Der Staub der vielen Jahre – John Osbornes „Blick zurück im Zorn“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wie auf einer verlassenen Baustelle erhebt sich das ärmliche Zimmer der Porters. Bescheiden möbliert, leben die Anti-Helden von John Osbornes „Blick zurück im Zorn“ auf unsicherem Grund: Bühnenbildner Raimond Schoop hat die realistisch ausstaffierte Ein-Zimmer-Hölle auf eine zerfetzte Beton-Armierung gesetzt.

Dort läßt Jimmy Porter (Peter Hommen) seine mittlerweile etwas angestaubten Haßtiraden auf Gott und die Welt der 50er Jahre vom Stapel, ein „abgebrochener Student“, der seinen Unterhalt als Bonbonverkäufer bestreitet. Die aus Verbitterung und Resten von Sehnsucht nach wilder Lebendigkeit gespeisten Zorn-Monologe verschonen niemanden. Jimmys phlegmatische Frau Alison (Claudia Gehre), sein hilflos um Frieden bemühter Freund Cliff (Alexander Pelz) und Helena (Claudia Amm) werden zu Zielscheiben verbitterter Rede.

In Wuppertal geht das auf biedere Weise seinen theatralischen Gang. Es scheint, als habe die Regie (Karl-Heinz Kubik) den 27 Jahre alten Text nur noch einmal illustrieren wollen, ohne jeglichen Verweis auf Weiteres. Als sei seit 1956 nichts Nennenswertes geschehen, wird auf viele Möglichkeiten verzichtet: Beispielsweise darauf, die verschiedenen 50er-Jahre-Modewellen, die seitherüber uns hereingebrandet sind, mitzureflektieren oder auch darauf, dem Stück neue Dimensionen über das Verhältnis zwischen den beidenFrauen abzugewinnen, deren verzichtreicher Edelmut in dieser wenig ambitionierten Inszenierung ein Rätsel bleiben muß.

Offenbar aus Angst, Osbornes Text zu denunzieren, hat man ihn wie etwas Unantastbares, Abgestorbenes behandelt. Tot bleiben auch Teile des Inventars: Funktionslos steht ein Flipperautomat herum. Man weiß nicht: was soll er bedeuten? Amerikanisierung oder „Das Leben ein Spiel?“ Oder kam es auf die Lichteffekte des Geräts an?

Den Schauspielern fiel es sichtlich schwer, sich im Nicht-Konzept der Inszenierung zu bewegen, am besten gelang dies noch Alexander Pelz als Cliff. Peter Hommen gab angestrengt vor, zornig zu sein, Claudia Gehre blieb auch am Schluß blaß, als sie gereift hätte wirken müssen, Claudia Amm konnte Möglichkeiten nicht ausschöpfen.

Der Beifall war herzlich: man hat hier ein dankbares, unverwöhntes Publikum.




Geschichte der türkisch-westfälischen Beziehungen – Ausstellung in Münster

Von Bernd Berke

Münster. Westfalen und Türken haben es nicht erst miteinander zu tun, seitdem die „Gastarbeiter“ gerufen wurden. Daß es vielmehr eine lange (und schlachtenreiche) Tradition solcher Wechselbeziehungen gibt, belegt die gestern eröffnete Ausstellung „Münster, Wien und die Türken“.

Vor 300 Jahren standen Heerscharen des „Osmanischen Reichs“ (heutige Türkei) als „Bedrohung der Christenheit“ vor den Toren Wiens. So sahen es wenigstens die mitteleuropäischen Herrscher, die im Geist der Kreuzzüge zur Verteidigungsschlacht und dann zum Eroberungskrieg bliesen. Die Ausstellung in Münster erinnert – als einzige in Deutschland – an das Jahr 1683, in dem auch münstersche Bäckerjungen an der Verteidigung Wiens mitgewirkt haben sollen.

In späteren Kriegen fochten Münstersche Söldner fürs „Abendland“. Das Jahr 1916 markiert einen weiteren Einschnitt: Damals wurde in Münster eine deutsch-türkische Gesellschaft ins Leben gerufen, zur Zeit der „Waffenbruderschaft“ im 1. Weltkrieg.

Die etwa 200 Exponate stammen nur aus deutschen Privatsammlungen. Türkischen Museen ist es verboten, Leihstücke außer Landes zu geben. Doch auch so hatte Hans Galen, Leiter des Stadtmuseums, die Qual der Wahl: „Wir können nur einen Bruchteil zeigen“.

Eins der wertvollsten Stücke ist das „Große Heeresbanner“ von 1810, aus einer sogenannten „Türkenbeute“. Ein Raum ist der streng hierarchisch bestimmten osmanischen Trachtenordnung gewidmet, im Münzkabinett kann man die Historie im Spiegel der Prägekunst Revue passieren lassen. Beutestücke, Original-Porträts der handelnden Personen sowie Schrift-Dokumente runden die Schau ab.

Zu kurz kommt der Ausblick auf das heutige Verhältnis von Türken und Deutschen. Lediglich ein paar Fotos zeigen Arbeits- und Wohnsituationen. Schier unmöglich ist es daher, die Verbindungslinie zu den anderen Exponaten zu ziehen, die übrigens ohne den (sehr preiswerten) Katalog auch nicht immer „für sich sprechen“. Im Katalog finden sich übrigens keine türkischsprachigen Erläuterungen…

Stadtmuseum Münster: „Münster, Wien und die Türken 1683-1983″, bis 21. August, täglich 10 bis 13 und 15 bis 18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr, montags geschlossen; Katalog 14DM.




„Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ – weit mehr als eine Besessenheit

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Ein ehrgeiziges Projekt macht Station in der Landeshauptstadt: „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“, bisher lediglich in Zürich und dann nur noch in Wien zu sehen, dokumentiert ab heute in der Düsseldorfer Kunsthalle eine „Besessenheit“ europäischer Künstler in den letzten 150 Jahren: „Aufs Ganze“ zu gehen, alles zugleich ausdrücken zu wollen, universelle Utopien zu entwerfen, sämtliche Kunstformen (Dichtung, Musik, Malerei, Theater, Film, Architektur usw.) zu verschmelzen und damit in alle Bereiche des Gemeinwesens hineinzuwirken.

Der Ausstellungsmacher Harald Szeemann faßt den ohnehin kaum definierbaren Begriff des Gesamtkunstwerks (Urheber: Richard Wagner) weit: Goethes humanistisches Bildungsideal zeugt danach ebenso vom Hang zur Totale wie etwa die Anfänge des „Bauhauses“ (bevor es zur Stil-„Schule“ wurde), JosephBeuys‘ Arbeiten ebenso wie die eines Philipp Otto Runge, der das Einssein des Künstlers mit dem Universum ersehnte (Außerdem u.a.: Duchamp, d’Annunzio, C.D. Friedrich, Lissitzky, Schlemmer).

Merkwürdig genug: Der unübersehbare „Hang“ entstand, als die Künstler aus dem Mäzenatentum der Kirchen und des Hochadels „entlassen“ und ihrer Individualität überantwortet wurden. Seit dem Verlust eines einheitlichen Weltbilds also ist die Vorstellung von Gesamtkunst lebendig, sie wird somit zu einem Rettungsversuch.

„Einladung zur Meditation über die totale Freiheit“

Harry Szeemann, der dem Besucher „eine Einladung zur Meditation über die totale Freiheit“ anbieten möchte, trug eine Fülle von Beispielen für Kunst mit Totalanspruch zusammen: Zu Richard Wagner (der der Verwirklichung eines Gesamtkunstwerks immerhin nahekam), finden sich monumentale Entwürfe für Bühnenbilder und für das Bayreuther Festspielhaus. Wahlverwandt: Filmregisseur Syberberg, z. B. mit Modellen zu seinem „Hitler“-Film.

Von Robert Wilson, Großmeister des sprachlosen Theaters, sieht man Skizzen für eine Multimedia-Oper, die er in Los Angeles (Olympia ’84) ins Werk setzen will. Der Anthroposoph Rudolf Steiner ist u. a. mit Architektur-Entwürfen vertreten, Joseph Beuys mit 21 angebohrten Basaltblöcken (Titel: „Das Ende des 20. Jahrhunderts“). Walter Gropius entwarf für Erwin Piscator ein „Total-Theater“, Wladimir Tatlin für die junge Sowjetmacht einen schneckenförmig gedrehten Turm als „Monument für die III. Internationale“. Beide Projekte verblieben im Stadium der „Kopfgeburt“, wie vieles in dieser Ausstellung. Um die Entwürfe dennoch dreidimensional vor Augen zu führen, hat man eigens Modelle nach den Vorlagen gefertigt. Manches ist bereits in der Verkleinerung so monströs, erhebt einen so gebieterisch-totalitären Anspruch, daß man für die Nicht-Verwirklichung dankbar sein muß.

Anderes, so der rekonstruierte „Merzbau mit der Kathedrale erotischen Elends“ (das Original wurde 1943 im Bombenhagel zerstört), wirkt eher andächtig als aggressiv. Die Ausstellung verlangt Vorkenntnisse und ist ohne Zusatzinformationen kaum sinnvoll zu bewältigen. Da sie einen wesentlichen Aspekt der europäischen Moderne vergegenwätigt, lohnt sich der Weg an den Rhein aber unbedingt.

„Der Hang zum Gesamtkunstwerk“. Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz: bis 10. Jli, di-so 10-18 Uhr, Katalog 45 DM




Mülheimer Dramatikerpreis an George Tabori für „Jubiläum“ – Jury und Publikum einmütig

Von Bernd Berke

Mülheim. Der Gewinner des Mülheimer Dramatikerpreises 1983 heißt George Tabori. Sein Wettbewerbsbeitrag „Jubiläum“ wurde bei „stücke 83″ sowohl von der achtköpfigen Jury als auch vom Publikum als bestes der vier gezeigten Stücke bewertet.

Daß Experten und „Normalverbraucher“ diesmal übereinstimmten, darf als kleine Sensation gelten. Die Entscheidung für das Stück des 69-jährigen Tabori kann kaum überraschen: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus endlich einmal nicht mit rational vorgefertigten Rechthabe-Schablonen, sondern vor allem emotional zu führen – das fehlte bisher. „Jubiläum“ stellt eine wichtige, ja unverzichtbare Ergänzung zu Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ oder zu faktenverarbeitendem Theater wie Peter Weiss‘ Auschwitz-Stück „Die Ermittlung“ dar.

Tabori, dessen Familie in den Gaskammern von Auschwitz umkam, verfaßte eine „schwarze Totenmesse“: Auf einem Friedhof durchleben Opfer des Naziterrors das ihnen zugefügte tödliche „Schicksal“ als wiederkehrenden Alptraum. Ein Neonazi, eher von Disney, Donald Duck und Zack-Wumm-Motorik denn von Nietzsche angetrieben, erstürmt die traumatischen Szenen und verwirrt die Begriffe: Was ist heutig, was ist gestrig am Nazi-Unwesen – und hat nicht jeder einen „kleinen Hitler“ in sich? Das beklemmende Stück (Bochumer Version, Regie: Tabori), verlor durch die mißlichen Aufführungs-Verhältnisse in Mülheim nichts von seiner Kraft.

Vom erst 22jährigen Kunststudenten Thomas Strittmatter war ein erstaunliches Debüt-Stück zu sehen: „Viehjud Levi“ schildert, wie die Bewohner eines Schwarzwalddorfs unter dem Anpassungsdruck der Nazi-Ara immer distanzierter mit einem jüdischen Viehhändler umgehen, umspringen. Schwäche des von Jury und Publikum auf den „zweiten Platz“ gesetzten Kurzdramas: Das Dorf erscheint als ideologieanfälliger Nährboden, zuweilen aber auch als dialektsprechendes Idyll, das von hochdeutsch-tümelnden Zentralgewalten nur „vergiftet“ wird.

Daß Peter Handke mit „Über die Dörfer“ nicht in die engere Wahl kam, verwundert kaum. Gar zu abgehoben ist der Text seines vor/nach aller Geschichtlichkeit angesiedelten Mysterienspiels.

Volker Brauns Schiller-Aktualisierung „Dmitri“ fiel glatt durch. Das Stück bezieht seine Problematik hauptsächlich aus Vorgängen im „realen Sozialismus“, so daß es hier nur zum Teil verstanden wird. Braun verzettelt sich in einem quasi-wissenschaftlich angelegten Experiment zum Thema „Rechtfertigung und Entstehung von Macht“. Ein „Kopf-Stück“, fernab der neueren Stimmungen im Westen.




Bilderreise durch die Sowjetunion

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Auslandskulturtage der Stadt Dortmund mit der Sowjetunion sind ab heute auch im Ostwall-Museum präsent, und zwar gleich mit einer Doppelausstellung über sowjetische Landschaftsmalerei der letzten Jahre sowie mit sowjetischen Plakaten aus der Zeit zwischen 1918 und 1982.

103 Landschaftsbilder von 78 Künstlern sind in der ersten Abteilung zu sehen. Schnell wird dem Betrachter deutlich, daß es hier weniger um künstlerische Genietaten oder zukunftsweisende Gestaltungen geht. Man kann aber anhand der Bilder in der Phantasie eine „Reise durch die Sowjetunion“ nachvollziehen.

Ganz bewußt wurden Werke aus allen 15 Sowjetrepubliken zusammengestellt, die lediglich gemeinsam haben, daß sie Landschaften zeigen. Fast sämtliche Stilrichtungen der Malerei sind vertreten: Impressionistische Bilder hängen neben expressionistisehen, eher kunstgewerblich anmutende Idyllen neben Beispielen abstrakter Formgebung oder solchen, die an westlichen Foto-Realismus erinnern.

Die Unterschiedlichkeit der Landschaften prägt sich auch den Bildern ein: Während Werke aus Georgien farben- und lebensfroh wirken, stellen Künstler aus Estland oder Moskau zuweilen auch schon mal Überdruß an der modernen Zivilisation und zerstörter Landschaft dar. Die meisten Werke haben eher trocken-akademischen oder Plagiatcharakter, vermitteln jedoch indirekt einiges über den Sowjet-Alltag.

Im oberen Stockwerk hängen 151 sowjetische Plakate, hauptsächlich Ankündigungen für Kino- und Theaterveranstaltungen. Während die Plakatkunst aus der Zeit kurz nach 1918 noch revolutionären Optimismus und Bewegung ausdrückt, erstarren auch hier die Formen mit der Zeit zu einem eher langweilig-einheitlichen Schulstil. Dennoch gibt es interessante Entdeckungen zu machen, so etwa das Originalplakat zum berühmten Eisenstein-Film „Panzerkreuzer Potemkin“ oder sowjetische Darstellungen zu westlichen Filmen (z.B. „Wir Wunderkinder“). Beide Ausstellungen sind bis zum 3. Juli geöffnet.




Sinkt das Interesse an großen Museen?

Von Bernd Berke

Münster. Die großen Museen, etwa in Köln, München und Berlin, verzeichnen sinkende Besucherzahlen, die kleinen und mittelgroßen Institute holen auf. Das sind die Trends, die sich in der (noch nicht abgeschlossenen) Statistik für 1982 deutlich abzeichnen.

Vertreter des Deutschen Museumbundes (DMB), dessen Jahrestagung gestern in Münster zu Ende ging, sprachen in diesem Zusammenhang von einem „Rückgang aufs normale Maß“ und nannten als mögliche Gründe für die Einbußen das Fehlen besonders spektakulärer Ausstellungen sowie die in der Rezession immer öfter geübte Praxis, dort Eintrittsgelder zu erheben, wo es bislang Museumskultur „zum Nulltarif“ gab. Auch sonst stand die Tagung zum großen Teil im unheilschwangeren Zeichen der Finanzmisere.

Dr. Christoph B. Rüger (46), Direktor des Rheinischen Landesmuseums Bonn und frischgebackener Vorsitzender des Deutschen Museumsbundes (der 636 „Vollmitglieder“ vertritt), beklagte vor allem die Auswirkungen des neuen Künstler-Sozialversicherungsgesetzes. Die Paragraphen schreiben vor, daß fünf Prozent der Ankaufsummen für Objekte lebender Deutscher Künstler an deren Sozialfonds abzuführen sind. Rüger: „Damit werden die ohnehin schon knappen Mittel für den Kunstankauf nochmals verkürzt“. Zwar sei eine solide Absicherung der Künstler wichtig, doch dürfe sie nicht auf Kosten der Ankaufsetats gehen. „Die öffentlichen Haushalte müssen unsere Etats entsprechend aufstocken“, forderte Rüger.

Fast schon selbstverständlich: Auch das Thema „Veräußerung von Magazinbeständen“ spielte bei der Tagung wieder eine überragende Rolle. Während Galeristenverbände auf eine „Belebung des Marktes“ hoffen, wenn Angestaubtes aus den Kellern der Musentempel geholt und feilgeboten wird, wehren sich die Museumsleiter beharrlich gegen diese Art der Etataufbesserung. Hauptargument: In den Tiefen der Magazine schlummere vieles, was dereinst wiederentdeckt und für kommende Generationen wichtig werden könne. Zum Teil würden die Magazine auch jetzt schon „aktiviert“, indem große Museen Leihgaben an kleinere aus diesem Fundus bestritten. Schließlich koste auch die marktgerechte Erfassung und Aufbereitung der „Keller-Kultur“ horrende Summen, so daß gar nicht viel Profit für die Museen abfallen würde. Christoph Rüger an die Adresse der privaten Galeristen: „Außerdem sind wir nicht dazu da, einen Berufsstand zu versorgen.“

Eine in Münster diskutierte Initiative des Museumsbundes kündigte dessen neuer stellvertretender Vorsitzender, Prof. Siegfried Rietschel (Karlsruhe), an: Man wolle verstärkt die Leiter der räumlich beengten Universitäts-Sammlungen beraten. Leider „vergammelten“ viele der dort aufbewahrten Schätze. Auf diesem Gebiet verschenke manche Hochschule eine Chance, sich der Öffentlichkeit freundlicher zu präsentieren.




Makulatur für die Nazi-Flammen – In Dortmund verlief die Bücherverbrennung 1933 nicht reibungslos

Von Bernd Berke

Dortmund. In den Universitätsstädten hatte man die Sache am 10. Mai 1933 „erledigt“. Pg. (Parteigenosse) Woelbing sollte die Dinge in Dortmund vorantreiben. Seit März war Woelbing Leiter der örtlichen „Bibliotheks-Prüfungskommission“.

Mit Briefkopf der NSDAP-Gauleitung Bochum lud der Studienrat den Dortmunder Magistrat zu einem besonderen Schauspiel ein. Das Spektakel, so versicherte der Schreiber am 29. Mai 1933 ordnungshalber, werde „pünktlich um 21 Uhr“ beginnen. Am gleichen Tag erging in der Dortmunder „Tremonia“ eine an Lehrer und Erzieher gerichtete „dringende Aufforderung, dieser symbolischen Handlung beizuwohnen“.

Am Abend des 30. Mai war es soweit: Über 5000 Bücher, die überwiegend aus dem sozialdemokratischen Volkshaus in der Kampstraße stammten, wurden auf dem Dortmunder Hansaplatz verbrannt. Beteiligt: SA, SS, Hitlerjugend, BDM und NS-Lehrerbund sowie angeblich Tausende von Zuschauern. Die „Westfälische Landeszeitung/Rote Erde“ (Titel des gleichgeschalteten Ex-„Generalanzeigers“) jubelte am 31. Mai weisungsgemäß: „Undeutscher Geist ging in Flammen auf“, zitierte aus den Festreden und druckte einen von den Schülern des Bismarck-Realgymnasiums im Flammenschein vorgetragenen Sprechchor aus der Feder des Studienreferendars Kaiser ab, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ: „Wir aber wollen sie töten“, raimte Kaiser auf „falsche Propheten“.

„Undeutscher Geist“, „falsche Propheten“ – das waren für die Nazis u.a. Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Sigmund Freud, Erich Kästner, Heinrich Mann, Kurt Tucholsky und zahllose weitere Autoren. Sämtliche Namen, die in der Literatur Rang hatten, tauchten auf den „Säuberungslisten“ auf.

Obgleich sie so genau zu wissen glaubten, was „undeutsche“, „marxistische“, „zersetzende“oder „Asphaltliteratur“ sei, verfingen sich die Faschisten anfangs in heillosem Chaos: Nicht weniger als 40 Staats- und Parteistellen sprachen bis 1934 über 4100 Buchverbote aus. Was die eine Stelle noch durchgehen ließ, setzte die andere schon auf den Index.

Dennoch waren die als „Bücherverbrennung“ bekanntgewordenen Barbareien straff organisiert. Nichts blieb hier dem Zufall überlassen. Der Zeitplan der deutschen Studentenschaften, die nach Winken aus dem Berliner Propaganda-Ministerium in allen Universitätsstädten für die „Durchfiihrung“ sorgten, war penibel: am 12. April hatte die Veröffentlichungskampagne zu beginnen, ab 26. April waren die für das Feuer bestimmten Bücher „einzusammeln“ (was unter Mithilfe oder Duldung der Polizeikräfte geschah), am 10. Mai sollte das Feuer lodern, und zwar nach reichseinheitlich vorgeschriebenem Ritual – mit Hetzreden, Absingen des Horst Wessel-Liedes und dem pathetisch formelhaften Spruch: „Ich übergebe der Flamme die Schriften von … “

In Dortmund hatten es die braunen Machthaber nicht ganz so einfach. Neben einer starken sozialdemokratischen Tradition gab es einen weiteren hemmenden Faktor: Dortmund hatte keine Hochschule mit rechtsgewirktem Studentenbund, sondern lediglich die Pädagogische Akademie – und die galt als links.

Auch die „Säuberung“ der Dortmunder Stadt- und Landesbibliothek erfolgte nicht reibungslos im Sinne der Nazis. Heinrich Schulz, damals Leiter der Volksbüchereien, legte zwar am 19. Mai 1933 „ergebenst in neun Durchschlägen“ eine schwarze Liste vor und bat um parteiamtliche Bestätigung, holte dann aber hauptsächlich Makulatur aus den Regalen, die ohnehin ausgelagert werden sollte. Die Brandstifter vom 30. Mai merkten nichts.

Die NS-Bücherverbrennung war kein isoliertes Ereignis. Sie reiht sich – als besonders inhumane Tat – in die lange Geschichte der Zensurakte ein. Heinrich Heine (auch seine Bücher wurden 1933 verbrannt) schrieb schon im 19. Jahrhundert prophetisch: „Das war ein Vorspiel nur; dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“




Bilder als Keimzellen für Romane – Graphik-Kalender von Günter Grass in Aachen vorgestellt

Von Bernd Berke

Aachen. „Ich komme immer wieder gern in die Provinz“, freute sich Günter Grass. Dort wisse man Ereignisse wie Ausstellungseröffnungen nämlich noch zu schätzen.

Grass sprach in eigener Sache: Der in Berlin lebende Autor von „Blechtrommel“ und „Butt“ kam gestern nach Aachen, um im dortigen Georgi-Verlagshaus seine Radierungen aus den letzten drei Jahren vorzustellen (Theaterstraße 77, bis Juni, außerdem Farbholzschnitte von Andreas Feiger). Was nur wenige seiner Leser wissen: Grass ist vom Fach. Nach einer Steinmetzlehre in Düsseldorf hat er an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin studiert.

Verhältnismäßig spät wurde Grass als Schriftsteller bekannt. Dieses Metier kann er aber auch dann nicht verleugnen, wenn er graphisch arbeitet: „Mit Bildern kontrolliere ich das Geschriebene.“ Habe er eine Metapher (bildhafter Ausdruck) niedergeschrieben, so erprobe er ihre Wirkung oft, indem er das Ganze noch einmal skizziere.

Kein Wunder also, daß zwischen seinem literarischen und seinem graphischen Werk vielfältige Bezüge bestehen. Motive aus den Büchern wiederholen sich auf den graphischen Blättern, diese wiederum sind häufig „Keimzellen“ der Romane: „Lange bevor ich den ,Butt‘ schrieb, habe ich den großen Plattfisch gezeichnet“, schreibt Grass im Nachwort zu einem Kalender, der zwölf Radierungen der Aachener Ausstellung enthält und soeben herausgekommen ist (Preis 49 DM, Kalendarium für 1984). Betuchteren Grass-Fans wird eine „Vorzugsausgabe“ offeriert. Während die Graphiken auf den Monatsblättern aus Grass‘ „Schublade“ stammen, fertigte er für die Prachtedition eigens ein weiteres Blatt. 150 signierte Exemplare wurden gedruckt (Preis: je 290 DM).

Ein Selbstporträt ziert die Kalender-Titelseite: Günter Grass – Aug‘ in Aug‘ mit „seinem“ Butt. Der Danziger hat sich auch „selbst als Koch“ (Bildtitel) verewigt – mit Kochmütze, finster dreinblickend, vor sich einen abgehackten Gänsekopf: Trauer über den Eingriff in die Natur? „Des Schreibers Hand“ ragt – mit Federkiel „bewaffnet“ – aus einem Steinmeer. Man denkt an Kafkas Wort von der Literatur als Axt für „das gefrorene Meer in uns“. Das April-Blatt zeigt Grass‘ kleinwüchsigen Trommler Oskar aus der „Blechtrommel.“ Weiterer Einfall: Aus einem alten Schuh stürzen Zigarettenkippen.

Die meist skurrilen Motivkombinationen – oft steht Zoologisch-Kulinarisches im Vordergrund – sind handwerklich geradezu schulmäßig zu Papier gebracht. Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, daß die Themen, die sich Grass vorgenommen hat, mit dem breiten Strom der Gegenwartskunst nicht mehr allzu viel zu tun haben. Grass ist sich treu geblieben.

Grass wäre nicht Grass, hätte er sich gestern einen Seitenhieb auf die neue Regierung verkniffen: Die von Helmut Kohl vielbeschworene „geistige Erneuerung“ sei, so der Autor wörtlich, „die Reduzierung des Geistes auf Spießermaß“.




„Circus Roncalli“: Zweite Reise zum Regenbogen – mit Phantasie und Puderzucker

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Der „Circus Roncalli“ besitzt offenbar das sensibelste Nashorn nördlich des Mittelmeers. Bevor das gewichtige Tier in die Manege stürmte, wurde das hochverehrte Publikum (darunter NRW-Kultusminister Jürgen Girgensohn) dringlich gebeten, keine schrillen Laute zu erzeugen, sonst könne man für die Duldsamkeit des Dickhäuters nicht mehr garantieren. So blieb es also mäuschenstill – und der Koloß ließ es friedlich über sich ergehen, daß ein Tiger auf ihm ritt.

Der nicht als Sensations- und Leistungsschau, sondern eher durch seine phantastische Kombination von Spitzenartistik und märchenhafter Prachtentfaltung bekanntgewordene Zirkus bot im Umfeld der Ruhrfestspiel-Eröffnung eine „Weltpremiere“. Das Zelt am Recklinghäuser Konrad-Adenauer-Platz war denn auch am Sonntagabend bis auf den letzten Platz gefüllt; daran dürfte sich bis zum 15. Mai, nach dem der Zirkus die Revierstadt verläßt und auf Deutschlandtournee geht, nicht viel ändern. Die „Zweite Reise zum Regenbogen“ – so der Titel des am Sonntagabend erstmals gezeigten Spektakels – erwies sich über weite Strecken als gelungene Fortsetzung des fast schon legendären „Roncalli“-Programms „Reise zum Regenbogen“.

Der für mich aufregendste und beste Teil des zweieinhalbstündigen Programms liegt vor der Pause. Er wird auf Handzetteln mit der Zeile „Im Land des Drachens“ angekündigt. Absolut professionelle Manegenkunst (Jonglieren, Feuerschlucker, Sprung durch Reifen mit extrascharfen Messern usw.) geht hier in üppig ausgestattete Kostümszenen von traumhafter Farbschönheit über; abenteuerliche Phantasietiere stapfen, in alle (Scheinwerfer-)Farben des Regenbogens getaucht, durch die Reihen: Die Zuschauer werden von livrierten Requisiteuren pfundweise mit Konfetti bestreut (es dauert seine Zeit, bis man nach Schluß der Vorstellung die weißen Pünktchen aus Haaren und Kleidung entfernt hat!), so daß alles wie unter Puderzucker liegt.

Demgegenüber fallen andere Nummern etwas ab, so etwa die mit „Hohe Schule“ betitelte gegen Ende des Programms, ein eher betuliches Dressurreiten mit trivial-cremigen optischen Anleihen bei der k.u.k.-Monarchie. In ihrem gewallten Kitsch schon fast erhaben ist hingegen die „Tauben“-Szene: Weißer Nebel quillt über den Manegenboden, eine weißgewandele Marie-Jose Knie kommt auf weißem Pferd geritten und führt dressierte weiße Tauben vor.

Es versöhnen auch die Roncalli-typischen, leisen Momente – zum Beispiel die „Glasorgel“: Mit angefeuchtetem Finger wird auf den Rändem unterschiedlich gefüllter Gläser eine wunderschöne Sphärenmusik gespielt. Man könnte sich dabei richtig zurücksinken lassen, wenn nicht ständig draußen Züge vorbeidonnern würden. Die Nähe des Zelts zur Bundesbahnstrecke stört das Träumen empfindlich.

Frenetischen Beifall löste auch die Clownsnummer im zweiten Teil aus. Clowns – einmal wieder am angestammten Platz, nachdem sie mittlerweile (wie auch der Feuerschlucker) schon zur Grundausstattung jeder alternativen Straßenfestivität gehören…