200 Meter Bauzaun als Kunstwerk – und Joern Schlund träumt schon von einem Liebesbrief an der Spitze des Florianturms

Von Bernd Berke

Kassel/Dortmund. Joern Schlund (47) will dem großen Kasseler Kunstspektakel documenta die Schau stehlen. Er wird – mit finanzieller Unterstützung einer Dortmunder Firma – knapp 200 Meter Bauzaun zum gigantischen Kunstwerk umgestalten. Schlunds Aktion soll genau zehn Tage vor Eröffnung der documenta, die am 19. Juni ihre Pforten öffnet, gestartet werden und 20 Tage lang dauern. Die WR stellt das Projekt als erste Zeitung vor.

Das „Objekt“ befindet sich direkt gegenüber dem Kasseler Hauptbahnhof. Der agile Künstler und Pädagoge aus Geseke bei Paderborn wird den langen Bauzaun, hinter dem zur Zeit ein Großkaufhaus hochgezogen wird und der ansonsten als Werbefläche dient, in mühsamer Einmannarbeit bemalen. Daß er dabei mitten im Großstadtrummel agieren muß, stört den Aktionskünstler nicht. Im Gegenteil: Er ist schon gespannt auf Reaktionen aus der Bevölkerung, die er vor Ort mit einer Videokamera aufzeichnen will. Gefaßt erwartet er auch aggressive Äußerungen der Passanten. Schlund hat bereits unschöne Erfahrungen hinter sich. Bei früheren Aktionen gingen seine Produkte auch schon mal in Flammen auf.

Was wird auf den Bretterwänden zu sehen sein? Schlund hat vor, sie weiß zu bekleben und auf die so entstandene Fläche zarte Pastellfarben aufzutragen. Neben die sparsam verwendeten Farbelemente setzt er dann jeweils Worte, zu denen er durch den Philosophen Martin Heidegger inspiriert wurde. So werden den Passanten in Rie-senlettern Worte wie „Sein“ oder „Einsicht“ entgegenleuchten.

Was bezweckt Joern Schlund damit? „Die von mir gestalteten Wände dienen – im wahrsten Wortsinn – als ,Vor-Wand‘ zum Gespräch“, erläutert Schlund, der kürzlich einen Lehrauftrag der Siegener Universität, Fachbereich „Kunst und Kommunikation“, erhielt. Was er sichtbar herstelle, sei weniger wichtig als das, was sich daraus an Gesprächsmöglichkeiten ergebe. Außerdem gehe es ihm um Verunsicherung, er wolle altgewohnte Sehweisen in Frage stellen.

Traum des Künstlers: „Ich würde sehr gern an der Spitze des Dortmunder Fernsehturms ein großes Tuch befestigen, auf dem steht: ,Ich liebe dich!‘ Das wäre mit Sicherheit Stadtgespräch.“ Auf jeden Fall wolle er heraus aus der Isolation und Sicherheit des Museums“. Immerhin: Eine Aktionsidee, die sich im Musentempel verwirklichen ließe, hat Schlund auch schon parat. Er könnte sich vorstellen, mit seiner gesamten Wohnungseinrichtung in einem Museum Quartier zu nehmen, sozusagen als lebendes Ausstellungsstück. Schlund: „Ich würde da ganz normal leben, würde mir auch meine Butterbrote im Museum schmieren und nachts dort schlafen.“

Direkte Aussagen zum politischen Tagesgeschehen liegen Joern Schlund fern. Dennoch begab sich der Geseker schon des öfteren in die Konfrontation. So schrieb er zum Jahr des Kindes auf eine Plakatwand:. „Kinder sind lieb“ und auf die Rückseite „Verhaut die Kinder!“ Auf das Pflaster einer vielbefahrenen Straße pinselte er: „In hundert | Jahren gibt es keine Autos mehr.“ In beiden Fällen erntete er nicht nur Verständnis…

Schlund legt Wert darauf, daß er keinem Vorbild nacheifert: „Ich bin kein Imitator. Weder Leonardo da Vinci noch Joseph Beuys sind für mich Maßstab. Wenn Beuys sich zum Beispiel l mit Bienen befaßt, kann ich nur sagen, daß er diese Insekten nicht gepachtet hat. Ich könnte morgen eine Aktion mit Bienen machen, und es wäre doch etwas ganz anderes als bei ihm“, sagt Joern Schlund selbstbewußt. Auch wolle er nicht, wie es das Gesetz des Kunstmarkts fordert, seinen Werken und Aktionen ein ganz bestimmtes Markenzeichen aufdrücken, so daß jeder gleich erkennt: „Sieh da, ein Spätwerk von Schlund“.

Der Dortmunder Günter Stecker, dessen Firma bundesweit etwa 1500 Werbetafeln vermietet, unterstützt als Mäzen Schlunds riesige „Tafelmalerei“ in Kassel – Kostenpunkt: etwa 8000 DM). Stecker gewinnt dem Happening noch einen anderen Reiz ab: „Für mich ist das, als bekäme die Werbung einen Kuß von der Muse“.




Harlequin-Theater mit viel Spielfreude und aktuellen Ideen

Von Bernd Berke

Auf spontane Einfälle darf man schon gefaßt sein beim Dortmunder „Hand- und Fußtheater“, das jetzt im Café des Fritz-Henßler-Hauses zwei kurze Stücke unter dem Obertitel „Harlequin auf dem Pulverfaß“ zeigte. Eine hautnahe Kostprobe überbordender Spielfreude bekam einer der etwa 100 jungen Zuschauer zu spüren, als Mitspielerin Elke Drews unvermittelt durch die Reihen wuselte, sich auf seinen Rücken schwang und ihm gleichsam im Nacken saß.

Solche Lust an Bewegung war durchaus im doppelten Wortsinn zu verstehen, ging es doch in den selbstverfaßten Spielvorlagen um Probleme zweier „Bewegungen“, nämlich der für den Frieden und der für menschliches Wohnen. Dabei wurde kein auswendig gelernter Text vorgetragen, sondern im Rahmen eines lockeren Handlungsgerüsts nach Laune improvisiert. Traditionelles Element: Die Figuren (Pantalone, Brighella und Harlequin) waren dem alten italienischen Volkstheater, der Comedia dell’arte nachempfunden, hatten sich aber nunmehr mit Hochrüstung und Hausbesetzungen zu plagen.

Es machte einfach Spaß, zu sehen, wie etwa die Rüstungspolitik karikiert wurde, wie sich die eine Macht mit einem Küchenquirl bewaffnet und die andere in ihrer Angst droht, die „Wunderbombe“ einzusetzen – einen alten, übelriechenden Turnschuh. Daß in solchen, scheinbar mit Leichtigkeit vorgetragenen Szenen eine Menge Arbeit steckt, kann man als Zuschauer nur vermuten. Besonders in den pantomimischen Szenen wurde deutlich, daß hier kein lupenreines Amateur-Theater agierte. Immerhin haben Elke Drews und Bernd Witte das Hand- und Fußwerk der wortlosen Darstellung in Paris von Grund auf erlernt, während Ellen van Royen am Bochumer Puppenspielinstitut und beim Amsterdamer Narrenfestival der „Fools“ mitwirkte.

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(WR-Lokalteil Dortmund)