenn Hauptmann Chris einem an seiner Mitarbeit interessierten Amerikaner entgegnet: „Nein, Ihren Krieg, den dürfen Sie ohne mich verlieren“, ist die Anti-Kriegs-Botschaft des Comics auch mehr als deutlich. Jysch hat kein geschmackloses Rekrutierungspamphlet verfasst und gezeichnet, sondern einen durchaus kritischen, wenn auch nicht klischeefreien Comic zum Krieg in Afghanistan. Auf welche Leserschaft er abzielt, ist allerdings ein kleines Rätsel.

Arne Jysch: „Wave and Smile“. Carlsen Verlag, Hamburg. 208 S., 24,90 €




Familienfreuden III: Vom Anlegen und Kommen

Auch Geld lässt sich anlegen.

Auch Geld lässt sich anlegen.

Wer Elter(n) wird, hat es plötzlich mit einer Menge neuer Worte oder vertrauter Worte mit neuem Inhalt zu tun. Aber zwei Formulierungen, die ich mittlerweile häufig von anderen Müttern oder auch Hebammen gehört habe, gehen mir einfach nicht aus dem Sinn. Sie hängen unmittelbar zusammen: Wenn es darum geht, herauszufinden, wie häufig die kleinen Krakeeler des Nachts denn ihren Hunger kundgetan haben, fragen Mütter untereinander gern: „Und, wie oft ist sie/er heute Nacht gekommen?“ Was mit einem „Ich habe sie/ihn x-mal angelegt“ beantwortet wird.

Gekommen und anlegen.

Hm. Meine Erfahrung ist: Sobald meine Tochter Hunger hat, kommt sie nicht höflich klopfend an der Tür vorbei und sagt „Ich würde gern speisen.“ Sie nörgelt oder schreit – was auch gut so ist, weil ich sonst einfach weiterschlafen würde. Die Formulierung „gekommen“ hingegen deutet auf Passivität hin, was sicherlich damit zu tun hat, dass das Hungergefühl so übermächtig ist, dass das Kind regelrecht Hunger wird. Der eigene Wille ist einfach aus der Formulierung herausgestrichen. Biologisch mag das ja korrekt sein – mir ist das zu formalistisch. Und: Warum nicht einfach das schlicht „Hunger haben“ verwenden?

Noch schräger wird es bei dem Wort „Anlegen“. Gemeint ist ja wohl der Vorgang des Stillens. Ich hingegen habe bei diesem Wort das Bild eines Jägers im Kopf, der seine Waffe zückt und zielt – was angesichts der Schreikraft einiger Säuglinge manchem vielleicht als passender Vergleich erscheint. Auch andere Bedeutungen machen das Ganze nicht weniger skurril: Der Investmentbanker etwa dürfte sich mit dem Wort äußerst wohlfühlen – schließlich ist er es gewohnt, Geld anzulegen und braucht sich bei seinem Kind zumindest in Sachen Wortschatz nicht umzustellen. Und für jene, die den Nachwuchs als schmückend empfinden, ist es eben so einleuchtend, nicht mehr nur die Brosche, sondern auch die Kleinsten anzulegen. Am besten gefällt mir aber das Bild des anlegenden Segelboots: Die Wendung „Hafen der Ehe“ ist ja bekannt – und ein Baby kann man durchaus als weiteren Anlegeplatz interpretieren…




Schuld und Sühne im Tessin – Dea Lohers Romandebüt „Bugatti taucht auf“

Es ist ein eher unbekannter Bugatti, der zu Beginn auf den Seiten dieses erstaunlichen Romans auftaucht: Rembrandt Bugatti, jüngerer Bruder des legendären Erfinders und Konstrukteurs Ettore. Dieser Rembrandt lebt zurückgezogen und unglücklich als Bildhauer. Aus seinen Tagebüchern aus den Jahren 1914/15 erfährt der Leser einiges über die stilprägende italienische Dynastie, aber auch aus dem tragischen, unglücklichen Leben des Rembrandt Bugatti, eines Menschen, für den die „Routine des Wiederkehrenden“ nicht tröstlich ist, sondern „der Beweis, dass es kein Entkommen gibt.“

Szenenwechsel: Gegenwart. Februar 2008. Im schweizerischen Locarno wird die Stranociada, der Tessiner Karneval gefeiert. Ein junger Mann, Luca, gerät unbeabsichtigt in eine alkoholisierte Auseinandersetzung, wird kaltblütig zu Tode geprügelt und getreten. Aus nüchternen Protokoll-Aufzeichnungen ergibt sich die Chronik eines beiläufigen und völlig sinnlosen Todes, das unfassbare, weil „triste Bild von jungen Leuten zwischen Langeweile und Überforderung, die nicht wissen, was sie tun und deren Lebensgefühl man vermutlich so zusammenfassen könnte: Was soll der ganze Scheiß?“

Szenenwechsel: Wir lernen Jordi kennen, einen Freund der Familie des getöteten Jungen aus dem Nachbarort Ascona, der dort eine Unterwasserfirma besitzt und „sich ungeheuerlich schämte, ohne zu wissen, wofür. Einfach für das, was passiert war.“ Jordi ist ein durch und durch integrer, moralischer Mensch. Er will es nicht hinnehmen, dass diese Tat ungesühnt bleibt, er will der im Tessin schwelenden, zuweilen hysterischen Aufregung etwas entgegenhalten, den Tätern keine größere Bühne bieten als unbedingt nötig. Er will der Sinnlosigkeit, dem Unfassbaren „eine andere Handlung entgegensetzen, die den Ausschlag dieser Waage veränderte, etwas gutartig Schönes [….] etwas, was dem Schrecken [….] trotzen konnte [….] eine Geschichte, die von irgendwo her kam und von der man nicht sagen konnte, wo sie enden würde. Ein Riesending, ein Zartes.“

Jordi erinnert sich an einen alten Asconeser Mythos. Es geht die Legende, dass auf dem tiefsten Grund des Lago Maggiore ein alter Bugatti ruht. Bewiesen wurde diese Legende nie, mehr denn ein vage als Radnabe zu interpretierendes Etwas hat kein Taucher je gesichtet. Jordi versucht mit Hilfe von Freunden und Familie, das Unmögliche möglich zu machen und nach einigen Rück- und Schicksalsschlägen gelingt es ihnen in der Tat. Sie bergen den erstaunlich gut erhaltenen Bugatti, lassen Piazza und Promenade sperren und den Bugatti aus dem See öffentlichkeitswirksam auftauchen. „Sie machten es für Luca, der am 1. Februar ermordet wurde. Und dann organisierten sie ein großes Fest. An einem Sonntagmorgen. Und es kamen viele Leute, viel mehr Leute, als sie erwartet hatten.“

Die Geschichten, die die Dramatikerin Dea Loher in ihrem Romandebüt erzählt, fußen allesamt auf realen Ereignissen. Im Roman wird er Luca genannt, in der ebenso unfassbaren Realität war es der junge Student Damiano, der in einer Februarnacht beim Locarneser Karneval jenen grundlosen und brutalen Tod starb. Seine Familie und seine Freunde gründeten zur Trauerbewältigung die Fondazione Damiano Tamagni und kamen auf die Idee, dem Mythos des Bugatti-Wracks im Wortsinne auf den Grund zu gehen. Beide Ereignisse haben im Tessin hohe Wellen geschlagen. Als der Bugatti auftauchte, war es ein Riesen-Ereignis im kleinen Ascona und auch ein kollektives Aufatmen. Der Bugatti wurde für 230.000 Euro versteigert, dieses Kapital bildete den Grundstock für die bis heute bestehende Stiftung.

Auf nur etwas mehr als 200 Seiten hat die Autorin ein Werk von beeindruckender Komplexität geschaffen. Für jeden Erzählstrang der miteinander verwobenen Geschichten findet sie eine eigene, authentische Sprache. Die schreckliche Tat beschreibt sie dokumentarisch. Nicht die ihrer Schuld ausweichenden Täter macht sie zu Romanfiguren, sondern Jordi, seine Freunde und seine weisen Ratgeber. Nicht die Gewalttat ist das Thema des Romans, sondern der Versuch, dem Verlust von Lebensträumen eine Aktion gegen Sinn- und Hilflosigkeit entgegenzusetzen. So wie Asconas berühmter Berg, der Monte Verità, nie sein Versprechen auf Wahrheit einlöst, so kommen auch die Freunde des Ermordeten der Wahrheit oder dem Sinn hinter der schrecklichen Tat nicht näher.

Der Bugatti im See war lange nicht mehr als eine Legende der Moderne, die Fondazione ist eine Sühne, ein Versuch der Wiedergutmachung. Beidem setzt Lea Doher nun ein bewegendes literarisches Denkmal. Die vorgeschaltete Geschichte der Familie Bugatti sowie die später von einem Ratgeber Jordis enthüllten Geschehnisse rund um den Bugatti und dessen unvergessenen Fahrer René Dreyfus dienen der Gegenwartsgeschichte dabei als Reflektor. Der radikal kühlen Sprache in den Protokollen zur Tatnacht setzt die Autorin bei der Erzählung von Jordis Geschichte eine vorsichtige, rücksichtsvolle, poetische Sprache entgegen, die das filigrane Gewebe von Schuld und Sühne, Trauer, Verlust und Aufarbeitung schützt. Manche Sätze entfalten eine ungeheure Leuchtkraft, leuchtend wie das berühmte Tessiner Licht in seinen besten Momenten.

„Bugatti taucht auf“ wurde von der Kritik bisher einhellig gelobt und gefeiert. Ich möchte aus persönlichen Gründen noch einen Aspekt zufügen, der bisher wenig bis kaum Erwähnung fand: Auch für meine Familie spielt Ascona seit Jahrzehnten eine große Rolle. Erstaunlich viele Familien aus dem Ruhrgebiet treffen sich dort seit Generationen, pflegen Freundschaften untereinander und mit Alteingessenen. Genau wie Jordi stehe auch ich manchmal auf der Piazza und gerate ins Fantasieren, wie es in Ascona früher gewesen sein mochte, seit ich – wie Jordi – bei den Großeltern ein Foto von früher fand.
Ascona, schätzungsweise frühe 50er Jahre, gefunden im Album meiner Großeltern
Wie Jordi sind viele, die Ascona kennen, dem Ort in einer Art ambivalenter Hassliebe verbunden. Ascona war ungeachtet seiner pittoresken Fassade noch nie eine leichte Adresse. Es war sicher nicht Dea Lohers Hauptanliegen, Ascona und seine Bewohner zu charakterisieren, aber dennoch ist ihr dies ausgezeichnet und bei aller spürbaren und berechtigten Kritik doch liebevoll und wahrhaftig gelungen. Es ist auch der Ort und das über ihm schwebende Flair eines bedauernden „Tempi passati“, die eine Geschichte wie die des Bugatti erst möglich machten. Die unterschwelligen Schwingungen und Befindlichkeiten des Ortes, der seit Jahren zwischen Magie und Spießbürgertum verharrt, erfasst sie ebenso genau wie das Entsetzen über die unfassbare Tat, welches das gesamte Locarnese lange gefangen hielt. Sätze wie die über den sich esoterisch spreizenden, schlussendlich aber traurigen Monte Verità formulieren eine Wahrheit, wie ich sie besser formuliert noch nicht gelesen habe. Sätze, die ich am liebsten auswendig lernen würde, um sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit anzubringen.

Fazit: Gut möglich, dass ich mein Buch des Jahres bereits gefunden habe, „Bugatti taucht auf“ ist eins der beeindruckendsten Romandebüts, die ich bisher gelesen habe. Prädikat: Sehr empfehlenswert.

Die Autorin ist eine der bekanntesten Theater-Dramatikerinnen unserer Zeit. Sie studierte u,.a. bei Heiner Müller und erhielt für ihre Werke zahlreiche Auszeichnungen. Ihre Werke beschäftigen sich oft mit den Themen Schuld, Trauer und Vergebung.

Dea Loher: „Bugatti taucht auf“. Wallstein Verlag, Göttingen. 208 Seiten, € 19,90

Links zu den Hintergründen der realen Geschehnisse:
Die Bergung des Bugatti und
Die Geschichte der Fondazione Damiano Tamagni




Titanic: Der Mythos lebt weiter

Das neue "Titanic"-Building in Belfast/Nordirland. Foto: Häußner

An einen Schiffsbug erinnern die vier Spitzen des Ende März eröffneten "Titanic" Buildings in Belfast/Nordirland. Foto: Häußner

Um 2.12 Uhr nachts kündigt sich das Ende an: Ein Ruck, ein Zittern, dann beginnt sich das Schiff zu drehen, hebt sein Heck aus dem eiskalten Wasser. Sechs Minuten lang steigt das Ruder aus dem Meer, ragen die riesigen Schrauben in die klare Luft.

Um 2.18 Uhr donnert es im Rumpf des Giganten. Die gewaltigen Maschinen, die 50 000 PS auf die drei Schiffsschrauben brachten, rauschen durch den Schiffskörper, losgerissen aus ihren Verankerungen. Es ist das Todesbrüllen des Meeresriesen: Die Lichter erlöschen; zwei Minuten später gleitet die „Titanic“, in zwei Teile zerbrochen, fast geräuschlos in die Tiefe. 1 500 Menschen reißt sie in den Tod. Nur gut 700 werden gerettet. Das Ende des als unsinkbar gepriesenen Dampfers auf seiner Jungfernfahrt wird zum Mythos.

Mit der Zahl der Opfer ist der Mythos „Titanic“ nicht zu erklären: Die Geschichte der Seefahrt kennt weit höhere Verluste. So sterben alleine 1945 auf den drei Schiffen „Wilhelm Gustloff“, „Goya“ und „Cap Arcona“ jeweils zwischen 5 000 und 9 000 Menschen, als die Flüchtlingstransporte von alliierten Kräften versenkt werden. Doch die Tragödie der „Titanic“ ist mehr als eine Schiffskatastrophe: Sie steht für den gebrochenen Stolz einer technikgläubigen Zeit, für das Ende der „Belle Epoque“ mit ihrem Kontrast von Luxusglanz und Elend. Sie wird als Menetekel der nahenden Katastrophe gesehen, die wenige Jahre später das alte Europa ins Verderben reißen sollte. Und sie wirkt – wie der Turmbau zu Babel – als ein Symbol überheblicher Selbstüberschätzung des Menschen. Für sich gesehen unbedeutende Versäumnisse führen in ihrer Summe zu einem Unglück, das die Menschen an Bord des Schiffes nicht einmal wahr haben wollen, als es schon zu spät ist: Während in den unteren Kabinen der Dritten Klasse schon das Wasser steht, plaudert man in den Salons noch unbeschwert bei Brandy und Zigarren.

Die trügerische Zuversicht, die viele Passagiere blind auf die Allmacht der Technik vertrauen ließ, soll ein Steward in einem Satz zusammengefasst haben, den der Überlebende Albert Caldwell überliefert hat: „Nicht einmal Gott könnte dieses Schiff versenken“. Der Würzburger Fundamentaltheologe Elmar Klinger bezeichnet die Symbolik des „Titanic“-Untergangs als religiös: „Man hielt die ‚Titanic‘ für eine Großtat des Menschen, einen Triumph über die Natur. Und dann führt eine Verkettung banaler Umstände zum Untergang. Genau hier finden wir eine religiöse Faszination. Jeder kennt solche Situationen.“ Klinger weiter: „Ich sehe in der Katastrophe ein ‚Zeichen der Zeit‘. Es ist der Gegensatz von menschlicher Höchstleistung und menschlichem Versagen. Man entdeckt die Hinfälligkeit all dessen, was von Menschen gemacht ist. Das ist charakteristisch für das menschliche Leben überhaupt.“

In einem vor wenigen Wochen erschienenen Buch geht auch die Kultur- und Musikwissenschaftlerin Linda Maria Koldau auf die „Legenden“ um die „Titanic“ ein. Ihr geht es nicht nur darum, die Überlieferung von falschen Tatsachenbehauptungen zu reinigen, die sich nicht zuletzt durch die finanziellen Interessen der Reederei in die offiziellen Protokolle und Berichte eingeschlichen haben. Denn der White Star Line, aber auch der für den Funkverkehr verantwortlichen Marconi-Gesellschaft ging es laut Koldau darum, „Fakten zu verzerren und zu verschleiern und Unschuldige zu Schuldigen zu stempeln“.

Hätten die Konzerne haften müssen, wären immense Kosten auf sie zugekommen. Dies galt es, unter allen Umständen zu verhindern. Koldau kommt zu dem Schluss, dass Raffgier eine entscheidende Ursache für das Unglück war: Die Funker an Bord haben nicht nur Eiswarnungen nicht weitergegeben, sondern auch zu lange gezögert, das damals noch relativ neue Notsignal SOS zu morsen. Geholfen hätte es freilich nichts: Der „Titanic“ am nächsten stand die „Carpathia“, die sofort mit voller Kraft dem havarierten Schiff zu Hilfe eilte. Sie benötigte dennoch vier Stunden – viel zu lang, um die Menschen des rasch sinkenden Stolzes der „White Star Line“ noch zu retten. Dass der Funker des einzigen Schiffs in der Nähe, der „Californian“, gerade einmal zehn Minuten vor der Kollision der „Titanic“ mit dem Eisberg zu Bett ging, gehört zu den absurden und schicksalhaft scheinenden Momenten der Tragödie.

Koldau, derzeit noch in Aarhus in Dänemark lehrend, nimmt sich auch die Mythenbildung vor. Sie entdeckt in der „Titanic“-Katastrophe ein „perfektes Drehbuch“, gebildet nach dem Muster der griechischen Tragödie: Der Mythos vereine zentrale Motive des Erzählens in Reinkultur. Auch sie bescheinigt dem Mythos, nach und nach religiöse Züge angenommen zu haben.

Ein Mythos, der im Sinne des Philosophen Paul Ricœur neue Bereiche von Welterfahrung erschließt. In der „Mythisierung“ der „Titanic“-Geschichte geschieht eine Sinn-Schöpfung. Vielleicht ist das auch ein Weg für die Nachwelt, das zutiefst Sinnlose einer solchen Tragödie zu bewältigen. Bei einer Analyse im Sinne der „Metaphern des Bösen“ von Ricœur dürfte sich zudem bestätigen, dass der „Titanic“-Mythos auch dazu taugt, die zerstörerische Macht des Bösen zu erweisen: Er konstituiert einen Zusammenhang des Verderbens, der über Schuld oder Verantwortung des Einzelnen hinausgeht.

Die Geschichte vom Untergang der „Titanic“ ist jedoch auch eine Erzählung ergreifender Einzelschicksale: Von unglaublichen Zufällen, die zur Rettung führen. Von Feigheit und Verzweiflung. Von Edelmut und Größe. Von der Souveränität, mit der Menschen ihr Schicksal zu tragen wissen. Von Gentlemen, die im Angesicht des sicheren Todes Frauen und Kinder in die Boote geleiten und selbst zurückbleiben. Von dem alten Ehepaar Isidor und Ida Strauss, das so lange zusammen gelebt hat und nun auch zusammen sterben will. Von Priestern wie Pater Joseph Peruschitz aus Scheyern oder Thomas Byles, Pfarrer aus Ongar in Essex, die bis zum Schluss die Menschen beruhigen, tröstende Worte sprechen. Statt den angebotenen Platz im Rettungsboot einzunehmen, beten sie mit den Menschen noch, als sich das Heck schon aufrichtet, um Minuten später in die Tiefe zu fahren.

Oder von den Musikern um Kapellmeister Wallace Hartley, von denen keiner überlebt. Ob es der Gassenhauer „Autumn“ war oder der Choral „Näher mein Gott zu Dir“: Tapfer spielen sie, bis sie von Deck stürzen. Beiden, den Priestern und den Musikern, hat James Cameron in seinem soeben wieder in die Kinos gekommenen „Titanic“-Film wenigstens in kurzen Sequenzen ein Denkmal gesetzt.

100 Jahre später ist die Erinnerung an die „Titanic“ und ihre Opfer ungebrochen. Die letzte Überlebende, Millvina Dean, starb zwar 2009 – doch die Geschichte des Untergangs wird weitererzählt: Der Mythos sei unsinkbar, sagt Autorin Koldau. In Belfast in Irland, wo der Ozeanriese auf der Werft Harland & Wolff gebaut wurde, in Southampton, wo die Jungfernfahrt begann, im irischen Cobh (Queenstown), wo die „Titanic“ zu ihrer letzten Station anlegte, erinnern in diesen Tagen Ausstellungen, Veranstaltungen und Gottesdienste an das Unglücksschiff und seine Menschen.

In Belfast entwickelt sich ein ganzer neuer Stadtteil im Zeichen der „Titanic“. Ende März wurde ein 97 Millionen Pfund teures neues „Titanic Building“ eingeweiht. Vier Spitzen, die an einen Schiffsburg erinnern, sollen an die vier Epochen des Schiffsbaus in Belfast erinnern; der Glaskern des Baus an den Verderben bringenden Eisberg. Jeder Bug ist genauso hoch, wie die „Titanic“ von Kiel zu Deck war. Es steht in der Nachbarschaft zu den Resten des Docks, in dem die Schwesterschiffe „Titanic“ und „Olympic“ gebaut wurden. In einer aufwändigen multimedialen Inszenierung will es die Zeit vor 100 Jahren erlebbar machen, als die irische Stadt das Zentrum des Schiffbaus weltweit gewesen ist.

Das erwähnte Buch: Linda Maria Koldau „Das Schiff, der Untergang, die Legenden“. C. H. Beck Verlag, 303 Seiten, 19,95 Euro.




Gespräche als Teil des literarischen Werks

 

 

 

 

 

 

Seit Eckermanns Gesprächen mit Goethe wissen wir, dass es Schriftstellergesprächsbücher geben kann, die man fast schon zu den Werken der betreffenden Schriftsteller zählen darf. Manchmal gelingt eine solche Werkausweitung auch heute. In den letzten Jahren bis hin in die allerletzte Zeit sind mir mindestens vier Gesprächsbücher untergekommen, bei denen dies der Fall ist.

Sie alle bieten Ergänzung wie Einstiegshilfe in das namhafte, manchmal etwas sperrige Werk der jeweiligen Schriftsteller… . Sie erleichtern gleichermaßen Zugänge für (unbedingt!) wünschenswerte Neuleser und vervollständigen, bestätigen oder korrigieren das vielleicht schon vorhandene Bild, das wir uns bereits konkret von Ilse Aichinger, W. G. Sebald, Julien Gracq und Ernesto Sábato durch eigene Lektüre gemacht haben.

In all diesen Büchern wird ein facettenreich reichhaltiges, ganz eigenes, in wirklich jedem Falle hochinteressantes Spektrum vermittelt.

Und wenn man zuguterletzt das große Buch der elf Gespräche Carlos Catanias mit Ernesto Sábato gelesen hat, kann man noch eines draufsetzen und auch noch den neuesten Essayband von Claudio Magris hinzunehmen, der recht viele sehr anregende und kundige Essays enthält und unter ihnen eben auch jenen, der in unseren Zusammenhang besonders gut passt, seinen Essay über Sábato: „Ernesto Sábato und das zweierlei Schreiben“. Wie Magris darin eine grundlegende Unterscheidung trifft zwischen der Essayistik Sábatos, seinem aufklärerisch eingreifenden, humanitätsorientiertem Schreiben, und seinem visionären Romanwerk, leuchtet mir ein, ich kann es durch eigene Sábato-Lektüre bestätigen. Nur eine einzige wesentliche Ergänzung hätte ich zu machen: In einem bestimmten, mich menschlich besonders bewegendem Kapitel im Schlussteil seines überragenden Romans mit dem unmöglichem Titel „Über Helden und Gräber“ gelingt es Sábato, mit einem Male wie nebenbei seine Tages- und Nachtdimensionen miteinander zu verbinden.

W. G. Sebald: „Auf ungeheuer dünnem Eis“. Gespräche 1971 bis 2001. Hrsg. Torsten Hoffmann. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2011. 9,99 €

Ilse Aichinger: „Es muss gar nichts bleiben“. Interviews 1952 – 2005. Mit beigelegter CD. Hrsg. Simone Fässler. Edition Korrespondenzen, Reto Ziegler, Wien 2011. 23,00 €

Julien Gracq: Gespräche. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Literaturverlag Droschl. Graz/Wien 2007. 23,00 €

Ernesto Sábato: Zwischen Schreiben und Leben. Gespräche mit Carlos Catania. Aus dem Spanischen übersetzt von Erica Engeler. Verlag im Waldgut, Frauenfeld 1998. 25,50 €

Claudio Magris: „Das Alphabet der Welt. Von Büchern und Menschen“. Aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend, Edition Akzente Hanser. München 2011. 21,90 €




Der Weg zu den Oscars – eine ganz subjektive Betrachtung

Januar und Februar, aus mehrerlei Gründen nicht meine beliebtesten Monate, bescheren mir alljährlich zwei Höhepunkte: die „Golden Globes“ und die „Oscars“. Ich versuche ja immer, mich so gut wie möglich vorzubereiten und die wichtigsten Filme alle vorher zu sehen. Manchmal klappt das mit der Hilfe meines Freundes, der in Hollywood lebt und „in da bizzness“ ist. Meine Einladung hab ich auch schon, aber ich bin noch nicht ganz sicher, ob ich hinfliege.

Beim Filmschauen konzentriere ich mich nur auf sechs Kategorien, in denen einige Filme günstiger Weise mehrfach auftauchen.
Von den neun „Best Picture“-Nominierungen habe ich sieben gesehen. Gute Basis. Einen von den neun, „War Horse“, will ich nicht sehen. Absolut nicht mein Thema. Möglicherweise ist der fantastisch und künstlerisch und überhaupt, aber… nein.
Bis vor Kurzem hatte „Midnight in Paris“ auf meiner persönlichen Richterskala noch einen eindeutigen Vorsprung vor „The Help“, aber seit ich „The Artist“ gesehen habe, sind „Midnight…“ und „Help…“ eine Leitersprosse tiefer gerutscht.
Über „The Artist“ habe ich schon ausgiebig enthusiasmiert, und meine Rangfolge steht unumstößlich fest. Und wenn der alle 10 Oscars bekommt, für die er nominiert ist, dann ist es mir auch sehr recht.
„Hugo“ war so eine Mischung aus Fantasy und Puppentheater. Ich weiß nicht genau, was diesen Film so außergewöhnlich machen soll. Vielleicht, dass er starke autobiografische Züge des Regisseurs, Martin Scorsese, trägt? Das ist mir bisher immer ziemlich egal gewesen, ob etwas wirklich passiert oder nur erfunden war. Wenn eine Geschichte gut erzählt und gut umgesetzt wurde, kann sie meinetwegen auch von einem kleinen grünen Männchen mit Migrationshintergrund stammen.

„The Descendants“ ist auch so eine Geschichte mit viel Gummigehalt. Ausgeleiert. Interessant war die Konstellation um das Thema „Stecker ziehen“, das war auch der stärkste Moment des Films. Ist eine Szene Grund genug, um einen Film in die Reihe der besten neun zu hieven? Und vorhersehbar war er auch. Manchmal ist „vorhersehbar“ schön, weil es mit Vorfreude verbunden ist, aber manchmal bedeutet es nur „Langweile“.
„Moneyball“ : hier fehlte mir das Durchhaltevermögen und der Durchblick. Baseball ist nicht mein Gemüse. Ich bin froh, dass ich weiß, wie Football funktioniert. Soweit ich dem Handlungsstrang folgen konnte, ging es darum, mi geringen Mitteln eine Baseball Mannschaft zusammenzustellen. Und das hauptsächlich auf der Basis von elektronisch dargestellten Statistiken. Dieser Schalter in meinem Hirn wurde nie umgelegt, und Zahlenwerke sind so ziemlich das einzige Gebiet, dem ich mich starrsinnig verweigere. Aus diesem Grund war der Film für mich schlicht langweilig.
„Tree of Life“ mochte ich. Darüber hab ich hier berichtet. Auch wenn ich meine, dass er in den Kreis der besten neun (warum eigentlich nicht 10?) des Jahres 2011 gehört, dann doch erst auf Platz vier. Einem guten Platz vier.
„War Horse“ siehe oben.

Irgendwann werden die Filme auch lexikalisch. (Foto: Bernd Berke)

Irgendwann werden die Filme auch lexikalisch. (Foto: Bernd Berke)

In der Kategorie „Best Actor“ kenne ich nur Demian Bichir und seinen Film „A better Life“ noch nicht.
Brad Pitt (Moneyball) war in „The Tree of Life“ besser, allerdings legt er so langsam das „hübscher Bubi“-Image ab, und den reiferen Pitt weiß ich eher zu schätzen. Das geht mir mit Leo di Caprio ebenso.
Gary Oldman (Tinker Tailor Soldier Spy) hervorragend, ebenso wie John Hurt. Den hätte ich auch gern auf der Liste gesehen. Der Film allerdings hat mich nicht mitgerissen.
George Clooney (The Descendants), wer weiß, vielleicht wird aus ihm noch mal ein richtiger Charakterdarsteller. Auch einer, der mit zunehmendem Alter besser wird. Goes to show you: a pretty face isn’t everything.
Jean Dujardin (The Artist). Muss ich dazu überhaupt noch etwas sagen? Er ist zwar fast einen Tacken zu schön, aber idealissimo für diese Rolle. And the Oscar goes to….

Jetzt zu „Best Actress“.
Hier sieht es bisher noch mau aus. Nur drei von fünf Filmen hab ich gesehen. Da werde ich aber noch meinen Senf zu nachreichen – und vielleicht meine Meinung noch ändern.
Viola Davis (The Help) ist eindeutig besser als Rooney Mara (The Girl with the Dragon Tattoo), die zwar auch nicht schlecht ist, aber in meinem Hirn geistert noch die hervorragende Noomi Rapace aus der vierteiligen schwedischen Version herum, und zwar so sehr, dass Rooney Mara es schwer haben wird bei mir.
Glenn Close (Albert Nobbs), darf man die schon „große alte Dame“ nennen (obwohl sie erst 65 ist, und die großen alten Damen des Films immer etwas betagter sind)? Sie hat schon fünf Oscar-Nominierungen auf ihrem Zettel, und ich wünsche ihr, dass sie endlich mal gewinnt, bevor man wieder zum Todes-Oscar „Life Time Award“ greifen muss. Hier spielt die Dame einen Mann. Sowas ist nicht neu. Es ist allerdings nicht eine dieser fröhlichen Verwechslungsgeschichten, sondern die traurige Geschichte einer Frau, die ihr Leben als Mann lebt, weil die damalige Gesellschaft verbot, sich ihren Traum von einem kleinen Tabakladen zu erfüllen. Ihr Gesicht gibt den unscheinbaren Butler durchaus her. Der Film ist etwas blass, spielt in einem alteingesessenen Hotel in Dublin, in englisch-matten Tönen. Farbe und Sprache. Nominiert ist er für nichts.
Close hat allerdings schon drei Tonys, drei Emmys, zwei Golden Globes und einen SAG Award, also ist sie ja nicht gänzlich leer ausgegangen in ihrer Karriere.

Best Supporting Actor.
Christopher Plummer (Beginners) bekommt von mir ein dreifaches JA mit Sternchen.
Jonah Hill (Moneyball) rollt eher bergab.
Die anderen drei Filme: „Warrior“, Extremely Loud & Incredibly close“ und „My Week with Marilyn“ habe ich noch nicht gesehen. Vielleicht ändert sich noch was in meiner Bewertung, aber möglicherweise auch nicht.

Best Supporting Actress.
Bérénice Bejo (The Artist), ja, sehr gerne.
Janet McTeer (Albert Nobbs), nun ja, auch eine Frau, die einen Mann spielt. Hauptsächlich eine Leistung der Maske. Nicht schlecht gespielt, aber Oscar hätt ich jetzt nicht spontan gerufen.
Jessica Chastain (The Help), ja, gerne. Hier bin ich noch unentschlossen, ob ich für Chastain nicht doch etwas gerner votiere. Schwierig. Bejo war großartig. Aber Chastain auch. Auf jeden Fall werde ich zufrieden sein mit der einen oder der anderen. Vermutlich stehen die Sterne für Bejo besser.
Melissa McCarthy (Bridesmaids). Oscar? Warum? Nominierung? Doppelwarum.
Octavia Spencer (The Help). Die Nominierung geht für mich in Ordnung, aber gegen Bejo und Chastain sind die Chancen gering. Allerdings ist Chastain bei den Globes auch leer ausgegangen.

Best Director
Hier fällt mir die Wahl leicht. Ich kenne alle fünf nominierten Filme:
Woody Allen „Midnight in Paris“
Terence Malick „The Tree of Life“
Michel Hazanavicius „The Artist“
Alexander Payne „The Descendants“
Martin Scorsese „Hugo“.
Nun ratet mal!
Ich melde mich wieder, wenn ich die anderen Filme auch gesehen habe. Oder am 26. Februar bei den „Oscars“. See ya.




„Heimat ist auch keine Lösung“ – das Schauspielhaus Bochum hat Recht

Karte Schauspielhaus BO Heimat

Theater-Rezension in exakt 150 Wörtern, Teil II:

Schauspielhaus Bochum „Heimat ist auch keine Lösung“, musikalischer Abend, Premiere 21.1.2012

Nebel wabert. Zieht ins Publikum. Fließt um die Schultern und in die Lungen.

Auf der Bühne: ein Vollmond. Ein Mann, der vom Leierkastenmann singt.

Ein Hafen ist das also. Ein Ort des Aufbruchs. Des Verlassens. Der Hoffnung. Der Wehmut. Des Fernwehs. Ein Ort, an dem die alten Lieder von daheim plötzlich wichtig werden.

„Heimat ist auch keine Lösung“, so hat Thomas Anzenhofer den musikalischen Abend genannt. Recht hat er. Die erste Szene zeigt schon, wohin der Abend führt.

In aller Herren Länder. In alle Gefühle. In schwermütigen kubanischen Jazz, in afrikanische Trommelfreude, in dröhnenden New Wave. Zu Nietzsche, Udo Jürgens, Ton Steine Scherben. Zu Idylle, Fremdsein und Schnaps.

Italienische Mandolinen-Sehnsucht trifft auf jiddische Fiddel-Wut, türkisches Wehklagen auf Hans Albers. Und in „Sweet Home Alabama“ wird gejodelt.

karte schauspiel bo heimat rückseite

SOUND Wispernd. Dröhnend. Verständlich. Je nachdem.

BÜHNENBILD Roh. Video-Leinwand, Bühne, Theke.

VIDEO Live. Abwechslungsreich.

KOSTÜME Tramp-inspiriert. Neuzeit-Stereotypen.

SCHAUSPIELER Alle drei grandios.

HUMOR Aber holla!




Dortmunder Weihnachtsmärchen: Schrille Hexe, schönes Mädchen

Eine schrille Hexe auf knatterndem Moped, ein schönes Mädchen mit magischer Stimme und ein Held, der vom faulen Nichtsnutz zum glänzenden Retter wird – das sind die Zutaten, aus denen Regisseur und Autor Andreas Gruhn das Weihnachtsmärchen „Die schöne Wassilissa“ gebraut hat, mit dem das Dortmunder Kinder- und Jugendtheater seine jungen Zuschauer in diesem Winter im Schauspiel bezaubern will.

Am Anfang ist der Tod. Zu schwermütigem Gesang verabschiedet sich die kranke Mutter von ihrer geliebten Tochter Wassilissa (Désirée von Delft) und gibt ihr ein Püppchen, das sie fortan beschützen soll. Ein Geschenk, das das Mädchen bitter nötig hat: Denn die böse Stiefmutter (Johanna Weißert) und ihre verzogene Tochter (Jessica Maria Garbe) machen Wassilissa die Heimat zur Hölle.

Aschenputtel lässt grüßen – und auch andere berühmte Geschichten wie die von Hänsel und Gretel schwingen im Laufe des Abends mit. Schließlich gilt Alexander N. Afanassjew, dessen Märchen Andreas Gruhn als Inspiration dienten, als „russischer Grimm“, auch wenn er erst 40 Jahre nach den berühmten Gebrüdern geboren wurde.

Doch der Regisseur sorgt auch dafür, dass seine jungen Zuschauer in die spezifisch russische Fantasiewelt eintauchen: Neben der armen Wassilissa muss sich nämlich auch Ilja (Gabriel Rodriguez) bewähren, der sein ganzes Leben im Bett verbracht hat und sich für schwach und nutzlos hält – bis ein alter Mann (Sebastian Ennen) ihn aus den Federn wirft, weil er der Auserkorene ist, um die Welt von dem bösen Räuber Nachtigall (Andreas Ksienzyk) zu befreien. Logisch, dass sich Ilja auf seinem Weg Hals über Kopf in die schöne Wassilissa und ihren Gesang verliebt, die aber aus den Klauen der bösen Hexe Baba Jaga befreit werden muss…

Die Inszenierung braucht ein wenig Anlauf, um sich aus der erdigen Schwermütigkeit zu lösen, die zu Beginn dominiert. Dass dem Stück teils anzumerken ist, dass es aus verschiedenen Bausteinen besteht, mindert ein wenig den Fluss der Geschichte. Das aber gleichen andere Faktoren aus: Sowohl Musiker Michael Kessler mit seinen folkloristischen Liedern als auch die von Oliver Kostecka bis ins Detail stimmig ausgestatteten Figuren – mit Rüschenröcken, Flechtfrisuren, Pumphosen – und die herrliche Bühne mit Birkenwald sorgen für eine exotisch-spannende Atmosphäre. Die wird von dem beseelt spielenden Ensemble aufrecht erhalten: „Die Kämpfe waren toll“, sind sich Aaron (5) und Lennard (6) hinterher einig. Und Leonie (5) ist froh, dass die Bösen „alle eingefangen worden sind.“

Umwerfend ist allerdings allen voran Rainer Kleinespel: In seinem Kostüm zwischen Biker, Nina Hagen und Campino wirft er sich schrill quiekend mit solcher Lust in den Irrsinn der Baba Jaga, dass die Figur am Ende nicht nur bei Julia (7) bestens angekommen ist: „Die war so toll“ ist ein Kompliment, das Hexen sicher nicht allzu oft hören.




Als Joseph Beuys nach Japan kam

29. Mai 1984: Joseph Beuys lächelt gequält und sieht ein bisschen verloren aus. Ein Suchender und Staunender, einer, der noch nicht recht weiß, was ihn dort, wo er gerade mit dem Flugzeug gelandet ist, erwartet. Von Kameras begleitet und beäugt, bahnt sich der erstmals von Düsseldorf nach Tokio gereiste Künstler seinen Weg durch die mit Koffern und Menschen verstopfte Ankunftshalle.

Beuys trägt, was ihm zur zweiten Haut geworden ist: den grauen Filzhut, die multifunktionale Weste, weißes Hemd, dunkle Hose, grobe Schuhe mit dicken Gummisohlen. Der Kunstprofessor, der schon mit Studenten Räume der Düsseldorfer Kunstakademie besetzt hielt und mit seinem Konzept ökologisch-ganzheitlicher Kunst für Aufsehen sorgte, ist freundlich, freut sich über die roten Rosen, die ihm seine Gastgeber überreichen. Ein harmloser, fast heimeliger Auftakt eines achttägigen Aufenthalts, der es in sich hat und in der kulturpolitischen Landschaft Spuren hinterlassen wird.

Beuys wird im Seibu Museum of Art in Tokio eine Ausstellung mit seinen Werken einrichten und eröffnen, er wird Pressekonferenzen geben und vor erregten und verstörten Studenten sein Konzept einer antikapitalistischen Kunst-Utopie vorstellen. Beuys wird eine Manufaktur besuchen und zusammen mit Videokünstler Nam June Paik eine legendäre Performance veranstalten.

Joseph Beuys: Coyote III, 1984, Videostill. Copyright: VG Bild-Kunst Bonn 2011

Joseph Beuys: Coyote III, 1984, Videostill. Copyright: VG Bild-Kunst Bonn 2011

Das dreißigstündige Filmmaterial, das Zeugnis von einer seltsamen Begegnung zwischen Ost und West ablegt und in Wort und Bild die meisten Schritte und Aktionen festhält, die Beuys vom 29. Mai bis zum 5. Juni 1984 in Japan unternahm, galt lange Zeit als verschollen. Vor einem Jahr tauchten die Film-Dokumente wieder auf und wurden in Japan gezeigt. Jetzt sind sie, in einer überwältigenden Ausstellung, erstmals in Deutschland zu sehen: „Joseph Beuys: 8 Tage in Japan und die Utopie EURASIA“ ist der Titel der Berliner Schau, die im Hamburger Bahnhof, dem „Museum für Gegenwart“, präsentiert wird.

Im Westflügel des Museums, dort, wo ohnehin eine große Beuys-Sammlung beheimatet ist, die einige aus Kunstklassiker mit Schiefertafeln, Filzmatten und Fettecken beherbergt, ist eine ganze Etage für die überraschende Wiederentdeckung und großzügige Präsentation der japanischen Film-Sequenzen frei geräumt worden. Im Zentrum: eine dunkle Video-Höhle. Auf einer riesigen Leinwand wird ein 3-stündiger Mitschnitt der „Coyote III“- Performance nebst anschließender Diskussion gezeigt. Während Nam June Paik auf einem Klavier klimpert, hechelt Beuys Hundelaute ins Mikrofon.

Joseph Beuys in Japan, 1984, Videostill (Copyright I&S BBDO)

Joseph Beuys in Japan, 1984, Videostill (Copyright I&S BBDO)

Um die Video-Höhle herum ist ein Kunst-Parcours mit zehn TV-Bildschirmen installiert. Dokumentiert werden, in unkommentierten und umfangreichen Filmsequenzen, sowohl Ankunft wie Abreise, Debatten und Diskussionen, Interviews und Museumsbesuche. Und immer wieder muss ein leicht genervter Beuys seinen fernöstlichen Gastgebern sein Kunstkonzept erklären. Man will verstehen, warum Beuys bereits 1963 die Partei EURASIA gegründet hat und vom Zusammenschluss östlicher und westlicher Kulturen träumt. Man will wissen, was es mit seinem ätzenden Anti-Kapitalismus auf sich hat und warum er Sätze sagt wie: „Ein Eisenwalzwerk muss zugleich eine Universität sein.“

Das Konzept des universellen Künstlers ist den Zuhörern noch fremd: „Jeder Mensch ist ein Künstler. Jeder Mensch ist ein Superstar. Jeder Mensch ist ein elitäres Wesen.“ Wenn Beuys seine kunstpolitischen Visionen in Japan ausbreitet, schaut er in viele fragende Gesichter, gebetsmühlenartig muss er dann seine Theorien darlegen. Japan mag für Beuys ein lang ersehntes Reiseziel und ein utopischer Kunsttraum gewesen sein. Dass ihn zwar japanische Kultur und Mentalität erregten und interessierten, ihm aber letztlich durchaus fremd blieben, auch davon erzählt diese Ausstellung, für deren Besuch man vor allem eines braucht: sehr viel Zeit.

Joseph Beuys: 8 Tage in Japan und die Utopie EURASIA,
Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Museum für Gegenwart Berlin, Invalidenstraße 50-51, 10557 Berlin, bis 1. Jan. 2012,
geöffnet Di-Fr 10-18 Uhr, Sa 11-20 Uhr, So 11-18 Uhr, Mo geschlossen,
Eintritt 12 Euro, ermäßigt 6 Euro.

Weitere Infos unter http://www.hamburgerbahnhof.de




Verehrter Apfel

Steve Jobs ist tot – und natürlich ist das traurig, wie es bei beinahe jedem Menschen traurig ist, wenn er stirbt, zumal so jung. Und sicherlich war Steve Jobs ein Visionär, einer, der nur wenige Grenzen im Denken akzeptiert hat, der neue Wege gegangen ist und den Umgang mit Handys, Computern, Musik verändert hat. Der beinahe religiöse Hype aber, der jetzt um seine Person gemacht wird, ist mir fremd. Manchen gilt dieser Mann, der doch auch nur Mensch war, schon beinahe als Erlöser, dem seine Jünger folgen, ohne auch nur die geringste Kritik zuzulassen.

Warum?Ein Apfel ist ein Apfel ist ein...

Weil er dafür gesorgt hat, dass wir auf einem Handy mit Wischbewegungen Fotos, Musik, E-Mails verwalten und allerlei andere Spielereien nutzen können?

Weil er mit dem Ipad ein Gerät auf den Markt gebracht hat, dass möglicherweise den Zeitungsmarkt revolutionieren wird, weil es den Medienkonsum interaktiver und mehrdimensionaler machen kann?

Weil er Musik auch auf dem digitalen Markt zu einem wirtschaftlich erfolgreichen Produkt gemacht hat?

Weil er Ästhetik in den sonst so tristgrauen Bereich von technischen Gerätschaften gebracht hat?

Sicherlich sind all das bemerkenswerte und bequeme Errungenschaften, die ich bewundere für ihre innovative Kraft.

Aber ich unterstelle: Steve Jobs war auch ein gewiefter Geschäftsmann, einer der verkaufen, der Geld machen wollte. Was völlig legitim ist – die Verehrung seiner Person aber erst recht suspekt macht. Was sagt es eigentlich aus über unsere Gesellschaft, dass wir einen auf einen Sockel stellen, der es mit einer unglaublich geschickten Geschäftsstrategie geschafft hat, uns vorzugaukeln, dass ein Massenprodukt individuell ist? Dass wir durch seinen Besitz anders sind? Unser Leben gar einfacher, hipper, begehrenswerter wird – durch ein Kaufprodukt?

Arno Frank schreibt in seinem kritischen Nachruf in der „taz“ gar von einem breitbeinigen Idealismus, der „inzwischen längst das Markenzeichen eines synkretistischen Mischkonzerns mit esoterischem Einschlag und käuflichen Ikonen“ geworden sei.

Mehr zum Weiterlesen gibt es hier.




Andere Länder – andere Zeitungen

Wenn wir verreisen und dabei die Bundesrepublik verlassen, dann kaufe ich mir regelmäßig auch die dortige Regionalzeitung. Als ehemaliger Rundschau-Redakteur interessieren mich immer noch die Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Zeitungsmachen.

Der Hafen von St. Tropez (Foto: Pöpsel)

Neulich wieder in Südfrankreich, da war es der „Var matin“, ein Schwesterblatt des „Nice matin“. Dort in Nizza sitzt auch die Zentralredaktion.
Var heißen ein Fluss und das Departement, in dem zum Beispiel Cannes, Grasse, Frejus und St. Tropez liegen. Ein ziemlich großes Gebiet, und entsprechend knapp fällt die lokale Berichterstattung aus den einzelnen Orten aus – anders als im Ruhrgebiet, denn das sieht man in französischen Zeitungen sofort: Wenn überhaupt etwas aus einzelnen Orten berichtet wird, dann sind es knappe Berichte von Vereinsveranstaltungen mit einem gestellten Gruppenfoto und Reporte aus dem Gemeinderat.
Die Bilder werden überwiegend nicht in Farbe gedruckt, bis auf den Mantelteil, obwohl man im Falle „Var matin“ eigentlich nicht von „Mantel“ reden kann. Die Titelseite enthält eine Mischung aus Lokalem und überregionaler Politik, dann kommen sechs bis acht Seiten Lokales, nach Städten sortiert, es folgen eine Seite Frankreich, eine Seite Wirtschaft, eine Seite Ausland und zehn Seiten Sport, aber was für Sport: Zunächst natürlich, wie überall im Süden Frankreichs, geht es auf zwei bis drei Seiten nur um Rugby. Dann kann man sich auf zwei weiteren Seiten den Galopprennen und ihren Ergebnissen widmen, bevor die Segelregatten bewertet werden. Erst dann findet man auf einer weiteren Seite Fußball – eine Reihenfolge, die in Dortmund oder Schalke völlig ausgeschlossen wäre.
Ähnlich sieht es in anderen Teilen Frankreichs aus, zum Beispiel in Burgund oder in der Picardie, wo die „Voix du Nord“ sehr stark ist.

Auch Cannes gehört zum Departement Var. (Foto: Pöpsel)

Mein Gesamteindruck ist aber, dass Tageszeitungen in Deutschland deutlich besser sind als in Frankreich. Auch überregional bietet zum Beispiel die „Süddeutsche“ weit mehr Informationen als etwa „Le Monde“, bis auf das Thema Afrika. Da ist man in Frankreich aus kolonialer Tradition näher dran.




Zweierlei Spiel

Der im Jahr 2010 bei Anagrama in Barcelona posthum veröffentlichte Roman „Das Dritte Reich“ von Roberto Bolaño ist jetzt bei Hanser in gediegener, auch rein äußerlich ansprechender Ausgabe in der Übersetzung Christian Hansens erstmals auf Deutsch erschienen. Schon 1989 wurde dieser Roman von Roberto Bolaño vorläufig abgeschlossen; in seinem Nachlass fand sich die maßgebliche Schreibmaschinenfassung, auf der die jeweiligen Bucheditionen auf Spanisch und Deutsch, in Original- wie Übersetzungssprache, fußen.

Der über 300 Seiten starke, tagebuchartig geschriebene Roman liest sich übrigens ganz anders als der nur zunächst missverständliche und dann doch zutreffende Titel „Das Dritte Reich“ es uns erwarten lässt. Schnell drin ist man in dieser Lektüre; und sie gelingt auch weiterhin mühelos.

Zwei Paare aus Deutschland, Udo und Ingeborg aus Stuttgart sowie Hanna und Charly aus Oberhausen, verbringen ihren Sommerurlaub in zwei verschiedenen Hotels eines vom Tourismus geprägten Ortes an der spanischen Küste in der Nähe von Barcelona, kennen sich vorher nicht, lernen sich im Urlaub mehr oder weniger kennen.

Eine Urlaubsgeschichte also? Ja und nein.

Man sollte sie nicht unbedingt schon im Urlaub lesen, lieber erst danach.

Udo Berger, 25 Jahre alt, macht mit seiner Freundin Ingeborg nicht den Urlaub, den man – zumal für den ersten gemeinsamen Urlaub – erwarten könnte: Er ist nur ganz selten am Strand, meistens hält er sich allein in seinem Hotelzimmer auf und beschäftigt sich vordringlich und geradezu arbeitsmäßig mit einem wochenlang andauernden Brettspiel, einem Kriegsspiel, des Namens „Das Dritte Reich“. Er, der Landesmeister in diesem Sport genannten Spiel, will nämlich unter anderem einen Artikel für eine Fachzeitschrift über neue zielführende Varianten dieses Spiels schreiben. Ehe Charly, der versierte Surfer, beim Windsurfen im Meer plötzlich unauffindbar verloren geht, ehe Hanna nach Oberhausen abreist und ehe auch Ingeborg den spanischen Küstenort wieder in Richtung Heimat verlässt, während Udo – vorgeblich zur etwaigen Identifizierung des verschollenen, wahrscheinlich zu Tode gekommenen, noch immer nicht aufgefundenen Charly – am Ort allein zurückbleibt, erfahren wir nicht allzu viele Details zum Spiel, das den Verlauf des 2. Weltkrieges in Europa imaginär je nach Spielerglück und strategischer Fähigkeit des jeweiligen Spielers (und Udo ist der amtierende Landesmeister) neu zu gestalten vermag.
Ein Tretbootsverleiher am Strand, der wegen seiner erschreckenden körperlichen Entstellung immer nur „der Verbrannte“ genannt wird, entwickelt sich zwischendurch – gleichsam aus dem Stand – zu einem Mit- und Gegenspieler des Udoschen Spiels. Zu einem zunächst harmlos erscheinenden, lange unterschätzten, schließlich übermächtig werdenden Gegner. Vielleicht zu einem Feind?

Erwähnt sei, dass noch einige andere geheimnisvolle und wichtige Personen in diesem Roman vorkommen und die Figurenkonstellation noch etwas dichter machen, abgesehen von dem Zimmermädchen Clarita und dem Nachtportier vor allem noch fünf weitere: die attraktive 35jährige Hotelchefin Frau Else und ihr geheimnisvoll im Hintergrund bleibender todkranker Mann, des weiteren die beiden spanischen Gelegenheitsbekannten des deutschen Urlaubsquartetts, El Lobo und El Cordero, sowie Conrad, der daheimgebliebene Freund und Telephonpartner Udos in Stuttgart.

Udo ergeht es wegen seines Spiels übrigens manchmal genauso wie vielleicht dem Buch Bolaños bei noch uneingeweihten, immerhin potentiellen Leser…n wegen seines Titels: Er wird des öfteren irrigerweise für einen Nazi gehalten, der den verlorenen Weltkrieg im Spiel nachträglich gewinnen will. Und wirklich hat er im Spiel die Position der Deutschen eingenommen und sein schließlicher Gegenspieler, der Entstellte, spielt den Part der Alliierten. Und es sieht so aus, als könnte der aus der Geschichte des 2. Weltkriegs bekannte Verlauf des Krieges auf Grund der strategischen und taktischen Fähigkeiten des professionellen Spielers entscheidend verändert werden und der Kriegsausgang schließlich ein anderer sein. Es ist aber der Verbrannte, der außenseiterische Anfänger, der schließlich überraschend doch gewinnt und so zu einem den geschichtlichen Resultaten ähnlichem Ergebnis gelangt, mit spezifisch der Figurenkonstellation des Romans geschuldeten Implikationen.

Mindestens zweierlei, wenn nicht dreierlei scheint mir in diesem interessanten und gut lesbaren Roman besonders wichtig zu sein. a) RB entwickelt in diesem relativen Frühwerk schon eine bestimmte Version seines Spiels mit Erzählschlüssen. Im Verlauf des Erzählens wird ein ganz bestimmter Schluss (bzw. ganz bestimmte Schlüsse) plausibel, fast zwingend nahegelegt; selbst wenn diese Schlüsse nun, wie es schließlich der Fall ist, nicht faktisch die des Romans sind, werden sie von uns Leser…n dennoch nicht vergessen und wirken gedanklich und atmosphärisch nach. b) Am Ende des Romans scheint Udo Berger, der auf den ersten Blick Gescheiterte, kein Spieler mehr zu sein; wir erinnern uns aber, dass er ja der Schreiber dieses Tagebuchromans ist und zwischendurch einen – bei Interpreten oft auf Unverständnis stoßenden, wie ich jedoch meine, durchaus verräterisch aufschlussreichen – Vergleich von deutschen Generälen als Militärstrategen mit ganz bestimmten deutschsprachigen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gewagt hat. Man versuche doch einmal daraufhin das Kapitel „Meine Lieblingsgeneräle“ (S.248ff) ansatzweise parabolisch zu lesen. Was hier über die Verfahrensweisen beim Spielen dieses Kriegsspiels gesagt wird, wäre in Parallele zu setzen zu den Verfahren der genannten Schriftsteller. Auch die Romane, die RB fortan (also nach 1989) selber noch zu schreiben gedenkt, unterliegen den hier auf den Seiten 248f. angedeuteten vielfältigen Verfahrensweisen des Spiels. In diesem Sinne ist auch schon „Die Naziliteratur in Amerika“ und nicht erst „Die wilden Detektive“ und „2666“ ein großes Spiel, das die Offenheit für Varianten kennt. Wir erinnern uns, dass schon Cortázars großer „Rayuela“-Roman sich als ein Spiel gegeben hat, das an das uns meistens aus der Kindheit bekannte Hüpfspiel „Himmel und Hölle“ anknüpft.

Man wird es mir wohl kaum verargen, dass ich während der Schilderungen des Duells zwischen Udo Berger und dem Verbrannten im Roman mich auch an berühmte Schach-Duelle in Prosaerzählung (Zweigs „Schachnovelle“) und Film (Ingmar Bergmans „Das Siebente Siegel“) erinnert gefühlt habe; zumal die Ähnlichkeit des Kriegspiels „Das Dritte Reich“ mit dem allbekannten Schachspiel – in der Art nämlich, dass es dieses an Komplexität sogar noch weit übersteige – eigens und ausdrücklich im Roman selbst genannt wird.

Keine schlechte Pointe dieses ersten Bolaño-Romans scheint mir die zu sein, dass der Spieler A (der Kriegsspiel-Spieler) sich im Prozess fortlaufenden Tagebuchschreibens zuguterletzt in Spieler B (den Schriftsteller) verwandelt hat; und dass diese Verwandlung Bolaño, der A und B in Personalunion in sich vereinte, bereits mit seinem allerersten Roman und nicht erst beträchtlich später überzeugend gelungen ist.

Roberto Bolaño: „Das Dritte Reich“. Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Christian Hansen. Hanser Verlag, München. 320 Seiten, 21,90 €.




Geschichten vom Herrn Kaum (5)

Herr Kaum und Roberto Bolaños neueste posthume Bücher

Dass sich Herr Kaum seit „2666“ für die Bücher von Roberto Bolaño interessiert, ist längst kein Geheimnis mehr. So kam, als er im August gerade in Salzburg war, die deutsche Übersetzung des frühen, nachgelassenen Bolaño-Romans „Das Dritte Reich“ soeben neu heraus und lag in stattlicher Anzahl und in Form einer schon äußerlich ansprechenden Ausgabe des Hanser Verlags deutlich sichtbar in der Rupertus-Buchhandlung und auch bei Höllriegel aus.

Anfang September in Florenz nun fand Herr Kaum überraschend eine 2011 bei Anagrama in Barcelona erschienene, insofern also originalsprachige Ausgabe von „Los sinsabores del verdadero policía“ vor, bedauerlicherweise zum stolzen Preis von 23,00 €. Da es sich aber um das einzige in der sehr großen Florentiner Buchhandlung zur Verfügung stehende Exemplar handelte und da ein trotz behutsam gewaltiger Beseitigungsanstrengungen des Verkäufers offenbar unentfernbarer Hässlichkeitsfleck über die Seiten 153 bis 266 hinweg auf der inneren Außenseite des Buches (wie heißt doch gleich der Fachausdruck?) bleibend zu sehen war, dachte Herr Kaum, das Buch vielleicht etwas billiger bekommen zu können. Der Verkäufer jedoch beharrte auf dem vollen Preis.

Stunden später ging Herr Kaum nochmals in dieses Schatzhaus der Bücher hinein, griff sich den Band aus dem Regal – der Verkäufer vom Vormittag war nicht mehr da – , ging schnurstracks aus dem ersten Stock zur Kasse im Erdgeschoss, verwies stumm, aber erkennbar zahlen wollend auf den bösen Fleck und bekam sofort von der Kassiererin 3,45 € Preisnachlass.




Wenn Leere und Fülle eins werden: Bochum zeigt Kunst aus dem Geist des Buddhismus

Die Ruhrtriennale begibt sich (nach Streifzügen durch Judentum und Islam) diesmal auf spirituelle Erkundungen im entgrenzten Kraftfeld des Buddhismus. Selbst in Wagners „Tristan“, Shakespeares „Macbeth“ und Kafkas „Schloss“ will man solche Impulse freilegen.

Zu den szenischen Künsten gesellt sich das Bildnerische: Das Kunstmuseum Bochum zeigt jetzt – als Triennale-Begleitprogramm – die Ausstellung „Buddhas Spur“. Sie ist streckenweise meditativ, aber nicht esoterisch geraten. Sie bietet beileibe keinen umfassenden Überblick zum Thema, sondern schmeckt hie und da nach beherzter Gelegenheits-Auswahl, lässt aber einige Streiflichter kreisen.

Museumsleiter Hans Günter Golinski und Triennale-Intendant Willy Decker haben bei der (relativ kurzen) Vorbereitung kooperiert. Sie versprechen sich eine fruchtbare Wechselwirkung der verschiedenen Kunstformen, womöglich gar spannende Grenzüberschreitungen. Decker, der auch ganz persönlich und lebensweltlich auf buddhistischen Spuren wandelt, ist ohnehin überzeugt, dass strikte Abgrenzungen zwischen den Künsten sich auflösen.

Vor rund elf Jahren hat Golinski in Bochum eine Schau über die Wirkung der Zen-Philosophie auf avancierte Westkunst zusammengestellt. Nun sind Arbeiten von elf Künstlern aus verschiedenen Ländern Asiens zu sehen. Der Blick kommt also aus der anderen Richtung: Allen westlichen Einflüssen zum Trotz, sind immer noch buddhistische Haltungen und Denkfiguren in die asiatische Kunst eingesenkt. Ja, schon die Art, wie man Kunst betrachtet, ist in Asien völlig anders geprägt. Wollte man es ganz gröblich unterscheiden, so könnte man sagen: Während wir dem Werk eher objektivierend gegenübertreten wollen, versenkt man sich dort in Kontemplation und erstrebt Einswerdung. Doch auch das ist nur eine längst brüchig gewordene Teilwahrheit.

Die Bochumer Auswahl ist doppelgesichtig, denn man sieht nicht nur aktuelle Kunst, sondern auch Beispiele für den religionsgeschichtlichen „Unterbau“, sprich: vor allem historische Buddha-Skulpturen und Bildnisse, viele aus ortsnahen Privatsammlungen, sowie staunenswerte Exerzitien der Kalligraphie. Manches davon wirkt oder wabert in der gegenwärtigen asiatischen Kunst nach. Museumsleiter Golinski ist allerdings mulmig zumute, wenn er daran denkt, dass Buddha-Figuren inzwischen viele Friseurläden und Nagelstudios „zieren“. Von derlei Trivialisierung will man sich selbstverständlich sternenweit abheben.

Fußabdruck des Buddha, Nordwestpakistan, 1. Jhdt. n. u. Z. (Copyright: Museum DKM/Stiftung DKM)

Fußabdruck des Buddha, Nordwestpakistan, 1. Jhdt. n. u. Z. (Copyright: Museum DKM/Stiftung DKM)

Am Beginn steht ein etwa aus dem 2. Jhdt. nach unserer Zeitrechnung stammender Fußabdruck, der Buddha zugeschrieben wird. Hier klingt schon ein Grundmotiv an, das sich auch im Titel wiederfindet: Spuren als denkbar flüchtiges Phänomen auf dem Grat zwischen Abwesenheit und Anwesenheit, Werden und Vergänglichkeit. Daraus kann auch in der Kunst ein vermeintliches Paradoxon gerinnen: Sich der Welt zuwenden und sie doch überwinden.

Charwei Tsai: "Tofu Mantra" (schwarze Tusche auf frischem Tofu), Fotografie, 2005 (Copyright: the artist and Fondation Cartier)

Charwei Tsai: "Tofu Mantra" (schwarze Tusche auf frischem Tofu), Fotografie, 2005 (Copyright: the artist and Fondation Cartier)

Dementsprechend bewegen sich einige Künstler gleichsam an den Nahtstellen zwischen Leere und Fülle, Erscheinen und Verschwinden. Chen Shen (China) trägt unermüdlich Schicht um Schicht auf, bis seine Bilder sanft ins Nirgendwo zu entschweben scheinen. Charwei Tsai (Taiwan) projiziert kalligraphische Zeichen auf Pflanzen, Tiere oder Tofu („Tofu Mantra“) und erzeugt so flirrende Vexierbilder. Auf den Fotografien von Atta Kim (Korea), die auf berühmten, sonst touristisch übervölkerten Straßen entstehen, gehen nur noch Spuren der Betriebsamkeit in einem ungreifbaren Dunst auf. Es herrscht geisterhafte Stille an diesen fremdartig gewordenen Orten.

Die weiße Fläche wird generell nicht als bedrohliches Vakuum empfunden, sondern als offene Weite, in die alles einströmen kann. Willy Decker, der selbst asiatische Kunst sammelt und einige Exponate beigesteuert hat, ist gar überzeugt, dass in solcher uranfänglichen Leere der Quell aller Inspiration und Kreativität entspringt.

Der prominenteste Name der Bochumer Ausstellung ist Nam June Paik (Korea). Hier wird der meditative Grund seiner alles in Fuss versetzenden Fluxus-Kunst erahnbar. Eine wie traditionell hingetuschte Zeichnung ist entstanden, als Paik seine farbgetränkte Krawatte auf dem Bildträger hin und her gezogen hat. Sehr stille, konzentrierte Papierarbeiten sind von Paik zu sehen, aber auch ein Schrein mit nichtigem Fernsehfimmern, vor dem Buddha eine Angel auswirft. Überhaupt sind nicht alle Arbeiten ehern ernst zu nehmen: Kimsooja (Korea) lässt eine kreisrunde Jukebox als Mandala erscheinen. Kamin Lertchaiprasert (Thailand) hat aus Geldscheinen eine pappige Masse hergestellt und daraus wiederum im Lauf eines Jahres 365 figürliche Opfergaben gefertigt – eine der eindrücklichsten Schöpfungen dieser Ausstellung.

Nam June Paik: Ohne Titel (Tusche auf Papier, 1974) (Copyright: Nam June Paik Studios, Inc.)

Nam June Paik: Ohne Titel (Tusche auf Papier, 1974) (Copyright: Nam June Paik Studios, Inc.)

Long-Bin Chen (Taiwan) lässt zahllose Presseerzeugnisse aufflattern, als habe ein Sturm all das bedruckte Papier erfasst („Information Hurricane“) und wolle es hinwegfegen; offenkundig ein Einspruch gegen allgegenwärtigen Nachrichten-Overkill, ebenso seelen- wie körperlose Computerschriften und darin sich ergießendes Geschwätz des Tages. Wie tiegründig wirkt demgegenüber die kalligraphische Schriftkunst!

Gelegentlich stammt das Material asiatischer Kunst geradewegs aus religiösen Zusammenhängen: Montien Boonma (Thailand) hat buddhistische Almosenschalen zum nahezu magischen Dreieck gefügt, das erdenferne Ruhe ausstrahlt. Ein gigantisches Aschebild von Zhang Huan bezieht die stoffliche Grundlage aus buddhistischen Tempeln, in denen Weihrauch verbrannt wurde.

Doch es kann keine Rede davon sein, dass die Künstler den Buddhismus fraglos fortführten. In den besten Momenten zeigt sich die hier präsentierte asiatische Gegenwartskunst zwar zeitlos durchgeistigt, doch fast im selben Atemzuge ist sie mitten ins globale Jetzt gesprungen.

Zeitenthobene Zeitnähe scheint auch hierin zu walten: Derart früh hat sich asiatische Kunst vom Gegenstand gelöst, dass man schon im 13. Jahrhundert von Abstraktion sprechen kann. Kandinsky war ein wenig später dran…

„Buddhas Spur“. Zeitgenössische Kunst aus Asien. Kunstmuseum Bochum (Kortumstraße 147). Vom 28. August (14 Uhr Künstlergespräch, 15 Uhr Eröffnung, 17 Uhr Konzert) bis zum 13. November. Di-So 10-17 Uhr, Mi 10-20 Uhr. http://www.bochum.de/kunstmuseum

Blick auf Kamin Letchaipraserts Installation mit 365 Opfergaben (Foto: Bernd Berke)

Blick auf Kamin Letchaipraserts Installation mit 365 Opfergaben (Foto: Bernd Berke)




Ungereimtheiten auf der Alm

Man macht das ja manchmal so. Reime erzwingen um des Reims willen. Und vielleicht für ein wenig Haha. Bei Geburtstagsfeiern oder auf Grußkarten zum Beispiel. Ich hab es gerade erst wieder getan, in einem der klassischen Orte für solcherlei Wortpressversuche: In einem Gästebuch einer Ferienwohnung, in der wir uns sehr wohlfühlten, habe ich willkommen auf gern wiederkommen gereimt und sogar Drachenfels mit Zahnschmelz gepaart.  Ein bisschen rote Ohren, ein

Das Bild zeigt einen Screenshot der Suche auf Google und des Ergebnisses von Pro7.

Das Bild zeigt einen Screenshot der Suche auf Google und des Ergebnisses von Pro7.

bisschen Schmunzeln – und die nachfolgenden Gäste können sich dran ergötzen.

So etwas aber geschieht in der stillschweigenden Übereinkunft einer Halböffentlichkeit, die nur wenige Zeugen kennt. Weil letztlich doch alle Beteiligten wissen, dass solches Gereime von Dichtkunst so weit entfernt ist, wie eine Baumscheibenbemalerin von Frida Kahlo.

Diese Übereinkunft empfinde ich nun als gebrochen. Heute bin ich an einer Litfaßsäule vorbeigefahren, auf der mit einem kernigen alten Hutzelmännchen für eine Sendung namens „Die Alm“ geworben wurde. Die Unterzeile brannte in meinen Augen. „Promischweiß und Edelweiß“.

Liebe Menschen von Pro7 oder wer auch immer sich diese Zeile ausgedacht hat – das tut doch weh! Ihr habt das schöne Edelweiß mit solch einem ekligen Bild zusammengebracht – und damit ausgerechnet eine Blüte, die als stark gefährdet gilt, in den Dunstkreis von mediengeilen X-Prominenten gebracht, die leider keinesfalls selten sind. Wäre es doch nur andersrum!

Und dann diese Wortschöpfung: „Promischweiß“. Mal abgesehen davon, dass ich allein schon den Ausdruck „Promi“ furchtbar finde, bei Betrachten der „Alm“-Website aber auch niemanden gefunden hätte, der überhaupt prominent wäre. Was offenbart sich denn da für ein Menschenbild? Schwitzen „Promis“ etwa anders, als die sonstigen Erdbewohner? Sollte das sogar ihr hervorstechendstes Merkmal sein (was einiges erklären würde)? Und wie sähe die prominente Schweißflüssigkeit wohl aus? Gülden, der hervorgehobenen Stellung angepasst, und dazu noch lieblich duftend?

Wer weiß. Vielleicht verkauft der Sender am Ende des ganzen Prominentenschaffens ihr Ausgedünstetes im Supermarkt. Ich hätte auch schon einen tollen Slogan: Promischweiß – günstiger Preis!




Hungerast?

PyrenäenDer Hungerast ist wie eine Wand,
die steht vor dir, erbarmungslos.
Man friert. Die Beine werden schwach.
Man schimpft.

Dort oben hört einen niemand.

Da kann man schimpfen, man kann bitten, man kann flehen.

Irgendwo um 2000 Meter,
da oben am Tourmalet, am Großglockner, am Furka oder Grimselpass,
wo kein Baum mehr steht, da fängt es an zu schneien.
Man hat keine Winterreifen und auch keine 50 000 Euro
von Milchschnitte.
Man hat eigentlich keine Schnitte.

Das Zelt ist vom Discounter, die Handschuhe hat Omma gestrickt.
So ist man also im Berg.
Kein GPS.
Kein Begleitfahrzeug.
Nicht mal einen Besenwagen, der einen einsammelt.

Freunde der Tour de France kennen den Besenwagen.

Das letzte Gefährt, welches gescheiterte Profis oder solche,
die sich für Profis halten einsammeln und ins Hotel fahren.
Zur Massage ins Hotel.
Entspannungsbad.
Thai-Massage.
Ich meine eine Thailänderin im Nebel zu sehen,
„May Lin, hier bin ich !
Oh gute Bergfee, rette mich…!“

Aus der Lesung – Unterwegs –

vom Mittelmeer zu den Pyrenäen

Stefan Dernbach ( LiteraTour )




Der Grieche ist mein Bruder

Es ist nicht meine Aufgabe, Experte zu sein, nicht meine Aufgabe, alles wissen zu müssen, speziell, wenn es um das globale Finanzsystem geht. Niemand kennt es. Seit Monaten verfolge ich aber die Berichterstattung zu Griechenland und seiner unabwendbaren Pleite. Und – wie immer – gibt es in jeder Talkshow Experten, wie es Experten in jeder Zeitung gibt und weitere bei weiteren Medien. Alle wissen: Der Grieche muss umrüsten. Die Europäer bezahlen die Abwrackprämie, aber nicht an die Griechen, sondern an das Gebilde Staat. Da kommt niemand mit einem Koffer, holt ihn aus dem Kofferraum und übergibt Bargeld an einen anderen auf einem einsamen Parkplatz. Es sind naturgemäß Banken, die das abwickeln. Und abgewickelt ist durch diese kriminelle Soße vor allem der „kleine Grieche samt seiner Griechin“.
Wenn etwas von niemandem richtig durchdrungen werden kann, dann ist alles möglich und die Politik muss politische Maßnahmen ergreifen. So war und ist das auch mit ETEC.

Schlechte Geschäfte

Natürlich gibt es in Griechenland reiche Kerle. Das wissen wir doch alle, mindestens seit Onassis und seiner Sonnenbrille. Und es gibt eine ganze Reihe berühmter Griechen, die wir alle aus Theaterstücken kennen oder als geflügelte Worte mit uns rumschleppen. Odysseus, ja klar. Bei Zeus! Und alle die Anverwandten und Geblendeten. Wer hat da jemals genau durchgeblickt? Da fing die Verwirrung an.
Das Volk, das gemeine, leidet unter den international vorgeschriebenen Leistungseinschnitten. Die Kultur, die Renten, die Mieten, das Leben. Die Reichen verlegen ihr Geld ins Ausland. Der kleine Angestellte oder der Tänzer, sie müssen den Dreck ausbaden. „Es ist eine Karussell, das niemals mehr anhält“, sagt mein Grieche.

Ich bin nach Griechenland gereist, in den Schuldenolymp, habe Athens Orakel befragt, habe mich mit Zeus und Hades, seinem Bruder, dem Gott der Unterwelt, zusammengesetzt und bei einigen Ouzos die Weltordnung umgekrempelt.
Der Ort der alt-europäischen Dekadenz, das Land der Verschwender und Schuldenmacher.
Das Land der Griechen mit der Seele suchend, schweifte ich umher. Ich, der Retter der hellenischen Nation, der Steuerzahler, der seinen letzten Cent in die Antike steckt, damit sie nicht zusammenbricht. Ich hab das alles mit meinem Griechen vorbesprochen.

Eine open-air Bar. Der Kellner braucht Dekaden, bevor er sich sehen lässt. Fehlt mir die Geduld eines Sisifos? Ich sehe Zeus und Dionysos – mir gegenüber und sie lachen mich aus.
„Du bist zu spät“, singen sie.
„Angenehmes Wetter“, sage ich.
„Die Akropolis ist montags geschlossen“, sage ich.
„Das ist skurril“, singen sie.
„Die sind ja bekloppt“, sage ich.
Und wir enden alle drei in einer Bar, wo man mir Aphrodite vorstellt. Ich bin entzückt, falle aber vom Hocker und wache als Esel wieder auf.

Was hat Griechenland mit dem Ruhrgebiet zu tun? Sehr viel. Mein Grieche kommt zum Beispiel aus Griechenland, andere Griechen auch, ob „Poseidon“, „Akropolis“ oder „Mykonos“.
Otto Rehakles kommt aus Essen. Eine Griechin hat die Kulturhauptstadt erfunden. Wir sind auch pleite. Was will man mehr? Sehr viel Verbindendes also.

Die Choreographin Mariela Nestora war bereits mal auf PACT Zollverein. Sie sagt zu unserer Region „Ruhr“. „Ich war in Ruhr“, sagt sie. Und der Hund von Iris Karayan (Ja) heißt Tarmund und alle nennen ihn Dortmund, niemand weiß warum.

Die Griechen sollen sich ihr Leben nicht vermiesen lassen. Hier entstünde ein Land, das sich unter dem Jubel der Unschuldigen zu einem Paradies der globalen Verweigerung entwickelt. Hier würden die Menschen das tun, was ihnen lieb ist und nicht das, wozu sie verpflichtet werden. Ich wache auf, bin kein Esel mehr, sehe wieder aus wie vorgesehen. An der Wand vor mir sehe ich den verschwindenden Traumnebel an einem Strand. Mein Grieche steht dort und winkt mir zu. „Kalinichta“.

Ich erinnere hier an das Stück „Herkules und der Stall des Augias“ von Friedrich Dürrenmatt.

„Aufgrund des ständig anwachsenden Mistes wird das Leben in Elis immer unerträglicher. Deshalb beschließt Augias, Präsident von Elis, zusammen mit seinem Parlament, dem griechischen Nationalhelden Herkules ein ansehnliches Honorar und Reisespesen anzubieten und ihm den Auftrag zur Säuberung von Elis zu übertragen. Sein Sekretär Polybios erinnert ihn an seine gewaltigen Schulden und die Kosten, die die repräsentativen Pflichten eines Helden mit sich bringen.
… Kommissionen beraten in endlosen Sitzungen. Man weist darauf hin, dass unter dem Mist immense Kunstschätze verborgen sein könnten, die durch das Ausmisten verloren gingen. Die Beratungen verschleppen sich so lange, bis Herkules schließlich den ihm gewährten Vorschuss aufgebraucht hat. Herkules, der zudem von Gläubigern bedrängt wird, sieht sich gezwungen, im Zirkus des Tantalos aufzutreten. In dieser aussichtslosen Lage beschließen Herkules und Deianeira gemeinsam, das Land unausgemistet zu verlassen.“ (Quelle Wikipedia)

 




Kulturhauptstadt Tallinn – nachhaltig eindrucksvoll und übersichtlich

Reisen ist kein Spaß. Man muss warten, man bekommt schreckliches Essen und wechselt die Verkehrsmittel, bevor man den Koffer in sein Hotelzimmer schiebt und erst mal schaut, welche sprachlich und inhaltlich nutzbaren Sender das Fernsehgerät bietet. Aber am Ende lohnt sich meist der Weg. Man ist halt woanders, wo es Gott sei Dank auch anders ist, mehr oder weniger. Zumindest die Sprache ist in diesem Fall eine Höraufgabe besonderer Qualität. Ziel ist eine der Kulturhauptstädte 2011, die Hauptstadt der Esten, Tallinn, je nach Route ca. 1800 Kilometer vom Ruhrgebiet entfernt. Gegenüber liegt Helsinki und die finnischen Nachbarn stehen am Strand und winken ihren estnischen Sprachverwandten zu. Nördlich von Helsinki liegt die andere nordische Kulturhauptstadt Turku. Finnland ist zu teuer – also Tallinn. Da gibt’s auch Finnen.
Tallinn antasten
Tallinn (früher Reval) ist eine alte Hansestadt und dies schlägt einem in der Altstadt in Form von Lokalen und Personal entgegen, die darauf hinweisen. Man kann also alte Hansebegriffe wieder aufgreifen. Da liest man an der Wand: Lübeck und Rostock. Auch Dortmund war mal Mitglied der Hanse, wie man es im Dortmunder Rathaus anhand einiger Reliquien besichtigen kann. Jugend beherrscht das Bild Tallinns. In der ersten Nacht sind die Hinweise auf die Kulturhauptstadt eher spärlich zu entdecken. Es herrscht Touri-Atmosphäre. Man serviert in Holz und trägt Tracht. Bezahlen muss ich aber mit Euro, nicht mit Holztalern.
Ich bin hoffnungslos over-dressed, habe nur einen schweren Mantel und Winterschuhe mit. Jetzt aber ist das da draußen kurz vor Finnland Mittelmeerklima.
Führung zum KGB
Das Hotel Viru Soros hat 23 Stockwerke. Das oberste war zu Sowjetzeiten gesperrt. Dort saß der KGB und hatte alles unter Kontrolle: Das Personal und die Gäste, besonders die internationalen. Jetzt gibt es dort „die erste Hotelausstellung“ in Estland. Eine Führerin mit wunderbarem „r“ in ihrem englischen Akzent erzählt der internationalen Besuchergruppe der Kulturhauptstadt 2011 komische Geschichten aus der Controletti-Zeit, die dort ehemalige Besucher abgeliefert haben. Man will die Absurdität des Systems zeigen und das gelingt. Alte Urkunden, die Abhöranlage, Fotos, Utensilien, die die Sowjets 1991 zurück gelassen hatten, als sie in einer Nacht mit Sack und Pack verschwanden. Eins von vielen 2011-Projekten, die was mit Geschichte zu tun haben und diese Stadt hat viel davon.
Kulturbüro Tallinn

Kunst am Meer - Experimentale

Am Meer gibt es Kunst von Nachwuchsgestaltern an der Sängerwiese, draußen und im großen Rund, viel beachtet von Presse und Publikum. Es soll eine Triennale entstehen, sagt die Medienfrau der KHS, Maris Hellbrand, die in München studiert hat. Im Vergleich zu Ruhr2010 arbeiten hier nur 30 Personen an allem. Das sind kurze Wege der Zuständigkeiten. 1000 Freiwillige sind gelistet, 300 sind ständig aktiv, jung und freundlich, nordisch und lieb. Das Büro ist in der dritten Etage eines von außen eher hässlichen Hauses untergebracht. Büroräume, die mit Kurzgeschichten tapeziert sind, Reste von Buchdruckstreifen. Man darf also während der Arbeit lesen.
Touristenströme zwischen Party und Kunst
Und die Touristen aus Großbritannien kommen in größeren Gruppen, sind zu 30% mehr vor Ort. Dazu die normalen Touristen, die Jungen, die bald die Altstadt verstopfen werden. Partytime im mittelalterlichen Ambiente. In der Stadt verteilt sind Kunstwerke zu besichtigen, manche davon sind gar keine – wie die Litfaßsäulen mit künstlerisch anmutenden Piktogramme. So verwirrend ist das heute mit der Kunst am Straßenrand. Kaum glaubt man, ein Werk entdeckt zu haben, kommt jemand und trägt es auf einen LKW. War nur ’n Straßenschild.

Holz, Stroh, Beton und Glas

Topfdeckelanimation

Es gibt eine Experimenta mit Kochtöpfen, Worte zum Fotografieren, Russenmarkt, Theater an jeder Ecke und Architekturirritationen allüberall. Tallinn ist erlaufenswert. Die große Kunsthalle allerdings muss man mit dem Bus aufsuchen, um dann auf einen Neubau zu stoßen, der Kunst ist, in dem Kunst ist. Mit Staunen sieht man hier die moderne und alte estnische Kunst. Der finnische Architekt Pekka Vapaavuori errichtete das Gebäude des Kumu (Kumu kunstimuuseum). Und man wandelt durch den Park am Weizenbergi und denkt: Ist denn hier Österreich? Gleich kommt der Herr Kaiser und winkt.
Sprach-Fotografie
Ich entfinde ein neues Genre: Die Wort- und Sprachfotografie. Autobus heißt „Autobussi“, ein Stadtteil „Ülemiste“, ein Turm „Kiek in de Kök“ und es gibt eine Haltestelle, die Kreuzbergi heißt. „Pikk“ heißt eine wunderbare Gasse in der Altstadt und ich betätige mich als Wortfotograf. Bin aber hier, um die Auswirkungen der Kulturhauptstadt zu erwandeln. Vom Viru Square fahren die Busse ab und man hat Freude an den Titeln der Haltestellen. Einfach einsteigen und irgendwo aussteigen. So entdeckt man die Stadt.
Vor dem Hotel rauche ich nach dem Frühstück. Immer stehen um diese Zeit ein paar Damen dort und rauchen auch, aber sie machen den Eindruck, nicht Hotelgäste zu sein, dies aber für kurze Zeit sein zu wollen. Aber man fantasiert zu viel, wenn man morgens noch nicht ganz auf der positiven Seite des Lebens ist. In Gedanken bin ich in einem Taschengeschäft mit einem Zollstock, um etwas zu finden, was von Ryan Air als Gepäck akzeptiert wird, wo ich meine Erinnerungen hineinbekomme – als Handgepäck. Heute Abend komme ich zufrieden ins Hotel zurück, wo mich in der Lobby freundliche Damen jeden Alters aus ihren Sesseln dezent anlächeln. Im Zimmer schaue ich in den Spiegel und bin sicher: Das Lächeln galt meiner Brieftasche und nicht meinem Gesicht.
Hintern Hinterhof

Grabsteine auf dem Flohmarkt der Russen

Hinter dem Bahnhof sitzt der Russenmarkt, so genannt von den Esten. Er sieht aus wie der Polenmarkt in Ungarn oder der Chinesen-Markt in Tschechien, nur eben mit Russen, die immer noch Armeemützen zur Verfügung haben und alte Fotoapparate. Da das Wort Stadt in Kulturhauptstadt vorkommt, muss man genau diese versuchen, von vielen Seiten zu erkunden, auch hinter dem Bahnhof oder in Vierteln, wo man fern der weithin sichtbaren Großhotels wandeln kann. In Nummer 60 sollen Hausbesetzer leben, zu sehen ist nichts. Vielleicht sind die Hausbesetzer gerade nicht zu Hause. Davor streitet sich ein dem Alkohol gegenüber offenes Paar über die Erziehung des Kindes, das im Kinderwagen döst.
Architektur

Baumhaus

Man trifft auf gewagte Architekturstile, die direkt nebeneinander sich gegenseitig auflehnen, das alte traditionelle Holzhaus, das immer eines Tages dem Zerfall entgegen rückt, Mietshäuser mit schwarzen Fensterrahmen und sachlichem Design, Häuser mit Schiebetüren aus Glas vor den Balkonen mit Meerblick. Tallinn scheint ein offenes Feld für architektonische Wagnisse, die meisten zumindest interessant. Entlang des Wassers führt ein neuer Kulturkilometer-Pfad, der im Sommer eröffnet werden soll. Ein Designer-Laden steht schon gegenüber einem kleinen Meeresarm mit blauen Fischkuttern. Im Herbst gibt es ein großes Design-Festival. Der Laden scheint gerüstet. Man sieht Autoreifen, die mit Wollfransen versehen sind und maritim anmutendes Klein-Gerät für den Geburtstagstisch.

Architektur-Wandel

Köler Prize
In einer ehemaligen Fabrik (kennen wir doch) ist eine Ausstellung sehr erfolgreich. Das Fernsehen dreht gerade dort. Der „Köler Prize“, kuratiert von wichtigen Künstlern, zeigt „Underground-Art“, wie man mir sagt, aber es ist geputzter Underground, falls es sowas gibt. Eine sehenswerte Ausstellung in Meeresnähe, deren Macher davon überrascht wurden.
Vor dem Café Boheme, wo man zum Kuchen pürierte Erdbeeren bekommt, will ein abgezotteltes Paar partout unsanft eine Anmache starten und bietet ein kurioses Schauspiel, das sich nicht in Text fassen lässt. Die Polizei ist freundlich und nimmt nur die Lady mit. Ihn treffe ich später wieder, an der Seite einer neuen Bummelfreundin.
In einem alten Elektrospannungswerk findet eine Schau zu Mythen Estlands statt. Sie ist offenbar überwiegend für Kinder, die dort in Rohre blasen und allerlei Sound verbreiten, den man so nicht wieder hören kann.Das Strohtheater ist der bisherige Höhepunkt des Jahres, wie man sagt. Das örtliche NO99 Theater ist seit 2006 Mit-Initiator dieser verrückten Idee, ein temporäres Theater aus Stroh zu bauen. Nun steht es auf einem Hügel neben der geschichtsträchtigen Altstadt – ganz in schwarz und brandgesichert. Das will man sehen und die häufigste Frage, ob es denn nicht gefährlich sei, wird immer wieder beantwortet. Das Stroh ist gepresst und brennt schlechter als Holz. Es bekommt keine Luft fürs Feuer. Zudem ist natürlich alles feuergesichert mit allen möglichen Chemikalien. Derzeit spielt man „Hirvekütt“ nach dem Film „The Dear Hunter“ mit Robert de Niro. Dramaturg Eero Epner erklärt in gutem Deutsch, dass der ursprüngliche Plan, das Theater im Oktober wieder abzureißen, noch nicht ganz endgültig ist. Plan war, die Flüchtigkeit des Theaters auch fürs Gebäude gelten zu lassen, eine eigentlich wunderbare Idee. Die Finnen zeigen Interesse, es in ihrem Land wieder aufzubauen. Hier, von schwarzem Stroh umgeben, sieht man bis Oktober die Festivalgruppen Deutschlands und Europas: She She Pop, Le Ballet C de la B oder Gob Squad.
Guerilla Kino

Kinoansage vor dem Gewächshaus

Was sich heute alles als Guerilla bezeichnet, wirft ein Bild auf die um sich greifende Verniedlichung für alles. In einem Gewächshaus stehen Flachbildschirme, auf denen ein Dokumentationsfilm gezeigt wird, der sich auf ehemalige Dissidenten bezieht, die sich hier als Gartenhelfer verdingten. Vorher muss man sich einer Führung unterziehen. Die Volunteers erzählen in dieser mir fremden Sprache von Pflanzen und deren Herkunft. Nun gut. Vielleicht gibt es bald irgendwo ein Guerillero-Ringelpietz mit Pustekuchen.
Ich treffe immer wieder eine Journalistin, die für den WDR in Tallinn unterwegs ist (Skala, Sendung am 23.6.), die offenbar die gleichen Wege nimmt wie ich, beide auf Erkundungsreise, sie mehr per Ohr. Ich hab noch die Augen dabei und riechen kann man das Meer nur in der Nähe. Es gibt ein Stück „Strand“, auf dem ein toter Hund auf Verwesung wartet, ein Ort, der nicht als Badestrand durchginge, wäre man auf Capri. Die Stadt beginnt, mir zu gefallen.Man stolpert geradezu über die zahlreichen Theater und Galerien. Jetzt, bei der Maihitze. Im Winter sind es wahrscheinlich Zufluchtsorte.
Häuser und Teilgebäude
Und immer wieder: die Architektur, vollendet, eingefügt oder abgebrochen. Eine Brücke, die geradezu ins Nichts führt, wird auch bald Ort für einen japanischen Künstler, der sich mit der Betonmasse angefreundet hat. Ich werfe mich wieder auf einen Markt, trinke einen äußerst fragwürdigen Cappuccino und sehe schlafende Biertrinker. Zwischen alten Holzhäusern und Backsteingebäuden schimmert das Neue. Ein ganzes Viertel in Shopping-Hochglanz wird so das alte erdrücken, das sich aber so entschlossen wehrt, dass man diese Mischung hinnimmt, ja, sie gar bewundert. Die Sonne steht über der stillen Altstadt. Ich erlebe ein Abendessen, das mir schmeichelt und ich trage den wunderbaren Geschmack bis heute am Gaumen. Ein kleines Lokal,

alt und neu

neben einem Kulturzentrum, aus dem Heavy-Metal-Musik dröhnt, bietet eine wunderbare Küche für geringes Entgelt. Später stehen vor dem Haus, aus dem es nun modernjazzt: Ein Althippie mit langem Bart, ein 40-jähriger Punk, ein Rocker mit Nietenjacke und zwei dunkle, depiercte Gothic-Emos, die sich fröhlich gegenseitig zuprosten. „õhtusöök!“ (Prost). Fragen Sie nur einen Esten, wie man das ausspricht. Tschüss heißt auf jeden Fall „Tschüss  Nägemist!“

Im Hintergrund: das temporäre Strohtheater in Tallinn

 




Thanks for your company, Bobby

Keine Ahnung, wann es war, aber ich war ganz sicher ein Jüngelchen, da trällerte ich auf dem Schulweg, so etwa in Höhe der Kreuzung Lindemannstraße/Kreuzstraße in Dortmund „Like a rollin‘ stone“ – hatte ich nächtens gehört, via Transistorradio. Keine Ahnung wer da sang, aber es ging widerstandslos ein und blieb in Erinnerung.

Ehrfürchtig meinte mein damaliger Schulfreund, der mich wie jeden Morgen begleitete: „Ah, Bob Dylan …“ Und ich tat so, als wüsste ich, wer das ist. Wenig später wusste ich es, wusste ich, wer dieser Robert Allen Zimmermann war, der sich (man weiß nie, ob man ihm wirklich glauben darf, oder er einen schlicht auf den Arm nimmt), der sich also nach Marshall Matt Dillon nannte, weil ihm die Serie so gut gefiel. Und ich wusste, was er mit „Blowing in the wind“ meinte. Und ich wusste, dass mir seine Version von „Tambourine Man“ besser gefiel als die der „Byrds“ – allenfalls Melanie Safka coverte den Song kongenial.

Seit diesen Mittsechziger Tagen in Dortmund begleitet mich der „Meister“ nun, näselt er sich durch unsere gemeinsame Geschichte, von Baez bis heute. Belegt er immer wieder neu, dass er weder ein umwerfender Sänger noch Mittelpunkt einer ebenso umwerfenden Bühnenshow ist, dass er aber umwerfend bleibt, immer wieder umwerfende Titel lebendig macht und sich niemals in einen noch so umwerfenden Mainstream schachteln lässt.

Er wird heute 70, ein wenig Zeit bleibt mir bis dahin noch. Es ist sicher die Zeit der alten Herren, wenn zahllose Wunderer oder Bewunderer ihm innerlich dazu gratulieren, dass er bisher jeden Trend, jede Sucht und sich selbst überlebt hat. Der „Meister“ ist 70, und ich fühle mich auch nicht mehr so gut.
Irgendwann hörte ich „Knock, knock, knockin‘“ und war begeistert. Dann irgendwann mal wieder „Lenny Bruce“. Und immer auch mal wieder die alten – wie „Lay Lady Lay“. Sie fielen mir einfach immer mal wieder im Radio auf, ich legte weder ein Platte auf den Teller noch eine CD in der Schacht, wenn ich Bobby hörte. Er blieb präsent, von Zeiten, die er mit Jack Kerouacs Beatnik-Literatur verbrachte über die Wilburys bis zum Zeitpunkt,vf als zwei Päpste ihm zuhörten (der eine war es noch, der andere wurde es nach ihm und ist es bis heute).

Und warum näselt sich Bobby „der Meister“ durch meine Zeit? Weil er nie das Alte machte, sondern das Neue suchte, es manchmal fand und uns servierte. Tolle Zeit, Bobby, und noch einmal: Happy Birthday. Ich freue mich auf Zukunft.

(Foto: Bernd Berke)




Absurditäten des Alltags

Manche Tage beginnen mit einer Ansammlung von Skurrilitäten.

Es fing schon am Kiosk an. Auf die Frage „Haben Sie auch einen Spiegel?“ sah mich die Verkäuferin derart entgeistert an, dass ich schnell hinzufügte „Also, ich meine, die Zeitschrift.“ Da jauchzte die Frau, kriegte sich kaum noch ein und japste „Danke für den besten Witz des Morgens.“

Am Bahnhof dann stand und saß eine Klasse schwer pubertierender Jugendlicher auf dem Weg zu einem Schulausflug, mitsamt einer um Ordnung bemühten Lehrerin. Nach und nach rief sie die Schüler zu sich, um ihre Handynummern abzufragen. Zwischendurch die Durchsage, dass ein Zug ausfällt.

„Frau …, der Zug fällt aus.“ „Ja, aber wir nehmen den nächsten.“
„Tiiiiiiimmmm, kommst Du mal!“ Ein Junge schlurft herbei und jammert. „Ich hab ihnen meine Nummer doch schon per SMS geschickt.“ „Ich habe aber kein Handy dabei, also sag sie mir.“ „Na toll, jetzt hab’ ich meinen Sitzplatz verloren.“
„Frau…., der Zug fällt aus!“ Tiefes Seufzen.

Im Zug schließlich entdecke ich in der Welt kompakt eine herrliche Meldung: Ein Mann in Verden hat für eine über die Straße laufende Katze eine Vollbremsung hingelegt. Was dazu führte, dass er eine Mülltonne plus zwei Findlinge rammte, aus der Tonne eine Bratpfanne flog und in die Windschutzscheibe eines anderen Wagens knallte, was die 68-jährige Fahrerin schockte. Das Ergebnis, so schreibt die Welt kompakt schön: „Beide Autos wurden erheblich beschädigt, die Katze blieb unverletzt.“

Als ich schließlich durch die Stadt lief, traf ich auf ein H&M Schaufenster, das mit weiß verhüllt war, was mit den Worten kommentiert wurde: „Auch Schaufensterpuppen wissen manchmal nicht, was sie anziehen sollen.“

Das wird ein Tag!




Bad Painting. Zu den Offenbacher „Kunstansichten“

Wieder eine dieser konzertierten Aktionen, bei denen sich die sonst Konkurrierenden versöhnlich in die Arme sinken, um sich ein Wochenende lang als würdig zum Empfang kommunaler Zuwendungen zu erweisen. Dies ist keinesfalls so polemisch gemeint, wie es klingt – ich persönlich liebe solche Wimmelveranstaltungen und fahre stoisch alles ab (nicht um!), was sich mir in den Weg stellt: Galerien beim Galerien-Wochenende, Ateliers beim Atelier-Wochenende.

Das einzige Auswahlkriterium meines planlosen Besichtigungsrausches, die verkehrstechnische Machbarkeit, führt mich in – sagen wir mal „abwechslungsreiche“ Umgebungen. Es gibt halt solche und solche, und letztere überwiegen zuweilen bei solchen Gemeinschaftsevents.

Sämtliche Bilder sind keine Negativbeispiele sondern veranschaulichen das für den Text zentrale Thema der Vernetzung. Mark Bradford "And Off They Went", 2010, Foto CL

Sämtliche Bilder sind keine Negativbeispiele sondern veranschaulichen das für den Text zentrale Thema der Vernetzung. Mark Bradford "And Off They Went", 10, Foto CL

Harmoniebedürftig wie ich bin, verschone ich euch mit visuellen Belegen der beachtlichen Spannbreite des künstlerischen Niveaus. Weniger, um unsere Bildschirme nicht mit diesen ganz besonderen Werken (sprich Sondermüll) zu belasten, als vielmehr, da die Tatsache, dass ich etwas überflüssig finde, nicht bedeutet, dass es das ist. Lieber beschreibe ich das Grauen, wohlwissend, dass ihr über einen ausreichenden Vorrat an ähnlichen „Großer Gott!“-Erlebnissen verfügt, um meine Schilderungen aus eurem persönlichen „Nee, oder?“-Ordner zu schmücken. Denn wenn es eine aller Kunst gemeinsame Eigenschaft gibt, ist es die Unverbindlichkeit individueller Urteile. Ungeachtet aller noch so tragfähigen Kriterien hängt ihre Anwendung von den EndverbraucherInnen ab, die ihre Entscheidung über Daumen rauf oder runter aufgrund einer individuellen Kombination vergangener und gegenwärtiger Bedingungen treffen: Prägungen und Erinnerungen, körperliche und geistige Verfassung, sowie Hoffnungen und Ängste hinsichtlich der Zukunft.

Begeistertes Gespräch: Rinus van de Velde, o.T., 10, Foto web

Begeistertes Gespräch: Rinus van de Velde, o.T., 10, Foto web

Ich habe mir angewöhnt, vor der Bekanntgabe eigener Urteile die Meinung des Gegenübers in Erfahrung zu bringen. Wenn diese positiver ausfällt als meine, bin ich heilfroh, rechtzeitig den Schnabel gehalten zu haben und schmarotze probeweise an der Wahrnehmung meines Gesprächspartners. Manchmal eröffnet mir dieses Ausleihen anderer Leute Augen und Hirne Neuland, manchmal wird es gewogen und zu leicht befunden. Immer aber bestätigt es mich darin, dass das Einholen verschiedener Ansichten der Meinungsbildung immer zuträglich, vorlautes Watschen hingegen Kunstzerstörung ist.

Daher auch das hiesige Bildfasten. Denn würde ich jeden geifernden Satz mit entsprechendem Anschauungsmaterial krönen, würde diese negative Programmierung jegliche andersgeartete Sichtweise erschweren und somit das aller Kunst eigene Potential auf Emoticon-Format schrumpfen.

Insofern geht es mir hier nicht darum, eine Aufzählung persönlicher Zu- und Abneigungen zu bebildern, als vielmehr um das grundsätzliche Phänomen des Angebots ohne Nachfrage.

In diesem Fall waren es also die sog. „Kunstansichten Offenbach“, bei denen ca. 45 Ateliers einer mittelgroßen Stadt mit Kunsthochschule zwei Tage lang das Volk über sich ergehen ließen.

Naturgemäß werde ich, das Volk, auf diese Weise mit einem bemerkenswerten Qualitätsgefälle konfrontiert. Dass KünstlerInnen Schrott produzieren, ist nicht weiter bedrohlich – Shit happens. Beklemmend ist vielmehr, dass manche es so hartnäckig tun. Und mit dieser Feststellung begeben wir uns auch schon vom kunstspezifischen Terrain auf die kosmische Ebene, denn die Investition von Zeit und Energie in Aktivitäten, die niemand braucht, ist ein uns alle verbindendes Hobby.

Dass in einem Atelier mehrere bunte Probleme nebeneinander hängen, ist allein noch kein Grund zur Sorge. Das kann in jeder Ausstellung geschehen, ohne die Befürchtung nahezulegen, der Täter könne nicht anders. Vielmehr mag es sich einem Augenleiden der KuratorInnen oder einem treudoofen thematischen Schwerpunkt verdanken. Jedenfalls besteht Anlass zur Hoffnung, bei den Exponaten möge es sich um Entgleisungen handeln, die immerhin Entwicklungspotential ahnen lassen.

Stehe ich aber inmitten eines Ateliers, in dem nur ein Teil des Grauens die Wände ziert, während ein identischer Rest aus Regalen, Schränken und Mappen lugt, beginne ich über die Vergeblichkeit menschlichen Mühens zu sinnieren.

Ina Juretzek u.a., Relikt einer Performance vom Eröffnungsabend in der Heyne Kunstfabrik, Foto CL

Ina Juretzek u.a., Relikt einer Performance vom Eröffnungsabend in der Heyne Kunstfabrik, Foto CL

Vergangene Woche zeigte Tacita Dean, eine meiner Lieblingskünstlerinnen, Ausschnitte aus einem Film über Claes Oldenburg. Entsprechend ihres Prinzips, Personen in einem für deren Lebenswerk bezeichnenden Kontext zu dokumentieren, hatte sie Oldenburg vorgeschlagen, er möchte seine umfangreiche Sammlung kleiner Gegenstände namens „Mouse Museum“ abstauben und sortieren. Bereits 1972 auf der Documenta 5 präsentiert, füllte diese Masse von manuell und industriell gefertigtem Klimbim – Spielzeug, Werbemittel, Ziergegenstände – ein ganzes Wandregal in Oldenburgs Studio.

So schrullig das klingt, ist eine umfangreiche Sammlung aus Sicht der Außenwelt nur bedingt wertvoller Objekte keinesfalls selten, sondern fast die Regel innerhalb einer Bevölkerungsschicht, deren Grundbedürfnisse gesichert ist. M.a.W. verfallen viele Menschen außerhalb der Notstandsgebiete irgendeiner Art von Gegenständen, deren Attraktivität sich anderen nicht zwangsläufig erschließt.

Ein gemeinsames Merkmal von Deans Filmen ist ihre Fähigkeit, das Aufgezeichnete durch kommentarlose Dokumentation über sich selbst hinausweisen zu lassen. Landschaften, Architektur, Objekte, Personen – sie alle entfalten eine über größere und tiefere Dimension durch den schnörkellosen Blick der spektakelfreien Kamera.
So auch im Fall von Oldenburgs Pflege seines archivierten Unsinns. Nach kurzer Zeit gerät das Abstauben und Ordnen persönlicher Kleinodien zur beklemmenden Metapher für menschliche Aktivität allgemein – von Misanthropen schon mal als „Stühlerücken auf der Titanic“ bezeichnet.

Während die Kamera dem Künstler näher kommt, nimmt der Betrachter dessen Perspektive ein – die mikroskopische Sicht auf dieses jahrzehntelang vervollständigte Universum aus Bling. Der Anblick der Versenkung einer Person in eine Aktivität einerseits, und das Wissen um deren Bedeutungslosigkeit für anderen andererseits1 gibt Anlass zur Frage nach ähnlich absorbierenden, dabei aber objektiv verzichtbaren Aktivitäten im eigenen und anderer Leute Alltag.

Mateo López "Changing-Matter", 10, Foto CL

Mateo López "Changing-Matter", 10, Foto CL

Den gleichen Effekt hat der Anblick des erhöhten Kunstaufkommens in den Ateliers derer, die am vergangenen Wochenende Einblick in ihre Arbeits- und Lagerstätten gewährten. Seit Jahrzehnten hat der weltweit steigende Ausstoß von Kunst vormalige ProduzentInnen von der Erzeugung zusätzlicher Objekte zu prozessorientierten oder konzeptuellen Arbeiten wechseln lassen. 2010 fand Michael Landys Art Bin – ein Plexiglas-Container, der KollegInnen erlaubte, misslungene Werke vor aller Augen und in aller Form in die Tonne zu treten, begeisterte Zustimmung, schien er doch die zeitgenössischste aller zeitgenössischer Kunst in einer Phase, da das Angebot die Nachfrage in beängstigendem Ausmaß übersteigt.

Die Gründe für das Missverhältnis sind zu vielschichtig, um sie im Rahmen eines Blogbeitrags zu behandeln. Dass es sich aber so verhält, liegt auf der Hand angesichts des anhaltenden Verteilungskriegs um die knappe Ressource Aufmerksamkeit. Scharen von kurz- oder langfristigen Zusammenschlüssen, On- und Off-Spaces, kommerziellen Galerien, Bi-, Tri- und Quatriennalen usw. versuchen durch gemeinsame Initiative dem Schicksal der EinzelkämpferInnen „divided we stand, together we fall“ zu entgehen.

Das wichtigste Werkzeug dabei ist – wie überall – Kommunikation und Bildung. Denn nur durch das Bekanntmachen des Produkts, zusammen mit der Vermittlung des zur Rezeption erforderlichen Wissens lässt sich die Klientel erweitern.

Steve Lambert "I Will Talk With Anyone", 06, Foto web

Steve Lambert "I Will Talk With Anyone", 06, Foto web

Darin liegt der Sinn solcher Gemeinschaftsaktionen, wie sie in unterschiedlichen Formaten zwischen Klein- und Groß-Posemuckel stattfinden. Und da ich mir öfter mal vorstelle, es ist wasauchimmerfürein „Weekend“, und keiner geht hin, gehe ich überall hin. Das ist meine Art donquichotiger Graswurzelarbeit gegen Blockbuster-Shows und prominente Bösewichter, wie sie als Star-KünstInnen oder allesfressende Mega-SammlerInnen durch die Medien geistern.

Ja klar, wie eingangs erwähnt, ist die Palette bei diesen basisdemokratischen Ereignissen ziemlich bunt, aber, wie ebenfalls erwähnt – es gibt halt nicht nur solche, sondern auch solche.




US-Kräfte töten bin Laden

Gerade erst aufgewacht und die Welt ist plötzlich ein wenig anders: US-Spezialkräfte haben Osama bin Laden in Pakistan getötet. In seiner Rede erklärte US-Präsident Barack Obama:

The death of bin Laden marks the most significant achievement today in our nations’ effort to defeat al Qaida.

Er hat allerdings auch betont, dass “… the United States is not and never will be at war with Islam.”

Hier das Video von seiner Rede.




Royal Wedding 2011 auch im Ruhrgebiet

Wer es noch nicht mitbekommen haben sollte: Heute heiratet in London die Nr. 3 der britischen Thronfolge (Prinz William) seine baldige Ex-Verlobte Kate, pardon: Katherine, Middleton.

Wer diese Tatsache in den vergangenen Tagen in den hiesigen Medien umgehen wollte, musste sich wirklich anstrengen, da landauf, landab in nahezu allen Medien darüber berichtet wurde (und jetzt auch hier in den Revierpassagen!). Wer sich beispielsweise die königliche Hochzeit im Fernsehen anschauen will, hat heute die Qual der Wahl, welchen Fernsehsender er dafür einschalten will, denn rund eine handvoll Sender senden parallel das selbe. Nur unterschiedliche Moderatoren und „Adelsexperten“ dürften für Unterschiede sorgen. Auch im Internet kann man the „Royal Wedding“ stilvoll begehen.

Wer jedoch eher auf das persönliche Erleben Wert legt (und keine Einladung des Hochzeitspaares erhalten hat), der kann auch im Rahmen des „public viewing“ (bei einer britischen Hochzeit passt dieser Begriff doch alleine sprachlich gesehen schon viel besser als die eingedeutschte Variante „Rudelgucken“) auch im Ruhrgebiet der königlichen Hochzeit beiwohnen:

Gerüchteweise sollen so diverse Kinos ein „public viewing“ anbieten, bestätigt ist das ganze aber (siehe Bild) beispielsweise vom Unperfekthaus in Essen, die ab 10:00 Uhr zur königlichen Übertragung einladen.

Wer also nicht alleine in seiner Kemenate dem königlichen Treiben zuschauen will, der findet in der Essener Innenstadt eine lohnenswerte Alternative – und danach kann man sich dann auch mal das Künstlerhaus als Unperfekthaus anschauen, falls man es noch nicht kennt.




Was uns ins ferne Länder lockt – Cees Nootebooms „Schiffstagebuch“

Das kennen alle Menschen, die jemals von Fernweh ergriffen worden sind: Schon die bloße Nennung von Ländern und Städten oder ihr bloßer Anblick auf Landkarten kann einen dazu verführen, sich auf den Weg zu machen.

Auch Cees Nooteboom, einer der großen Reisenden der Gegenwartsliteratur, lässt sich auf diese Weise durch die Welt treiben: „…immer waren es Namen, die mich irgendwohin gelockt haben.“ Wer derart ins Ungewisse aufbricht, der will immer und immer hinter die jeweils nächste Wegbiegung schauen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Irgendwann muss man aufhören, und sei’s mit der ganzen Lebensreise. Manches sehen heißt noch mehr versäumen. Und doch bleibt diese „Sehnsucht nach einer ewigen Bewegung ohne Ankunft und Aufbruch“.

Nootebooms „Schiffstagebuch“ ist längst nicht nur Wegbeschreibung und Ortserkundung, sondern eine reichhaltige Reflexion über Phänomene und Phantome des Reisens an sich. Der Schriftsteller gibt sich hier der langsameren Art der Fortbewegung, der allmählichen Näherung anheim, die zwangsläufig ein ruhigeres Schauen mit sich bringt. Die Fahrten führen beispielsweise rund ums Kap Hoorn bis Montevideo, zum Ganges, in den tropischen Nordwesten Australiens, nach Mexiko, von Mauritius bis Südafrika, von Spitzbergen nordwärts bis Hammerfest und schließlich nach Bali.

Hier ist kein landläufiger Tourist unterwegs, sondern ein geschulter Beobachter, der sich einige Zeit nehmen kann, der sich einlässt auf Menschen, Landschaften und Verhältnisse, vielfach auf rätselhafte, irritierende Momente und befremdliche Begegnungen.

Mehrmals hält in diesem Buch das Erzählen gleichsam den Atem an. An völlig entlegenen Orten gibt es jene Augenblicke oder besser Zeitflächen einer großen, überdeutlichen Stille, in die der Reisende dann und wann entrückt wird. Dort erfasst ihn das schiere Gegenteil seiner Existenzform: „Die Verlockung, zu bleiben, zu sehen, wie die Zeit verrinnt und wie man selbst verrinnt…“

Nooteboom, der wahrlich viel von der Welt gesehen hat, weiß, dass er ohnehin keine objektiven Befunde mitteilen kann, sondern mehr oder weniger flüchtige Eindrücke und Muster des Daseins. Fern liegt ihm der Gestus, eine Gegend zu „erobern“, doch auf seinen Nebenpfaden findet er ungleich mehr Sagenswertes als Draufgänger, die alle vermeintlichen Sehenswürdigkeiten mitnehmen.

Reisen, so zitiert Nooteboom den ungarischen Essayisten Béla Hamvas, sei „die rätselhafte Ausdehnung der Möglichkeiten nicht nur in die Richtung, in die man reist, sondern in alle Richtungen…“ Eine ungeheuerliche Herausforderung mithin, zuweilen auch Verunsicherung sondergleichen. Selbst wenn man – wie heute üblich – diverse Stätten aus Filmen kennt, so können sie einen doch mit aller Plötzlichkeit überwältigen, wenn man es denn zulässt. So steht denn Nooteboom fassungslos vor dem strömenden, brandenden Tumult des Lebens in Indien: „…nichts hat mich auf den Schock des Echten vorbereitet, auf meine Sprachlosigkeit.“

So sehr sich der Reisende auch bereitwillig einfühlen mag, so bleibt er doch ein bloßer Gast in jeder Fremde, nirgendwo heimisch. Immer wieder macht sich Nooteboom diese Kluft bewusst, die den Reisenden letztlich nie an ein Ziel kommen lässt. Die Anziehungskräfte der Namen und Karten erweisen sich als „Verlockung des Unmöglichen“.

Auch in der Übersetzung bleibt Nootebooms stupende Fähigkeit spürbar, seinen Texten etwas von den Konturen der Landschaften zu verleihen, die er bereist hat. Ganz so, als wären es Relief-Abdrücke wirklicher Formationen. So kann man die unendliche Leere Feuerlands ahnen, die tosende indische Überfülle, die einzigartige historische Patina der früheren Welt-Perlen-Hauptstadt Broome (Australien), die Zielpunkt eines japanischen Überfalls im Zweiten Weltkrieg gewesen ist und heute nur noch erloschen dahindämmert. Aber es gibt auch Landstriche, deren Lüfte gleichsam über und über angefüllt sind mit Dichtung. Über den Weg durch Chile und Argentinien nach Uruguay heißt es: „Ich bin von Neruda zu Onetti gefahren und von Onetti zu Borges und Gombrowicz, zu Ocampo und Bioy Casares und allen Dichtern dazwischen.“

Immer wieder kommen die Menschen zur Sprache, denen die Ländereien einst geraubt worden sind: Indianer im äußersten Südzipfel Amerikas, Maya in Mexiko, Aborigines in Australien. Überall finden sich Spuren gelebter und erlittener Geschichte, wie erstarrt auch immer. Historische Wunden, zerstörte Balancen, geschundene Natur. Wahrhaftiges Reisen bedeutet auf Dauer auch, lauter schmerzliche Verluste zu verbuchen.

Cees Nooteboom: „Schiffstagebuch“. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Mit Schwarzweiß-Fotos von Simone Sassen. Suhrkamp Verlag, 283 Seiten, 19,90 Euro.




Verschaukelt

Die Einheit ist Geschichte, und sie ist nach wie vor unvollendet. Vollendete Tatsachen schaffte jedoch die Einheitsdenkmalsjury mit ihrer Auswahl des Entwurfs aus dem Stuttgarter Architekturbüro Milla, das zusammen mit Sasha Waltz die Möglichkeit des Andenkens an die Prozesse, die zu dem Staatsgebilde von heute geführt haben, grandios dämlich verschaukelte. Dieses Werden als 50 Meter breite Wippe materialisieren zu wollen, mag vielleicht als Metapher im Hirn funktionieren. Die Vorstellung, das Ganze dann in der Nähe des rekonstruierten Disney-Objekts namens Stadtschloss aufgestellt zu erleben, führt zu einem Ensemble, das an Peinlichkeit nicht zu überbieten ist.

Sicherlich, unter keinem guten Stern stand das Projekt von Beginn an. Zuerst die Schmach des Scheiterns von Wettbewerb Nummer eins. Aber auch der zweite Rundgang verhieß nach der Vorauswahl nichts Gutes. Man denke etwa an die Beliebigkeit von Stephan Balkenhols „Kniendem“. Unentschieden eben. Und das trifft gleichermaßen auf die Wippe zu. Viel lässt sich heineinsehen. Oh, körperlich erlebtes Pendeln im großen Format. Kommt es dann zur existenziellen Erfahrung, wenn bewegungsfreudige Kids Touristengruppen in Bewegung bringen? Nun, so hoch kann die Amplitude schon aus baurechtlichen Gründen nicht ausschlagen. Sicher und gepampert, wird alles der üblichen Artigkeit angepasst. Also doch nur Symbolik mit wohlmeinendem Label „Wir sind das Volk. Wir sind ein Volk“. Selbst wenn auf dem Plateau kein Kaiser Wilhelm mehr aufragt, sondern egalitär jeder Besucher den Fuß auf das Werk zu setzen vermag, so wird es doch dadurch weder aus gestaltungslogischer noch ikonografischer Perspektive besser um das Projekt.

Letztlich spiegelt der Entwurf die herrschende Tagespolitik eines Landes, in dem die Akteure der derzeitigen Regierung hin und her wackeln. Sie reflektieren eine wankelmütige Kanzlerin, einen Außenminister, der etwa mit Blick auf die arabische Revolution erst vollmundige Hilfe verspricht, dann aber wiederum nur den lähmenden Takt für ein unentschiedenes Pendeln zwischen verhaltenem Aktionismus und Rückzieherei vorgibt. Ganz gleich in welches Ressort man schaut – sieht man vielleicht einmal von, man höre und staune, Frau Leutheusser-Schnarrenberger ab, ist es ein bleiernes Schwanken auf niedrigem Niveau. Wenn das Denkmal für diesen Nicht-Zustand der Berliner Republik geschaffen worden wäre, meinen Segen hätte es bekommen. Der deutschen Einheit wird ein derartiger Fun-Park jedoch keineswegs als dauerhafter Anlass der Erinnerung oder des An- und Überdenkens gerecht.




„Apokalypse Afrika“: Auf Dauer ratlos

Diese Lektüre bringt einen ins Schlingern. Manchmal weiß man gar nicht mehr, in welchem Land Afrikas man sich gerade befindet, so sehr schwirrt einem der Kopf vom beschriebenem Chaos. Tatsächlich sind ja vielfach die staatlichen Strukturen fast gänzlich zerstört.

Hans Christoph Buchs neuer Band „Apokalypse Afrika“ setzt u. a. in hochkolonialistischer Zeit an und protokolliert mehrmals mit zeitgenössischen Berichts-Fragmenten die Kongo-Konferenz, die 1884/85 in Berlin stattgefunden hat. Die Europäer hielten sich damals einiges darauf zugute, dass sie der offenen Sklaverei und dem „Negerhandel“ abschworen. Nach außen hin nüchtern und rational, in pathetischen Momenten gar nahezu karitativ, doch in Wahrheit zutiefst gierig, suchten sie hier ihre Interessen-Sphären und Handelszonen aufzuteilen, wobei manche Passage so klingt, als sei damals vor allem Portugal von den anderen Mächten „gemobbt“ worden. Das ist aus heutiger Sicht allerdings zweitrangig, wurden doch hier die bis in unsere Zeit nachwirkenden Voraussetzungen dafür geschaffen, dass der Kontinent nicht zur Ruhe kam, weil zahllose Statthalterkriege angezettelt wurden. Doch zur Saat des Kolonialismus kam noch etwas Ungutes, letztlich Unbenennbares hinzu, wie Hans Christoph Buch findet. Auch seine Texte können und wollen keine Klarheit schaffen.

Der einleitende Text des Bandes bezieht sich auf ein Ereignis des Jahres 1816, das schon auf künftige Katastrophen vorausdeutet. Das (von Théodore Géricault auf einem berühmten Bild gemalte) „Floß der Medusa“ steht nicht nur für schlimmsten Schiffbruch, sondern für kannibalistische Entgrenzung in napoleonischer Zeit, als Frankreich sich anschickte, Senegal zu unterwerfen.

Die vielleicht bizarrste Geschichte handelt von jener „Hottentotten-Venus“, die in London und Paris als Weltwunder gegen Geld vorgezeigt und mit abgründigen sexuellen Phantasien besetzt wurde. Die Historie zwischen Europa und Afrika, so ahnt man, ist weitaus mehr als politisches Kalkül, sie ist durchaus pathologisch, wahn- und körperhaft geprägt.

Zeitsprung: Als Groteske der etwas milderen Observanz erweist sich Horst Köhlers bundespräsidiale Goodwill-Tournee durch afrikanische Länder. Hans Christoph Buch gehörte seinerzeit zur Entourage. Hier feiern rundum alle Klischees vom „Schwarzen Kontinent“ Urständ – vom Operettenstaat bis zur immerwährenden Tanzwütigkeit der „Eingeborenen“. Alles nur Kulissenschieberei, in der auf kläglichste Weise „Politik“ inszeniert wird. Kein Wunder, dass etwa der eine oder andere journalistische Beobachter die Restbestände seines Bewusstseins mit Sex und Suff betäubt.

Weitere Passagen des Buches dringen bis in lebensgefährliche Bereiche des jetzigen Afrika vor. Die Hölle auf Erden, mit nur allzu bekannten Stichworten: Marodierende Banden, Kindersoldaten; Bürgerkriege, in denen Hunderttausende Menschen viehisch abgeschlachtet werden; Diktatoren, die ihre Völker bis aufs Blut ausbeuten. Als Hans Christoph Buch eine Gewaltszene mit eigenen Augen sieht, blättert auch bei ihm der Lack der Zivilisation ab, wie er erschütternd ehrlich eingesteht: „Beim Anblick des an die Kehle gesetzten Messers geriet ich in unkontrollierte Erregung, die sich zu sadistischer Lust steigerte, als sein Blut zu fließen begann – am liebsten hätte ich mich an seiner Folterung beteiligt…“ Dabei hatte er sich offiziell für die Freilassung des Bedrohten eingesetzt. Welche Kräfte sind da am Werk, wenn ein politisch absolut unverdächtiger Mann wie Buch, der mit dem kolossalen Thema Afrika nicht fertig werden kann und mag, derart an sich irre wird? Wo ist links, rechts, oben und unten?

Dies alles lesend, kann man wahrlich verzweifeln. Hoffnungsschimmer sind ach so gering, wenn überhaupt vorhanden. Puritanisch gewendet, fragt es sich gar, ob just dieser Band in der bibliophilen Edition „Die andere Bibliothek“ hat erscheinen müssen, oder ob ihm nicht Schmucklosigkeit besser angestanden hätte.

Solche monströsen Themen lassen sich jedenfalls kaum stilistisch „bändigen“, sie bleiben buchstäblich so fassungslos wie in diesem Falle Autor und Leser. Hans Christoph Buch arrangiert und collagiert die geradezu surrealen Partikel der schrecklichen Wirklichkeit nach Kräften, doch sie zerrinnen ihm gleichsam unter den Händen, von Ordnung kann hier eben keine Rede sein. Jede gefälligere Zurichtung des Stoffes wäre wohl infam gewesen. Buchs persönlicher Zugang bringt allemal mehr Ertrag als noch so klug und scheinbar schlüssig formulierte Ferndiagnosen. Und so lässt „Apokalypse Afrika“ einen am Ende ratlos zurück; ganz so, wie es die bittere Wirklichkeit vermag.

Hans Christoph Buch: „Apokalypse Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern“. Eichborn Verlag / Die andere Bibliothek, 252 Seiten, 29 Euro.




Rauschen der Ferne

Man muss schon ein paar Jährchen verbracht haben, um es noch zu kennen – das Rauschen der weiten Entfernungen, die man mit einem herkömmlichen Weltempfänger-Radio mehr schlecht als recht überbrückte. Wie man gefiebert hat, ob heute wohl Korea oder Mexiko „hereinzukriegen“ wären…

Fürs heutige Empfinden hat das alles erbärmlich geklungen. Selbst mit den besten Empfangsgeräten war vieles Glückssache. Wie stolz war man, wenn man zwischen dem Grundrauschen und ebenso kurzwellentypischen Kratz- oder Fieptönen ein paar schüttere Sätze aus Südamerika zu hören bekam. Enthusiasten ließen sich dann eigens Bestätigungskarten als Trophäen von Stationen aus aller Welt schicken. Man befasste sich ernsthaft mit Phänomenen wie Sonnenflecken, die großen Einfluss auf die Qualität des Fernempfangs haben. Fachzeitschriften ohne jegliche Hochglanz-Attitüde verkündeten tabellarisch die allfälligen Frequenzwechsel, sofern bis Redaktionsschluss bekannt.

In den eisesstarren Zeiten der Ost-West-Propagandaschlachten war Radio Moskau eine vielsprachige Dominante und Radio Tirana blies vollends abstruse Ideologie-Partikel in den Äther. Sie überdeckten und störten oft ungleich interessantere Angebote.

Längst hat das Internet die Kurzwelle in weiten Teilen der Welt überflüssig gemacht. Zigtausend Sender von überall sind online glasklar zu empfangen. „Unübersichtlich“ ist gar kein Ausdruck für diese Vielfalt. Und die großen Kurzwellenstationen stellen seit Jahren reihenweise Programme ein.

Wo ist das verheißungsvolle Rauschen geblieben, das einst auch die Sehnsucht nach Ferne enthalten hat?

Gepriesen sei die Unvollkommenheit. Vielleicht gibt es ja irgendwo schon Internet-Radios, bei denen man solche Störgeräusche künstlich hinzufügen kann, so wie man digitale Fotos auf Schwarzweiß trimmt oder mit Sepiatönen versieht – damit’s noch einmal so schön heimelig wird.

P. S.: Ob im besagten Rauschen auch etwas mitschwingt, was beseelt Hörende an der analogen LP festhalten lässt?




Afrika und die Magie des Fußballs

Wohl kein anderer deutscher Journalist kennt sich mit Afrika u n d mit Fußball so gut aus wie Bartholomäus Grill, von 1993 bis 2006 und neuerdings wieder Afrika-Korrespondent der Wochenzeitung „Die Zeit“. Im Vorfeld der Fußball-WM 2010 in Südafrika ist jetzt sein Buch „Laduuuuuma!“ erschienen. Das Titelwort ist der immens lang gedehnte Torschrei am Kap der Guten Hoffnung – etwa vergleichbar dem exzessiven „Gooooooooool!“ in Brasilien.

Grill hat sein Buch jetzt in Dortmund vorgestellt, zünftig in der Stadion-Gaststätte „Strobels“. In diesem Dunstkreis fühlt sich der 1954 geborene Bayer (er stammt aus Oberaudorf wie z. B. die Herren Stoiber und Schweinsteiger) ein wenig zu Hause, ist doch Borussia Dortmund seit dem Europapokalsieg 1966 sein Lieblingsverein. Gutes Beispiel für Globalisierung: Auch in entlegenen Winkeln Afrikas sind ihm schon Einheimische im BVB-Trikot begegnet. Ich geb’s freimütig zu: Als Dortmunder gehen mir solche Vorfälle zum schwarzgelben Herzen.

Nun aber zur Sache. Grill findet, auf keinem anderen Kontinent sei man derart fußballverrückt wie in Afrika. Die Menschen wissen dort nicht nur mit den eigenen Vereinen Bescheid, sondern mindestens ebenso sehr mit der englischen Premier League oder Erstligisten in Spanien, Italien, Deutschland oder Holland, wo jeweils etliche afrikanische Stars ihr Geld verdienen. Selbst mit den härtesten Gangsterbossen in Townships wie Manenberg (mörderische no-go-area, in die sich Grill zu Recherche-Zwecken dennoch gewagt hat) könne man oft immer noch ein Gespräch über Fußball anknüpfen. Verblüffender noch: Als dem Autor im Kongo unversehens ein sichtlich aggressiver, bis an die Zähne bewaffneter Soldat begegnete, habe die bloße Erwähnung des Namens Ballack für Entspannung gesorgt. Das muss man sich für Wechselfälle merken.

Wie schätzt Bartholomäus Grill die im Hinblick auf die WM oft warnend beschworene Kriminalität in Südafrika ein? Nun, die Zahlen (rund 50 Morde am Tag) seien wirklich verheerend. Allerdings seien so gut wie nie Touristen die Opfer, sondern überwiegend (zu rund 70 Prozent) Schwarze aus armen Vierteln. Bei Grill klingt diese Einschätzung nicht zynisch, sondern realistisch und pragmatisch.

Die Darstellung in den hiesigen Medien sei indes fast immer ungerecht. Typisches Beispiel: Als die ARD-Tagesthemen kürzlich von der Gruppenauslosung zur WM berichteten, sei sogleich ein Kontrast-Schwenk über brennende Hütten vollführt worden. Grill: „Das ist ungefähr so, als hätten afrikanische Sender bei der Auslosung für die WM in Deutschland Skindheads gezeigt, die einen Obdachlosen totschlagen.“ Die eingefahrenen Wahrnehmungs-Muster westlicher Journalisten in Afrika liefen meist auf Not, Elend und Gewalt hinaus. Dabei werde dort ebenso gelebt, gelacht und geliebt wie überall auf Erden. Überhaupt: Selbst wohlmeinende Ratschläge „weißer Gutmenschen“ seien oft eher hinderlich.

In seinem erzählfreudigen und informativen Buch schildert Grill die enorme Bedeutung des Fußballs für Afrika, stets verknüpft mit geschichtlichen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen (bis hin zur Diktatur des Schlächters Idi Amin), doch auch der gut platzierten, süffigen Anekdote nicht abhold. Man glaubt es schließlich gern: Es ist wohl tatsächlich ein Königsweg, um den Erdteil ein wenig zu verstehen, wenn man sich über den Fußball nähert. So ist zwar einerseits der Sport vielfach ebenso von Korruption durchsetzt wie ganze Staatengebilde, auch gibt es üblen Menschenhandel mit jungen Kickertalenten.

Doch beim Zusammenwachsen einer (vordem durch die Apartheid zutiefst gespaltenen) Nation wie Südafrika ist die Bedeutung von Fußball und Rugby eben auch kaum zu überschätzen. Nichts weckt solche Gefühlswallungen, nichts kann im besten Falle so sehr zusammenschweißen. Was Deutschland anno 1954 bewegt hat („Das Wunder von Bern“), hat Südafrika 1995 mit dem Sieg bei der Rugby-WM und 1996 als Afrikameister im Fußball erlebt. Heute allerdings, so Grill, dürfte das Gastgeberland das „mit Abstand schwächste Team“ aller 32 Teilnehmerländer stellen.

Eines der spannendsten Kapitel handelt mit drastischen Beispielen von Okkultismus und Magie: Der in ganz Afrika verbreitete Aber- und Hexenglaube, der mitunter sogar zur Lynchjustiz führt, lässt sich eben auch anhand des Fußballs illustrieren. Pavianpfoten, Krötenherzen, Rattenfelle oder allerlei Pülverchen sollen siegreiche Wunschergebnisse herbeizwingen. So mancher Zauberer ist auf diesem Gebiet tätig. Auf großen Fetisch-Märkten ist das bizarre Zubehör käuflich zu erwerben. Selbst wenn hiesige Fans schon mal verzückt den Rasen küssen: Welch nüchterne Verlässlichkeit scheint hingegen in der Bundesliga zu herrschen…

Die Frage, die keinesfalls fehlen darf: Wer gewinnt nach Grills Meinung das Turnier 2010? Er nennt ein Wunschfinale der kultiviertesten Spielkunst: Spanien gegen die Elfenbeinküste. Letztere möge dann mit 2:1 gewinnen.

Wenn das exakt so eintrifft, bin ich auch geneigt, an Geister zu glauben.

Bartholomäus Grill: „Laduuuuuma! – Wie der Fußball Afrika verzaubert“. Verlag Hoffmann und Campe. 256 Seiten. 20 €.

Gekürzte Fassung unter gleichem Titel auch als Hörbuch (gelesen von Andreas Pietschmann), ebenfalls Hoffmann und Campe, 2 CDs, 20 €.




Andere Luft, anderes Licht

Unter dem schlichten Titel „Auf Reisen“ versammelt Matthias Zschokke (geboren 1954 in Bern, seit 25 Jahren vorwiegend in Berlin wohnend) Skizzen aus wechselnden Gegenden. Das Buch firmiert als „Erzählung“, als bestehe es aus Erfundenem. Dabei handelt es doch von unterwegs Vorgefundenem. Von anderer Luft, anderem Licht, anderem Sein.

Fast schon erheiternder namentlicher Anklang: Ein besonderer Schwerpunkt des im Zürcher Ammann-Verlag erschienenen Buches sind Impressionen aus Amman (Jordanien). Zschokke schildert (jenseits aller politischen Konflikte) diese stets auf Würde bedachte Kultur als immense Bereicherung. Allein schon die althergebrachten Rituale öffentlichen Rauchens könnten Lockung genug sein. Auch verstreiche die Zeit in jenen Breiten ganz anders als bei uns. Gerade fürs unendlich gelassene Dahindämmern an den Rändern zu einer vollkommenen Stille hat Zschokke ein empfängliches Sensorium.

Die orientalischen Aufenthalte gipfeln in einem Zitat mit Goldrand: „Jeder Europäer sollte dringend dann und wann nach Arabien, um sich daran zu erinnern, wie Menschen miteinander umgehen können, wenn sie nur wollen.“ Wir lassen das mal so stehen. Freimütig gesteht der Autor, Schattenseiten auszublenden, denn: „An Schlechtes zu denken tötet das Vergnügen und verdirbt die Laune.“

Jeder aufgesuchte Ort erhält hier – mitunter in wenigen Absätzen – sein spezifisches Gewicht. Man spürt in manchen Passagen, was eine Stadt tatsächlich unterscheidet, im besten Falle einzigartig macht. Die etwas mutwillig erscheinende Abfolge im Buch sorgt zuweilen für Wirrnis, dann aber auch für erhellende Kontraste. Gerade eben noch ist man in Berlin aufgebrochen, dann flugs im beschaulichen Baden-Baden gewesen, schon findet man sich in Budapest mit seiner unnachahmlichen Patina, seinem abgeblätterten Charme wieder.

Hier wie dort sucht der allzeit (auch gastronomisch) genussgeneigte Autor die Stätten traditioneller, reich entfalteter Badekultur auf. Sein spezielles Vergnügen. Auch in Porto (seltsam melancholisch), Rotterdam (eher langweilig) oder im Elsaß (entgegen dem Ruf: vielfach mieses Essen) macht er Station. Bei Abstechern in Gegenden der heimischen, doch gelegentlich sehr fremdartigen Schweiz (Zürich, Genf, Ascona, Chur, Hasliberg) sucht sich Zschokke offenbar seiner Herkunft zu versichern. Schließlich gibt es ein paar passende Exkurse ins Land der eigenen Kindheit, dessen geheimnisvolle „Geographie“ ja jeder späteren Reise zugrunde liegt.

Die meisten Episoden und Einsprengsel betreffen freilich Zschokkes Erfahrungen in New York, wo er eine Zeit lang gelebt hat. Dieses Inbild einer Metropole erhält hier etwas vom alten Glanz zurück. Die Stadt erscheint als weltweit wandelbarster, immer noch sturzvitaler Schauplatz andernorts ungeahnter Konzentrate, kühnster Lebensentwürfe. Wo, wenn nicht hier? Nirgendwo mehr Gegenwart, mehr Möglichkeiten, mehr Toleranz. Im Vergleich kommt ihm Berlin grau, still und fast menschenleer vor. Zschokke scheint sich da hart am Rande altbekannter Klischees zu bewegen, und doch kommt einem frisch und lebendig vor, was er gleichsam atemlos zu berichten hat.

Übrigens plädiert der Autor keineswegs für „exklusive“, exotische Ziele, sondern gerade für viel besuchte Stätten. Aus albernem Abgrenzungs-Bedürfnis heraus versäume man sonst viel. Zitat: „Wir umfahren Venedig, meiden die Pyramiden, wenden uns ab vom Schloß Neuschwanstein, um dafür Livorno, Ouagadougou und Schloß Thun aufzusuchen.“

In diesem Buch kann man mancherlei anregende Lebenswürze nachschmecken. Es könnte Gelüste wecken, wieder einmal ausgiebig unterwegs zu sein. Woher und wohin auch immer.

Matthias Zschokke: „Auf Reisen“. Ammann Verlag, Zürich. 235 Seiten. 19,90 €.




Mehr Mond!

Es ist eine jener Themen-Ausstellungen, bei denen man sich fragt: Warum ist bloß noch niemand vorher auf diese Idee gekommen? Das Kölner Wallraf Richartz-Museum lässt jetzt viele Monde aufgehen, leuchten und schimmern. Kann man da etwa mondsüchtig werden?

Eigentlich sonnenklar: Das erdnahe Gestirn ist ungeheuer oft gemalt (und später mit wissenschaftlichen und künstlerischen Absichten fotografiert) worden, oft auch indirekt: halb verborgen hinter dramatisch gebauschten Wolken oder zittrig gespiegelt auf Wasserflächen.

Die Kunstgeschichte hatte diverse „Mondphasen“, man denkt dabei wohl zuerst an die fahlen Nachtszenen der Romantik, die nicht selten in Bereiche ragen, die man als gefühligen Kitsch wahrnimmt. Schon die malenden Zeitgenossen ergingen sich damals zuweilen in ironischer Distanzierung. Johann Peter Hasenclevers „Die Sentimentale“ (1846), die sehnsüchtig zum Mond aufblickt, gerät zum Spottbild auf übertriebene Schwärmerei.

Doch der Reigen dieser Schau setzt schon sehr viel früher ein, nämlich bei Stefan Lochner und Albrecht Dürer. Man lernt nicht nur das Phänomen der strahlenbekränzten „Mondsichel-Madonnen“ kennen, sondern erfährt auch am bildlichen Beispiel, dass Maria im frommen Mittelalter selbst als eine Art „Mond“ imaginiert wurde, der das göttliche Sonnenlicht gleichsam ideal reflektierte.

Rubens porträtierte sich um 1605 im Verein mit dem mondkundigen Galileo Galilei – höchst selbstbewusster Anspruch auf beiderseits zukunftsweisende Genialität. Die Kölner bieten in unüblich dichter Hängung einige große Namen auf, auch für die späteren Zeiten: Bilder etwa von Joseph Wright of Derby, Caspar David Friedrich, Edouard Manet („Mondschein über dem Hafen von Boulogne“), Felix Vallotton, Max Beckmann, Max Ernst, Edvard Munch. Jeder schuf da quasi seinen ganz eigenen, persönlichen Mond – erst recht in der Moderne. Sehen und Empfinden gingen immer wieder neue Verbindungen ein.

Im Wallraf Richartz Museum verknüpft man gern Kunstgeschichte mit Naturwissenschaft. Zur mehr oder weniger frei schwebenden Ästhetik kommt somit stets etwas Handfesteres. Im letzten Jahr war man den Impressionisten mit allerlei avancierten Forschungs-Methoden zuleibe gerückt. Jetzt zieht man auch astronomisches Wissen zu Rate, um die Gemälde zu deuten. Mit Hilfe „ewiger“ Himmelskalender, die Lauf und Stellung des Trabanten vorhersagen oder eben historisch nachzeichnen, lassen sich Mondbilder (einigermaßen realistische Darstellung vorausgesetzt) recht genau mit Jahres- und Tageszeiten datieren. Insgesamt gilt allerdings: Viele Künstler haben den Mond, um deutlichere Effekte zu erzielen, häufig deutlich zu groß an ihre Himmel gehängt.

Quer durch die Epochen sieht es die Kunst ja auch nur selten als ihre Aufgabe an, den Mond „sachgerecht“ und naturtreu zu zeigen. Vielmehr erweist er sich meist als symbolbeladen – manchmal als Zeichen des bedrohlich Bösen, zuweilen auch als Bote unsteten Wandels (zu- und abnehmende Sichel). Mit dem Aufkommen des Teleskops und hernach der Fotografie oder gar der Raumfahrt vollziehen sich jeweils künstlerische Ausweich- und Absetzbewegungen, sprich: Die Kunst räumt dann immer wieder realistische Positionen, weil sie auf diesem Gebiet ohnehin nicht mit den neuen Erfindungen konkurrieren kann. Auch deshalb geraten, ob nun in der Romantik oder im Impressionismus, „Unschärfen“ in die Bilder, die nicht immer leicht zu deuten sind. Beim Expressionisten Schmidt-Rottluff nimmt der Mond beispielsweise blaue Farbe an. Für die Surrealisten ist er sowieso in erster Linie ein bleicher Traumbringer.

Ein zweiter Hauptstrang der Ausstellung verfolgt die technischen Entwicklungen der Mondbeobachtung und Mondbeschreibung (Kartographie usw.), vor denen die Malerei also die Flucht ergriff – bis in flirrende Bezirke, wo sie ungeahnt neues Terrain eroberte und der Technik wiederum weit voraus zu sein schien. Das Spektrum der sachkundlichen Exponate reicht von Beobachtungs-Instrumenten über alte, oft schon erstaunlich exakte Mondkarten bis hin zu Fotos der Apollo-Missionen. Diese wiederum werden auch schon mal künstlerisch verfremdet, um sie wieder ins Bewusstsein zu heben.

Vollends verblüffend ist ein aufwändig gemaltes Diorama, das 1919 entstand und dem Betrachter breitwandig das grandiose Gefühl vermitteln sollte, just auf dem Monde zu stehen. Freilich waren diese Mondgebirge aufgrund falscher theoretischer Annahmen gar zu wild und steil gezackt – und es soll hier sogar ein Abbild der Zugspitze den Weg ins Weltall gefunden haben. Also spukte auch hier die Phantasie mit hinein. Ein Grenzfall zwischen Wissenschaft, Kunst – und Jahrmarkt? Auch auf phantastisches Kino (z. B. die Weltraum-Odyssee des Stanley Kubrick) deutet das Diorama wohl schon voraus.

Bemerkenswert auch ein ziemlich verrücktes „Mondprojekt“ des deutschen Künstlers Adolf Luther, der in den 1970er Jahren mit Blick aufs Millennium, also auf das Jahr 2000, ein gigantisches Fest plante, bei dem die Rückseite des Mondes künstlich erstrahlen sollte, illuminiert durch gigantische Parabolspiegel im All. Zur Finanzierung dieser Vision sollte das Logo eines US-Konzerns kostenpflichtig auf den Trabanten projiziert werden, dem Jahrtausend-Ereignis sollte man sodann in eigens entworfener Mode beiwohnen. Aus all dem ist nichts geworden. Soll man’s bedauern?

„Der Mond“. Wallraf-Richartz-Museum, Köln (Obenmarspforten / am Rathaus). Bis 16. August 2009. Geöffnet Di-Fr 10-18, Do 10-22, Sa/So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9,50 € (ermäßigt 6 €). Katalog 30 €. Internet: www.wallraf.museum

Thematische Ergänzung im laufenden „Jahr der Astronomie“: „Sternstunden – Wunder des Sonnensystems“. Gasometer Oberhausen, seit 2. April 2009 bis 10. Januar 2010. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 7 € (ermäßigt 5 €).

Bild: Edouard Manet „Mondschein über dem Hafen von Boulogne“ (Katalog)




Wie die USA vor 50 Jahren waren – Jetzt in der Werkausgabe: „Amerikafahrt“ des Schriftstellers Wolfgang Koeppen

Da ist einer soeben in New York angekommen und schreibt: „Schon sah ich einen Wolkenkratzer brennen, den Broadway lohen, schon las ich die Schlagzeilen auf allen Zeitungen der Welt. Gewaltige Katastrophen schienen hier in der Luft zu liegen.”

Wann ist das gewesen? Kurz vor oder nach dem 11. September 2001? Weit gefehlt. Es war im Frühjahr 1958. Da hat jemand latente Gefahren gewittert, die in jener Mega-Stadt vielleicht von jeher in der Luft gelegen haben. Der Mann hieß Wolfgang Koeppen und zählte zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern nach dem Krieg.

Es ist ungemein spannend, jetzt – im Rahmen der höchst verdienstvollen Werkausgabe – wieder zu lesen, was Koeppen damals auf seinen Wegen kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten bewegt hat.

Koeppen lässt eindeutige Vorlieben erkennen: San Francisco und Boston erscheinen ihm wie nahezu himmlische Orte, Salt Lake City und New Orleans hingegen als öde, überhitzte Höllenbezirke auf Erden. Die Fegefeuer der aus Faszination und Furcht gemischten Gefühle brennen in Washington, Texas und Los Angeles. Doch New York ist in jeder Hinsicht ein herausragender Sonderfall.

Mit dem soliden Halbwissen darüber, was mittlerweile aus den USA geworden ist, staunt man als Leser, wie Koeppen offenkundig schon manche Essenzen des Kommenden herausgefiltert hat – schlichtweg durch geduldig teilnehmendes, im besten Sinne subjektiv getöntes Beobachten. Historisch geschärftes Bewusstsein und die Wachhheit eines klugen, hochsensiblen Zeitgenossen vereinen sich hier zur vertrauenswürdigen Zeugenschaft.

Gewiss, man spürt den geschichtlichen Abstand. Gerade das macht einen weiteren Reiz dieses Buches aus. Koeppen spricht durchweg noch – wie damals allgemein üblich – von „Negern”, wenn er Menschen meint, die wir heute politisch korrekt Afro-Amerikaner nennen. Aber: Er begibt sich (anders als damals die allermeisten Weißen) in die Wohnviertel und Kneipen der Farbigen, benennt Symptome und Formen der täglichen Unterdrückung.

Überhaupt nimmt Koeppen Vorgänge wahr, die tiefer reichen und länger währen als kurzatmige Aufregungen der Tagespolitik. Er ist durchaus zur Bewunderung bereit: Beispielsweise preist er die aus vitaler Vielfalt erwachsende, fortwährende Kraft zur Selbsterneuerung, die die Staaten ja jüngst wieder bewiesen haben. Weiterer Befund: In den USA könne sich jederzeit Geld in Geist verwandeln – allerdings auch umgekehrt …

Die Dominanz von Auto und Fernsehen entgeht Koeppen natürlich nicht. Schon 1958 gibt es dort eine TV-Show, die ihm geradezu brutal vorkommt: „Sie waren Leute aus dem Publikum und wurden auf eine Art Thron gesetzt. Dann traten Komiker vor sie hin, freche, mit allen Hunden gehetzte Kerle, die darauf aus waren, die Personen zum Lachen zu bringen.” Und wehe, wenn nicht! – Mal gespannt, welcher Privatsender diese Idee bald aufgreift.

Zielgenau charakterisiert Koeppen die gravierenden Unterschiede zu Europa, seien sie nun klimatischer oder mentalitätsgeschichtlicher Art. Er hat gar eine spezifisch amerikanische Form menschlicher Einsamkeit entdeckt, die er so bildhaft beschreibt, dass sie geradezu als landschaftlich umrissenes Phänomen greifbar wird. Überhaupt sieht man unentwegt imaginäre Fotografien oder Kinobilder vor sich, wenn man diese famosen Reise-Impressionen liest. Koeppens Stil animiert die Einbildungskraft. Kein Zweifel: große Literatur!

Wolfgang Koeppen: „Amerikafahrt und andere Reisen in die Neue Welt”, Suhrkamp-Verlag, Werkausgabe in 16 Bänden (Band 9), 333 Seiten, 34,80 Euro.

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ZUR PERSON

  • Wolfgang Koeppen wird am 23. Juni 1906 in Greifswald geboren.
  • Unstetes Leben in der Weimarer Republik. Jobs als Platzanweiser, Eisverkäufer, Schiffskoch. Umzug nach Berlin, erste Publikationen.
  • 1934 Romandebüt mit „Eine unglückliche Liebe”.
  • Koeppen verfasst ab 1938 Drehbücher für die Ufa.
  • Ab 1946 Beziehung und später Ehe mit Marion, die zunehmend unter Alkoholismus leidet. Ihr Briefwechsel erschien Anfang 2008: „. . . trotz allem, so wie du bist”, Suhrkamp, 457 S., 32,80 €.
  • Wichtigste Romane: „Tauben im Gras” (1951) und „Das Treibhaus” (1954) über das damalige politische Bonn.
  • Die Reisen nach Russland, Amerika und Frankreich unternahm Koeppen in den 50er Jahren im Auftrag von Alfred Andersch, damals Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk.
  • Legendär sind Koeppens lang andauernde Schreibkrisen. Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld hatte sehr viel Geduld mit ihm und half stets mit Vorschüssen. Davon zeugt ebenfalls ein Briefwechsel.
  • Koeppen starb am 15. März 1996 in München.



„Mao und die 100 Blumen“: Der Diktator mit dem ewigen Lächeln – Chinese Ren Rong zeigt seine Bilder in Hamm

Hamm. Sieht aus wie ein Palmzweig des Friedens, was da aus dem Mund des chinesischen Diktators Mao ragt.Dazu lächelt der Despot milde und zukunftsgewiss.

Um das Mindeste zu sagen: Solche Bilder des deutsch-chinesischen Künstlers Ren Rong können sehr mulmige Gefühle hervorrufen. Mao hatte schließlich einige Millionen Menschenleben auf dem Gewissen. Und nun diese aufgewärmte Propaganda?

„Mao und die 100 Blumen“ heißt die Ausstellung im Hammer Gustav-Lübcke-Museum. Der Titel folgt einer Kampagne des „Großen Vorsitzenden“ aus dem Jahr 1956, welche die vielfach blutige Kulturrevolution im Reich der Mitte ausgelöst hat.

Der 1960 geborene Ren Rong scheint dem Mythos Mao recht naiv aufzusitzen. Die Bildnisse des Machthabers erinnern von fern her an Andy Warhols herzlich unpolitische Prominenten-Porträts, aber natürlich auch an kommunistische Propaganda-Plakate, die in den späten 1960er Jahren bei nicht wenigen westlichen Studenten „Kult“ waren.

Und was fügt der Künstler hinzu? Er hinterlegt die Bilder beispielsweise mit traditionellen chinesischen Mustern. Er collagiert sie mit Familienfotos. Er verziert sie mit floralen Ornamenten oder mit seinem „Markenzeichen“: den so genannten „Pflanzenmenschen“, die sich auch als Metallskulpturen im Museum wiederfinden. Die über einige Bilder gezogene Wachsschicht verstärkt den Eindruck: Gar manches wirkt geglättet, hübsch, dekorativ. Kein Wunder, dass der Kunstmarkt darauf anspricht, erst recht im Vorfeld der Olympischen Spiele und weil China derzeit ohnedies „angesagt“ ist.

Mao zeigt bei Ren Rong in allen Situationen und Lebensphasen ein fröhliches Gesicht; ganz egal, ob herrscherlich allein oder zwischen gleichfalls frohen Kindern. Mit den pflanzlichen Beigaben versehen, erscheint sein Tun und Trachten einerseits auf fatale Weise als naturwüchsig. Doch man könnte in dem Verfahren auch eine klitzekleine, unbekümmerte Respektlosigkeit erblicken. Wirkt Mao da nicht hin und wieder ein wenig lächerlich? Zumal die Formen als Vertiefungen eingeritzt sind und somit Maos Oberfläche „beschädigen“. Aber das Letztere muss man sich schon etwas mühsam zurechtdeuten.

Nach seinen Ansichten zu Mao (und Adolf Hitler) sollte man Ren Rong lieber nicht befragen. Er gibt da reichlich krauses Zeug von sich – bei aller wohlmeinenden Würdigung der kulturellen Unterschiede. Es bewahrheitet sich hier abermals Goethe: Spruch: „Bilde Künstler, rede nicht.“

Seltsam genug, wenn Ren Rong seine Arbeitsweise auf deutsche Motive anwendet. Da sieht man beispielsweise den Bundestag und das Brandenburger Tor, in ähnliche Formen eingebettet wie zuvor Mao. Oder eine geisterhafte Flotte von Lufthansa-Flugzeugen – und im Vordergrund just Umrisse von weißen „Pflanzenmenschen“, gleichsam im Fluge erhascht. Vieldeutig ihre Gestik mit erhobenen Armen: Doch auch hier hat wohl hohle „Fortschritts“-Propaganda Pate gestanden. Sie wird hier ins halbwegs Witzige gewendet. Ideologie war gestern…

Ren Rong: „Mao und die 100 Blumen“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstr. 9. Bis 17. August. Di bis Sa 11 -18, So 10-18 Uhr. Katalog 19,90 Euro

(Der Beitrag stand am 19. Juli 2008 in der „Westfälischen Rundschau“)




Chinesisch für den eiligen Menschen – Spielerischer Selbstversuch mit neuem Anfänger-Lehrbuch und Sprech-CD

Von Bernd Berke

„Chinesisch superleicht!“ heißt das neue Buch mit Sprech-CD. Nanu? Diese Verheißung ist doch wohl ein Widerspruch in sich. Da wird man misstrauisch. Mal schnell lesen und hören, was es damit auf sich hat.

Das aus dem Englischen ins Deutsche übertragene Bändchen (flockiger Originaltitel: „Easy Peasy Chinese“) ist schmal – und reich bebildert. Bestenfalls reicht’s am Ende für ein Gestammel beim Chinesen um die Ecke. Bitte, danke, schmeckt gut. Ob damit die Herausforderungen der Globalisierung bewältigt werden können, steht dahin.

Trotzdem frisch ans Werk. Denn Hochchinesisch (Mandarin) ist schließlich die bei weitem meistgesprochene Sprache der Welt – und außerdem stehen 2008 die OIympisehen Spiele in Peking an. Nein, mit müden Scherzen wie „Do Ping“ (angeblich Chinesisch für „Spitzenleistung“) kommen wir hier nicht weiter.

„Ma“ heißt zum Beispiel Mutter, Hanf oder Pferd

Ein paar Umstände könnten das Erlernen der chinesischen Sprache tatsächlich erleichtern. Es gibt offenbar ungemein viele Wörter mit nur zwei, drei oder vier Buchstaben (jedenfalls in lateinischer Umschrift). Dao (Gabel), cha (Messer), chi (essen), cha (Tee), ji (Huhn), yu (Fisch). Damit ist bei Tisch schon einiges gesagt. Mit dem Ausruf . „shu“ (Buch) geht’s in die Bibliothek, bevor man den „hu“ (Tiger) im Zoo anschaut.

Frohen Mutes vernimmt man, dass die Verben nicht gebeugt werden, so als wenn man im Deutschen sagen dürfte: „Ich bin, du bin, er bin…“ Prima. Weiter so. Dann werden wir’s bald können. Dann aber geht’s eben doch los mit den Schwierigkeiten.

Rund 40 000 Schriftzeichen gibt’s, etwa 2000 reichen angeblich fürs Gröbste. Aber die müsste man erst mal alle geläufig hintuschen können. Mindestens ebenso knifflig ist ein Phänomen, von dem man schon mal gehört hat: Ein und dieselbe Lautfolge nimmt bei wechselnden Tonfällen (lang – fallend – steigend – erst fallend, dann steigend – tonlos) ganz verschiedene Bedeutungen an. Was zunächst als „ma“ einfach Mutter heißt, wird mit fragend ansteigender Stimme „Hanf“, kann aber bei anderem Singsang auch „Pferd“ oder „schimpfen“ bedeuten. Man mag sich die möglichen Missverständnisse im täglichen Gebrauch nicht ausmalen. Übrigens: Die Buchstabenfolge „mao“ kann beispielsweise Katze oder Feder heißen.

Auf gerade mal 128 Seiten hangelt sich das Buch mit flotter Gebärde durch absolute Anfangsgründe – bis man auf Chinesisch solche Sätze sagen soll: „Das ist zu teuer“, „Ich spiele auch gern Tennis“ oder „Mit Stäbchen (zu) essen ist leicht“. Dabei kommt die CD mit Hörproben ins Spiel.

Schon verzagt man wieder. Denn was sich gerade noch munter weglesen ließ, verflüchtigt sich angesichts der tückischen Aussprache.

Immerhin. Selbst wenn man frühzeitig aufgibt, hat man Freude an Botschaften aus der gänzlich fremden Sprachwelt. „Gonggongqiche“ heißt Autobus, wobei „gonggong“ für „öffentlich“ steht. Eine gemeine Aufgabe wäre wohl dies: Bilde einen Mandarin-Satz mit „öffentlich-rechtliches Fernsehen“.

Zu denken geben auch zusammengesetzte Piktogramm-Schriftzeichen: Da ergeben die Signaturen für „Frau“ und „Kind“ in der Addition den Begriff „gut“, während „Kraft“ und „Feld“ miteinander den Mann ausmachen. Da blicken die uralten Ordnungen hindurch.

Nehmen wir schließlich die Ländernamen, wortwörtlich übersetzt. Da firmiert England als „Land der Helden“, die USA sind das „Land der Schönheit“ und schließlich gilt Deutschland als „Land der Tugend“. Wer’s glaubt…

„Chinesisch superleicht! – Für Anfänger“. Buch mit CD. Verlag Dorling Kindersley. 128 Seiten. 12,95 Euro.

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HINTERGRUND

Ohne Fleiß geht gar nichts

  • Chinesisch liegt „im Trend“ – auf bescheidenem Zahlen-Sockel:
  • Im Jahr 2002 belegten rund 5000 Deutsche Chinesisch-Kurse an Volkshochschulen, 2005 waren es rund 10 000.
  • Das Schwierigste ist die Schrift. Erst nach zwei Jahren Fleißarbeit, so sagen Experten, könne man Texte auf dem Niveau eines Zwölfjährigen lesen.
  • Einfache mündliche Unterhaltungen sind in der Regel nach 100 Stunden möglich.

 

 




„Tuyas Hochzeit“: Armut lässt keinen Platz für Romantik

Hier zählen die einfachen, lebenswichtigen Dinge: eine Bleibe haben. Einen Brunnen graben, um Wasser zu finden. Erst wenn dies getan ist, können die Menschen an alles Weitere denken.

Der chinesische Berlinale-Gewinner „Tuyas Hochzeit” spielt in der inneren Mongolei. Fürwahr keine häufig „abgefilmte” Weltgegend. Schon deshalb schaut man mit Entdeckeraugen hin – und wird beileibe nicht mit bunter Folklore abgespeist.

Tuyas Mann, der Hirte Bater, hat beim Brunnenbau beide Beine verloren. Nun muss die junge Frau ganz allein für ihn, ihre zwei Kinder und sich selbst sorgen. Die kleine Schafherde wird dafür nicht reichen. In dieser Notlage beschließen die beiden, sich scheiden zu lassen, damit Tuya einen neuen Ernährer heiraten kann, der für alle einsteht. Welch eine schmerzliche Vernunft!

Schon bald sprechen Männer auf Brautschau vor, die nicht gerade von edlen Motiven getrieben werden. Man merkt: Romantische Liebe europäischen Zuschnitts hat hier keinen Raum – von Hollywood-Träumen ganz zu schweigen.

Regisseur Wang Quan’an und sein deutscher Kameramann Lutz Reitemeier finden großartige, gleichsam tief atmende Bilder für ihre Geschichte. Natürlich kommen ihnen die ungeheuer weiten Landschaftspanoramen entgegen. Vielfach denkt man: Genau diese Szenerie könnte ein grandioses Fimplakat ergeben. So soll Kino sein.

Doch das Werk erschöpft sich keineswegs in optischer Sensation. Geduldig, ruhig und präzise zeichnet Wang Quan’an die soziale Lage der Figuren. Der Horizont reicht übers Individuelle hinaus: Man ahnt, wie harsch einerseits die patriarchalischen Verhältnisse des Landes sind. Doch andererseits gibt es Anzeichen, dass einige schmalere Ströme des weltweit zirkulierenden Geldes die alte Zeit auch hier überfluten werden.

Wenn man es aus deutscher Sicht ins Auge fassen will: Einem Bert Brecht hätte die Art gefallen, erst die materielle Lebensbasis zu untersuchen und erst in zweiter Linie die Regungen des Seelenlebens (wobei eins vom anderen schließlich kaum zu trennen ist). Und ein Rainer Werner Fassbinder hätte die heißkalte Erzählweise goutiert, die an seine besten Werke erinnert.

Ein durch Ölfunde reich gewordener, bestürzend einsamer, entwurzelter und eigensüchtiger Hochzeitskandidat will Bater ins dürftige Heim abschieben. Herzzerreißend die Sequenz, in der Bater dort allein zurückbleibt, sich dem Suff ergibt und sich mit einer Flaschenscherbe die Pulsader aufschlitzt. Doch damit ist nicht aller Tage Abend. Tuya beginnt sich zu wehren – so sehr bis zur allgemeinen Verhärtung, dass sie den einzig wahren Bräutigam lange zurückstößt. Selbst diese nach und nach in stiller Größe wachsende Liebe kann man nicht in unserem Sinne „romantisch” nennen, wohl aber: existenziell, notwendig. Und das ist gewiss mehr.