Reales Drama: „Die Kinder von Opel“ am Schauspielhaus Bochum

OpoelEnde des Jahres schließt das Opel-Werk in Bochum für immer. Der Automobilhersteller kam Anfang der 1960er Jahre und läutete den Strukturwandel ein: Die ersten Zechen in Bochum hatten damals längst dicht gemacht, Opel war der Hoffnungsträger. Sein Ende hinterlässt ein Trauma.

Das Schauspiel Bochum, traditionell stark verwurzelt im Alltagsleben der Stadt, leistet schon seit einem Jahr kreative Traumatherapie mit seinem „Detroit-Projekt“. Einen Abschluss-Beitrag lieferte nun die Künstlergruppe „kainkollektiv“: Im Theater unter Tage, der kleinsten Spielstätte des Schauspielhauses, hatte „Die Kinder von Opel“ Premiere.

„kainkollektiv“, das sind Mirjam Schmuck und Fabian Lettow. Konzept, Regie und Text stammen von ihnen, und sie benötigen für ihren Abend keinen einzigen professionellen Schauspieler. Mit Mitteln des Theaters, der Performance, der Recherche holen sie das reale Drama auf die Bühne – und lassen keine „Typen“ zu Wort kommen – sondern echte Menschen. Den Großteil des 75-minütigen Abends verbringen die Zuschauer damit, sich die acht Stationen der Bühne zu erlaufen, in denen diese „Kinder von Opel“ ihre Geschichten erzählen.

Da ist die 12-Jährige, deren Opa Opelaner war. Sie sagt, dass sie sich einen Park auf der freiwerdenden Industriefläche wünscht, und dass sie den Anblick der schmutzigen Arbeiter beim Essen im Schnellrestaurant manchmal auch etwas ekelig fand.

Da ist der gelernte Zerspanungsmechaniker, der noch immer bei Opel am Band arbeitet. Im Live-Interview erzählt er, was in seinem Zwei-Minuten-Takt alles zu tun ist, berichtet von der Isolierung im Kotflügel, von Leitungen und Schläuchen, die im Motorraum verbunden werden müssen, von der Gasleitung im hinteren Radkasten rechts. Er braucht länger als zwei Minuten, um seine Arbeit zu beschreiben.

Da ist die Osteopathin, die die körperlichen und emotionalen Blockaden der Opelaner behandelt, und der Mann, der in Herne mit Leidenschaft ein Opel-Museum führt.

Eingebunden sind ihre Geschichten in eine aus dem Off gesprochene Erzählung, die Illustratorin Julia Zejn mit animierten, an die Wand projizierten Zeichnungen lebendig werden lässt: Kurz vor Ende der letzten Schicht ist das Opel-Werk einfach aus „Botown“ verschwunden. „Es war unser Werk, also haben wir es eingepackt und mitgenommen“, heißt es am Ende – „unsere eigene Transfergesellschaft“. Wieder aufgebaut wurde es bei General Motors im Zentrum von „Motown“ (Detroit), also „dort, wo es herkommt“.

Dass diese Verbindung einzelner Erzählungen kein ganz rundes Bild ergeben – geschenkt. Der Abend leistet einiges, bietet unbekannte Perspektiven auf ein zuende gehendes Stück Industriegeschichte, holt einmal mehr die Stadt ins Theater und bringt das Theater in die Stadt. Er bespielt eine künftige Leerstelle, und er holt ein Thema ganz nah heran, das für einen Gutteil des Theaterpublikums sonst ziemlich weit weg ist.

Die nächsten Termine stehen hier.




Die Dinge beginnen zu denken – „Schöne schlaue Arbeitswelt“ in der Dortmunder DASA

Klingt doch erst mal richtig nett: „Schöne schlaue Arbeitswelt“ heißt die neue Schau in der Dortmunder DASA, dem Ausstellungshaus, das der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin angegliedert ist. Doch der Blick in die Zukunft weckt gemischte Gefühle.

Es geht um einige Ausprägungen der sogenannten „Ambient Intelligence“ (etwa: Umgebungs-Intelligenz), welche sich z. B. mit „denkenden“ Büros, Datenbrillen und allerlei Sensoren anschickt, weite Teile unseres Alltags zu bestimmen, also nicht nur die Arbeitswelt; wie denn überhaupt Grenzen zwischen Arbeit und sonstiger Lebenszeit auf vielen Feldern fallen.

Es ist keine Science-Fiction mehr. Wir sind schon mittendrin in diesen tiefgreifenden Prozessen mit eigenständig parkenden Autos und einkaufenden Kühlschränken, um nur zwei populäre Phänomene zu nennen. Und es ist beileibe nicht alles verheißungsvoll, was da auf uns zurollt. Die Titel-Anspielung auf Aldous Huxleys schaurige Utopie „Schöne neue Welt“ kommt also nicht ganz von ungefähr.

Vermessung und Virtualisierung des Körpers - zunächst noch spielerisch... (Foto: Bernd Berke)

Vermessung und Virtualisierung des Körpers – zunächst noch spielerisch… (Foto: Bernd Berke)

Die kompakte, recht übersichtliche Ausstellung wird in wenigen Raumwürfeln präsentiert und ist so mobil, dass sie demnächst landauf landab wandern wird – zunächst nach Hamburg und Mannheim.

Da sieht man beispielsweise den Handschuh, der sich einfärbt, wenn giftige Gase wabern. Oder einen Feuerwehranzug, dessen Textur ungeahnt viele Schadstoffe herausfiltert und dessen Sensorik in Gefahrenzonen blitzschnell lebenswichtige Daten erhebt. Die meisten Feuerwehren dürften sich einstweilen solch kostspielige Ausrüstung kaum leisten können.

Die wenigen Exponate verweisen auf vielfältige Hintergründe. Es sind jedenfalls spannende Gebiete, auf den die Dortmunder Bundesanstalt forscht. Mit „Ambient Intelligence“ befasst man sich seit 2009 intensiv. Dabei gilt es, sorgsam zwischen Chancen und Risiken zu lavieren. Einerseits drängt die globale Konkurrenz zum Handeln, andererseits soll das menschliche Maß gewahrt werden.

Kultur- und Geisteswissenschaftler, so steht zu hoffen (ja zu fordern), sollten an derlei Forschungen ebenso beteiligt sein wie Naturwissenschaftler und Ingenieure. Damit nicht nur die Machbarkeit zählt. Freilich kann man der Bundesanstalt in solcher Hinsicht wohl mehr (zu)trauen als manchen Forschungszweigen in der Industrie, wo sich alsbald alles „rechnen muss“.

Zurück in die Würfel. Eher schon wie ein Jux muten jene speziell präparierten Socken an, die per Scanner und iPhone einander automatisch zugeordnet werden können – endlich eine Lösung für das allfällige „Lost socks“-Problem? Halb scherzhaft beworben wird die sündhaft teure Erfindung (5 Paar Socken mit Zubehör ca. 150 Euro) vor allem für tölpelhafte Single-Männer. Das Set verrät einem übrigens auch, wie viele Waschgänge die Socken bereits hinter sich haben – und schlägt zeitig den Kauf von Neuware vor…

Der Gürtel, der den Träger zur geraden Körperhaltung ermahnt, steht für zahlreiche Apparaturen, die den Menschen unentwegt zur maximalen Fitness anhalten – und vielleicht eines nicht allzu fernen Tages von Krankenkassen zur Pflicht erklärt werden könnten.

Ein anderer Kubus der Ausstellung skizziert den Stand der Dinge bei den Datenbrillen („Head-mounted displays“). Ein Exemplar kann man auch gleich ausprobieren. Zum Einsatz solcher Brillen für Montage-Vorgänge läuft eine Langzeitstudie, derzufolge die Träger sich offenbar weniger bewegen, als wenn sie mit einem Tablet arbeiten. Außerdem werden sie schneller müde, ohne schneller gearbeitet zu haben. Die Effektivität ist also sehr fraglich. Allerdings ist bei den Datenbrillen eh die Unterhaltungs-Industrie die treibende Kraft und nicht so sehr das produzierende Gewerbe.

Auch ganze Bewegungsabläufe werden längst digital „optimiert“. Die exakte Körpervermessung generiert einen Schattenleib, der im virtuellen Bildraum erscheint und nach allen Regeln der Ergonomie analysiert werden kann. Denkt man das weiter und weiter, kann einem ziemlich unbehaglich werden. Darüber kann auch der spielerische Einsatz dieser Technologie nicht ohne weiteres hinwegtrösten.

Schließlich die intelligente Beleuchtung. Am Horizont erscheinen Szenarien, in denen beim Betreten eines Raumes (etwa eines Büros) je individuell die Lichtverhältnisse geregelt und immer wieder neu austariert werden – je nachdem, wer gerade anwesend ist.

Womöglich schön und gut. Doch auch auf diesem Gebiet lauert Manipulation. Eine vielfach praktizierte Steigerung des Blaulichtanteils hält Menschen bei der Arbeit länger wach – aber mit welchen Folgen? Blaulicht (in allen LEDs, somit auch als Hintergrundlicht auf vielen Bildschirmen) beeinflusst den Hormonhaushalt, genauer: es senkt den Melatonin-Spiegel. Anschließende Schlafstörungen sind sehr wahrscheinlich, auch könnte langfristig die Krebsgefahr wachsen.

„Schöne schlaue Arbeitswelt.“ DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25. Vom 11. September bis 23. November. Geöffnet Di-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr.

DASA-Eintritt für alle Bereiche 5 Euro (bis zum 28. September läuft neben der Dauerschau auch noch eine Sonderausstellung zur Geschichte des Zeitempfindens: „Tempo Tempo! Im Wettlauf mit der Zeit“). Führungen: 0231/9071-2645.

www.dasa-dortmund.de




Geld ist keine Ware, sondern ein System – die Thesen des Briten Felix Martin

Geld die wahre Geschichte von Felix MartinWas ist Geld? Diese Frage stellt der britische Wirtschaftswissenschafter Felix Martin. Die Antwort hingegen fällt landläufig anders aus, als er es sich wünscht. Martin, der früher Mitarbeiter der Weltbank war, ist der Ansicht, dass unsere herkömmliche Betrachtungsweise des Geldes im Kern falsch ist und hat die seiner Meinung nach wahre Biographie des Geldes aufgeschrieben.

Die weitverbreitete Ansicht und herkömmliche Definition von Geld sei die von Geld als Ware respektive als Tauschmittel. Dies sei von Grund auf ein Irrglaube und somit zum Beispiel auch die Ursache der jüngsten Finanzkrise. Nach Felix Martin ist Geld keine Ware, sondern ein Kredit-und Verrechnungssystem. Wobei ein Schuldschein erst dann zu Geld wird, wenn es die Möglichkeit einer Übertragung gibt. Die Entdeckung, dass eine Verbindlichkeit eine verkäufliches Gut ist, sei d e r entscheidende Entwicklungsschritt in der Geschichte der Menschheit gewesen, sozusagen die Urmutter aller Revolutionen.

Diese Kernthese untermauert Felix Martin mit durchaus unterhaltsamen Erzählungen quer durch die ganze Weltgeschichte. Er beginnt mit den Einwohnern der fernen Pazifikinsel Yap, deren Einwohner ohne jeden Kontakt zur Außenwelt ein funktionierendes Währungssystem aufbauten, basierend auf nur wenigen unbeweglichen massiven Steinscheiben. Er berichtet von den Kaufleuten des Mittelalters, die ein grenzüberschreitendes Schuldschein-System aufbauten und von ihren neuzeitlichen Nachfolgern. Sie alle verbinde der Wunsch nach einem Utopia, in dem immer genug Geld für alle gerecht verteilt wird. Die hingegen erfolgte Freigabe der Märkte nennt er die „große monetäre Übereinkunft“ und führt diese auf den britischen Philosophen John Locke zurück, der der Menschheit den Irrglauben vom Geld als Tauschmittel gegeben hat – weil dieser am ehesten mit der politischen Philosophie der modernen Demokratie in Übereinkunft zu bringen war.

Es sind zum Teil witzige Geschichten, die er erzählt, Begebenheiten, die durchaus zum Nachdenken anregen und nicht ungeeignet sind, den Blick auf „unser“ Geld, das derzeitige Wirtschaftssystem zu ändern und in Frage zu stellen. Die Geschichten sind gut recherchiert und Felix Martin versteht es, sie anschaulich zu erzählen. Woran das Buch krankt, sind die über 300 Seiten immer wieder angekündigten Schlussfolgerungen. Ist er in der Erzählung der monetären Biographie noch radikal und kompromisslos, wird Martin in seinen am Schluss des Buches aufgestellten Forderungen nicht nur sehr zurückhaltend, sondern auch vage und gelegentlich widersprüchlich.

Mal fordert er, dass der Finanzsektor den Wert des Geldes nur messen und ihn nicht beeinflussen soll. Dann wiederum soll der Finanzsektor nicht nur messen, sondern auch maßgeblich an der monetären Organisation der Gesellschaft beteiligt werden. Oder vielleicht sollte doch besser die Politik eingreifen, denn Geld sei keine Sache, sondern eine soziale Technologie, dessen Standard politische Gerechtigkeit sein muss. Nur wie die Politik das regeln soll, das muss ihr schon selbst einfallen. Zentrale Regulierungsbanken tun es nach Felix Martins Auffassng jedenfalls nicht.

Ebenfalls irritierend sind seine Ausführungen zur Inflation. Inflation sei nach der These der Geld-Konzeption von z.B. John Maynard Keynes – dessen Lehren seiner Meinung nach nicht genug Beachtung erfahren – ein geeignetes Mittel, um „Kapitalisten zu schröpfen und Massen zu entlasten“. Diese These als gewagt zu bezeichnen, ist noch vorsichtig ausgedrückt. Die jüngste Finanzkrise habe bewiesen, dass es ein schwerer Fehler gewesen sei, „eine stabile, niedrige Inflationsrate als hinreichende Bedingung ökonomischer Stabilität zu betrachten“. Aha. Den Beweis dafür allerdings führt er nicht. Nur weil die Krise mit einer stabilen Inflationsrate zusammenfiel, war diese ja noch nicht zwangsläufig schuld dran. (Wenn man Sonnenbrand bekommt, ist auch nicht die Sonne schuld, sondern der Umgang der Sonnenanbeter damit.)

Natürlich können sich Staaten über eine höhere Inflationsrate entschulden, die USA haben es zu Zeiten der „Reaganomics“ glänzend vorgemacht. Und auch die EU-Staaten, allen voran Deutschland, kommen in diesem Bestreben ganz prächtig voran. Nur – wo bitte ist und war die von Keynes und in Folge Felix Martin damit verbundene angebliche Entlastung der Massen? Ist eine höhere Inflation nicht eher verbunden mit unauffälliger Enteignung? Nach Felix Martin wird die Entlastung schon irgendwann kommen. Fein. Bleibt die Frage: Wann genau ist irgendwann und welche Masse soll diesen Glauben teilen?

Was in diesem Buch komplett fehlt, ist die Währung neben der Währung: der Zins. Wenn er diesen für nicht erwähnenswert hält, dann müsste er auch so konsequent sein, direkt der kompletten staatlichen Regulierung das Wort zu reden. Aber das tut er nicht, möglicherweise hat er diesen Preis des Geldes gar nicht in Betracht gezogen. Nur – bei aller Liebe zur politischen Gerechtigkeit: Menschen, die mit Geld arbeiten, sind und bleiben Kaufleute und keine Philanthropen.

Letzten Endes bleibt als Martins geforderte Konsequenz lediglich die Bitte, seine Thesen über die Geschichte des Geldes zu zu verbreiten, an den Unis auch die Thesen verkannter Genies wie Keynes zu lehren sowie der wohlgemeinte Ratschlag, dass sich jeder etwas mehr für sein Geld verantwortlich fühlen sollte. Bisschen wenig dafür, dass über die gesamte Länge des Buches weltbewegende Schlussfolgerungen angekündigt werden. Man kann während der Lektüre nicht umhin, sich eine Christine Lagarde (Chefin des IWF) vorzustellen, wie sie genervt dieses Buch auf den Stapel „bringt mich jetzt auch nicht weiter“ legt. Wobei Madame Lagarde zur Zeit ohnehin andere Sorgen hat.

Die Analyse der Geldgeschichte von der Muschel über das Edelmetall bis zum Schuldschein ist recht profund, seine eigenen Thesen sind eher handzahm bis schwammig Wer unterhaltsam etwas über die Geschichte des Geldes lernen möchte, ist mit diesem Buch gut bedient. Wer Lösungsvorschläge sucht, eher nicht.

Fazit: Das Buch hält, was der Titel verspricht: Geld – die wahre Geschichte. Nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Den Untertitel „über den blinden Fleck des Kapitalismus“ hätte man sich getrost und gerne sparen können.

Felix Martin: „Geld – die wahre Geschichte“. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), München, 432 Seiten, € 22,99.

  • Der Buchautor Felix Martin ist studierter Wirtschaftswissenschaftler und Altphilologe.
  • Neben seiner Arbeit bei der Weltbank gehörte er auch zur Denkfabrik European Stability Initiative.
  • Heute ist er Mitarbeiter am Institute for New Economic Thinking und Anlageberater.
  • Journalistisch tätig ist er unter anderem bei der Financial Times.



Kratzer am Bild von Ikea

Gibt es da draußen jemanden, der noch kein Ikea-Regal zusammengebaut hat? Wohl kaum. Eine Reportage über das „unmögliche Möbelhaus“ geht uns also alle an.

Ordentlich eingekauft: Eine Familie verlässt ein Ikea-Einrichtungshaus. (Bild: WDR/Thomas Brill)

Ordentlich eingekauft: Eine Familie verlässt ein Ikea-Einrichtungshaus. (Bild: WDR/Thomas Brill)

Viele verbinden mit Ikea eine entspannte, freundliche und familiäre Atmosphäre. Doch „Der Ikea-Check“ (ARD), der über weite Strecken überzeugte, fiel nicht ganz so schmeichelhaft aus. Ein erster Vergleichstest mit einem großen Kölner Möbelhaus ergab, dass der Einkauf bei Ikea offenbar deutlich stressiger ist – Körpersensoren brachten es an den Tag.

Die Lust am Zusammenbauen

Erstaunlich, wie Versuchsgruppen ein und dasselbe Nachtschränkchen teurer einschätzten, wenn es noch zusammengebaut werden musste, als wenn es schon fertig vor ihnen stand. Allen Flüchen beim Hämmern und Schrauben zum Trotz: Das Zusammenbauen macht letztlich meistens Spaß und bringt auch ein wenig Stolz mit sich. Ein raffiniertes Prinzip, das weltweit Kunden an die Firma bindet.

Ein bisschen Schwund…

Ein Klassiker wie das „Billy“-Regal ist mit den Jahren billiger geworden. Wie kann denn das angehen? Nun, ein Tischler prüfte nach: Die Maße sind geschrumpft, die Qualität von Holz und Schrauben ist gezielt gesenkt worden. In Dekra-Testreihen erzielten die untersuchten Ikea-Produkte gerade mal das Prädikat „ausreichend“.

Fabrik im Lande des Diktators

Schließlich die „Fairness“. Ikea behauptet beispielsweise, eine bestimmte Kommode werde in Litauen gefertigt. Verdeckte ARD-Recherchen ergaben hingegen, dass zumindest wesentliche Mengen im diktatorisch regierten Weißrußland produziert werden, wo Löhne und sonstige Kosten noch sehr viel niedriger sind und wo Gewerkschaften nichts zu melden haben. Ikea zeichnet jedoch ein ganz anderes Bild von den eigenen Gepflogenheiten. Darf man hier von Vortäuschung falscher Tatsachen sprechen?

Da mag die Pressesprecherin noch so sehr begütigen: Manche Leute, die diese Sendung gesehen haben, dürften beim nächsten Ikea-Einkauf vielleicht ein bisschen nachdenklicher werden.




„Das weiße Gold der Kelten“: Salz hält auch uralte Fundstücke frisch

Wo vor Jahrzehnten noch das „Schwarze Gold“, also Kohle, das Leben bestimmt hat, geht es nun ums „Weiße Gold“ in viel weiter entfernten Zeiten: In Herne zeigt das LWL-Museum für Archäologie die aus Wien kommende Ausstellung „Das weiße Gold der Kelten – Schätze aus dem Salz“.

Es geht um staunenswerte Funde aus Hallstatt (Oberösterreich), wo schon in der Jungsteinzeit Salz gewonnen wurde. Um 1500 v. Chr. waren dann die bronzezeitlichen Kelten schon versiert im Salzbergbau. Etwa 1245 v. Chr. beendete ein katastrophaler Erdrutsch diese Phase. Die Geschichte des quasi (vor)industriellen Abbaus beginnt um das Jahr 850 v. Chr., in der frühen Eisenzeit. Die Kelten meißelten sich ins Innere der Berge vor, entlang der Salzadern stellenweise über 300 Meter tief. So weit die grobe Chronologie.

Kinderarbeit unter Tage

Die senkrechten, mit Holz ausgekleideten Stollen waren immerhin 8 bis 12 Meter breit und führten zu riesigen Hallen unter Tage. Dort arbeiteten nicht nur Männer (Abbau mit dem Pickel) und Frauen (als Trägerinnen) im Salzbergbau, sondern auch Kinder ab etwa 5 Jahren.

Blick in die Herner Salz-Ausstellung (Foto: LWL/Arendt)

Blick in die Herner Salz-Ausstellung (Foto: LWL/Arendt)

Man hat Schuhe in Kindergrößen gefunden und außerdem Leuchtspäne für unterirdisches Licht. Diese Späne trugen zum Teil Abdrücke von Kindergebissen. Mutmaßung: Kinder mussten die Fackeln im Mund tragen, um die Hände für anderweitige Arbeiten frei zu haben. Gewiss: Schulunterricht haben die Kleinen seinerzeit nicht versäumt, doch zeugen Skelettfunde von frühen Knochen- und Halswirbelschäden. Heute vernimmt man es mit Grausen. Die „Hallstätter“ wurden damals im Schnitt nur rund 35 Jahre alt, nur vereinzelt erreichten sie das 50. oder gar 60. Lebensjahr.

Salzherzen als frühe Markenzeichen

Und wozu die Strapazen unter Tage? Salz war zu jener Zeit praktisch so kostbar wie Gold, und zwar nicht wegen seiner würzenden Eigenschaften, sondern als – bis zur Erfindung des Kühlschranks – bevorzugtes Konservierungsmittel, das Lebensmittel länger frisch hielt. Von Hallstatt aus handelten die Kelten, die zweitweise ein Salzmonopol für große Teile Mitteleuropas innehatten, über weite Strecken mit dem „weißen Gold“, bis in die heutigen Länder Frankreich, Italien und Ungarn.

Sorgte unter Tage für Licht: ein Bündel von Leuchtspänen. (Foto: LWL/Lammerhuber)

Sorgte unter Tage für Licht: ein Bündel von Leuchtspänen. (Foto: LWL/Lammerhuber)

Um den Absatz weiter zu fördern, wurden in Hallstatt (gleichsam ein früher Marken-Auftritt) auch herzförmige Blöcke aus Salz angefertigt. Das war nicht nur ein Gag, sondern auch ein Qualitätsnachweis. Wie Hofrat Dr. Anton Kern, Direktor der Prähistorischen Abteilung des Naturhistorischen Museums Wien, erläutert, konnte für die von allen Seiten sichtbaren Herzen nur bestes Salz verwendet werden, während in Säcken schon mal schlechtere Ware unten liegen konnte…

So wertvoll wie Gold

Die offenbar ebenso geschäftstüchtigen wie reisefreudigen Hallstatt-Kelten häuften jedenfalls wahre Reichtümer an, wie edle Grabbeigaben aus Elfenbein (aus Afrika), Bernstein (von der Ostsee), filigranem Glas oder just Gold belegen. Welch ein Gepränge! Und dabei hat man zwar rund 1500 von vermuteten 6000 Grabstellen ausgewertet, doch hat man die etwaigen Fürstengräber der Region noch gar nicht gefunden. Ja, die Forscher wissen noch nicht einmal, wo diejenigen gewohnt haben, die damals das Sagen hatten. Welche Prunkstücke da wohl noch schlummern?

Keltisches Schöpfgefäß mit Kuh- und Kälbchenfigur, um 600 v. Chr. (Foto: LWL/Arendt)

Keltisches Schöpfgefäß mit Kuh- und Kälbchenfigur, um 600 v. Chr. (Foto: LWL/Arendt)

Das Salz taugt nicht nur zur Lebensmittel-Konservierung, sondern hat auch viele archäologische Funde so erhalten wie sonst kaum irgendwo auf der Welt. Selbst empfindliche Fragmente von Textilien (Fellmützen, Tragesäcke, Lederkappen) und organische Bestandteile haben die Jahrtausende nahezu unversehrt überstanden. Hier sieht man auch Relikte der wohl weltweit ältesten Holzstiege (von etwa 1343 v. Chr.), eine raffinierte Baukasten-Konstruktion, die im Berg Unebenheiten überbrückt haben dürfte. Spuren an einem Holzkochlöffel lassen Rückschlüsse auf die Ernährung zu: Beispielsweise standen Sammelobst, Gerste, Hirse, Saubohnen und Linsen auf dem Speiseplan, aber auch (rohes) Fleisch und Milchprodukte, worauf Kaseinreste hindeuten.

Das älteste „Toilettenpapier“

Auf eine andere Verrichtung lassen Pestwurzblätter schließen, die unter Tage gefunden wurden. Die Bergleute haben sie dort unten offenbar als Vorläufer von Toilettenpapier benutzt, wobei speziell diese Blätter einen lindernden, antiseptischen Effekt bei damals allfälligen Entzündungen und Durchfall gehabt haben sollen.

Werkzeug für den Salzbergbau (Foto: LWL/Lammerhuber)

Werkzeug für den Salzbergbau (Foto: LWL/Lammerhuber)

In Zusammenarbeit mit der Innsbrucker Agentur „MuseumsPartner“ hat man die Herner Schau mit rund 250 Exponaten (aus dem Naturhistorischen Museum Wien) denkbar sinnlich gestaltet. Der Eingang führt durch eine Art Holzstollen. In sechs begehbaren Salzblöcken werden einzelne Themenkreise hervorgehoben. Mittlerweile übliche Animationsfilme vermitteln Vorstellungen vom Alltagsleben der keltischen Salzbergleute, die sich übrigens (wie vorgefundene Farbstoffe ahnen lassen) in ziemlich bunte Kleidungsstücke hüllten. In manchen Zonen des Rundgangs haben die Ausstellungsmacher sogar versucht, Gerüche aus der Bronzezeit zu rekonstruieren, die hier nun dezent verströmt werden. Pestwurz-Hinterlassenschaften selbstverständlich ausgenommen.

„Das weiße Gold der Kelten – Schätze aus dem Salz“. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Vom 23. August 2014 bis 25. Januar 2015. Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 6 Euro, ermäßigt 4 Euro, Kinder/Jugendliche 3 Euro. Begleitbuch aus Wien (erschienen 2008) 19,95 Euro.




TV-Nostalgie (24): „Der große Bellheim“ – Die älteren Herren wollen es noch einmal wissen

Vier ältere Herren wollen es noch einmal wissen – und wie! Wohl selten ist der Segen langjähriger Berufserfahrung so schlüssig vor Augen geführt worden wie im legendären Vierteiler „Der große Bellheim“.

Drei vom Quartett (v. li.): Mario Adorf, Will Quadflieg, Hans Korte - es fehlt nur Heinz Schubert. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=qP0JA3vx_gs)

Drei vom Quartett (v. li.): Mario Adorf, Will Quadflieg, Hans Korte – es fehlt nur Heinz Schubert. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=qP0JA3vx_gs)

Regisseur Dieter Wedel konnte bei den Dreharbeiten (1991/92) auf eine ungemein erlesene Darstellerriege vertrauen – allen voran das Quartett Mario Adorf (in der Titelrolle des Peter Bellheim), Heinz Schubert, Will Quadflieg und Hans Korte. Sie raufen sich nach und nach zusammen, um das altehrwürdige Kaufhaus Bellheim zu sanieren, das in Schieflage geraten ist und überdies von fiesen Finanzjongleuren (Heinz Hoenig, Leslie Malton) skrupellos attackiert wird.

Langweiliger Ruhestand

Eigentlich hatte sich Peter Bellheim schon mit 57 Jahren nach Spanien zurückgezogen, um den sonnigen Ruhestand zu genießen. Kurz vor seinem 60. Geburtstag erfährt er, dass die Hannoversche Kaufhauskette in Schwierigkeiten steckt. Die Hiobsbotschaft kommt ihm sozusagen gerade recht. „Der große Bellheim“ wollte ohnehin nicht mehr dauernd herumsitzen, nicht mehr jeden Tag bis zum Überdruss ausspannen. Oder wie ein Freund es formuliert: Irgendwann ist die Briefmarkensammlung halt fertig sortiert.

Ausgefuchste Wirtschaftsprofis

Auch die drei anderen, allesamt ebenso ausgefuchste Wirtschaftsprofis, wollen sich – allen Zipperlein zum Trotz – endlich mal wieder beweisen. Anfangs zieren sie sich noch ein wenig, doch Peter Bellheim muss keine allzu großen Überredungskünste aufwenden, um sie mit ins Boot zu holen. Gewiss, sie sind noch ein paar Jährchen älter als Bellheim und nicht mehr ganz so fit wie ehedem, doch Klugheit und Erfahrung machen das bei weitem wett. Da zeigen sie es allen jungen Schnöseln. Die klopfen derweil ziemlich dumme Sprüche: „Die Eskimos machen es richtig, die setzen ihre Alten einfach aus…“

Wedels Vierteiler (Erstsendung im Januar 1993 im ZDF, Gesamtlänge satte 455 Minuten) ist eine großartig gespielte Komödie über die besondere Leistungsfähigkeit von „Senioren“, wobei dieses immer etwas gönnerhaft klingende Wort hier so gar nicht passend erscheint. Es sind einfach gestandene Burschen, die es immer noch „drauf haben“. Punkt.

Das Thema bleibt aktuell

Die über 20 Jahre alte Reihe ist zeitgeschichtlich interessant, weil sie die Anfänge der Banken- und Börsenzockerei in Deutschland aufgreift und mit Blicken hinter die Kaufhaus-Kulissen auch den ziemlich freudlosen Stechkarten-Alltag der einfachen Angestellten einbezieht.

Außerdem mutet die Handlung aus heutiger Sicht sehr aktuell an. Die gegenwärtig wieder neu aufgeflammte Debatte, ob unsere Gesellschaft es sich leisten kann, fähige Menschen zu früh in den Ruhestand zu entlassen, wird hier in höchst unterhaltsamer Form angestoßen. Kurz und gut: Das ist ein Stoff, aus dem Fernsehklassiker gemacht sind.

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Vorherige Beiträge zur Reihe: “Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” (5), “Der Kommissar” (6), “Beat Club” (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10), Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20), “Columbo” (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in „Das aktuelle Sportstudio“ (23)

“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Kartellamt setzt Grenze: Lensing darf Funke-Lokalteile nicht vollends übernehmen

Sieh an, es gibt Neuigkeiten aus der Presselandschaft im Großraum Dortmund: Das Bundeskartellamt hat offenbar die vollständige Übernahme von 7 Lokalausgaben der Funke-Gruppe (vormals WAZ-Gruppe) durch den Dortmunder Lensing-Verlag („Ruhrnachrichten“) verhindern wollen. Deshalb hat Lensing den entsprechenden Antrag zurückgezogen, wie mehrere Mediendienste übereinstimmend berichten.

Weitere Konsequenzen aus dem Veto der Kartellwächter sind noch unklar. Angeblich gibt es bei Funke einen Plan B für die besagten Ausgaben. Das Konzept dürfte nach Lage der Dinge allerdings mehr juristische und betriebswirtschaftliche als publizistische Elemente enthalten.

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Konkret geht es um die Ausgaben der WAZ und der Westfälischen Rundschau (WR, seit Februar 2013 ohne eigene Redaktion) in Dortmund, Castrop-Rauxel und Lünen (jeweils WAZ und WR) sowie Schwerte (WR).

Die Ruhrnachrichten, die schon seit Anfang 2013 die lokalen Inhalte für diese Ausgaben liefern, wollten die volle verlegerische Verantwortung mitsamt den Titelrechten übernehmen. Begründung: Diese Ausgaben seien Sanierungsfälle. In diesem Falle wären die Schwellen vor einer Fusion niedriger gewesen.

Doch das Kartellamt verneint den Sanierungsbedarf. Die Zeitungstitel der Funke-Gruppe seien mit rund 80 Lokalausgaben insgesamt profitabel, eine Insolvenz drohe somit auch für die sieben Lokalteile im Dortmunder Raum nicht.

Anfang 2013 hatte die Funke-Gruppe die komplette Redaktion der Westfälischen Rundschau (120 Redaktionsstellen, zahlreiche freie Mitarbeiter) geschlossen. Seither ist die Rundschau eine Art Geisterzeitung, deren Mantelteil vom Essener WAZ-Desk kommt und deren Lokalteile von diversen Ex-Konkurrenten (im Raum Dortmund: Ruhrnachrichten) geliefert werden.

Auch nach der Intervention des Kartellamts sieht es freilich so aus, als dürften die Ruhrnachrichten weiterhin die besagten Funke-Lokalausgaben mit ihren Inhalten füllen. Die Meinungsvielfalt in dieser Region bleibt arg begrenzt, sofern sie sich in Zeitungen widerspiegelt. Doch dem möglichen Monopol wurde eine letzte Grenze gesetzt.

Also müssen wir wohl nicht unsere Phantasie bemühen: Die Entlassung der WR-Redaktion wird sicherlich nicht rückgängig gemacht. Und auch sonst ist das Presse-Paradies in weiter Ferne.

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(mit nachrichtlichem Material von newsroom.de, meedia.de und kress.de)

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Kliniken unter Kostendruck: TV-Report über unser krankes Gesundheitswesen

Ganz neu waren diese Befunde übers deutsche Gesundheitswesen nicht, doch in dieser Fülle und Dichte trotzdem alarmierend. Die Patienten, so das zentrale Fazit, gelten den Kliniken zusehends als Geldbringer. Eine Besserung der Zustände ist einstweilen nicht in Sicht.

Lukrative Fälle werden viel zu oft operiert, chronische Krankheiten hingegen häufig vernachlässigt. In der Sendung „Krankenhaus-Report: Wo Medizin Kasse macht“ (3Sat) ging es vor allem um die unseligen Folgen der sogenannten Fallpauschale, nach der die Behandlung einer bestimmten Krankheit – ohne Rücksicht auf die jeweiligen Umstände – stets mit der gleichen Summe vergolten wird.

Belohnt wird Quantität, nicht Qualität

Längst hat es sich erwiesen: Belohnt wird hierbei in erster Linie Quantität, also die Häufigkeit gewisser lohnender Eingriffe, nicht aber die medizinische Qualität. Auch sorgt das System dafür, dass Patienten nach Operationen oft zu früh aus den Krankenhäusern entlassen werden, um die (insgesamt immer noch viel zu vielen) Betten besser auszunutzen.

Was die Häufigkeit angeht, sind deutsche Kliniken "OP-Weltmeister". (© ZDF/HR/3Sat)

Was die Häufigkeit angeht, sind deutsche Kliniken „OP-Weltmeister“. (© ZDF/HR/3Sat)

So kommt es, dass Deutschland „OP-Weltmeister“ ist und das drittteuerste Gesundheitssystem auf dem Planeten betreibt. In Sachen Effizienz liegen wir allerdings nur auf Rang 14. Abgesehen von ein paar kleinen optischen Mätzchen, wurden diese Verhältnisse in der Reportage von Ulrike Bremer und Ulrike Gehring glasklar herausgearbeitet.

Die Kaufleute haben das Sagen

Inzwischen, so eine weitere These des Berichts, haben vielfach die kaufmännischen Direktionen in den Krankenhäusern das Sagen und nicht mehr in erster Linie die Ärzte. Es wird wirtschaftlicher Druck auf die Mediziner ausgeübt, es werden entsprechende Boni aufs Ärztegehalt gezahlt. Wer kann da widerstehen?

Die gnadenlose Konkurrenz zwischen den Kliniken treibt manche Häuser in den Ruin – keineswegs immer die fachlich Schlechteren. Davon profitieren nicht selten private Betreiber, die eine marode Klinik schon mal für einen symbolischen Euro erwerben und das Kostenregime anschließend noch verschärfen. Unterdessen streichen Politiker den öffentlichen Kliniken Zuschüsse und die Krankenkassen üben ihrerseits Kostendruck aus. Ein Teufelskreis.

Krise gehört auf die politische Agenda

Wie weit der Zynismus geht, zeigt sich darin, dass Krebs unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten als (wie es hinter vorgehaltener Hand manchmal heißt) „sexy“ gilt, weil diese schreckliche Krankheit viele kostspielige Untersuchungen nach sich zieht. Privatpatienten sind dabei nicht etwa besser dran, im Gegenteil: Bei ihnen lohnen sich unsinnige Eingriffe noch mehr – und sie werden deshalb vorgenommen.

Die missliche, rundum verkorkste Lage lässt eigentlich nur einen Schluss zu: Der Themenkomplex „krankes Gesundheitswesen“ gehört dringend auf die politische Tagesordnung. Und zwar ganz weit nach oben.




Tanztheater Cordula Nolte: Verstörendes aus der neuen Konsumwelt

In der Legebatterie. Foto: Jochen Riese

In der Legebatterie. Foto: Jochen Riese

Ich bin, also konsumiere ich. Ich konsumiere, also bin ich. Aber was wird aus all dem Konsum – und was macht er mit mir, aus uns? Verstörende, schockierende, auch komische Antworten darauf sind nun im Tanztheater Cordula Nolte in Dortmund zu sehen. „Auf der Kippe“ heißt das jüngste sozialkritische Stück der freien Tanzbühne. Am Samstagabend feierte es umjubelte Premiere an der Rheinischen Straße/Ecke Paulinenstraße.

Es gab schon Abende, an denen man mehr gelacht hat in der charmantesten und vielleicht unbekanntesten Bühne der Stadt. Doch obwohl die Bilder, die das zehnköpfige Ensemble um Choreografin Cordula Nolte produziert, Schock-Momente und Gänsehaut produzieren – parallel muss man einfach staunen über die Kraft der Bilder, die tänzerische Ausdrucksstärke und den Ideenreichtum, mit dem das Ensemble die Konsequenzen des Kauf-Wahns in Szene setzt. Dieser Kommentar auf die Konsumgesellschaft macht sicher mehr Spaß und bewirkt womöglich mehr als die aktuelle Titelgeschichte des Spiegel, der mit dem Aufmacher „Konsumverzicht“ an den Kiosk kommt.

Die Waage halten inmitten des Konsums - das ist schwierig. Foto: Jochen Riese

Die Waage halten inmitten des Konsums – das ist schwierig. Foto: Jochen Riese

Zu Beginn hängen sie mit ausdruckslosen Gesichtern an der Stange, Stirn an Stirn, nackter Schenkel an nacktem Schenkel, dazu im Hintergrund monotones Gegacker: eine Legebatterie. Wie sediert vegetieren die Hühner-Menschen dahin, schaukeln autistisch, wimmern und keuchen, bis der Wagen kommt, um sie abzuholen und, Keule an Keule, in Folie zu verpacken. Dann rollen die Einkaufswagen auf die Bühne. In Schnäppchen-Laune balgen sich Frauen in Blümchenkleidern um die Wagen und hüpfen hinein – der Kampf beginnt. Indem der Mensch konsumiert, wird er selbst zur Ware – ein Gedanke, der sich durch den ganzen Abend zieht.

Und schon verwandelt sich die ganze Bühne in eine Müllhalde. Immer und immer mehr Plastikabfälle schleppen die Tänzerinnen und Tänzer in Einkaufstaschen auf die Bühne und werfen sie auf den Boden – shoppen im Rückwärtsgang. Bald ist der ganze Boden bedeckt mit leeren Milchtüten, Chipsdosen, Folie und Pappkartons. Auf diesem Boden bewegen sich die Darsteller – zwanghaft, gehetzt und freudlos. Mit gequälten Gesichtern, wie am Fließband absolvieren sie fast automatisiert Bewegungsmuster, bewegen sich von A nach B. Olaf Nowodworskis monotone, rhythmische Musik-Samples dazu verstärken den Eindruck der Getriebenheit.

Konsum produziert Opfer - das nimmt man in Kauf. Bild: Jochen Riese

Konsum produziert Opfer – das nimmt man in Kauf. Bild: Jochen Riese

Doch dann: süße Geigenklänge. Eine Frau im luftigen Kleid (Sabine Siegmund) scheint über den Abfall zu schweben, etwas zu suchen. Erwartungsvoll reckt und streckt sie sich bald hierhin, bald dorthin, bis sich die Erfüllung endlich einstellt: Das richtige Produkt ist gefunden. Selig hält sie es in die Höhe – eine Szene wie aus der Werbung.

Doch die Schatzsuche schien mehr Befriedigung verschafft zu haben als der Besitz, das Glück währt nur kurz. Mehr und mehr Produkte grabscht sie aus dem Haufen, stopft sie unters Kleid. Das Lächeln verschwindet, es folgt die Ernüchterung nach dem (Kauf-)Rausch. Die Frau kratzt sich, fühlt sich sichtlich unwohl im eigenen Körper – und fällt schließlich einfach um.

Die Frau mit Kinderwagen (Alexandra Grothe), die als nächste die Bühne betritt, nimmt die leblose Figur inmitten der Waren durchaus wahr. Sie versucht, einen Bogen um sie zu machen, sie zu ignorieren – erfolglos. Schließlich packt sie die Frau einfach mit in den Korb. Konsum produziert eben Opfer, die man kaufend in Kauf nimmt.

Her mit den Waren... Foto Jochen Riese

Her mit den Waren… Foto Jochen Riese

In einer starken Ensembleszene demonstrieren die Tänzerinnen in synchroner Monotonie die Gleichförmigkeit des Arbeits- und Alltagslebens: Sie stecken in grauen Anzügen, nur ein farbiger Schal sorgt vermeintlich für Individualität. Marionettenhaft, wie fern gesteuert kreisen sie zugleich die Schultern, reiben die Nase, werfen den Oberkörper nach vorn, eine perfekt laufende Maschine.

Doch es gibt einen Störfaktor: Einer der Tänzer (Holger Quiering) versucht, die anderen zum Innehalten zu bewegen, sie aufzurütteln. Doch egal, ob er seine Kolleginnen in die Luft hebt, ihre Bewegungen grotesk übertreibt oder sie gar von der Bühne trägt – nichts kann das Funktionieren des Systems stoppen. Dann fällt die erste einfach um – was ein kurzes, aber ebenfalls wenig nachhaltiges Innehalten bewirkt.

Die ewige Wiedergeburt des Mülls. Foto: Jochen Riese

Die ewige Wiedergeburt des Mülls. Foto: Jochen Riese

Der Abend gerät nach der Pause sogar noch bilderstärker – und verlangt den Tänzerinnen und Tänzern einiges ab, verbringen sie doch den Großteil des zweiten Teils in festgebundenen Müllsäcken. Das Publikum erlebt die endlose Wiedergeburt des Mülls: Aus dem Loch einer bühnenfüllenden Plane quillen immer neue Müllsäcke und führen ein Eigenleben auf der Kippe – komisch-verstörende Bilder, die in einem Vulkanausbruch gipfeln: Der Plastikberg auf der Bühne spuckt hunderte bunte Plastiktüten. Ein heiteres Bild, ein Bild von Schönheit und Überfluss – ja, Konsum macht auch Spaß! Doch dann der Schluss: Eine riesige Müllwelle rollt direkt auf die Zuschauer zu. Vorhang.

Nächste Termine: Sa., 10. Mai 2014, 20 Uhr / So., 25. Mai 2014, 19 Uhr.




Wie neue Lebensmittel kreiert werden

Produktentwicklerin Karin Tischler mit einer neuen Muffin-Kreation. (© ZDF/SWR/Lothar Zimmermann)

Produktentwicklerin Karin Tischler mit einer neuen Muffin-Kreation. (© ZDF/SWR/Lothar Zimmermann)

Gibt es nicht schon mehr als genug verschiedene Lebensmittel? Dieser Überfluss allüberall! Doch die Industrie muss mit immer neuen Sorten und Einfällen aufwarten. Eine Systemfrage. Wer rastet, der rostet. Sonst springt der Verbraucher womöglich ab. Um das zu verhindern, gibt es „Die Lebensmittel-Erfinder“ (3Sat).

TV-Reporter Lothar Zimmermann brachte sich leider selbst über Gebühr in seinen Bericht ein. Er spielte gleichsam den Fragesteller und Vorkoster der Nation. Auch gab er sich gern den Anschein, exklusiv Geheimnisse zu enthüllen. Oft genug war er im Bild. Oft genug klangen seine Sätze ebenso auswendig gelernt wie banal.

Das perfekte Knack-Geräusch für Kekse

Allzu viele Hintergründe konnte er freilich nicht beleuchten. Der durchweg abgesprochen und gestellt wirkende Beitrag erschöpfte sich eher im begriffslosen Staunen und Stirnrunzeln über einige Phänomene der Lebensmittel-Branche. Mit welchem Aufwand Ton-Designer allein das perfekte Knack-Geräusch für Kekse modellieren!

Im Mittelpunkt der Sendung stand die Produktentwicklerin Karin Tischler, die sich mit dem Team ihrer bei Düsseldorf angesiedelten Firma ständig neue Lebensmittel ausdenkt und auf Verbrauchergeschmack wie Zeitgeist zuschneidet. Auch nationale und regionale Vorlieben müssen bedient werden. Und den Chefs der Lebensmittel-Firmen muss es natürlich auch zusagen.

Die Inszenierung eines Minikuchens

Frau Tischler genoss es sichtlich, ihr Ideenlabor im Fernsehen vorführen zu dürfen. Bei Geschmacksproben war „lecker“ das häufigste Wort. Aber hinter den Kulissen geht es sicherlich professionell zu. Da werden trendgerechte Minikuchen nach US-Vorbild inszeniert, auf dass die kalorienreiche Versuchung gar groß werde.

Man sah also, wie in langwierigen Versuchsreihen neue Cupcakes (Muffins mit Cremehäubchen) entstanden – im Auftrag einer Großbäckerei. Wirkliche Geheimnisse wurden dabei selbstverständlich nicht verraten; auch nicht bei Abstechern zum Schoko-Hersteller Ritter Sport, wo Lebensmittel-Ingenieure eine neue Kokos-Sorte entwarfen, und zu Pulmoll, wo man Stevia statt Zucker als Süßungsmittel erprobte. Keine leichten Jobs. Die Floprate für neue Lebensmittel liegt bei über 75 Prozent…

Die Wurst, in der der Senf schon drin ist

Der Reporter verfolgte auch einen kreationswilligen Stuttgarter Metzger bei seinem Bemühen, neue Sachen auf den Markt zu bringen, beispielsweise eine Wurst („Stuggi“), in der der Senf schon drin ist, und frittierte Maultaschen („Schwaben-Chips“). Der liebenswerte Tüftler hat wahrscheinlich kaum eine Chance gegen Konzerne und ihre Forschungsabteilungen. Geradezu rührend war es zu sehen, wie er seine Ideen bei der Münchner Backmesse anpreisen wollte. Aber vielleicht gelingt ihm ja noch der große Glücksgriff.




Wie Werte entstehen und schwinden – „Kunst und Kapital“ im Lehmbruck-Museum

Afrikanischer Schrottsammler in Griechenland - Filmstill aus Stefanos Tsivopoulos: "History Zero" (2013), Film in drei Episoden (© Künstler, Kalfayan Galeries und Prometeogallery di Ida Pisani)

Afrikanischer Schrottsammler in Griechenland – Filmstill aus Stefanos Tsivopoulos: „History Zero“ (2013), Film in drei Episoden (© Künstler, Kalfayan Galeries und Prometeogallery di Ida Pisani)

Künstler haben manchmal so ihre Schliche, um die gängigen Praktiken des Kunstmarkts zu unterlaufen.

Mal wird nur ein wenig origineller Stempel als Signatur verwendet, so dass der Wert des zugehörigen Werkes auf einmal zweifelhaft ist. Mitunter wird gleich gezielt dafür gesorgt, dass keinerlei oder wenigstens kein einmaliges oder bleibendes Objekt vorhanden ist, an das sich zählbare Wertschöpfung knüpfen könnte.

Um solche (teilweise vertrackten) Strategien dreht sich im Duisburger Lehmbruck-Museum die Ausstellung des Akzente-Festivals. „Hans im Glück – Kunst und Kapital“ handelt davon, wie wir den Dingen Wert beimessen – auch über den Kunstmarkt hinaus, auf dem derlei Wertzuschreibungen oft vollends irrational sind.

In Grimms Märchen „Hans im Glück“ geht es bekanntlich darum, dass ein junger Mann anfänglich Gold eintauscht und nach und nach immer geringere Werte erzielt, was aber nicht beklagenswert erscheint, sondern als Befreiung von einer Last. Eine schöne, herzige Utopie der Loslösung vom schnöden Mammon. Und so hält auch die Duisburger Ausstellung hie und da Ausschau nach Tauschwerten jenseits des Geldes. Am sinnfälligsten gelingt dies Hans-Peter Feldmann, der auf runden Tabletts kleine Weizenfelder angelegt hat, die gleichsam vor den Augen der Besucher staunenswert wachsen und eine ungeheure Energie ohne sonderliches Kapital ahnen lassen.

Es herrscht aber nicht rundum Verweigerung. Selbst die Fluxus-Künstler der 60er und 70er Jahre (in der Ausstellung vertreten: Robert Filliou, Daniel Spoerri, Ben Vautier, Dieter Roth) wollten von ihrem Tun leben und haben Auflagenkunst (Multiples) hergestellt, die sich dann doch leidlich verkaufen ließ. Allerdings widersprachen sie damit bereits dem Unikat-Gedanken. Überhaupt wehrten sie sich mit oft ausgeklügelt hintersinnigen Arrangements gegen den Fetischcharakter der (Kunst)-Ware. Ohne gewisse Widersprüche ist auf diesem Spannungsfeld schwerlich zu operieren.

Apropos Widersprüche, die aber auch zu Übereinstimmungen gerinnen können: Daniel Spoerri blendete „ärmliche“ Kunstmaterialien und schieren Luxus ineins, als er einen Filzanzug à la Beuys zusammen mit einem Designeranzug à la Cardin in Goldfolie präsentierte. Um die Wirrnis der Werte zu steigern, tauschte er die Vornamen aus und nannte die Herren Pierre Beuys und Joseph Cardin. Wobei zu sagen wäre, dass Beuys’ Schöpfungen einen finanziellen Vergleich mit Cardin durchaus bestehen würden. Aus dem Ärmlichen erwuchs Reichtum…

Handel und Wandel, ganz konkret und zugleich spielerisch: Die Deutsch-Japanerin Takako Saito hat einen ganzen Shop im Museum aufgebaut, den „You and me shop“, in dem man sich zur Kunst ernannte Objekte zusammenstellen und erwerben kann. Auch ein Dutzend Duisburger Künstler darf auf Saitos Wunsch hierbei mitwirken, ohne dass Galeristen von den Verkäufen (allesamt unter 50 Euro) profitieren.

Slowenische Künstlergruppe IRWIN: "Golden Smile" (Fotografie, 2003) (© Courtesy of Galerija Gregor Podnar, Foto: Tomas Gregorič)

Slowenische Künstlergruppe IRWIN: „Golden Smile“ (Fotografie, 2003) (© Courtesy of Galerija Gregor Podnar, Foto: Tomas Gregorič)

Das slowenische Künstlerkollektiv IRWIN, das jede individuelle Schöpfung und Signatur ablehnt, enthüllt mit einigem Witz die oft irrsinnige Preisfindung für Kunstwerke. In der dreiteiligen Arbeit „Namepickers“ wird eine Kreation der berühmten (und somit besonders teuren) Marina Abramovic durch Kopie und Ent-Persönlichung sukzessive im Wert geschmälert. Ohne Überhöhung und ohne Aura, so zeigt sich, schwindet gleichsam das Kapital der Kunst. Und gar vieles ist ohnehin nur lächerliches Blendwerk, wie das IRWIN-Lächelbild mit gebleckten goldenen Zähnen vor Augen führt.

Renommierte Gegenwartskünstler sind an der gleichwohl übersichtlichen Duisburger Schau beteiligt. Felix Droese, Katharina Fritsch, Per Kirkeby und Wolf Vostell stillen ein etwaiges Bedürfnis nach Namedropping. Der griechische Biennale-Teilnehmer Stefanos Tsivopoulos ruft in einer beziehungsreichen Videoinstallation die Krise in seinem Heimatland auf. Die gleichfalls Biennale-erprobten Rumänen Alexandra Pirici und Manuel Pelmus wählen das Mittel der Performance, um der Kunst die materielle Basis zu nehmen und sie flüchtig zu machen wie vergängliches Theater. Da gibt’s nichts zu kaufen.

Salvador Dalí: "Kopf Dante" (1964), Bronze, grünlich patiniert, vergoldete Silberlöffel auf Marmorsockel (Lehmbruck Museum, Duisburg - © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: Britta Lauer)

Salvador Dalí: „Kopf Dante“ (1964), Bronze, grünlich patiniert, vergoldete Silberlöffel auf Marmorsockel (Lehmbruck Museum, Duisburg – © VG Bild-Kunst, Bonn / Foto: Britta Lauer)

Sehr weit haben sie sich somit von älteren Positionen der Moderne entfernt. Salvador Dalís Dante-Kopf, geschmückt mit vergoldeten Löffeln als Lorbeer, ist – verhaltener Ironie zum Trotz – ein eitles Sockel-Kunstwerk par excellence. Und auch Andy Warhols Waschmittel-Box („Brillo“) verdoppelte einst ja nur den götzenhaften Warencharakter; eine damals in jedem Wortsinne blendende Idee, die man freilich nicht endlos variieren sollte. Durchaus bemerkenswert, dass eine Arbeit von Man Ray heute zeitgemäßer wirkt als Warhols Warenzeichen.

Übrigens passen nicht alle Exponate so recht zum Thema der Ausstellung. Manches (zumal die schon öfter gezeigten Stücke aus Eigenbesitz) wird eher notdürftig in den Kontext gezwängt. Man muss schon sehr umständlich erklären, warum Skulpturen von Otto Pankok oder Wilhelm Lehmbruck („Bettlerpaar“) in diesen Zirkel gehören sollen.

„Hans im Glück – Kunst und Kapital“. Lehmbruck Museum, Duisburg (Friedrich-Wilhelm-Straße 40). Ab Samstag, 8. März (Eröffnung 16 Uhr) bis 22. Juni. Geöffnet So 11-18, Mo/Di nach Absprache, Mi 12-18, Do 12-21, Fr/Sa 12-18 Uhr.
Weitere Infos: www.lehmbruckmuseum.de




Sind Schulden wirklich lobenswert? – Ein Buch wirft Fragen auf

Lob der Schulden, Sarthou-Lajus Mit einem „Lob der Schulden“ feiert der Berliner Wagenbach Verlag die zweihundertste Publikation seiner Buchreihe Salto.

Ein Salto stellt den Gleichgewichtssinn auf den Kopf und genau das illustriert wohl die Absicht dieser unkonventionellen Reihe: bestehende Annahmen, anerkannte Grundregeln so auf den Kopf zu stellen wie das A im Logo der Salto-Reihe. Mit dem Essay „Lob der Schulden“ der französischen Journalistin und Philosophin Nathalie Sarthou-Lajus ist das bestens gelungen. Wer mag schon Schulden (außer bedienten Gläubigern), wer mag ihnen ein hohes Loblied singen?

Schuldlos schuldig sind wir alle! Denn Schulden sind die Grundbedingung menschlicher Existenz, unser aller Erbe und Vermächtnis, weil wir von Geburt an voneinander abhängen und das nicht allein in finanzieller Hinsicht.“ So schreibt es Sarthou-Lajus und schlussfolgert, dass die immer noch gegenwärtige Finanzkrise genau deshalb so erschütternd sei, weil sie eben durch die Demonstration der Abhängigkeit aller von allen durch Schulden das neoliberale Ideal der vollkommenen Freiheit und Unabhängigkeit grundlegend in Frage stellt.

So weit, so gut. Bis hierher kann man ihren Ausführungen gut folgen. Wer hat nicht ein ungutes Gefühl bei den unzählbaren Vorkommastellen der Schuldenuhren?

Stand Dezember 2013

Stand Dezember 2013

Laden wir nicht alle alleine durch Nichtstun Schuld auf uns? Ganz groß sind wir alle auch in der Disziplin der Schuldzuweisungen. Einst ehrbare Berufe tragen eine Art Erbschuld mit sich rum, Politiker, Journalisten, Banker, Fernsehmoderatoren seien nur als Beispiel genannt. Immer mehr Angehörige dieser Berufskasten haben das Gefühl, auf ihrer Stirn prange ein Zettel, beschriftet mit der Anklage „Generalschuld“. Nur Hersteller von Tretminen stehen in noch schlechterem Ansehen.

Ich schweife ab. Meine Schuld. Stattgegeben.

Natalie Sarthou-Lajus jedenfalls bemüht im weiteren Verlauf ihres Essays Beispiele aus der Literaturgeschichte, um die Allgegenwart der Schulden zu veranschaulichen. Mit Shakespeare, Spinoza, Molière zieht sie den Schluß, dass schon alleine dadurch, dass das menschliche Dasein aus Geben und Nehmen besteht, wir alle uns immer etwas schuldig bleiben. Aus Schulden müsse aber nicht zwangsläufig ein Schuldgefühl entstehen, zumal sich niemand davon befreien kann. Man könne die Schulden auch einfach mal annehmen und sie loben.

Sie schreibt: „Wenn es gelingt, die unbezahlbare und damit existenzielle Verschuldung gelassen anzunehmen, wird zugleich tröstlich die überindividuelle Kontinuität erkennbar. Denn in der unauflöslichen Erbschuld allein liegt die Möglichkeit einer Zukunft.“ Den Beweis dafür bleibt allerdings wiederum die Autorin ihren Lesern schuldig. Denn gerade weil so viele schuldlos schuldig werden, ist die Annahme, dass irgendwer einen heiteren Grad der gelassenen Schuldanerkennung erreicht, auch schon auf philosophischer Ebene mehr als utopisch.

Übertragen wir diese Hypthese wieder zurück auf die bemühte Finanzkrise, wird sie auch gefährlich. Denn was würde eine achselzuckend hingenommene Unauflöslichkeit bedeuten? Mag ja sein, dass es den ein oder anderen Finanzmarkt vorläufig rettet, wenn wir die Schulden zahlungsunfähiger Schuldner einfach entfristen und sie in unauflösliche verwandeln. Aber was macht das mit den Menschen, die direkt oder indirekt von diesen Märkten abhängen? Und mit der Staatsform, in der wir leben und wohl auch leben möchten. Was macht das mit einer Demokratie?

Blicken wir auf ein Beispiel der jüngsten Zeit. In Griechenland hat man es mit staatlichen Anleihen so gemacht. Schuldanerkenntnis. Schuld entfristet. Rückzahlung ungewiss. Aber immerhin noch im fragmentarischen Bereich des Möglichen. Fragt man die Finanzminister der EU, hat dieses Instrument prima gegriffen und der Kunstgriff ist geglückt. Fragt man eine griechische Oma, die staatstreu ihre lang erstrickten Ersparnisse für die Rente in eben solche staatlichen Anleihen gesteckt hat, dann kann man sehr gut verstehen, warum diese sich die Monarchie und ihrethalben auch die Diktatur zurückwünscht. Theoretisch hört sich das alles wunderhübsch an, praktisch eher menschenverachtend, begibt man sich mal vom philosophischen Ross herunter in die Niederungen normalen Alltagslebens.

Zum guten Schluß fehlt ein wichtiger Aspekt, der den nicht philosophierenden Leser davor zurückschrecken lässt, in das hohe Loblied der Schulden einzustimmen. Der einfache Algorithmus: Schulden sind ohne Zinsen nicht zu haben. So wahr, so simpel. Sie sind der Preis, den man für Schulden zahlen muss, ob im mathematischen oder philosophischen Bereich. Schulden gibt es nicht umsonst. Nie und nirgends.

Nathalie Sarthou-Lajus: „Lob der Schulden“. Wagenbach-Verlag, 86 Seiten, € 13,90




Der Wahnsinn mit dem Fleisch

In den Grundzügen weiß man es ja – und muss doch wohl immer mal wieder daran erinnert werden: Der Beitrag „Schweine für den Müllcontainer“ (3Sat, übernommen vom SWR) führte noch einmal das eklige Elend der heute weithin gängigen Fleischproduktion vor.

Da sah man abermals schockierende Bilder aus der Massentierhaltung; kranke und verletzte Schweine, die unter unerträglichen, widernatürlichen, alles andere als artgerechten Bedingungen in gigantischen Ställen vegetieren. Was ist das nur für ein System, das seine Profite aus solch rücksichtslosem Umgang mit der Kreatur zieht und überdies die Umwelt belastet?

Subventionen für Massenhaltung

Doch nicht nur mit Tierschutz und Ökologie liegt es im Argen. Ein weiterer Strang der aufrüttelnden Reportage zeichnete zudem den ökonomischen Irrsinn nach. Nahezu uferlos fließen Subventionen der EU, von Bund und Ländern zugunsten der Massenhaltung.

Vergleichsweise "glückliches Ferkel" vom Ökohof. Die Wirklichkeit der Mastbetriebe sieht in der Regel ganz anders aus. (© ZDF/SWR/3Sat)

Vergleichsweise „glückliches Ferkel“ vom Ökohof. Die Wirklichkeit der Mastbetriebe sieht in der Regel ganz anders aus. (© ZDF/SWR/3Sat)

Schiere Größe der Mastbetriebe wird ebenso belohnt wie „Marktmaßnahmen“ im großen Stil, sprich: Kühlhaus-Lagerung als künstliche Verknappung, bis die Preise wieder ansteigen. Bezahlt wird das alles von offenbar reichlich vorhandenem Steuergeld…

Was einem keiner erklären kann

Besonders bizarr: In Holland kassieren Großbauern, wenn sie ihre Ställe abreißen. Anschließend ziehen sie in Deutschland neue Riesenställe hoch – ebenfalls mit Subventionen. Das kann einem keiner schlüssig erklären, weder in Brüssel noch in Berlin.

Vielleicht ein wenig zu sehr bewegte sich Reporter Edgar Verheyen quasi am Leitseil von Mitarbeitern des BUND. Doch die Leute vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland sind ja im Prinzip keine schlechten Wegweiser, wenn man ergänzend eigene Recherchen heranzieht.

Überproduktion für den Müll

Und der Titel mit den Müllcontainern? Der Umstand, dass wir in Deutschland inzwischen mit 58 Millionen Mastschweinen pro Jahr eine satte Überproduktion haben und auch daher beinahe ein Drittel des Fleischs (aus Supermärkten, Kantinen, Privathaushalten) im Müll landet, verschlägt einem den Atem. Da läuft etwas rundum und grundsätzlich falsch. Und man kann nicht erkennen, dass die Politik entschieden gegensteuern würde.

Als glaubhafter Kronzeuge gegen die fatale Billigkauf- und Wegwerf-Mentalität wurde ein früherer Fleisch-Magnat aufgerufen: Karl Ludwig Schweisfurth, einst Herr über die Herta-Wurstfabriken mit 5000 Mitarbeitern, ist jetzt Öko-Landwirt, bei dem 150 Schweine mit anderem Getier in fast schon paradiesischer Weise freien Auslauf genießen. Fragen seiner Kinder hätten ihn zur Umkehr bewogen, sagt der heute 83jährige. Doch kann die Idylle seines oberbayerischen Hofes ein Modell für die ganze Gesellschaft sein?




Ein Jahr nach Schließung der Rundschau-Redaktion: Die Folgen schmerzen noch!

Heute ist es genau ein Jahr her: Am 15. Januar 2013 verkündete die Geschäftsführung der WAZ-Mediengruppe (heute Funke-Gruppe) das „Aus“ für die gesamte Redaktion der Westfälischen Rundschau (WR) in Dortmund. Und natürlich sind die Folgen dieser brachialen Entscheidung noch längst nicht ausgestanden; weder die persönlichen noch die (medien)politischen.

Manche Kolleginnen und Kollegen, die damals Knall auf Fall ihren Job verloren haben, sind anderweitig untergekommen, vor allem in Pressestellen; meistenteils unter finanziellen Einbußen, aber immerhin.

Andere versuchen, sich mit Umschulungen oder mit Gründerprojekten aller Art durchzuschlagen – vom Blog über die Spezialzeitschrift bis hin zur eigenen Kneipe. Von glücklichen Einzelfällen abgesehen, dürfte hier die bisherige Gewinn- und Verlustbilanz im Schnitt noch betrüblicher aussehen.

Wieder andere stehen gänzlich vor dem Nichts.

Das schienen noch Zeiten zu sein: Titelblatt-Ausriss einer umfangreichen Sonderbeilage zum 60jährigen Bestehen der Westfälischen Rundschau.

Das schienen noch Zeiten zu sein: Titelblatt-Ausriss einer umfangreichen Sonderbeilage zum 60jährigen Bestehen der Westfälischen Rundschau, erschienen im März 2006.

Mit Gehaltsfortzahlungen gemäß Kündigungsfrist oder auch Abfindungen (von denen die freien Mitarbeiter des Blattes nur träumen können) kann man sich eine Zeit über Wasser halten, aber irgendwann sind auch diese Mittel aufgebraucht. Besonders die Jüngeren sollten dann dringlich einen anderen Weg ins Berufsleben gefunden haben. Dazu kann man nach wie vor nur alles Gute wünschen!

Kein Wunder jedoch, dass die anfängliche Solidarität alsbald an vielen Stellen gebröckelt ist. Zwar trifft und hilft man einander noch hie und da. Doch muss in erster Linie jede(r) sehen, wo er/sie bleibt. Diese leider nur zu verständliche Haltung hat sich schon recht früh abgezeichnet. Man möchte seufzen.

Erst recht hat die Empörung außerhalb der Kollegenschaft nach einiger Zeit spürbar nachgelassen. Man beachte beispielsweise die wachsende Windstille auf den diversen Soli-Seiten im Internet. Die Leute haben ihre eigenen Sorgen.

Obwohl der Umgang mit der WR-Redaktion bundesweit immer noch beispiellos ist, sind seither etliche andere Themen in den Vordergrund gerückt. Auf diesen Vergessens-Effekt hat sicherlich auch die Funke-Geschäftsführung bauen können.

Die Presselandschaft in Dortmund und der Region ist jedenfalls wirklich spürbar verarmt. Beispielsweise haben es die Ruhrnachrichten nicht mehr nötig, mit verstärkten Anstrengungen auf etwaige Konkurrenz zu reagieren. Das schlägt sich nicht nur im gelegentlichen Nachlassen der journalistischen Qualität nieder, sondern generell in den Debatten, die etwa in Dortmund (nicht) geführt werden. Hier kann man studieren, wie ungut sich ein lokales Quasi-Monopol in einer der größten Städte der Republik auswirkt; ein Lehrstück und ein reiches Betätigungsfeld für den Studiengang Journalistik an der örtlichen Hochschule…

Neuerdings war zu lesen, dass Funke-Geschäftsführer Christian Nienhaus, der die Schließung der WR-Redaktion an vorderster Front vorangetrieben und vertreten hat, die Gruppe wohl verlassen wird. Seine Abfindung wird gewiss für alle Lebenszeit reichen.




Banny, Bicky und die Banker

Allmählich beginnt es zu nerven: Jedweder Hansel, der mit Überweisungen zu tun hat, will seit einiger Zeit deine IBAN und deine BIC haben.

Ob’s nötig ist? Wer fragt schon danach? Im Vergleich zur vorherigen Kontonummer nebst Bankleitzahl lesen sich die neuen Zahlenreihen auf den ersten Blick reichlich kompliziert. Aber bitte: Die da oben in den Bankpalästen machen ja doch, was sie wollen.

Man möchte allerdings lieber nicht wissen, wie viele hochbezahlte Ideengeber sich hierfür haben rühmen lassen; wie viele Konferenzstunden darüber in allen beteiligten Ländern verflossen sind; wie viele WHS (Wichtige-Herren-Stunden) in dieses immense Projekt investiert worden sind…

Brüllend komisch: Banny und Bicky (erste Entwurfsskizze: © Bernd Berke)

Brüllend komisch: Banny und Bicky (erste Entwurfsskizze: © Bernd Berke)

Was allerdings verwundert, ist dies: wie staubtrocken und nüchtern das alles abgelaufen ist. Offenbar wollten die Banker nicht in den Ruf des Unseriösen geraten. (*röhrendes Gelächter aus dem Off*)

Welch eine wunderbare Kampagne hätte sich schmieden lassen! Wie lehrreich, bildkräftig und überaus witzig hätte man etwa zwei muntere, flott gezeichnete Gesellen (nennen wir sie mal „Banny“ und „Bicky“) allüberall antreten lassen können, um uns cross- und multimedial die Notwendigkeit der Umstellung auf IBAN und BIC zu erklären – so ähnlich, wie man uns damals die Postleitzahlen eingetrichtert hat. Welche Abenteuer hätten Banny und Bicky nicht erleben können. Ich denke da nur an Suspense-Geschichten wie „Bannys prickelnde Gewinnerwartung“ oder „Bicky und das Zinsluder“.

Tja. Da müssen wir wohl wieder auf eine Weltmeisterschaft warten, um alberne Maskottchen zu sehen. Apropos: Weiß jemand schon, wie die Glücksbringer der Fußball-WM in Katar 2022 aussehen werden? Keckernde Wüstenfüchse? Lachende Bauarbeiter?




Historische Ferne in Herne: Uruk – die erste Großstadt der Menschheit

Kostbare Leihgaben aus London, Paris und Berlin gastieren jetzt im Herner LWL-Museum für Archäologie. Inhaltlich geht es um den frühesten Vorläufer solcher Metropolen: das legendäre Uruk.

Diese erste Großstadt der Weltgeschichte ist vor rund 5000 Jahren in Mesopotamien entstanden, auf dem Gebiet des heutigen Irak, im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, rund 300 Kilometer südlich vom späteren Bagdad gelegen. Uruk hat über Jahrtausende existiert, wobei die kulturelle Wirkung länger andauerte als die politische Macht. Der Zenit war gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. erreicht. Als Mittelpunkt der damaligen Welt wurde Uruk von Babylon abgelöst.

Sogenannte Uruk-Vase. Uruk, Uruk-Zeit 4. Jt. v. Chr., Marmor. Bagdad (Iraq Museum), Gipsabguss Berlin, Vorderasiatisches Museum. (© Staatliche Museen zu Berlin/Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Sogenannte Uruk-Vase. Uruk, Uruk-Zeit 4. Jt. v. Chr., Marmor. Bagdad (Iraq Museum), Gipsabguss Berlin, Vorderasiatisches Museum. (© Staatliche Museen zu Berlin/Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Just 1913, also vor 100 Jahren, hat in Uruk die erste deutsche Grabungskampagne begonnen, zeitbedingt im Zeichen des Kolonialismus und somit im Wettstreit vor allem mit England und Frankreich. Die missliche Lage im Irak lässt derzeit keine weiteren Grabungen zu, wie denn überhaupt in diesen 100 Jahren kriegerische Wirrnisse immer wieder die archäologische Arbeit unterbrochen haben. Die jetzige Grabungsleiterin Margarete van Ess kann, wie sie in Herne sagte, derzeit nur zu kurzen Visiten nach Uruk reisen.

Staunenswert, worüber man in Uruk schon verfügte: Da gab es Arbeitsteilung, was wiederum die Entstehung gesellschaftlicher Schichten und entsprechender Abhängigkeiten voraussetzte. Leider weiß man nicht, wie es zu dieser folgenreichen Differenzierung gekommen ist. Es gab kultisch-kulturelle Zentralbauten wie einen imposanten Stufentempel (Zikkurrat), Kanäle, öffentliche Wasserversorgung mit Rohrleitungen, regen Handel über weite Distanzen hinweg (außer Schilf und Lehm musste alles eingeführt werden) und deshalb auch eine funktionierende Verwaltung, der wir wiederum die Erfindung der ersten Schrift zu verdanken haben, lange vor den altägyptischen Hieroglyphen.

Tontafel mit Berechnung für die Bierherstellung. Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. Berlin, Vorderasiatisches Museum (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Tontafel mit Berechnung für die Bierherstellung. Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. Berlin, Vorderasiatisches Museum (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf M. Teßmer)

Auch eine der ältesten Dichtungen der Menschheit spielt in Uruk, nämlich das Gilgamesch-Epos, das von einem abenteuerlustigen König erzählt, der hernach geläutert in die Stadt zurückkehrt. Einige Funde kreisen um diesen Mythos, wie auch um die Stadtgöttin Innana (Ishtar), die vor allem für Liebe und Fruchtbarkeit stand.

Rund 90 Prozent der frühesten Keilschrift-Texte waren gleichsam bürokratische Aufzeichnungen, beispielsweise in Ton geritzte Urformen der „Lieferscheine“. Da findet man faszinierende Dokumente wie eine über einen Meter hohe Vase mit Erntedank-Motiven oder den Kopf eines Dämons namens Humbaba, dessen seltsam verschlungene Physiognomie von der Eingeweideschau kündet. Die Zukunft wurde damals offenkundig nicht nur aus den Sternen, sondern auch aus Gedärmen gelesen. Zum Orakel gibt es auch schriftliche Belege: Sahen die Eingeweide so aus wie jene dämonische Maske, so war es wohl schlecht bestellt…

Maske des Dämons Humbaba aus Sippar. Altbabylonisch, 18./17. Jh. v. Chr., gebrannter Ton. London, British Museum (© The Trustees of the British Museum)

Maske des Dämons Humbaba aus Sippar. Altbabylonisch, 18./17. Jh. v. Chr., gebrannter Ton. London, British Museum (© The Trustees of the British Museum)

Ausschlussreich alltagsnah auch die „Glockentöpfe“ (eine Art Wegwerfgeschirr), eine Tafel zur Bierproduktion (Zutaten und Mengenangaben) oder „lexikalische“ Listen wie jene, die 58 verschiedene Schweinearten verzeichnet. Überdies sieht man Aufstellungen zu Getreide- und Fischrationen für Arbeiter, die die 9 Kilometer lange und bis zu 9 Meter breite Mauer von Uruk errichten mussten. Apropos: Die Stadt umfasste etwa 5,5 Quadratkilometer, seinerzeit beispiellos, heute etwa der Altstadt von Tübingen entsprechend. Die Einwohnerzahl kann man nur grob schätzen, sie könnte zwischen 40 000 und 60 000 gelegen haben.

Sogenannte Glockentöpfe, Massenprodukte aus Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf. M. Teßmer)

Sogenannte Glockentöpfe, Massenprodukte aus Uruk, Ende 4. Jt. v. Chr. (© Staatliche Museen zu Berlin, Vorderasiatisches Museum/Olaf. M. Teßmer)

In Herne möchte man verwittertes Sein und Wesen von Uruk trotzdem griffig mit heutigen Mega-Städten assoziieren, in der Pressekonferenz war sogar vage von Bezügen zur Ruhrgebiets-Metropole die Rede. Nun ja, geschenkt. Das ist die übliche Kultur-PR, die mit Klappern Leute locken soll. Im Vorderasiatischen Museum, wo die Schau schon zu sehen war, hatte man damit wahrlich Erfolg, es kamen über 400000 Besucher. Dort und in Mannheim (Reiss-Engelhorn-Museen) ist das Konzept ersonnen worden, das auf stockseriösen Forschungen basiert, die eben halbwegs populär umgesetzt werden müssen, will die Wissenschaft nicht im eigenen Saft schmoren.

In Wahrheit sind uns all diese Dinge natürlich nicht so nah. Es handelt es sich um fragmentarische Funde aus einer unvordenklich fernen Zeit, die erst einmal für sich gewürdigt und interpretiert werden müssen. Das ist vor allem Sache der Experten, die aus winzigen, vielfach schadhaften Gegenständen mit bewundernswerten Scharfsinn eine ganze Lebenswelt zu rekonstruieren suchen. Daraus ließe sich übrigens auch ein Plädoyer für die so genannten „kleinen Fächer“ an den Unis herleiten, die heute häufig von Sparmaßnahmen bedroht sind.

Wer aber würde der Versuchung widerstehen wollen, Uruk zur Gänze digital in 3-D-Manier zu rekonstruieren und virtuell zu überfliegen, wie es hier geschieht? In dieser Perfektion war das vor wenigen Jahren noch nicht möglich. Also nutzt man die Chance.

3D-Rekonstruktion des "Weißen Tempels", der auf einer 12 Meter hohen Terrasse steht. Uruk-Zeit, um 3450 v. Chr. (© artefacts-berlin.de; wissenschaftliches Material: Deutsches Archäologisches Institut)

3D-Rekonstruktion des „Weißen Tempels“, der auf einer 12 Meter hohen Terrasse steht. Uruk-Zeit, um 3450 v. Chr. (© artefacts-berlin.de; wissenschaftliches Material: Deutsches Archäologisches Institut)

Man müht sich eben rundum nach Kräften, die rund 300 Exponate (darunter auch Abgüsse) ins Heute und an die fachlich nicht vorbelasteten Besucher heranzuholen. Das führt mitunter zur Überinszenierung. So werden etwas Ansammlungen kleinster Tontäfelchen von hoch aufragender Ausstellungs-Architektur überwölbt.Da fällt es mitunter nicht leicht, sich auf die oft unscheinbaren, aber bedeutsamen und gut erläuterten Exponate zu konzentrieren.

40 deutsche Grabungskampagnen hat es seit 1913 gegeben. Die Engländer waren schon Jahrzehnte früher zugange. Dennoch sind erst rund 5 Prozent (!) des Areals ausgegraben, es bleibt also reichlich Arbeit für die nächsten 500 Jahre, wie Grabungsleiterin van Ess versichert. Wer weiß, welche Überraschungen da noch schlummern.

„Uruk. 5000 Jahre Megacity“. 3. November 2013 bis 21. April 2014. LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Öffnungsziten: Di, Mi, Fr 9-17 Uhr, Do 9-19 Uhr, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr (geschlossen 24., 25. Und 31. Dez, 1. Jan.). Eintritt 5 Euro, ermäßigt 3 Euro, Schüler 2 Euro, Familienkarte 11 Euro. Katalog im Museum 24,95 Euro, sonst 39,95 Euro. Internet: http//www.uruk.lwl.org




Mercedes gegen BMW: Duell des Zufalls

Das hört sich so simpel an wie eine Kinderfrage: Welches Auto ist besser – BMW oder Mercedes? Allen Ernstes wollte das ZDF diese Frage beantworten. Allen Ernstes? Naja, doch nicht so ganz.

Wahrlich ein Luxusproblem. Dass zwei solch starke Edelmarken aus Deutschland kommen, ist ja nun wirklich ein Pfund. Und dann gibt’s auch noch Audi, Porsche und ein paar andere. Man muss es sich diese Laufkultur nur leisten können…

Sinnarme Hektik

In knapp 45 Minuten sollte „BMW gegen Mercedes – Das Duell“ entschieden sein. Da ging es um Fahrverhalten, Wirtschaftlichkeit, Service-Qualität, „Kultfaktor“, Sicherheit, Werthaltigkeit beim Wiederverkauf und faire Arbeitsbedingungen bei der Herstellung. Bei so wenig Zeit und so vielen Kriterien war sinnarme Hektik angesagt.

Mercedes kontra BMW (@ ZDF/Uwe Kielhorn)

Mercedes kontra BMW (@ ZDF/Uwe Kielhorn)

Mal davon abgesehen, dass nur bestimmte Modelle miteinander verglichen wurden (Ober- und Mittelklasse, Geländewagen), wurde vielfach dem puren Zufall Tür und Tor geöffnet. Beispiel: Gerade mal zwei Werkstätten der beiden Marken sollten die Service-Qualität der Konzerne belegen. Zwei andere Autohäuser hätten vielleicht schon völlig andere Ergebnisse gebracht. Immerhin war’s wirklich peinlich, dass in beiden Fällen von sieben (durch Manipulation bewusst erzeugten) Fehlern nur je zwei gefunden wurden. O jemine! Und das bei diesen ziemlich teuren Fahrzeugen und den gesalzenen Reparaturpreisen…

Peinlichkeit beim Pannendienst

Drastischer und womöglich noch aussagekräftiger fiel der Vergleich der zentralen Pannendienste aus: BMW war nach 20 Minuten zur Stelle und sorgte gratis für Abhilfe, der angebliche „24-Stunden-Dienst“ von Mercedes war freitags um 16:30 Uhr gar nicht mehr erreichbar. Schönes Wochenende, kann man da nur sagen.

Unangenehm für BMW fiel allerdings der kurze Geländewagen-Test aus: Der X 5 kam ziemlich lädiert aus der Marterstrecke heraus, während das ML-Modell von Mercedes unbeschadet seine Bahnen zog.

Ansonsten wurden einige Vorurteile tendenziell bestätigt: BMW ist in aller Regel etwas agiler und innovativer, Mercedes dafür gediegener. Dass Mercedes am Ende mit hauchdünnem Vorsprung „siegte“, lag am minimalen Unterschied beim Blitzertest: 3,3 Prozent der BMW-Fahrer fuhren zu schnell, hingegen lediglich 2,4 Prozent der Mercedes-Fahrer. Auch hier gilt: Gestern oder morgen wär’s vielleicht anders ausgegangen.

Kinder sollten entscheiden

Geradezu auf alberne Weise wurde der Punkt „Kultfaktor“ zugunsten von Mercedes entschieden. Bis dahin gab’s ein Patt, deshalb durften 7 Kinder aus der Kita entscheiden, welche von den acht Bobby-Cars (je vier im Design der beiden Marken) sie bevorzugen. Ein BMW-Spielzeugauto blieb unbeachtet stehen, also ging diese Wertung an Daimler-Benz. Da hätte man gleich würfeln oder Münzen werfen können.

Die flotte, leidlich unterhaltsame, streckenweise aber auch etwas flapsige Sendung wird uns also die eigene Entscheidung nicht abnehmen können. Vielleicht mögen wir ja auch ganz andere Marken. Ja, es soll sogar Menschen geben, die sich vollends vom Auto abwenden.

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Jetzt auch im Kulturkanal: Lamento über den erbärmlichen Zustand der Straßen

Das höchst zweifelhafte Geschäftsgebaren des Limburger Bischofs beschäftigt offenbar weite Teile der Nation – und also gab’s einen ARD-„Brennpunkt“ dazu. Doch jetzt mal nüchtern betrachtet: Über den Herrn werden wir noch ein paar Tage oder schlimmstenfalls Wochen reden. Der Zustand unserer Straßen wird uns hingegen noch viele Jahre lang aufregen. Also bin ich meinem Vorhaben treu geblieben und habe mir die Sendung „Geflickt und zugeschüttet – Schlaglochrepublik Deutschland“ angesehen.

„Die Republik bröckelt“

Dem knackigen Titel nach zu urteilen, ist das ganze Lamento wohl bei RTL gelaufen? Weit gefehlt. Wenn’s drauf ankommt, findet man auch beim kulturgeneigten Kanal 3Sat markige Worte. Dann klingen die Sätze beispielsweise so: „Deutschland bremst sich aus.“ Oder auch so: „Die Republik bröckelt.“ Oder klischeehaft wie in der Schlussbilanz: „Straßen sind die Lebensadern unserer mobilen Gesellschaft.“ Wer hätte das gedacht?

Vor allem der stetig wachsende Schwerlastverkehr setzt den Straßenbelägen zu. (Foto: © ZDF/Sven Kiesche)

Vor allem der stetig wachsende Schwerlastverkehr setzt den Straßenbelägen zu. (Foto: © ZDF/Sven Kiesche)

Die Straßenbau-Industrie könnte Carsten Binsacks Film künftig glatt für ihre Lobbyarbeit einsetzen. Denn allüberall wird hier dringlicher Nachholbedarf ausgemacht und eingefordert, vor allem in den finanziell klammen Kommunen. Mindestens 6,5 Milliarden Euro seien jährlich zusätzlich erforderlich, um die Straßen wieder in einen annehmbaren Zustand zu versetzen. Da wir alle täglich Erfahrungen mit Schlaglöchern machen, ist auch sicher etwas dran am Befund.

Nuancen gingen verloren

Doch im Eifer des Gefechts gingen auch schon mal die Nuancen verloren. An einer Stelle hieß es, 40 Prozent aller deutschen Straßen seien „stark geschädigt“, später dann war abermals von jenen 40 Prozent die Rede, allerdings mit der deutlich harmloseren Bezeichnung „beschädigt“. Mit Verlaub, das ist nicht nur ein sprachlicher Unterschied.

Immer und immer wieder hieß es, der teilweise erbärmliche Zustand der Verkehrs-Infrakstruktur gefährde auch die Volkswirtschaft. Das ist sicherlich richtig, doch hier wurde es einem geradezu perfide eingehämmert.

Moniert wurde vor allem die bloße „Flickschusterei“ am Bestand: Kaltasphalt aufs Schlagloch gekippt, planiert – und fertig. Doch schon bald bricht an selber Stelle wieder die Straßendecke auf. Der TV-Beitrag plädierte folglich für eine nachhaltige Grundsanierung, die auf Dauer günstiger komme.

Streifzug durch Asphalt-Labore

Die interessanteren Teile des Reports führten in Versuchsanstalten und Labore, wo Fachleuchte vieler Fakultäten (Ingenieure, Chemiker, Geologen usw.) über neue, haltbarere Straßenbeläge nachdenken. Das eine Team testet neue Bitumen-Zusammensetzungen, das andere recycelt abgetragene Straßenreste und veredelt sie mit Wachs und Öl zum erneuten Gebrauch.

Doch solche frischen Ideen kämen viel zu langsam zum Zuge, ließ Carsten Binsack verlauten. Hie und da schien er dabei allzu technikgläubig und unkritisch zu sein. Fragen nach etwaigen wirtschaftlichen Interessen kamen beim ihm gar nicht erst auf. Er dachte nur in eine Richtung.

Blick in die fernere Zukunft

Auch um den beklagenswerten Zustand der Brücken ging es, und da kann einem tatsächlich angst und bange werden. Wir wollen mal inständig hoffen, dass deutsche Experten – wie von einem Beteiligten behauptet – tatsächlich ungleich bessere Prüfsysteme haben als die US-Kollegen. In Minneapolis stürzte 2007 eine Brücke mitten im Berufsverkehr ein…

Wie so manche Straßenbaukolonne die Schlaglöcher, so füllte auch der TV-Reporter hie und da nur notdürftig seine Themenlücken. Zwischendurch ging es nämlich gar nicht mehr um Straßenschäden, sondern gleich um Stauvermeidung, Abgasreduzierung und die „Intelligente Straße“ der Zukunft, die als Kunststoffhaut mit Sensoren versehen wird, dadurch alle Risiken erfasst und die entsprechenden Infos den betroffenen Autofahrern in Echtzeit übermittelt. Schöne neue Welt. Aber bis dahin fahren wir noch so manchen Kilometer.




Hagener Friedhof Wehringhausen: Hinfälliger Bewahrer großer Namen des Ruhrgebiets

Erst mal wählen gehen. Gesagt, getan, zwei Kreuze und dann wieder in den Sonntagmorgen. Ein wenig zu würdig erschienen mir die Mitglieder des Wahlvorstandes. Schau da, die Sonne bestrahlt auf einmal die Szene. Gleich nebenan liegt ein Friedhof, den mir Andrea schon lange mal zeigen wollte. Vom Bergischen Ring in Hagen aus habe ich ihn schon oft gesehen.

Zugänglich ist er aber nur von der Grünstraße, wo auch das Wahllokal lag, in das wir zum Kreuzemachen spaziert waren. Diesmal und auch weil die Sonne uns wärmte, gingen wir hinein. Es war nicht etwa ein nekrophiler Anfall meinerseits, ich wollte nur ein wirklich wesentliches Stück Hagener Stadtgeschichte aus der Nähe sehen, und das ist der ehrwürdige und an so vielen Stellen leider auch hinfällige Friedhof in Wehringhausen ganz sicher.

Die Grabplatte von Lieselotte Funcke.

Die Grabplatte von Lieselotte Funcke.

Als Liselotte Funcke 2012 starb, da war ich wieder auf den Wehringhausener Friedhof aufmerksam geworden, weil ich las, dass die große und bewundernswert aufrechte alte Dame der FDP dort zu Grabe getragen wurde. Und nicht sehr weit entfernt vom Eingang, vorbei an einigen Grabstätten, die zwischen ungemein gepflegt und da und dort auch pflegebedürftig schwanken, zwingt mich zunächst der Namenszug Osthaus zur Aufmerksamkeit.

Dann die bescheidene, aber edle Grabplatte der verstorbenen Ehrenbürgerin Liselotte Funcke, der Name Harkort taucht auf, dann Elbers, Post. Der nicht so furchtbar große, mit seiner innenstadtnahen Lage auch nicht so völlig idyllisch-ruhige Friedhof ist ein veritables Stück Industriegeschichte der Stadt Hagen und des Ruhrgebietes. Und viele Grabstätten – auch wenn manche von ihnen inzwischen altersgrau oder bemoost sind – sind auch kulturgeschichtliche Zeugen einer Zeit, in der Hagen-Wehringhausen eine der bürgerlichen und besonders wohlhabenden Gegenden der Stadt war.

Kommerzienräte, Sanitätsräte, Doktores ing., phil. oder jur., Generationen übergreifende Gruften, große Familiengrabstätten, Einzelgräber. Auch Grabstätten, die aufgelassen wurden, Grabsteine, die noch erinnern, aber kein Grab mehr kennzeichnen, Stelen moderner Herkunft. Gräber, deren Zustand den Eindruck macht, als seien inzwischen auch die Hinterbliebenen nicht mehr am Leben. Der kleine Friedhof wirkt wie ein historischer Querschnitt durch die Hagener Stadtgeschichte und wie deren Spiegel. Denn auch die Stadt blüht hier, bröselt da und wird dort umgepflügt, in der Hoffnung, dass sich irgendwann in naher Zukunft die entstandene Brache mit neuem Leben bevölkert.

Und einige Stellen des schönen alten Geländes zeugen davon, dass private Initiative Geld aufbrachte, um alte Zeitzeugen jungen Nachkommen zu erhalten. So wie beim Mahnmal an Hagener Soldaten, die 1870 gegen Frankreich zu Felde zogen. Da muss meiner Einschätzung nach noch viel mehr in den kommenden Jahren kommen, denn dem Kulturschatz zwischen Bergischem Ring, Lange- und Grünstraße sollte mehr Pflege angedeihen, als es die finanziell sieche Kommune Hagen leisten kann. Viele der Frauen und Männer, die dort zu Grabe getragen wurden, entstammen einer großen Tradition Wohlhabender, die es noch verstanden, Gemeinsinn und Geschäftssinn erfolgreich zu verbinden. Sie zu ehren, könnten Wohlhabende von heute zur Verpflichtung führen, sich dort dem Gemeinsinn zu widmen.

Stumme Gesten, die zeigen, dass hier Erinnerung gepflegt wird.

Stumme Gesten, die zeigen, dass hier Erinnerung gepflegt wird.




Das Begehren in den Zeiten der Krise – Uwe Timms Roman „Vogelweide“

Auf der deutschen Nordsee-Insel Scharhörn lebt nur ein einziger Mensch, nämlich ein Vogelwart. Genau auf diesen Außenposten hat sich Eschenbach zurückgezogen, die männliche Hauptfigur in Uwe Timms neuem Roman „Vogelweide“. Von hier aus wird weitschweifig rückblickend erzählt.

Durch wirtschaftliche Wechselfälle hat der Mittfünfziger Eschenbach ein paar Jahre zuvor seine einst gut gehende Berliner Softwarefirma verloren, in der man alle denkbaren Abläufe hat beschleunigen und optimieren wollen. Das Ende einer solchen Unternehmung ist schon per se vielsagend. Da platzt sozusagen eine neoliberale Blase, wenn nicht gleich eine ganze Weltanschauung.

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Die Krise vertieft sich ins Existenzielle, als Eschenbach (von Haus aus eigentlich Theologe!) seine große Leidenschaft verliert. Jene Kunstlehrerin Anna war zuvor mit dem Architekten Ewald liiert, Eschenbach selbst mit der Silberschmiedin Selma. Man traf sich zu viert. Beide Paare lebten in gutsituierter Zufriedenheit, ja Sättigung. Als erst einmal das maßlose, unabweisbare Begehren entfacht war, konnten Eschenbach und Anna für eine Zeit nicht mehr voneinander lassen – bis Annas Schuldgefühle als Ehefrau und Mutter überwogen. Schnitt.

Wenn man diese Vorgaben hintereinander liest, so hört sich das ebenso altbekannt wie angestrengt ausgedacht an, wie aus dem Baukasten gefügt. Gar zu umständlich, durchreflektiert und druckreif gezurrt klingen denn auch manche Dialogpassagen in diesem Buch, dessen Autor sich immer wieder kleine Abschweifungen gestattet, als sei er zwischendurch das lineare Erzählen leid. Insgesamt ist dies aber ein konventionell konstruierter Roman.

Geld weg, Job weg, Frau weg. Der alte Blues. Sodann die Flucht von Berlin auf die einsamste deutsche Insel: der alte Mann und das Meer. Auch sinnreiche Lebensentwürfe für ein würdiges Alter (Eschenbachs linksgerichtete Eltern sind in einen Alten-WG gezogen) bilden einen Themenstrang des Romans. Man muss ja nicht gerade als Hippie-Veteran enden.

Im Kern geht es darum, das schiere Begehren gegen alle Berechnungen zu bewahren. So will eine Meinungsforscherin (seltsam herbeigezerrte Persiflage auf die Altvordere Elisabeth Noelle-Neumann) den Software-Fachmann Eschenbach gewinnen, um im Sinne von Internet-Partnerbörsen die Glückschancen algorithmisch auszuloten. Alsbald steigt er aus dem Projekt aus. Überhaupt hat er begonnen, zielgerichtete Planungen zu verabscheuen, die nach seinem Empfinden doch eines Tages im Chaos enden werden. Und also ist vieles im Schwinden begriffen. Von Sprachverlusten ist vielfach die Rede, von bedrohten Völkern und Idiomen. Und überhaupt. Was hat Bestand?

Nun also das karge Eremitendasein auf Scharhörn. Ringsum die rauhe Meeresnatur. Abstand von allem. Inventur. Die Menschen seines Lebens spuken manchmal nachts durchs Eschenbachs Kopf und Kammer. Am Schluss des Romans darf ihn ausnahmsweise Anna noch einmal über Nacht besuchen, die ansonsten längst als Galeristin in Kalifornien lebt. Es wird ein betrüblicher Abschied, für immer.

Wir haben es hier übrigens mit anspielungsreichen Namen zu tun. Eschenbach erinnert – besonders im Hinblick auf dem Titel des Romans – an den mittelhochdeutschen „Parzival“-Dichter Wolfram von Eschenbach. Und der Name „Vogelweide“ führt uns vollends in die Zeiten der Minne. Weit weg jedenfalls aus unserer formlos rasenden, leerlaufenden Zeit.

Uwe Timm: „Vogelweide“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 336 Seiten. 19,99 €.




Gespräche über Wirtschaftsethik: Neue Wertekonferenz zur Zukunft der Region

Symbolcharakter hatte das Bild von großen Pfeilern einer Ruhrbrücke, das den Blickfang des Flyers bildete, mit dem der Initiativkreis „Mitten in Westfalen“ und die Katholische Akademie Schwerte zur Wertekonferenz einluden. Theo Körner sprach mit Akademiedirektor Dr. Peter Klasvogt, Leiter der Dortmunder Kommende (Sozialinstitut des Erzbistums Paderborn), über Ziele und Perspektiven der Veranstaltung.

Woher stammt die Idee für eine Wertekonferenz?
Peter Klasvogt: Die Wertekonferenz in der Katholischen Akademie Schwerte geht auf den Initiativkreis „Mitten in Westfalen“ zurück, ein Scharnier zwischen den Regionen Südwestfalen und Ruhrgebiet. Heute boomt die Wirtschaft im Sauerland, und der Strukturwandel im Großraum Dortmund hat eine Wissens- und Kulturlandschaft hervorgebracht, die ihresgleichen sucht. Doch viele gute Einzelplayer bilden noch kein schlagkräftiges Team. Da braucht es mehr als professionelle Wirtschaftsinitiativen und eine pfiffige Marketingstrategie. Dazu bedarf es einer zündenden Idee und überzeugender Konzepte, vor allem aber der Besinnung auf gemeinsame Werte und verbindende Ziele.

Dr. Peter Klasvogt, Leiter der Katholischen Akademie (Foto: Privat)

Dr. Peter Klasvogt, Leiter der Katholischen Akademie (Foto: Privat)

Was sind die Vorstellungen und Ziele einer Veranstaltung, die den durchaus anspruchsvollen Titel „Wertekonferenz“ trägt?
Klasvogt: Wettbewerb belebt zweifellos das Geschäft, doch auf lange Sicht gehört nicht dem die Zukunft, der am meisten für sich rausholt und die anderen aussticht, sondern dem, der das Ganze im Blick hat und über partikulare Interessen hinweg Verantwortung übernimmt. Diesem Ziel weiß sich die Wertekonferenz dieser Region verpflichtet, die in der Besinnung auf den gemeinsamen Grund den Boden bereiten will für eine verantwortungsvolle Gestaltung der Zukunft.

Wer gehört zu den Akteuren bzw. den Beteiligten, und was lässt sich über deren Motive sagen?
Klasvogt: Den Anstoß zu dem Initiativkreis gaben der Regierungspräsident in Arnsberg, Dr. Gerd Bollermann, sowie der Vorsitzende des Unternehmensverbandes Westfalen-Mitte, Egbert Neuhaus. Beiden war es wichtig, dass von Anfang an auch die Akademien der christlichen Kirchen in Schwerte und Villigst an dieser Initiative beteiligt wurden; daneben sind Repräsentanten aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kultur und Sport vertreten.

Schauplatz der nächsten Wertekonferenz im November: die Evangelische Akademie in Schwerte-Villigst. (Bild: Bernd Berke)

Schauplatz der nächsten Wertekonferenz im November: die Evangelische Akademie in Schwerte-Villigst. (Bild: Bernd Berke)

Was ist bislang schon gelaufen?
Klasvogt: Den Auftakt machte die Erste Schwerter Wertekonferenz in der Katholischen Akademie unter dem Motto: „Was trägt – und was bleibt?“. Mit dem langjährigen WDR-Intendanten Fritz Pleitgen, der in seinem Statement gemeinsame Werte, verbindende Ziele und gesellschaftliche Verantwortung herausarbeitete („Was unsere Welt zusammenhält…“), und dem Trainer des Deutschland-Achters, Ralf Holtmeyer, zu Fragen von Teamgeist, Leistung, Erfolg („Was uns zusammen weiterbringt…“) hatten wir hochkarätige Referenten und Gesprächspartner, die die inhaltliche Auseinandersetzung zu Fragen von Führungsethik, Leitbildprozessen, Unternehmensführung etc. sehr bereichert haben. Das setzte sich in der Folge in In-House-Gesprächen fort, in denen sich einzelne Unternehmer in ihren Betrieben über die Schulter schauen ließen, fokussiert auf die Frage der Wertebasis und Unternehmenskultur.

Welche Erfahrungen und Erkenntnisse haben Sie bisher gewonnen?
Klasvogt: Die ersten Treffen und Begegnungen geben den Initiatoren Recht: Es gibt ein breites Interesse, jenseits der Fragen wirtschaftlicher Wertschöpfung und unternehmerischen Erfolges über gemeinsame Wertvorstellungen, unternehmerische Leitbilder und persönliche Erfahrungen ins Gespräch zu kommen, Ideen auszutauschen, Gemeinsamkeiten auszuloten. Wirtschaftlichkeit und Finanzen sind zweifelsohne von zentraler Bedeutung, aber sie dürfen niemals alleiniges Kriterium sein. Vielleicht liegt der Reiz dieser Wertekonferenzen gerade in dem Aufeinandertreffen von Wirtschaftsethik und Unternehmenspraxis. Es ist für alle Beteiligten spannend und inspirierend, wenn Vision auf Wirklichkeit trifft. Insofern ist es ein Glücksfall für unsere Region, wenn Verantwortungsträger aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft neu über ihre gesellschaftliche Verantwortung nachdenken und jenseits des persönlichen Vorteils nach dem Bonum Commune (Gemeinwohl) fragen. Dass hier explizit auch die Kirchen und die Christliche Sozialethik gefragt sind, stimmt mich sehr zuversichtlich.

Welche weiteren Schritte sind geplant?
Klasvogt: Die nächste Wertekonferenz findet im November in der Evangelischen Akademie Villigst statt, dann zum Thema „Hat der ehrbare Kaufmann ausgedient? Von alten und neuen Werten der Unternehmensführung“. Planungen für 2014 sind auch bereits angelaufen.




„Deutschlands neue Slums“: TV-Reportage über das Elend in Dortmund und Bulgarien

„Deutschlands neue Slums“ hieß die gerade mal halbstündige Reportage im ARD-Programm. Da wird es ja wohl weitläufig von Ost nach West und von Nord nach Süd gegangen sein? Weit gefehlt! Das WDR-Team um „Monitor“-Redakteurin Isabel Schayani und Autor Esat Mogul machte einzig und allein in der Dortmunder Nordstadt Station, um zu zeigen, wie vor allem Bulgaren und Rumänen unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen.

Mag sein, dass diese Betrachtungsweise etwas einseitig gewichtet war. Doch die Empörung in der verbliebenen Dortmunder Tageszeitung ist höchstens im Ansatz berechtigt. Das Image der Stadt und der Stadtverwaltung, die inzwischen immerhin gelegentlich an Brennpunkten eingreift, ist angesichts der unbestreitbar desolaten Gesamtlage nur zweitrangig. Wenn ab 1. Januar 2014 die komplette Freizügigkeit zwischen Deutschland, Bulgarien und Rumänien herrscht, werden sich solche Probleme wohl in einigen Großstädten enorm verschärfen.

Bulgaren in der Dortmunder Nordstadt - auf der Suche nach einem Quartier für die Nacht. (Bild: © WDR)

Bulgaren in der Dortmunder Nordstadt – auf der Suche nach einem Quartier für die Nacht. (Bild: © WDR)

Für exorbitante Beträge, die auf dem örtlichen „Arbeiterstrich“ erst einmal wieder hereingeholt sein wollen, werden in etlichen Dortmunder Nordstadt-Häusern bloße Matratzenlager, manchmal gar nur Pappunterlagen in maroden und völlig verdreckten Häusern als Schlafplätze an Armutsflüchtlinge vermietet. Derweil nehmen die offiziellen Notunterkünfte, so hat es den Anschein, auch bei bitterer Winterkälte keine Menschen aus Bulgarien oder Rumänien auf. Den Rest regelt der wildwüchsige, private Markt „ganz unten“. Für eine schlichte 50-Quadratmeter-Wohnung, hoffnungslos überbelegt mit 8 Menschen, lassen sich so monatlich 1600 (!) Euro Miete erzielen. Normal wären etwa 330 Euro.

Es drängt sich die Frage auf, wer an solchen Verhältnissen verdient. Diese Fährte wurde in der Reportage aufgenommen, die an manchen Stellen Empathie und Betroffenheit erkennen ließ. Die Fernsehleute stießen an allen Ecken und Enden immer wieder auf einen türkischen Mann mit Goldkettchen, der wie ein gewiefter „Pate“, Patriarch oder Schutzherr der Nordstadt erschien, aber natürlich jegliche ungute Absicht weit von sich wies. Fragt man ihn selbst, so hilft er, wo er nur kann…

Wie schlimm das Elend ist, das die Menschen trotz aller Widrigkeiten nach Deutschland und Dortmund treibt, erwies sich bei einer Fahrt nach Stolipinowo (Bulgarien). Rund 3000 Leute aus diesem Ort, so hieß es, lebten zumindest zeitweise in Dortmund. Wenn man da überhaupt von „Leben“ sprechen kann. Jedenfalls ist es kaum zu fassen, welche wahrhaftigen Slums in dem EU-Mitgliedsland Bulgarien wuchern. Vor allem Roma vegetieren dort unter Bedingungen, wie man sie nur in der „Dritten Welt“ vermutet hätte. Da erscheinen selbst die übelsten Häuser der Dortmunder Nordstadt als Linderung des Elends. Übrigens war jener besagte „Schutzherr“ auch in Stolipinowo anzutreffen – rein zufällig auf Besuch bei Freunden.

Die Suche nach womöglich mitverantwortlichen Nordstadt-Hausbesitzern führte auf verschlungenen Wegen zu dänischen Investoren, die ebenso wenig preisgeben wollten wie Schalke-Präsident Clemens Tönnies, in dessen gigantischer Fleischfabrik zu Rheda-Wiedenbrück zahlreiche Kolonnen aus Bulgarien und Rumänien auf der Basis von Werkverträgen schuften – allerdings keine Roma, die kommen nicht einmal an solche Jobs heran. Wohl kaum ein deutscher Arbeitnehmer würde mit den Schweinezerlegern tauschen wollen. Akkord-Arbeitszeiten zwischen 12 und 15 Stunden seien vielfach die Regel, hieß es in der TV-Reportage. Auch das wird natürlich offiziell bestritten. Tatsache ist, dass die deutsche Wirtschaft in Bulgarien und Rumänien von neuen Absatzmärkten profitiert und dort billige Arbeitskräfte rekrutieren kann.

Eine halbe Stunde war für das komplexe Geflecht bei weitem zu wenig, vieles konnte nur knapp angerissen werden. Insofern kann man nachvollziehen, dass nicht noch in weiteren deutschen Städten gedreht worden ist. Dennoch: Vielleicht hätte sich dann das Bild noch etwas differenziert und mehr Tiefenschärfe gewonnen. Das Thema muss jedenfalls gründlich weiter verfolgt werden.




Viel Porto fürs Schneckentempo: Wie die Deutsche Post Bücher befördert

Immer nur auf der Deutschen Bahn herumzuhacken, das ist doch öde. Zwischendurch muss man auch mal auf die Telekom oder auf die Deutsche Post einsticheln. Wohlan denn!

Da habe ich doch vorhin eine Büchersendung zum Postamt gebracht. Aufregend, nicht wahr? Was ich freilich bisher nicht gewusst habe: Wenn man auf die Büchersendung auch „Büchersendung“ draufschreibt (Voraussetzung: Sie muss dann mit einem schnellen Griff zu öffnen sein – Gibt’s da etwa Stichproben auf den Inhalt?) und redlich sein ermäßigtes Porto bezahlt, verwirkt man damit die Aussicht auf normale Beförderung.

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Vollends abstrus wird der Vorgang, weil – wie man mir am Schalter erläuterte – der Postbote am Zielort die Sachen herausfischt, die mit ermäßigtem Porto versehen sind, um sie für den nächsten oder übernächsten Tag beiseite zu legen.

Das heißt, der Zusteller macht sich eigens Sortierarbeit, um hernach etwas n i c h t gleich weiterzubefördern. Nach dem Verständnis der Post (offiziell ein Dax-Unternehmen, im Wesenskern noch immer eine Behörde) handelt es sich bei Büchersendungen quasi um unterbezahlte Fracht. Die wird nur dann einigermaßen zügig zugestellt, wenn im Bezirk sonst nicht viel anliegt.

Aus dem Tagebuch einer Schnecke: Während sich die Post seit Jahr und Tag viel auf ihre Formel „E plus 1“ (Sendung soll einen Tag nach Einlieferung am Bestimmungsort ausgehändigt werden) zugutehält, können solche Büchersendungen in Deutschland bis zu vier (!) Werktage unterwegs sein oder genauer gesagt: vor allem herumliegen.

So ist das also, wenn die Post einem die Gnade einer Ermäßigung gewährt. Dann signalisiert sie einem: Du verschickst ja nur Bücher. Ist doch zweitrangig, wann die ankommen.

Nachtrag am 27. August 2013 / Helvetische Episode

Als ich die vorherigen Absätze geschrieben habe, wusste ich noch gar nicht, was wirklich teuer und langwierig ist.

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Heute habe ich ein Buch in die Schweiz versendet. Die Adressatin hatte per Überweisung 10 Euro fürs Porto vorgelegt, was ich überreichlich fand. Bei der Post wurde ich eines Schlechteren belehrt. Dort wollte man mir für das knapp über 1 Kilogramm schwere Päckchen 15,90 Euro (!) abknöpfen. Nach langem Hin und Her schlugen sie in ihren Bestimmungen nach und boten an, eine internationale Büchersendung für 11 Euro auf den Weg zu bringen – allerdings wiederum mit der Maßgabe, dass dies ja eigentlich „unterbezahlt“ sei und daher eventuell langsamer ausgeliefert werde.

Und jetzt ratet, wie lange eine solche Sendung ins Nachbarland Schweiz unterwegs sein kann. 3 Tage? 5 Tage? 7 Tage? 10 Tage?

Alles falsch. Bis zu 14 Tage! Und dafür wollen sie 11 Euro haben.

Halten zu Gnaden, aber: Die spinnen, die Postler!




„Terra X“ zur Ernährung der Deutschen: Zahlensalat bis weit über die Sättigungsgrenze

Was für eine flackernde Welt: Da springen einen überall Zahlenkolonnen an, da gleicht fast jede menschliche Geste der Wischbewegung auf dem i-Pad-Bildschirm oder dem Fingerspreizen auf dem Handy neuerer Bauart. „Terra X“ (ZDF) bombardiert die Zuschauer bis zum Abwinken mit statistischem Material. Und das Fernsehen tut mal wieder so, als wäre es ein Computer.

Da die dreiteilige Terra X-Reihe „Deutschland – Wie wir leben“ jetzt mit unserer Ernährung endete, darf man durchaus auch von akuter Übersättigung sprechen. Mehr Zahlensalat kann man wirklich nicht in 45 Minuten Sendezeit packen, als es hier geschehen ist. Und zahlenhöriger kann man Statistiken nicht herbeten.

Auswahl zwischen 1500 Wurstsorten

Zunächst begleitete man die deutsche Durchschnittsfamilie (ein gewisser „Thomas Müller“ mit Frau Sabine und Sohn Jan) durch den recht traditionellen Einkaufs- und Ernährungsalltag, in dem die beruflich nur halbtags tätige Frau noch das Sagen hatte, während der Mann fürs Haupteinkommen sorgte und sich nebenher um Technik und Auto kümmerte. Das hatten wir doch schon mal?

Kaum ein Bild ohne eingeblendete Zahlen oder statistische Kurven... (© ZDF/Holm Holmsohn)

Kaum ein Bild ohne eingeblendete Zahlen oder statistische Kurven… (© ZDF/Holm Holmsohn)

Ansonsten wurde quasi jedes Gramm Fleisch, Kartoffeln oder Tomate atemlos aufgerechnet. Wir haben 1500 Wurstsorten, 9 Prozent von uns sind Vegetarier, ein bäuerlicher Betrieb ernährt 140 Menschen. Und und und. Die Ziffern prasselten im Halbsekundentakt, doch rein gar nichts wurde vertieft.

Bilanz mit der Brechstange

Statt gelegentlich mal bei einem Themenstrang zu bleiben, wurden unentwegt neue Fässer aufgemacht. Schließlich ging’s längst nicht mehr nur um Ernährung, sondern auch um Energie- und Wasserverbrauch, Ökologie und Glücksempfinden der Deutschen. Mit der Brechstange wurde Bilanz gezogen, dass es nur so knirschte. Die nahezu euphorisch berauschten Schlussminuten glichen dann beinahe einem Weichzeichner-Werbefilmchen der großen Parteien zur Wahl. Wir Deutschen sind demnach schon ziemlich große Klasse, wenn nicht gar Weltklasse.

Gern hätte man zuvor bei der einen oder anderen Information innegehalten. Denn es gab ja stellenweise durchaus Interessantes zu berichten. Auch sah man – neben den hilflosen Resultaten unsinnigen Bebilderungs-Wahns – etliche atemberaubende Aufnahmen (vor allem die Luftbilder, die freilich vielfach aus Freddie Röckenhaus‘ ZDF-Film „Deutschland von oben“ stammten) oder sinnfällige Verdichtungen.

Bloß nicht unter die Oberfläche dringen!

Eindrucksvoll war’s beispielsweise, alle Tiere auf einer Weide versammelt zu sehen, die der Durschnittsdeutsche im Laufe seines Lebens verzehrt: 945 Hühner, 46 Schweine, 4 Kühe, 12 Gänse… Auch der Einfall, dass fast die gesamte Einrichtung in Thomas Müllers Wohnung zu Öl zerfloss (weil es bei der Herstellung aller Plastik-Produkte literweise verwendet wurde), konnte sich buchstäblich sehen lassen.

Doch kaum drohte es mal wirklich interessant zu werden, da hechelte man schon wieder weiter. Die Devise schien zu lauten: Bloß nicht unter die Oberfläche dringen, bloß keine heißeren Eisen anpacken! Auf diese Weise ließ man so manchen Themenansatz sträflich links liegen.

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Witten will’s wissen: Wohin gehen die Kunden?

Vergesst Berlin, München, Hamburg! Hier kommt Witten!

Die Reviergemeinde mit ihren rund 96.000 Einwohnern (neuester Zensus) liegt mal wieder ganz vorn. Dort lassen sie jetzt, in einem vorerst auf fünf Jahre angelegten Projekt, die Kundenströme untersuchen, die sich Tag für Tag durchs Städtchen bewegen. Wenn diese Ströme mal nur keine Rinnsale sind…

Natürlich dürfen dabei keine Wildfremden ran. Nein, eine ortsansässige Firma besorgt, wie das Wittener Stadtmarketing stolz verkündet, das Geschäft mit einem neuartigen System, das die womöglich kaufwilligen Passanten scannen soll. Wie viele Leute tummeln sich wann und wo in den Einkaufszonen?

Wohin werden sich diese schattenlosen Gestalten wenden? (Foto: Bernd Berke)

Wohin werden sich diese schattenlosen Gestalten wenden? (Foto: Bernd Berke)

Leute, beruhigt euch! Die Sensoren sollen quasi nur ein Zählwerk in Gang setzen, jedoch keine Bilder aufzeichnen.

Ergriffen zitieren wir den idr-Nachrichtendienst des Regionalverbands Ruhr (RVR), der prinzipiell fast alles toll findet, was sich im Revier abspielt: „’City Monitoring’ erfasst an verschiedenen Punkten in Echtzeit die Bewegungen auf den Einkaufsstraßen und kann dank 3-D-Technik sogar zwischen Personen und deren Schatten unterscheiden.“

Da haben wir lauter Zauberformeln aus dem digitalen Wunderland versammelt: Echtzeit! 3D! Scannen! Wow!

Die strikte Unterscheidung zwischen Menschen und Schatten ist nicht nur hilfreich, wenn es um Kundenzahlen geht, sondern verweist indirekt auch noch auf hochliterarisches Herkommen. Ich sage nur Chamisso und Schlemihl. Der Mann ohne Schatten… Wer weiß, wer da durch Witten huscht!

Fassen wir vorerst zusammen: Das Paradies mag – wie Degenhardt einst im Lied sarkastisch mutmaßte – irgendwo bei Herne liegen, doch Silicon Valley muss irgendwo bei Witten sein.

Aber nun mal ganz frei nach „Tocotronic“ gesagt: Ich möchte nicht Teil einer Kundenbewegung sein. Mir kommen da aufsässige Phantasien in den Sinn. Kleine Sabotageakte.

Wie wär’s beispielsweise mit Flashmobs in Witten, die zu überraschenden Zeiten an bestimmten Punkten für Betrieb sorgen und den Datenbestand gründlich verfälschen?

Problem nur: Wie lockt man auf einen Schlag so viele Leute in diesen Flecken, dass es überhaupt auffällt? Und zweitens: Wahrscheinlich haben sich die Schlaumeier ein Verfahren ausgedacht, bei dem die statistischen „Ausreißer“ nach oben und unten gekappt oder anders gewertet werden.

Doch halt! Ich weiß, was ich mache. Ich kaufe einfach nicht in Witten ein. So wie bisher auch.




Hose runter, Dax rauf: Der Geist protestantischer Erotik im Bochumer Schauspiel

Ach, was war das früher für eine wunderschöne Zeit: Statt mit Pornos im Internet ließen sich vor 100 Jahren die Männer noch durch eine leicht verrutschte Damenunterhose entflammen. Und zwar eine, die mit einem züchtigen Schleifchen und einer Rüsche am Fußknöchel endet und unter einem bodenlangen Rock getragen wird. Zumindest behauptet das Carl Sternheim in seinem Einakter „Die Hose“, der jetzt gemeinsam mit „Der Snob“ und „2013“ als „Trilogie aus dem bürgerlichen Heldenleben“ Premiere am Bochumer Schauspielhaus feierte.

Aus dem bürgerlichen Heldenleben. Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Aus dem bürgerlichen Heldenleben. Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Doch kann man diesen Text auch heute noch so erzählen?, fragte sich der Dramatiker Reto Finger und bearbeitete ihn lieber neu: Das wird vor allem im dritten Teil deutlich, der ursprünglich „1913“ hieß und nun in einem Dax-Konzern spielt, der „too big to fail“ werden will. Dazu muss der Patriarch ausgebootet werden, der die Firma erst groß machte, und das geschieht in König-Lear-hafter Manier, indem seine drei Töchter ihm das Aktienpaket abnehmen. Wer jetzt den Zusammenhang zwischen der rutschenden Hose und spätkapitalistischen Börsenspekulationen nicht begreift, sollte unbedingt weiterlesen. Denn der Geist des Kapitalismus liegt nicht in der protestantischen Ethik, sondern vielmehr in der protestantischen Erotik begründet. Ach, ja: Die Hauptrolle spielt Dietmar Bär, dem Fernsehpublikum bekannt aus dem Kölner Tatort.

Die Rolle des spießigen Beamten Theobald Maske verkörpert Bär mit Spielwitz und Ironie. Überhaupt ist die ganze Geschichte um die heruntergerutschte Hose seiner Frau Luise (Xenia Snagowski) einfach nur komisch: In einem altmodischen Sinne, der einen gewissen Retro-Charme entfaltet und Sommerleichtigkeit atmet. Denn Theobald vergisst seinen Ärger über seine liederliche Gattin schnell, als sie ihm durch ihr Missgeschick zwei verliebte Mieter ins Haus lockt, die seine finanzielle Lage gehörig aufbessern. Derweilen vergnügt er sich mit der Nachbarin (Katharina Linder) und offenbart, dass Moral ihm nur etwas gilt, wenn sie sich bezahlt macht. Auf jeden Fall kann er sich jetzt ein Kind leisten.

Nach demselben Prinzip verfährt sein Sohn in dem zweiten Stück „Der Snob“: Die Bühne wandelt sich von Etagenwohnung mit Perserteppich in ein mondänes Büro eines Firmenchefs und ehrgeizigen Aufsteigers (Felix Rech), dessen oberstes Ziel es ist, in bessere Kreise einzuheiraten. Dafür verleugnet er seine Familie und bietet dem Vater Geld, dass er aus seinem Leben verschwinde. Theobald nimmt’s nicht krumm, hat er diese merkantile Denkungsart seinem Sohn ja vorgelebt. Ihre persönlichen Entscheidungen folgen so einem ökonomischen Kalkül als Grundprinzip einer Gesellschaft, in der Klassenschranken fallen, weil nun der Mammon regiert.

Doch auch Christian als alter Mann und Aktien-Tycoon wird die Geister, die er rief, nicht mehr los und geht in „2013“ seinen machtgierigen Töchtern in die Falle, die sich wie die Heuschrecken von heute gebärden und auch noch stolz darauf sind. Barfuß geistert Bär alias Theobald als Wiedergänger des längst verstorbenen Vaters durch die Szene, die auf der Aktionärsversammlung des Maske-Konzerns spielt. Seine Mahnungen sind selbstverständlich in den Wind gesprochen, denn sein Sohn erntet nur, was er selbst gesät.

Einen seltsamen Zwitter zwischen Boulevard und kapitalismuskritischer Analyse hat Bochums Intendant Anselm Weber da inszeniert: Das Ergebnis ist allerdings witzig und zeigt starken Tobak von anno dunnemals in einer Ästhetik von heute. Leicht und böse zugleich – und kein bisschen langweilig.

http://www.schauspielhausbochum.de/spielplan/aus-dem-buergerlichen-heldenleben/162/




Ödnis im Zeichen der Löschblattwiege: Walter E. Richartz’ „Büroroman“ – wiedergelesen

„Zu jedem Schreibtisch gehört die Schreibgarnitur aus Bakelit. Sie besteht aus Schale, Notizzettelkästchen und Löschblattwiege.“

Das klingt ja allerliebst nostalgisch. Tatsächlich entstammt die knappe Schilderung dem „Büroroman“ von Walter E. Richartz (1927-1980), der 1976 herauskam und heute noch als Taschenbuch greifbar ist.

Welch ein zeitlicher Abstand! Damals wurden gerade die ersten Versuche mit EDV (Elektonische Datenverarbeitung) unternommen. Sie scheinen zunächst nur nebulös am Horizont dieses Romans auf. Doch gegen Schluss kosten sie die ersten Arbeitsplätze. Von Fax, Handys oder gar Internet ganz zu schweigen. Gerade deshalb ist es interessant, dieses Buch wieder einmal hervorzuholen. Welche Signaturen sind seither für immer verschwunden und was zählt womöglich zum Langzeitbestand des bundesdeutschen Bürolebens?

Richartz

Wir lernen vor allem Herrn Kuhlwein, Frau Klatt und Fräulein Mauler (so sagten manche damals noch) kennen, die sich in Frankfurt am Main ein Büro im zehnten Stockwerk teilen. Wir lernen sie genauer kennen, als uns lieb ist. In ihrer Kostenkontroll-Abteilung vollzieht sich höllisch das Immergleiche, ein monotones, erbärmlich reduziertes, quasi kästchenförmiges Leben, ein oft biestiges Schweigen zum Terror der kleinen Geräusche, allenfalls lau gewürzt von kleinen gegenseitigen Bosheiten.

Absoluter Stillstand um 15.10 Uhr

Durch einen mikroskopischen Blick auf die (kaum) verstreichende Zeit – um 15.10 Uhr ist absoluter Stillstand erreicht, der Feierabend scheint ferner denn je – lässt uns Richartz am ungemein zähflüssigen Alltag des Büros teilnehmen. Hin und wieder muss man grinsen, doch wohl ziemlich müde und gequält. Allein zu lesen, wie überaus penibel Herr Kuhlwein eine Orange schält, um sie hernach umständlich zu verzehren, könnte einen schier rasend machen. Wer jemals regelmäßig in einem Büro gearbeitet hat, kennt solche marternden Szenen wahrscheinlich zur Genüge.

Was in der Produktionsabteilungen des Unternehmens namens DRAMAG (soll der Name etwa auf Dramen hindeuten?) überhaupt hergestellt wird, wissen die Büro-Angestellten gar nicht so genau. Sie schmoren, teilweise seit Jahrzehnten, im eigenen Saft.

Willkommener Unglücksfall

Immerhin wird die Ödnis manchmal unterbrochen: Der freilich immergleiche Kantinengang sorgt für scheinbare Bewegung, Hitzewellen oder Regenfluten liefern kurzzeitig Gesprächsstoff, Rituale vor und nach dem Urlaub bringen sogar für Minuten einen Schuss Übermut ins ewiggleiche Getriebe.

Vor solchem Hintergrund wird bereits der Besuch einer Ex-Kollegin, die offenbar glücklich geheiratet hat (soll man’s ihr denn glauben und gönnen?), zum mittelgroßen Ereignis. Und als bei Sturm beinahe ein Fensterputzer von der Hochhausfassade abstürzt, erfasst die ganze Firma endlich ein Hauch von Dramatik, die gleichsam der seelischen Hygiene zugute kommt. Denn nach der kleinen Katastrophe herrscht für kurze Zeit eine ungeahnte Aufgeräumtheit.

In der Äbbelwoi-Hölle

Durch die erwähnte Frau Klatt kommt punktuell jene hessische Mundart ins Spiel, deren Äbbelwoi-Abgründe einen schon seit den Zeiten von „Babba Hesselbach“ oder dem „Blauen Bock“ schaudern lassen. Damals, auf einem ersten Gipfel der RAF-Terrorfahndungen, hörte sich das dann schon mal so an: „Dene geheert der Kopp ab, geheert dene.“

Kurzum: Bis hierhin haben wir einen Roman gelesen, der seine armseligen Gestalten vor allem mit parodistischen Mitteln kenntlich macht. Weder die dynamischen Chefs noch der Gewerkschafter auf der Betriebsversammlung entgehen dem satirisch überzeichnenden Zugriff.

Doch dann vollzieht sich mittendrin ein unerfindlicher Umschwung. Auf einmal wird besonders den drei Figuren im zehnten Stock Verständnis entgegen gebracht. Plötzlich werden sie nicht nur von außen, sondern von innen her betrachtet. Ihre Beweggründe werden nunmehr ernst genommen. Ihre kleinen Träume, ihre legitimen Sehnsüchte, ihre Verletzungen, ihre bestürzende Einsamkeit und ihre Tragik finden Beachtung.

Hatte es vorher den Anschein, als mache sich der Autor durchweg lustig, so werden nun die Lebensgeschichten sorgsam abgewogen und gewürdigt. Nun gut. Menschlicher ist das allemal. Aber wie verträgt es sich mit dem Duktus der ersten Hälfte des Romans? Gar nicht. Das Ganze wirkt leider ziemlich zwittrig.

Bis zur letzten Büroklammer

Den Schluss, der wiederum im nüchternen Gewande daherkommt, bildet eine „Inventur“, in deren Verlauf alle Gegenstände im Büro verzeichnet werden – bis hin zur letzten Büroklammer. Mit all den Dingen und ihren Tücken sind auch so manche Worte verschwunden. Die Akten von damals sind eh längst geschreddert worden. Die letzten Gedankenblitze erhellen auf schwer übertreffliche Art die Phänomenologie der Neonlampe.

Trotz gewisser Schwächen in der Konstruktion kann Richartz’ Roman als markanter Vorläufer gelten. Bis dahin war das Alltagsleben der Angestellten allenfalls ein Nebenthema der Literatur gewesen. Der wunderbare Kritiker Georg Hensel schrieb damals sehr richtig in der FAZ: „Kühn pflanzt Richartz die Fahne des Erstbesteigers in einem Büro-Hochhaus auf.“

Es war sicherlich kein Zufall, sondern ein Zeichen der Zeitreife, dass in den folgenden Jahren 1977, 1978 und 1979 Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie erschien, die das Dasein der Angestellten vollends zum Stoff erhob und in allen Facetten ausleuchtete. Genazino, der die Romanhandlung übrigens ebenfalls in Frankfurt ansiedelte, zählt heute zu den ganz Großen unserer Literatur. Ob er vielleicht anfangs die eine oder andere Anregung aus dem „Büroroman“ des leider so früh verstorbenen Richartz empfangen hat?

Walter E. Richartz: „Büroroman“. Diogenes Taschenbuch. 274 Seiten. 9,90 Euro.




Zwischen Popularität und Wagnis – der neue Spielplan des Dortmunder Theaters

Theater Dortmund - Gebäude -

Die Oper, die Dortmund verdient. Foto: Theater

Eine Dame und fünf Herren. Das Leitungssextett des Dortmunder Theaters gibt sich die Ehre zur Verkündung des neuen Spielplans. Ein 75 Minuten langer, sechsfach unterteilter Vortrag über Eckdaten, Produktionen, Programmprinzipien, über die Bedeutung des Hauses für die Stadt. Inklusive einiger dürrer Zahlen. Eine Pressekonferenz könnte spannender sein. Doch hinter allen Fakten verbergen sich interessante Details.

Bettina Pesch, geschäftsführende Direktorin des Theaters, ist die Herrin der Bilanzen. „Es geht wieder mal aufwärts“, verrät sie. 350.000 Euro Mehreinnahmen in allen Sparten, ein Auslastungsplus von 1,5 Prozent für die Oper oder plus 7 Prozent fürs Schauspiel seien Belege für solcherart Optimismus. Bezugsgrößen für diese Zahlen nennt sie nicht. Und Pesch muss konstatieren, dass die Stadt zwar die Tariferhöhungen 2013 fürs Personal ausgleicht, zudem aber einen Konsolidierungsbeitrag von 510.000 Euro einfordert. Dies gelte indes nur für die Saison 2013/14. „Weitere Einsparungen sind nicht machbar, sie gingen an die Substanz des Hauses“, sagt Pesch.

Wie die einmalige Konsolidierung aussehen soll, wo also ein Abzwacken noch möglich ist, bleibt offen. „Wir sparen nicht an der Kunst“ ist das Credo und dann verrät Pesch, sie habe auch ihre Tricks. Nun, abseits dieser sonderbaren Aussage bleibt festzuhalten, dass es im Musiktheater zwei Produktionen weniger geben wird: keine konzertante Oper, kein Werk der (klassischen) Moderne. Zwei Linien, die Intendant Jens-Daniel Herzog zu Amtsbeginn vorgegeben hat, sind erst einmal gekappt.

Immerhin: Im Doppeljubiläumsjahr zu Ehren von Richard Wagner und Giuseppe Verdi stehen zwei gewichtige Premieren an. Herzog selbst inszeniert „Don Carlo“ (Übernahme von Mannheim) und Schauspielchef Kay Voges wagt sich an den „Tannhäuser“. Eilig versichert er, es werde keine Nazis auf der Bühne geben. Andererseits wird betont, die Konstellation dokumentiere die gute Zusammenarbeit zwischen den Sparten des Dortmunder Hauses.

Szene aus dem Mannheimer "Don Carlo". Foto: Theater

Szene aus dem Mannheimer „Don Carlo“. Foto: Theater

Insgesamt sei angemerkt, dass der Opernspielplan,  um es dezent auszudrücken, populär ist. „Carmen“ und „La Cenerentola“, „Der Graf von Luxemburg“ und „Anatevka“ – Repertoire-Raritäten suchen wir vergebens. Dass Herzog Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“ dramatisiert, sei aber als Besonderheit durchaus erwähnt. Und dass sich die Junge Oper in Kooperation mit dem Kinder- und Jugendtheater des „Carmen“-Stoffes annimmt, darf ebenfalls als Zeichen guter Nachbarschaft gewertet werden.

Neu im Boot der Nachbarn ist Gabriel Feltz als Chef der Dortmunder Philharmoniker. Er gibt sich sachlich, beschwört keine visionären Ideen, ja bremst sogar die Erwartungen. „Es gab Anfragen, ob die Philharmonischen Konzerte nicht wieder an drei Abenden stattfinden könnten“, sagt Feltz. Doch er wolle erst einmal in Dortmund ankommen. Dort wird er drei Opernpremieren dirigieren, fünf der zehn „Philharmonischen“ sowie diverse Sonder-, Jugend- oder Familienkonzerte. Das klingt nach gehöriger Präsenz, aber sein Vorgänger Jac van Steen war im Grunde nicht weniger fleißig. Gleichwohl hat die Stadt ihn unsanft aus dem Amt gedrängt. Pech gehabt.

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Ein Glücksjunge hingegen ist Ballettdirektor Xin Peng Wang. Die Sparte ist beliebt, die Compagnie wird international beachtet, das Programm zeugt stets von üppiger Fantasie. Dementsprechend launig verkündet er die Premieren der neuen Saison als opulentes, schmackhaftes Mehrgangmenü. Und vor allem die Hauptspeise hat es in sich: Wang selbst setzt Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in Szene. Die Choreographie wolle Menschenschicksale zeigen in der so schönen wie geisterhaften Stadt Wien. Mit Musik von Johann Strauss und Alban Berg, also mit übersprudelnden, prachtvollen wie brüchigen, morbiden Klängen.

Hier der Blick nach draußen, sonst aber stets der Hinweis, dass das Theater als Ganzes sich in der Stadt verorten müsse. Was niemand so konsequent angeht wie  Schauspielchef Kay Voges. Mit „Stadt der Angst“ will die Bühne das Ende der Leistungsgesellschaft einläuten – mit Hilfe einer Lichttherapie. Das klingt so kryptisch wie spannend. Ein Wagnis mit Intensität, denn an drei Tagen werden sechs Premieren, Vorträge und Diskussionen offeriert.

Andere Abgründe kommerzieller Art will wiederum Kristof Magnussons Komödie „Männerhort“ ausloten. Ein Blick auf weiblichen Shoppingwahn und die kleinen Fluchten des Mannes. Ein Spiel, das sich nur wenige Meter von Dortmunds Thier-Galerie ereignen wird, wie Voges eigens betont. Neben dem Premierenreigen – von „Peer Gynt“ bis „Der Elefantenmensch“ – setzt er auf Neues. Auf Stücke in türkischer Sprache (Kooperation mit Mülheim), auf Lesungen aus der Bloggerszene, auf eine Herbstakademie für Jugendliche.

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Erste Adresse für diese Zielgruppe ist das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das Andreas Gruhn nun in die 15. Spielzeit führt. In all den Jahren konnte er einen Publikumszuwachs von fast 26.000 auf 35.000 Besucher verbuchen.  Eine Erfolgsgeschichte, die sich auch nach 2015 fortsetzen soll, wenn die Spielstätte an der Sckellstraße aufgegeben werden muss, wenn möglicherweise ein neues Domizil neben dem Schauspielhaus entsteht. Zunächst aber bietet die neue Saison acht Premieren – Stücke, in denen etwa die Themen Liebe und Sexualität, Mobbing oder virtuelle Kriegsspiele verhandelt werden. Märchenhaftes wird das Programm ergänzen, ein Werk soll in Kooperation mit dem Jugendclub produziert werden.

Ja, die Dortmunder Bühnen haben in der Spielzeit 2013/14 einiges zu bieten. Doch vor allem die musiktheatralische Abteilung ächzt unter den Altlasten schlechter Intendanzen, ringt um jeden Zuschauer. Die Auslastung in der Saison 2011/12 liegt hier bei gut 53 Prozent. Dass Intendant Jens-Daniel Herzog den Satz in die Runde wirft, „Die Stadt hat die Oper, die sie verdient“, ist Ausdruck trotzig-optimistischen Nachvornblickens. Andererseits: Eine Kommune, die Millionen in einen „Kulturleuchtturm“ namens U pumpt, dem Theater aber kalt lächelnd das Geld aus der klammen Kasse zieht, bekommt eben die Oper, die sie verdient.

Alles zum Programm der Spielzeit 2013/14 unter www.theaterdo.de




„Unaufgeregteste Großstadt“ der Republik oder etwa doch ein Provinznest?

Abseits des Fußballs gibt es immer wieder Anlässe, sich über Verhältnisse in Dortmund aufzuregen.

Stichwort neonazistische Umtriebe. Stichwort Verwahrlosung und Laden-Leerstände bis in die Innenstadt hinein. Stichwort desolate Zustände in Teilen der Nordstadt. Ach, ich werde des Aufzählens müde.

Da können Lokalpolitiker und harmoniegeneigte Lokalpresse (also praktisch nur noch die Ruhr Nachrichten) noch so jubeln oder beschwichtigen: Diese finanziell gebeutelte Kommune droht in vielen Bereichen dauerhaft auf den absteigenden Ast zu geraten.

Abriss des ehemaligen Gymnasiums an der Dortmunder Lindemannstraße (Foto: Bernd Berke)

Abriss des ehemaligen Gymnasiums an der Dortmunder Lindemannstraße (Foto: Bernd Berke)

Nicht nur Lokalpatrioten widerstrebt überdies jedes Ranking, bei dem Dortmund schlecht abschneidet – und das kommt oft genug vor, sei’s bei Statistiken aus dem Bildungsbereich, bei Einkommenstabellen oder Arbeitslosenzahlen.

Ein neueres Beispiel einer solchen Liste kommt von der Job- und Karriere-Plattform „Xing“, die unter ihren Mitgliedern eine (freilich alles andere als repräsentative) Umfrage veranstaltet hat.

Gerade mal 845 Nutzer haben daran teilgenommen. Piepegal. Daraus lassen sich trotzdem knackige Ergebnisse filtern und dann kraftvoll ausposaunen. Man nehme also die zwölf einwohnerstärksten Städte Deutschlands und frage, in welchem Ort der Xingler (oder Xingling, Xingle?) gern bzw. ungern arbeiten würde. Und welche Weltsensation kommt heraus? In Front liegt Hamburg (hier wollen 42% gern arbeiten) vor München, Berlin, Köln und Stuttgart; am schäbigen Ende rangiert Essen (48 Prozent winken ab) vor Dortmund, Leipzig, Dresden und Frankfurt. Na klar. Immer mal wieder feste druff auf Ruhris und Ossis.

Zuweilen glaubt man allerdings tatsächlich, dass Dortmund mit seinen rund 580 000 Einwohnern Züge eines Provinznestes hat. Wollte man’s positiv wenden, so kramte man die gute alte Formulierung aus der Wochenzeitung „Die Zeit“ hervor: Dortmund sei die „unaufgeregteste Großstadt der Republik“, hieß es dort mal vor Jahr und Tag. Der Satz gilt, mit einer Prise Ironie gesprochen, heute noch.

Und wo hätte ich nun neuerdings Kennzeichen der Provinzialität entdeckt? Dazu zwei vermeintlich unscheinbare, doch kennzeichnende Beispiele.

Beispiel 1: In der ganzen großen Stadt findet sich freitags kein einziger Briefkasten, der noch nach 19 Uhr geleert würde – auch nicht an der Hauptpost. Man muss statt dessen in sehr entlegene Ecken von Hagen oder Essen (exotischer Ortsteil Vogelheim) fahren, um dann noch dringliche Post loszuwerden. Eine Angelegenheit der Deutschen Post, gewiss. Und nicht ganz so ärgerlich wie der schlampige Umgang der Deutschen Bahn mit dem Dortmunder Hauptbahnhof. Aber immerhin.

Briefkasten mit freitäglicher Abendleerung - weit draußen in Hagen. (Foto: Bernd Berke)

Briefkasten mit freitäglicher Spätabendleerung – weit draußen in Hagen. (Foto: Bernd Berke)

Beispiel 2: Am allzeit defizitären Dortmunder Flughafen, der vor allem Billigflieger-Verbindungen nach Osteuropa offeriert, sich als internationaler Airport versteht und derzeit versucht, das Nachtflugverbot aufzuweichen, leistet man sich einen geradezu lächerlichen Service-Mangel. Auf der Besucherterrasse, die viele Menschen mit ihren Kindern aufsuchen, ist kein einziges Kindergericht erhältlich. Ja, die Betreiber sehen sich nicht einmal in der Lage, einfach mal kleinere Portionen für kleinere Leute zu servieren. Das ist eine ähnliche Negativwerbung wie hie und da im Westfalenpark, wo an bestimmten Punkten oft die geringsten Bedienungsstandards missachtet werden. Genau dort, wo die meisten Gäste von außerhalb auftauchen, zeigt man sich besonders unwillig.

Wenn wir schon mal beim Querulieren sind, sei nun auch noch dies angemerkt: Dortmund ist nicht grade reich an historischem Baubestand. Da wiegt es schon doppelt schwer, dass jetzt an der Lindemannstraße das einstige Königliche Gymnasium (später Kaserne, Staatliches Gymnasium, Lehrerseminar) aus dem Jahr 1907 kurzerhand abgerissen wurde, um einem ein ziemlich gesichtslosen Wohn- und Geschäftshaus mit dem superschicken Namen „Four Windows“ Platz zu machen. Die lokal leider konkurrenzlosen Ruhr Nachrichten vermelden den baulichen Verlust ohne kritischen Unterton. Man wird doch keine Investoren verschrecken wollen…

Ja, ich gebe zu, dass ich mich mit dem Bauwerk auch persönlich verbunden fühle. Ich bin in der parallel laufenden Arneckestraße aufgewachsen. Der Balkonblick über den begrünten Hinterhof fiel auf den mächtigen Giebel und den klassisch gegliederten Baukörper des damaligen Gymnasiums. Damit verschwindet also auch wieder ein Stück der Kindheit. Als ich jetzt dort Fotos vom Abriss gemacht habe, kam gleich jemand auf mich zu und sagte: „Das da tut mir in der Seele weh. Hier bin ich zur Schule gegangen.“ Worauf ein längeres, recht einvernehmliches Gespräch über Dortmunder Defizite folgte.

Unabhängig davon frage ich mich, ob die Denkmalschützer hier nichts Erhaltenswertes gesehen haben und warum ausgerechnet die Bewohner des umliegenden, linksliberal und grün-alternativ geprägten Kreuzviertels (mit Abstrichen: Dortmunds „Prenzlauer Berg“) in dieser Angelegenheit still und stumm geblieben sind.

Warum wohl trifft es viele so hart, wenn einer wie Mario Götze den Lockungen aus München folgt? Weil es hier manchmal doch etwas trist wäre, wenn wir den Fußball und den jetzt so grandiosen BVB nicht hätten! Na gut: Und noch ein paar andere herrliche Sachen.




Hoeneß, Götze und der ganze Mist

Die Nachricht kam überfallartig: Wie zuerst die „Bild“-Zeitung berichtete, wechselt Mario Götze am 1. Juli 2013 für 37 Mio. Euro von Borussia Dortmund zum FC Bayern München. Inzwischen hat der BVB den Bayern-Coup bestätigt.

Bereits als Neunjähriger hat der gebürtige Allgäuer und womöglich begabteste deutsche Fußballer beim BVB gespielt, vorher hat er in Dortmund-Hombruch gekickt. Er galt also längst (ebenso wie die in Dortmund geborenen Marco Reus und Kevin Großkreutz) als einer der „Dortmunder Jungs“, als familienverbunden und „bodenständig“; als einer, der wegen ein paar Millionen nicht gleich abhebt. Auch hat Götze in Interviews immer gern das Hohelied auf Dortmund gesungen.

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Nun müssen wir dieses idyllische, sicherlich sehr naive Bild schleunigst revidieren. Es ist natürlich wieder nichts mit den hehren Sprüchlein à la „Elf Freunde müsst ihr sein“! Zwar hatte Götze seinen Vertrag beim BVB bis 2016 verlängert, doch gab es offenbar eine Ausstiegsklausel, derzufolge er den Verein für just 37 Mio. Euro vorzeitig verlassen darf. So weit ist formal alles in Ordnung.

Aber irgendwann muss mir mal einer schlüssig erklären, wieso jemand, der bereits viele Millionen anhäuft, partout noch mehr Millionen scheffeln will – und das trotz sportlicher Perspektiven, die eventuell gar nicht schlechter sind als in München.

Wer hat der „Bild“ den Tipp gegeben?

Dass diese Transfer-Geschichte ausgerechnet mit teuflischer Pünktlichkeit zum Halbfinale der Champions League öffentlich lanciert wird, dürfte erhebliche Unruhe im Dortmunder Team stiften. Der FC Bayern hatte seit jeher ein Interesse daran, die Bundesligakonkurrenz zu schwächen, nicht nur durch Wegkauf der wichtigsten Spieler. Da hegt man denn doch den Verdacht, der diskrete Tipp an das Boulevardblatt könnte aus den Kreisen der obersten Bayern-Etage gekommen sein. Dort haben sie ja auch indirekt mit der Steueraffäre Hoeneß zu tun, von der sie liebend gern ablenken möchten.

Und jetzt mal ganz wild spekuliert: Könnte dieser heiße Tipp an die „Bild“ gar mehr oder weniger stillschweigend mit der Erwartung verknüpft sein, dass dort wohlwollender oder zumindest weniger zupackend über den Steuerfall Hoeneß berichtet wird? Es gab ja schon immer Leute, die gehofft haben, mit der „Bild“ (wieder) den Fahrstuhl nach oben zu besteigen.

Doch halt! Das sind pure Phantasiespiele. Mag sein, dass sich alles ganz anders verhält. Die offizielle Münchner Lesart schaut so aus (Zitat aus „Spiegel online“): „Aus Rücksicht auf das anstehende Spiel des BVB wollten die Bayern den Wechsel ‚erst nach dieser Begegnung gegenüber dem BVB anzeigen’, heißt es in einer Presseerklärung der Münchner.“

Wie überaus rücksichtsvoll.

Geschwafel über „spanische Verhältnisse“

Dass Bayern-Präsident Uli Hoeneß kürzlich über „spanische Verhältnisse“ in der Bundesliga gebarmt hat (will sagen: nur zwei dominierende Vereine, nämlich Bayern und BVB, alle anderen hinken nach) und angeblich großmütig gegensteuern wollte, erweist sich jetzt als Geschwafel, als heiße Luft – wie so vieles, was Hoeneß im Laufe der Jahre von sich gegeben hat. Nun ahnt man auch, warum BVB-Trainer Jürgen Klopp im Gegenzug von „schottischen Verhältnissen“ geredet hat (will sagen: nur ein dominierender Verein, nämlich Bayern). Da muss Klopp schon etwas vom Götze-Deal gewusst haben.

Wie immer das fiskalische Verfahren um Uli Hoeneß ausgehen mag, so steht für mich doch eins fest: Bis gestern war ich in der rein sportlichen Frage noch schwankend bis neutral, doch jetzt drücke ich (und gewiss nicht nur ich) heute Abend und am nächsten Mittwoch dem FC Barcelona bei den Halbfinalspielen gegen die Bayern fest die Daumen. Señor Messi, walte Er seines Amtes und netze Er mit seinen Compañeros tüchtig ein!

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Abendlicher Nachtrag: Zur Zeit führt im Nachrichten-Rennen wieder Uli Hoeneß. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet, ist Hoeneß bereits am 20. März festgenommen worden. Doch der Haftbefehl sei seinerzeit gegen Zahlung einer Kaution (5 Millionen Euro) außer Vollzug gesetzt worden. Der Vorgang sei aber vielleicht ein Hinweis darauf, dass Hoeneß‘ Selbstanzeige vom Januar möglicherweise nicht strafbefreiend wirke.

Spätabendlicher Nachtrag: Wenn ich schon mal die Daumen drücke! 4:0 für Bayern. Gewiss, nicht alle Tore waren regulär. Aber den Barça-Leuten muss jemand ein Schlafmittel in den Tee getan haben.

Zeitloser Nachtrag: sport1.de am 4. Januar 2012: „FC Bayern-Präsident Uli Hoeneß lehnt eine horrende Ablösesumme bei einem möglichen Transfer für Dortmunds Nationalspieler Mario Götze ab. „40 Millionen Euro oder mehr – das würden wir nie machen“, sagte Hoeneß der „Sport-Bild“ (…) Ohnehin glaubt Hoeneß nicht an einen bevorstehenden Götze-Transfer: „Wo sollte er denn bei uns im Moment spielen?““




Jauchs Talkshow: Mutmaßungen über Hoeneß

Übers Wochenende ist ein Thema hochgekocht, für das Günther Jauch seine ARD-Talkrunde in Windeseile hat umplanen lassen. Die Rede ist natürlich vom Präsidenten und Patriarchen des FC Bayern München, Uli Hoeneß, der Steuern in Millionenhöhe hinterzogen haben soll.

Fernsehleute (und viele Zuschauer) gieren nach Themen, die sich so kraftvoll personalisieren lassen. Welch eine tragische Fallhöhe! Da steht der FC Bayern gerade kurz vor dem sportlichen und wirtschaftlichen Zenit. Da schickt man sich an, am nächsten Dienstag und in der Folgewoche den FC Barcelona zu besiegen und ins Finale der Champions League vorzudringen.

Tiefer Fall einer moralischen Instanz

Und ausgerechnet jetzt wird – durch Recherchen des „Focus“ – bekannt, dass der Übervater des Vereins, der Mann, der vielen als Vorbild oder gar als moralische Instanz galt, nicht nur unter Verdacht steht. Nein, Uli Hoeneß hat tatsächlich (schon im Januar) Selbstanzeige erstattet und damit bereits nicht geringe Verfehlungen zugegeben. Über die Ausmaße wird ebenso spekuliert wie über die Frage, ob die Selbstanzeige „strafbefreiend“ wirkt. Schlimmstenfalls würde Hoeneß sogar eine Gefängnisstrafe drohen.

Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Günther Jauch (© ARD/Marco Grob)

Eine Talkshow, die sich zum jetzigen Zeitpunkt auf das Thema stürzt, läuft Gefahr, zum Tribunal oder zum öffentlichen Pranger zu werden. Doch Günther Jauch lenkte das Gespräch nicht nur in recht vernünftige, relativ ruhige Bahnen, er hatte auch Gäste geladen, denen bewusst war, dass es sich um ein schwebendes Verfahren handelt und dass man einstweilen vielfach nur Mutmaßungen anstellen kann.

Enttäuscht und fassungslos

Dennoch war spürbar, dass die Enttäuschung über Hoeneß überwiegt, der sich 2012 – just bei Jauch – gegen eine drohende „Reichensteuer“ empört und noch dazu gesagt hatte, manche gingen dann eben mit ihrem Geld in die Schweiz. Jetzt wissen wir, dass er selbst offenbar Millionen im Nachbarland gebunkert hatte.

Der langjährige ZDF-„Sportstudio“-Moderator Dieter Kürten, zudem mit Hoeneß befreundet, war ersichtlich völlig aus der Fassung. Er möchte nach wie vor an Hoeneß festhalten und am liebsten alles auf schlechte Berater schieben. Bedeutend strenger äußerten sich hingegen NRW-Finanzminister Norbert Walter-Borjans und vor allem der frühere Steuerfahnder Dieter Ondracek, eine nahezu alttestamentarische Erscheinung. FDP-Mann Wolfgang Kubicki, Fachanwalt für Steuerrecht, konnte sich vorstellen, dass die Selbstanzeige von Hoeneß vielleicht nicht rechtzeitig oder vollständig genug eingegangen sei, um noch die erwünschte Wirkung zu erzielen. Könnte es Kubicki gar reizen, einen solch interessanten Fall anwaltlich zu übernehmen? Egal.

„Focus“-Chefredakteur Jörg Quoos sonnte sich anfangs im Erfolg seines Blattes, die Nachricht zuerst gehabt zu haben. Mit zunehmender Dauer schien er unwirsch zu werden, weil er feststellen musste, dass inzwischen andere Presseorgane den Vorsprung mindestens aufgeholt haben. So ist das im schnelllebigen Geschäft; erst recht, seit es das Internet gibt.

Gefundenes Fressen für manche Bayern-Gegner

Jungmoderator Oliver Pocher schließlich mimte ein wenig den „Klassenclown“ und wollte unentwegt locker wirken. Doch bei manchen Themen ist eine solche Grundhaltung etwas fehl am Platze. Immerhin bekam Pocher Szenenapplaus aus dem Saalpublikum, als er meinte, die Mannschaft des FC Bayern werde sich von all dem Gerede nicht irritieren lassen. Tatsächlich geht es ja um privates Geld und nicht um die Festgeldkonten des Vereins. Als Dortmunder und BVB-Anhänger weiß ich, wovon ich rede und was ich so höre: Man kann ziemlich sicher gehen, dass manche Bayern-Gegner quer durch die Republik derzeit klammheimliche Freude empfinden, weil das „Mia san mia“ Risse zu bekommen scheint. Kein schöner Zug.

Ein Thema wird „durchgehechelt“

Nebenher wurde in der Sendung noch ein spezielles Fass aufgemacht: Wer hat eigentlich die ersten Informationen an den „Focus“ gegeben? Für die Ermittlungsbehörden hielten alle die Hand ins Feuer. Und „Focus“-Chefredakteur Quoos wehrte entschieden ab, als hierbei der Name seines prominenten Vorgängers Helmut Markwort genannt wurde, der auch im Aufsichtsrat der Bayern sitzt…

Eins aber ist klar. Bevor die Steuerfahnder ihre Arbeit gemacht und bevor Richter über die Sachverhalte befunden haben, ist das Thema beim Fernsehen längst „durchgehechelt“. Schon an diesem Montag geht’s bei Frank Plasbergs „Hart aber fair“ weiter – mit der etwas scheinheilig klingenden Fragestellung: „Ausgerechnet Hoeneß – wem kann man jetzt noch trauen?“

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Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Meine letzte „Rundschau“

So. Das war’s. Heute habe ich mein letztes Abo-Exemplar der Zeitung erhalten, die sich immer noch hartnäckig „Westfälische Rundschau“ (WR) nennt.

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Die WR lese ich seit Ende der 60er Jahre. Ununterbrochen habe ich das Blatt von 1980 bis heute bezogen, bis 2009 als „Personalstück“ für Redakteure. Auch meine Eltern haben schon die Rundschau „gehalten“, wie man es früher ausdrückte. Die konkurrierenden Ruhr-Nachrichten kamen jedenfalls all die Jahre über nicht ins Haus.

Ganz ehrlich: Allzu viel Wehmut ist nun trotzdem nicht im Spiel. Denn das, was da seit Anfang Februar geliefert wird, hat ja mit der Rundschau von früher kaum noch etwas zu tun.

Bewusst habe ich Mitte Januar, als die Entlassung der gesamten WR-Redaktion verkündet wurde, keine fristlose, sondern eine fristgerechte Kündigung an die Essener WAZ-Zentrale geschickt. Es war ja zu ahnen, dass der Konzern sonst Zicken machen würde. Mit einem hakeligen Hin und Her mochte ich meine Nerven nicht strapazieren. Außerdem wollte ich noch ein paar Wochen lang täglich beobachten, wie sich die redaktionslose Zombie-Zeitung entwickelt, also dieses abstruse Gemisch aus WAZ (Mantelteil) und Ruhr-Nachrichten (Dortmunder Lokalteil).

Der seltsamen Mixtur ohne eigenen Geist wurde immer wieder penetrant das „WR“-Mogeletikett angeheftet: „Jetzt neu in Ihrer WR“, „(XYZ) im WR-Gespräch“, „Wie die WR erfuhr“ usw. Ganz so, als sei unterdessen nichts mit der WR-Redaktion geschehen. Auch in der heutigen Ausgabe wünschen im Kleingedruckten „Verlag und Redaktion“ (welche Redaktion?) frohe Ostertage, während die Überschrift lautet: „Die WR wünscht ein frohes Osterfest“. Ich habe wirklich keine Lust mehr, mich so zum Narren halten zu lassen.

Von gelegentlichen thematischen Reibungen (Doubletten etc.) zwischen Mantel und Lokalteil wollen wir mal schweigen. Dafür, dass es hier zwischen WAZ und RN keine regelmäßigen engen Absprachen gibt, hielt sich der Widersinn noch halbwegs in Grenzen.

Bislang habe ich gedacht, dass die Ruhr-Nachrichten (RN) einen zumindest passablen oder auch recht ordentlichen Lokalteil machen. Hierauf konzentrieren sie ihre Kräfte, im Mantelteil werden hingegen vielfach Agenturtexte abgedruckt. Neuerdings bin ich auch vom Lokalen etwas ernüchtert. Mag sein, dass mir die RN-Berichte im Rundschau-Gewand schon per se missfallen. Das wäre dann teilweise mein Problem. Wahr ist aber auch, dass sie immer mal wieder absolut belanglose Geschichten grauslich hochjazzen. Eine Dortmunder Unternehmerin, die sich diversen Hollywood-Stars an den Hals wirft und mit ihnen ablichten lässt, war einen lokalen Bildaufmacher, einen länglichen Text und eine Fotostrecke „wert“. Es war nicht die einzige eklatante Fehleinschätzung.

Jetzt habe ich mich aber auch lang genug geärgert und bin froh, dass es mit dieser Osterausgabe, die von vorn bis hinten wahrlich über Gebühr mit Hasen und Eiern gefüllt ist, ein Ende hat. Die Funke-Gruppe (vormals WAZ-Gruppe), die einen kürzlich per Brief und Anruf noch bei Laune halten und als Abonnenten behalten wollte, hat es tatsächlich fertiggebracht, ausgerechnet zu Anfang April die Abo-Preise zu erhöhen – ein dilettantisches Timing, das entweder auf Panik, Konfusion oder Unverfrorenheit hindeutet.

Gewiss, ohne Widersprüche geht’s bei all dem nicht ab: Mit dem (von vielen gefassten) Entschluss, das WR-Abo zu kündigen, gefährdet man unter Umständen weitere Arbeitsplätze in der WAZ-Gruppe. Inzwischen ist ja bereits die Streichung weiterer 200 Jobs in verschiedenen Konzernbereichen angekündigt worden, die freilich anders begründet wird.

Ich möchte jedenfalls kein Unternehmen mitfinanzieren, das seine Rendite vorwiegend mit personellem Kahlschlag steigert. Wie heißt es auf der heutigen „WR“-Titelseite so schön konjunktivfrei über die jüngsten Opel-Verluste – im Zitat des unvermeidlichen Autoexperten Ferdinand Dudenhöffer: „Das Argument, Kunden interessiert es nicht, ob ein Hersteller Werke schließt oder unbarmherzig mit seinen Mitarbeitern umgeht, gilt im Ruhrgebiet nicht.“ Eben.




„Dortmunder Modell“: Die Stadt muss kleinlich sparen, ihr Airport macht Millionen „Miese“

Kürzlich konnte man im Dortmunder Lokalteil der Ruhr-Nachrichten (RN) erfahren, wie kleinlich inzwischen die Sparschrauben bei der Stadt angesetzt und festgedreht werden. Beispiele erwünscht? Bitte sehr: Zootiere bekommen ab jetzt weniger Frischkost. Macht gerade mal 10 000 Euro im Jahr. Brunnen sprudeln künftig seltener, was Strom und Wasser spart. 35 000 Euro im Jahr. Vom Kulturbereich mal wieder ganz zu schweigen.

Völlig ohne weitere Erläuterung finden sich in dem RN-Artikel Posten wie die Kündigung der „Alarmaufschaltung zur Überwachung“ der kommunalen Kindertagesstätten (was besagt das, bitte?) mit einer Ersparnis von 36 000 Euro, die hoffentlich niemand bereuen wird. Ferner werden die Kosten für Lebensmittel in den Kitas um 12,5 Prozent oder 175 000 Euro gekürzt. Das ist schon ein größerer Batzen. Steigen also die Elternbeiträge? Oder wird die Verpflegung einfach reduziert? Erläuterung Fehlanzeige. Nach dem eher als tabellarisches Kuriositäten-Kabinett angelegten Bericht hat man mehr Fragen als vorher.

Ein Monster als Maskottchen: Dortmund Airport (Foto: Bernd Berke)

Ein Monster als Maskottchen: Dortmund Airport (Foto: Bernd Berke)

Doch darauf wollte ich gar nicht in erster Linie hinaus. Halten wir uns noch einmal die genannten Beträge vor Augen, um sodann das aktuelle Jahres-Defizit des Dortmunder Flughafens erst richtig würdigen zu können. Der von den Stadtspitzen aus Prestigegründen seit jeher gehätschelte Airport, der ja auch ein paar nette Pöstchen bietet, hat – wie jetzt bekannt wurde – 2012 abermals 18,5 Millionen Euro Miese gemacht. Das ist eine Million weniger als 2011 und das geringste Minus seit 2003, also haben wir es quasi noch mit einer vergleichsweise guten Nachricht zu tun.

Man kann sich ungefähr ausmalen, was sich da im Lauf der Jahre angesammelt hat. Und wer springt finanziell ein? Nun, die allzeit ziemlich klamme Stadt Dortmund (26% Anteile) und die Dortmunder Stadtwerke DSW 21 (74% Anteile), eine hundertprozentige Tochter der Stadt. Mit den Strom-, Gas- und Wasserpreisen subventionieren Einwohner und Wirtschaft also den Flughafen ganz gehörig.

Absurde Rechenaufgabe: Wie vielen Zootieren könnte man da wie viele hundert Jahre lang Frischkost nach Herzenslust kredenzen? Doch mal ganz ernsthaft: Wie viele Theater, Museen, Schulen, Kindergärten, Sportvereine oder Schwimmbäder könnte man wirksam fördern, wenn es diesen Flughafen nicht gäbe? Wie viele Straßen ließen sich schnellstens reparieren, wie viele Sozialleistungen bezahlen?

Wer solche Verluste schreibt wie der Dortmunder Flughafen, der wird doch wohl wenigstens einen Airport von internationaler Bedeutung betreiben? Nun ja, wie man’s nimmt. Eigentlich eher nicht. Das offizielle Dortmund gefällt sich darin, dass die heimische Geschäftswelt von hier aus aufbrechen kann – freilich geht’s direkt weder nach Berlin noch nach Paris, Rom, Mailand oder Madrid. Ein paar Touristen fliegen nach „Malle“ oder Faro, einige Heimaturlauber zu teilweise zweitrangigen Destinationen Osteuropas (siehe Liste am Ende des Beitrags).

Von Steigerungsraten kann auch keine Rede sein. Im Gegenteil. Sowohl die Zahl der Passagiere als auch – besonders drastisch – die Menge der beförderten Luftfracht hat mit den Jahren in Dortmund kontinuierlich abgenommen. Gleichwohl werden weite Teile der Stadt und der östlich angrenzenden Gemeinden mit Fluglärm versorgt. Offenbar noch nicht genug. Stets wird uns vorgegaukelt, dass längere Betriebszeiten (am frühen Morgen und nachts) bzw. eine verlängerte Start- und Landebahn die Verluste mindern würden.

Da sehnt man sich im Kleinen geradezu nach einer „Berliner Lösung“ – einem Flughafen, der nie und nie eröffnet oder wenigstens nicht erweitert wird.

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Dortmunder Destinationen

Alghero, Italien
Belgrad, Serbien
Breslau, Polen
Budapest, Ungarn
Bukarest, Rumänien
Cluj-Napoca, Rumänien
Gdansk (Danzig), Polen
Faro, Portugal
Girona, Spanien
Istanbul, Türkei
Izmir, Türkei
Kattowitz, Polen
Kiew, Ukraine
Lemberg, Ukraine
London, Großbritannien
Málaga, Spanien
München, Deutschland
Neumarkt, Rumänien
Oporto, Portugal
Palma de Mallorca, Spanien
Posen, Polen
Skopje, Mazedonien
Sofia, Bulgarien
Temeschwar, Rumänien
Vilnius, Litauen




„Die Wirklichkeit wird nicht mehr gebraucht“: Ernst-Wilhelm Händlers „Der Überlebende“

Der Ich-Erzähler bleibt namenlos. Alles andere wäre auch geradezu widersinnig. Denn der Mann steht für die kommende Überschreitung biologischer Gegebenheiten, für den Übergang der Schöpfung in eine anonyme Eiseskälte.

Die Hauptfigur in Ernst-Wilhelm Händlers Roman „Der Überlebende“ leitet das Leipziger Elektrotechnik-Werk des fiktiven US-Konzern D’Wolf, betreibt dort aber insgeheim weiter die Roboterforschung, die offiziell gestoppt worden ist. Für dieses verborgene Geisterprojekt geht er über Leichen – nicht nur im übertragenen Sinne.

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Gesichter von Menschen kann sich der seltsam seelenlose Mann ohnehin nicht merken, worauf also sollte sich ein etwaiges Mitleid beziehen? Landläufig würde man ihn vielleicht als Autisten bezeichnen. Dieser hier will gleichzeitig alle Fäden ziehen, alles unter Kontrolle behalten, über jeden Schritt von Karrierefrauen mit mysteriösen Namen wie Sondra oder Burgi unterrichtet sein.

Hat schon die Firma ein ausgeklügeltes Überwachungssystem („Total Recall“) installiert, das beispielsweise alle Konferenzen für immer aufzeichnet, so setzt der Werksleiter seinerseits eine noch lückenlosere Spionage-Apparatur drauf. Ihm entgeht – rein äußerlich – praktisch nichts. Aber kann er das Gesehene auch richtig deuten? Wie dringend bräuchte er eine Software, die alle Beziehungen unfehlbar analysiert…

Wenn er jedenfalls argwöhnt, dass die schwer erkrankte Ehefrau Maren, Freund Peter oder Tochter Greta seine Kreise stören, so müssen eben Opfer gebracht werden. In den universalen und galaktischen Dimensionen, in die er sich gedanklich so gern erhebt, spielen einzelne Menschenleben überhaupt keine Rolle. Ein kurzerhand vertauschtes Medikament, ein geschickt eingefädelter und perfide beeinflusster Boxkampf – wer will es ihm nachweisen? Er ist und bleibt „Der Überlebende“. Und um welchen Preis?

Ernst-Wilhelm Händler, der früher selbst als mittelständischer Unternehmer tätig war und wirtschaftliche Mechanismen (so auch Firmenhierarchien, Marktstrategien und Preiskämpfe) sachkundig in die Handlung einfließen lässt, verwendet eine durchaus passende, wie aus dem Baukasten gefügte, auf Präzision versessene Sprache. Wie metallische Scharniere klirren und klacken schon die zahllosen Imperfekt-Endungen: „Du aber frösteltest. Mit der linken Hand rafftest du das Nachthemd…“ Doch die stocknüchterne, zuweilen steifleinene Genauigkeit und all das rational erscheinende Kalkül scheinen letztlich in ein dunkles Chaos zu führen; in einen Strudel hin zum Ende der Welt, wie wir sie kennen…

Fischen wir nur einige Partikel aus dem Gedankenstrom des Technikers, der ein später Nachfahre von Max Frisch „Homo Faber“ sein könnte und auch George Orwells Überwachungs-Visionen hinter sich lässt: „Wir würden es fertigbringen, die Realität zu klonen, sie würde annihiliert und durch ihre Doppelgängerin ohne Menschen ersetzt werden. Die Wirklichkeit wird nicht mehr gebraucht, sie kann verschwinden, sie muss verschwinden.“

Wesentliche Teile des Geschehens sind nur noch durchs Flimmern von Bildschirmen vermittelt – wie in der Finanz- und Börsenwelt oder vielen Bereichen der „Frei“-Zeit längst üblich. Kalkulatoren und Controller sind die verbliebenen Mächte in diesem blutleeren Getriebe. Wer womöglich über all das herrscht, steht gar nicht mehr zur Debatte. Vielleicht egal. Die einstweilen noch tapsigen, aber lernfähigen Roboter werden wohl einst alle lebendigen Wesen ersetzen, wenn nicht Einhalt geboten wird. Das ist der Erwartungshorizont dieses Romans.

Man liest den Fortgang mit einer fast widerwilligen Faszination, befremdet und fröstelnd.

Ernst-Wilhelm Händler: „Der Überlebende“. Roman. S. Fischer Verlag. 320 Seiten, 19,99 Euro.




Der Koloss wankt: Funke-Mediengruppe (WAZ) streicht abermals 200 Stellen

Es wird allmählich zur Konstante, wenn von der Funke-Mediengruppe (ehemals WAZ-Mediengruppe) die Rede ist: Man erwartet ja schon allzeit Kürzungsmaßnahmen, aber doch nicht so schnell und so drastisch, wie sie dann tatsächlich eintreten.

Die Geschäftsführung in Essen setzt jeweils auf „Überraschungs“-Effekte, für einzelne Betriebsteile auch auf ein Ende mit Schrecken – siehe die erst am 15. Januar verkündete Entlassung der kompletten Redaktion der Westfälischen Rundschau, von der rund 120 Redaktionsmitglieder und über 150 freie Mitarbeiter betroffen sind.

In den letzten Tagen und Wochen hatte man ziemlich fest mit dem „Aus“ für die Vest-Ausgabe (Kreis Recklinghausen) der WAZ gerechnet, doch nicht mit einem Kahlschlag dieses Kalibers: Abermals sollen im Konzern bis zu 200 Stellen gestrichen werden – bei Anzeigenblättern, im Anzeigenbereich und im Fotografenpool, doch auch – wohl besonders bemerkenswert – am zentralen Content Desk, der die Blätter der Gruppe mit regionalem und überregionalem Mantelstoff für die klassischen Ressorts und deren Ableger beliefert.

Der von WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz geleitete und gehegte, einst bundesweit als Modell ausposaunte Desk muss also deutlich Federn lassen – von 21 bis 24 Stellen am bislang recht ordentlich besetzten Tisch ist die Rede. Es heißt, Beobachter aus dem angeblich näheren Umfeld hätten Reitz neuerdings nachgesagt, er werde zusehends nervös und habe seine einst zur Schau gestellte Souveränität eingebüßt. Aber das ist ungeprüfte Kolportage, Kaffeesatz-Leserei, wiewohl wahrscheinlich nicht völlig ohne Anlass.

Man vermag jedenfalls kein tragendes Konzept hinter all dem hektischen Aktionismus in der Funke-Gruppe zu erkennen. Es sieht so aus, als ließe man sich dort von den Entwicklungen treiben und ins Bockshorn jagen, anstatt sie mitzugestalten. Eine treibende Kraft scheint diesmal der Discounter Aldi zu sein, der künftig offenbar auf Werbung in Tageszeitungen weitgehend verzichten will.

Auch ist von stetig sinkenden Abonnentenzahlen die Rede. Die Kündigungswelle bei der Westfälischen Rundschau, die seit 1. Februar ohne eigene Redaktion erscheint, dürfte daran derzeit einen nicht unwesentlichen Anteil haben. Zahlen hierzu gibt die Funke-Gruppe wohlweislich nicht heraus. Man wird also die objektiv ermittelten IVW-Zahlen abwarten müssen, die im nächsten Quartal genauere Auskunft geben werden.

Die Geschäftsführer der Funke-Mediengruppe (Christian Nienhaus, Manfred Braun, Thomas Ziegler) lassen unterdessen verlauten: „Wir müssen uns Freiraum für neue Produkte schaffen.“ Man darf gespannt sein, um welche Produkte es sich da handelt. Reichlich wolkig heißt es weiter, man werde „unsere starken regionalen Marken in die digitale Welt überführen“; ganz so, als sei letztere gerade erst erfunden worden. Dass man die Umbenennung in Funke-Mediengruppe als Rückgriff auf eine Familientradition verkauft, wirkt bestenfalls hilflos.

Derzeit vermag ich mir nicht recht vorzustellen, dass im Konzern genügend verlegerische Phantasie waltet, um solche Gegenwarts- und Zukunftsaufgaben zu meistern. Eher verfestigt sich der Eindruck, dass der einstige Koloss ins Wanken geraten ist.




Jähes Erwachen aus Kinderträumen: Zum Ende des Spielwarengeschäfts Lütgenau in Dortmund

Die Nachricht wird wohl keinen alteingesessenen Dortmunder kalt lassen: Das traditionsreiche Spielwaren-Fachgeschäft Lütgenau schließt nach 75 Jahren.

Kaum ein Kind in dieser Stadt und bis weit ins Umland hinaus, das nicht schon mit leuchtenden Augen vor den Schaufenstern am Ostenhellweg gestanden hätte – und das ging seit einigen Generationen so fort. Lütgenau war „immer schon da“ und würde gewiss ewig weiter bestehen. Einen Rest dieses Kinderglaubens hat man ja selbst noch gehegt.

Ob auch sie um den Spielzeugladen trauern? (Foto: Bernd Berke)

Ob auch sie um den Spielzeugladen trauern? (Foto: Bernd Berke)

Besonders in der Vorweihnachtszeit hat man sich Jahr für Jahr daran erinnert, wie das damals gewesen ist – die frühen Stofftiere, die erste Lok für die Modelleisenbahn… Hier hat man sie gesehen und sie sich sehnsüchtig gewünscht. Es waren jene Zeiten, als das Wünschen manchmal noch geholfen hat.

Auch in den letzten Jahren ist man wie selbstverständlich zuerst dorthin gegangen, wenn Kinder Geburtstag hatten oder wenn sonstwie Spielzeuggeschenke gebraucht wurden. Als unsere Tochter (dreieinhalb Jahre) heute hörte, dass es diesen verlockenden Laden (nicht zu vergessen das Nostalgie-Schaukelpferd vor dem Eingang!) bald nicht mehr geben wird, war sie spontan bereit, mit ihrem Sparschwein gleichsam zur Sanierung beizutragen. Ach, da wird einem doch weh ums Herz.

Auch mit kühlerem Kopf besehen, ist es betrüblich, wie die ortstypischen, inhabergeführten Geschäfte nach und nach aufgeben, wie sie den allüberall präsenten Ketten und Konzernen das Feld überlassen (müssen). Diese wiederum haben ebenfalls Mühe, sich gegen die immer härtere Konkurrenz der Internet-Versender zu behaupten. Wenn das alles weiter rasant in die falsche Richtung läuft, hat es sich bald mit der Urbanität des Dortmunder Stadtzentrums und ähnlicher Lagen ausgespielt. Oder kommt da etwas Besseres nach?

Den Ruhr-Nachrichten zufolge hat Lütgenau-Inhaber Andreas Mehls vergebens Nachfolger gesucht. Niemand habe sich an diesem Standort eine günstige Perspektive vorstellen können. Als Grund für das „Aus“ führt er neben dem spürbaren Kindermangel die landläufige Gewohnheit etlicher Leute an, sich im Fachhandel lang und breit beraten zu lassen und dann beim Internet-Anbieter zu ordern. Ich sag’s mal so gedämpft: Man möchte solche Schnäppchenjäger nicht unbedingt zu seinen besten Freunden zählen.

Lütgenau liegt übrigens schräg gegenüber der seit Anfang Februar redaktionslosen Phantom-Zeitung Westfälische Rundschau. Es bröckelt und bröckelt in dieser Lage, wenn auch aus verschiedenen Gründen. Der Ostenhellweg verliert, verglichen mit dem Westenhellweg (Thier-Galerie mit 160 Geschäften, Karstadt, Kaufhof, Saturn etc.), immer mehr an Boden. Zu fürchten ist, dass am Ausläufer des Ostenhellwegs eine teilweise schäbige Meile mit anhaltenden Leerständen und Billigst-Anbietern entsteht. Vorboten kann man jetzt schon besichtigen.




Die wunderbare Pressevielfalt nach Art des Christian Nienhaus

Hier kommt ein Beitrag aus Reihe „Was wir immer schon mal wissen wollten, aber bislang nie zu fragen wagten“: Was versteht Christian Nienhaus, Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, eigentlich unter Pressevielfalt?

Was bisher geschah: Die WAZ-Gruppe hat zum 1. Februar 2013 Redaktion und freie Mitarbeiter der Westfälischen Rundschau (WR) in die Wüste geschickt. Der Titel erscheint jedoch mit fremden Inhalten weiter (Mantelteil von der WAZ, einige Lokalteile von verschiedenen Konkurrenten wie den Ruhr-Nachrichten). Die ohne eigene Redaktion operierende WR gilt zahlreichen Kritikern seither als seelenlose Zombie-Zeitung.

Jetzt veranstaltete der Hörfunksender WDR 5 im Dortmunder Harenberg Center ein „Stadtgespräch“ zum leidigen Thema (Moderation auf dem Podium: Judith Schulte-Loh, Ausstrahlung am Donnerstag, 7. März, 20:05 Uhr). Zwei Bemerkungen zwecks erhöhter Transparenz: Aus Zeitmangel war ich nicht am Ort des Geschehens, habe mir aber den Live-Stream im Internet (dankenswerter WDR-Service, jetzt als Videoaufzeichnung greifbar) angesehen. Das Bild zu diesem Text habe ich dabei vom Computerbildschirm abfotografiert.

Christian Nienhaus, Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, beim WDR-Stadtgesprräch (Screenshot vom Livestream des WDR)

Christian Nienhaus, Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, beim WDR-Stadtgespräch (Screenshot vom Livestream des WDR)

Zur Sache!

Viele hatten sich vor allem gefragt, was wohl der Geschäftsführer der WAZ-Mediengruppe, Christian Nienhaus, zu Protokoll geben würde. Voilà:

Nienhaus befand, ihm gefalle die jetzige „Rundschau“ – so wörtlich – „auch ganz ordentlich“. Was findet er zum Beispiel gut? Launige Replik: „Mir gefällt ‚Günna’, den hatten wir vorher nich’…“ Das müssen wir kurz erläutern: Der Dortmunder Komiker Bruno Knust schreibt seit vielen Jahren als „Günna“ die lokale Samstags-Kolumne der Dortmunder Ruhr-Nachrichten (RN). Da die Rundschau in Dortmund jetzt von den RN lokal befüllt wird, steht eben auch der Scherzbold mit drin. Welch ein Zugewinn nach der Entlassung von 120 Redaktionsmitgliedern und über 150 freien Mitarbeitern!

27 Zeilen sollen den Unterschied machen

Allen Ernstes wollte Nienhaus es als Zeichen fortbestehender Vielfalt verstanden wissen, dass der verbliebene WR-Chefredakteur Malte Hinz von Fall zu Fall Kommentare (gestern und heute gerade mal je 27 Zeilen – Anm. des Autors) extra für die Rundschau verfasst.

Noch ein weiteres Signal für Vielfalt sieht Nienhaus: Es gebe doch im Internet ziemlich viele Blogs. Na, dann ist ja mit der Medienlanschaft alles in bester Ordnung, oder?

Nienhaus mokierte sich über die Zeiten des früheren „WAZ-Modells“ (WAZ, WR, WP und NRZ als unabhängige Zeitungen unter einem Dach). Da hätten vier Redakteure beim Fußballspiel gesessen – und jeder habe geschrieben „Flanke – Kopfball – Tor“. Außerdem habe jeweils noch einer die Hintergründe geschildert. Ach, so war das also. Demnach haben im Feuilleton wahrscheinlich auch vier Leute parallel geschrieben: „Dann sagte der Hamlet-Darsteller: ‚Sein oder Nichtsein…’“ Und ein Quartett von Politik-Kollegen hat gewiss die jüngste Merkel-Rede fast wortgleich gepriesen. Nun gut. Lassen wir die Polemik.

Wenn Tendenzschutz fragwürdig wird

Nienhaus machte ausschließlich wirtschaftliche Gründe für die Entscheidung geltend, die Rundschau-Redaktion zu entlassen. NRW-Arbeitsminister Guntram Schneider, der Medienwissenschaftler Prof. Ulrich Pätzold (über die neue WR: „Mogelpackung“, „Falschmünzerei“, „Das ist keine Zeitung mehr“) und die vormalige WR-Leserbeirätin Inés Maria Jiménez versuchten hingegen immer wieder, Nienhaus an seine publizistische Verantwortung zu erinnern.

Schneider betonte, Zeitungen seien keine eben beliebige Handelsware wie Zitronen. Man könne verlangen, dass ein Verlustbringer im ansonsten gesunden Konzern auch schon mal quersubventioniert werde. Pätzold fragte, warum eine leere Hülse wie die jetzige Rundschau überhaupt noch das Verlegerprivileg des „Tendenzschutzes“ genieße. Für welche schützenswerte Tendenz stehe dieses Produkt nun eigentlich noch?

Auch aus dem Saalpublikum kamen zwischendurch einige unbequeme Fragen von Lesern und (zum Teil betroffenen) Journalisten.

„Diskretion“ in eigener Sache

Das alles ließ Nienhaus an sich abperlen und ging hin und wieder zum Angriff auf anderen Feldern über. Vor allem haderte er mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Suchmaschinen wie Google, die die Geschäftskreise der Zeitungen empfindlich störten. Dass die Medien „seines“ Hauses weder auf das WDR-Stadtgespräch hingewiesen haben noch darüber berichten werden, findet er ganz normal, denn bei Berichten in eigener Sache erlege man sich aus guten Gründen seit jeher Zurückhaltung auf. Fragt sich in diesem Falle nur noch, aus welchen zusätzlichen guten Gründen.

Übrigens: An unscheinbarer Stelle gab Nienhaus auch eine Art Versprechen, zumindest für die nähere Zukunft. In einem Nebensatz sagte er, dass Westfalenpost (WP) und Neue Ruhr/Rhein Zeitung (NRZ) nunmehr ungefährdet seien. Sein Wort in wessen Ohr auch immer.




Das Revier und der Stahl – am Anfang stand die Industrie-Spionage

Der Weltkonzern Thyssen-Krupp will sich in Europa von seinem Stahlgeschäft trennen – diese Nachricht erschreckte in den letzten Tagen nicht nur die übel betroffenen Arbeiter und Angestellten des Konzerns. Dabei gehört das Stahlkochen doch zur Kernkompetenz der Ruhrgebiets-Industrie. Oder etwa doch nicht?

Der Behlinger Hammer im Tal der Ennepe gehörte den Harkorts.

Der Behlinger Hammer im Tal der Ennepe gehörte den Harkorts.

Ein unvollständiger historischer Rückblick auf die Reviergeschichte zeigt Überraschungen: Die Familie Harkort betrieb im 18. Jahrhundert neben ihrem Werk in Haspe bereits im oberen Tal der Ennepe ein Erzbergwerk und dazu in der Nähe ein Wasser betriebenes Hammerwerk, auf dem Gebiet der heutigen Stadt Ennepetal gelegen. In dem Hammerwerk wurde verhüttetes Eisen aus der Region und aus dem Siegerland geschmiedet, denn die Stahlherstellung beherrschte man noch nicht. Erste Versuche in einer Wittener Fabrik und an anderen Orten an der Ruhr scheiterten, weil man mit Holzkohlefeuerung die für den Stahlguss erforderlichen Temperaturen nicht erreichen konnte.

Erst Friedrich Harkort, der heute als Pionier anerkannt ist, lernte durch Industriespionage in England das Puddelstahlverfahren kennen. Er brachte, gegen den Widerstand der anderen Fabrikanten, nicht nur das Verfahren mit nach Deutschland, sondern auch die passenden Fachleute. In Wetter an der Ruhr baute er seine „Mechanischen Werkstätten“, die Keimzelle des späteren Mannesmann-Demag-Konzerns. Hier arbeitete er mit dem englischen Meister Thomas und zahlreichen in England abgeworbenen Arbeitern zusammen, die zwar schon morgens kräftig Schnaps und Bier tranken, aber in ihrem fachlichen Können unschlagbar waren.

1811 gründete Friedrich Krupp das erst Gussstahlwerk in Deutschland, doch das Stahlkochen in großem Stil gelang aber erst später, als man aus der Steinkohle industriell den Koks herstellen und damit den Brennstoff für deutlich höhere Temperaturen bereitstellen konnte.

Am Anfang der Industrieentwicklung im Ruhrgebiet aber stand, wie heute ähnlich in China, die Industriespionage.




Opel Bochum mal aus einer anderen Sicht

Hier und heute mal etwas Anderes zum Thema Opel: Als kleiner Junge war ich oft bei meinen Großeltern in Bochum-Weitmar zu Besuch. Für ein Kind aus dem dörflichen Münsterland war das Ruhrgebiet eine aufregende Sache. Als dann die ersten Berichte über den geplanten Opel-Bau beim Opa bekakelt wurden, war ich überrascht. Konnte man eine große Autofabrik einfach so bauen? Auf eine Wiese?

Schauseite des Bochumer Opel-Werks (Foto: Bernd Berke)

Schauseite des Bochumer Opel-Werks (Foto: Bernd Berke)

Eine Fabrik, das war in meiner Vorstellung ein Sammelsurium unterschiedlicher Bauteile, die nach und nach aus einer Werkstatt entstanden waren, die mit der Firma wuchsen und dann eben eine Fabrik geworden waren.

Tatsächlich wurde Opel Bochum gebaut. Das war für uns eine Attraktion, die man von außen staunend besichtigte. Später war ich dann mit einem Freund in Eisenach, kurz nach der Maueröffnung und noch vor dem Ende der DDR. Damals im Februar 1990 lag ein stinkender Braunkohlerauch über der Stadt. Sie wirkte wie gelähmt, die Menschen gingen wortlos durch die Straßen, kein Lachen und Plaudern wie in westlichen Fußgängerzonen – von Aufbruch keine Spur. Wir tranken einen Kaffee in einer HO-Gaststätte. An einer langen Theke saßen morgens um 10 mindestens zwei Dutzend schweigende Männer und tranken Bier aus Flaschen.

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In diesem Eisenach entstand dann auch eine Opel-Fabrik, noch moderner als die in Bochum und heute ebenfalls in Teilen schon wieder veraltet. Wann wird sie geschlossen? Der Braunkohlengestank in Eisenach ist weg, erzählen mir Bekannte. Die Stimmung näherte sich dem Westen an, vor allem Volksmusik sei dort beliebt. Die Menschen lachen und plaudern auch auf der Straße miteinander. Das bleibt so, bis Opel dicht macht. Vielleicht sollte ich mir ein neues Auto kaufen.




Warum die Lage bei Opel fast überhaupt nichts mit der WAZ-Gruppe zu tun hat

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Es könnte sein, dass manche WAZ-Entscheidungsträger in Essen diese Nachrichtenlage insgeheim sogar begrüßt haben – im wohlverstandenen Eigeninteresse: „Opel Bochum schließt bereits 2014“, so lautet heute (23. Januar) die Titelschlagzeile der „Westfälischen Rundschau“ (WR), die nur noch rund eine Woche lang eine eigene Redaktion hat.

Auf diese Weise, so scheint es, kann die WAZ-Gruppe endlich mal wieder von der Misere im eigenen Hause ablenken. Oder liegt hier ein Missverständnis vor?

Tatsächlich darf und muss man sich über die abermals verschärfte Situation bei Opel empören. Niemand, auch der Betriebsrat nicht, hatte mit einer solchen Entwicklung gerechnet: Nicht erst 2016 soll die Autoproduktion in Bochum eingestellt werden, sondern bereits 2014 – es sei denn, die Beschäftigten verzichten in den nächsten Jahren auf alle Tariferhöhungen. Da kann man von erheblichem Druck sprechen, es ließen sich auch noch andere Worte dafür finden.

Die Berichterstattung kommt vom zentralen Essener Newsdesk der WAZ, sie wird – mitsamt Gerd Heideckes Kommentar – für die WR in Dortmund übernommen. Von „Wildwest-Methoden“ bei General Motors/Opel ist da die Rede, der Colt sei offenbar entsichert. Das Unternehmen werde nun „die Folgen eines weiteren immensen Image-Schadens verkraften“ müssen. Der Opel-Werbepartner Borussia Dortmund und Trainer Jürgen Klopp stünden für „ehrliche Arbeit, authentisches Verhalten und Volksnähe – nicht gerade das, was die Opel-Manager an den Tag legen.“

Kurze Denkpause.

Wer wird aber so kühn sein, solche Zuschreibungen postwendend auf die WAZ-Gruppe anzuwenden? Wer wollte denn eine Schlagzeile wie „Rundschau-Redaktion schließt bereits im Februar“ drucken? Sollte da etwa auch im Ruhrgebiet, also im tiefen, wilden Westen ein Colt entsichert worden sein? Und sollte es etwa auch hier einen Image-Schaden geben? Das wäre ja nicht auszudenken!

Nein, nein, bei Opel geht es doch um ganz andere Größenordnungen. Und überhaupt sind das völlig verschiedene Branchen, nicht wahr? Also Schluss jetzt!