Geld bewegt den Kunstbetrieb: Mäzene und Besitzer machten 1983 die meisten Schlagzeilen

Auch 1983 hatte der Kunstbetrieb oft mehr mit „Betrieb“ als mit Kunst zu tun. Nicht so sehr um Stilrichtungen und Werke drehte sich das Medienkarussell, als vielmehr um Mäzene und Erlöse.

Einer der Höhepunkte war die Ersteigerung des Evangeliars Heinrichs des Löwen für satte 32,5 Millionen DM am 7. Dezember bei Sotheby’s in London. Ob und wieviel die Welfen dabei mitkassieren, wird diskret verschwiegen. Der Verdacht, daß mit knappen öffentlichen Geldern ein marodes Fürstenhaus saniert wird, drängt sich auf.

Offener liegen die Vorgänge um Watteaus Rokoko-Gemälde „Einschiffung nach Cythera“ zutage. Als Hohenzollern-Prinz Louis Ferdinand für das Liebesinsel-Bild stolze 15 Millionen DM verlangte, widrigenfalls das Bild außerhalb Berlins verkauft werden könne, löste das eine Spendenwelle aus. Just zu Weihnachten waren 5 Mio. DM beisammen, so daß der Bund und Berlin jeweils mit dem gleichen Betrag als Retter beispringen können.

Nicht nur adelige Kunstbesitzer, auch bürgerliche Mäzene machten von sich reden. Der Aachener Schoko-Fabrikant Peter Ludwig veräußerte im März eine Kollektion mittelalterlicher Handschriften ans steinreiche Getty-Museum in Malibu/Kalifornien. Kölner Museumsleute fielen aus allen Wolken, hatten sie doch den Verkaufswert durch wissenschaftliche Bearbeitung gesteigert und fest damit rechnet, die Sammlung in der Domstadt halten zu können.

Günstiger scheint sich unterdessen die Liaison zwischen Lothar Günter Buchheim und Duisburg zu entwickeln. Der Stadtrat beschloß, dem Lehmbruck-Museum einen 11-Millionen-Bau anzugliedern, der für die Buchheimsche Expressionisten-Sammlung bestimmt ist – Pilgerstätte für Kunstliebhaber, aber auch ein zu Lebzeiten errichtetes Monument für den Stifter…

Im Revier war es ein Jahr der neuen Museen

Duisburg kommt 1986 dran, aber schon 1983 war ein denkwürdiges Jahr, was Museen im Revier betrifft: Das Museum Bochum eröffnete im Oktober einen Erweiterungsbau, in Essen wachsen Folkwang- und Ruhrland-Museum Zug um Zug, in Dortmund wurde am 26. November das Museum für Kunst und Kulturgeschichte eingeweiht. In Köln wehte der Richtkranz über dem Neubau des Wallraf-Richartz/Ludwig-Museums, Wuppertal hob ein Technikmuseum aus der Taufe – Keimzelle für ein „Historisches Zentrum“.

1983 war zwar ein Jahr der Museen, weniger ein Jahr der weltbewegenden Ausstellungen. In NRW dürften in Düsseldorf (das im Kunstmarkt-Gerangel Köln unterlag) noch die gewichtigsten präsentiert worden sein: im Januar die Matisse-Retrospektive, im Mai der voluminöse „Hang zum Gesamtkunstwerk“, im Dezember die Picasso-Skulpturen. Doch auch das Westfälische Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster wartete mit bemerkenswerten Ausstellungen auf, u.a. mit der „Tunis-Reise“ von Macke, Klee und Moilliet, die allein über 100000 Besucher anzog. Das Museum Folkwang in Essen setzte mit Erich Heckel und der „Sammlung FER“ erneut Maßstäbe fürs Revier.

Wenn denn überhaupt Trends auszumachen sind, so vielleicht – als Gegenbewegang zur mehr national gewichteten Strömung der „Neuen Wilden“ – eine Rückbesinnung auf die USA als Hauptland neuester Kunst. Die Düsseldorfer Kunsthalle zeigte „New York Now“, das Rheinische Landesmuseum in Bonn „Back to the USA“.

Auf den nationalen bzw. regionalen Aspekt heben zwei Großprojekte ab, die für 1984 angekündigt werden. Unter Regie der Arbeitsgemeinschaft deutscher Kunstvereine wachsen im Sommer 46 Städte zu einer „Kunstlandschaft Bundesrepublik“ zusammen, in der jede Region ihr Eigengewicht behält. Elitärer gibt sich die von einem finanziell wohlbestallten Düsseldorfer Verein geplante „Neue Deutsche Kunst“, mit der man im Herbst ’84 in Düsseldorf ausschließlich deutsche Spitzenleistungen vorführen will.

Auf nationale Elite scheint sich auch Bundesinnenminister Zimmermann zu kaprizieren. Was er beim Film mit neuen Förderungsrichtlinien zu verhunzen droht, hat – stimmen die Befürchtungen von Museumsexperten – Entsprechungen: Bundeskunsthalle raus, Gedenktempel nach Walhalla-Art rein.

Bleibt die Hoffnung, daß Kunst und Künstler sich nicht vereinnahmen lassen und standhaft bleiben – wie der „Zürcher Sprayer“ Harald Nägeli, der weiter mit seiner Auslieferung an die Schweiz rechnen muß und (gottlob) eine Dozentenstelle in Wiesbaden ablehnte.




Bert Brecht seziert und kenntlich gemacht – Pina Bauschs Tanzabend „Die sieben Todsünden“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Wer geglaubt hat, „seinen“ Brecht genau zu kennen, kann ihn jetzt anders, nämlich noch genauer kennenlemen. Kaum jemand hat, wie der als „Frauenverbraucher“ selbst notorische „B.B.“, derart illusionslos und präzise Zusammenhänge zwischen Besitzverhältnissen und Sexualität formuliert. Und wie ließen sich die Gesten solcher, in Geld- und Werteinheiten abzurechnenden Tauschverhältnisse ausdrücklicher darstellen als im Tanz? Pina Bauschs Brecht-Tanzabend „Die sieben Todsünden“ stand schon 1976 bis 1979 auf den Spielplänen. Er erlebte nun eine glanzvolle Wiederaufnahme.

Das Ensemble – Pina Bausch arbeitet seit 10 Jahren in Wuppertal – „schreibt“ zugleich seine eigene Geschichte nach, aber auch fort. Die Rekonstruktion der Erstfassung gerät nicht zur faden Reprise, sondern gewinnt im neuen Zugriff neue Unmittelbarkeit.

„Die sieben Todsünden der Kleinbürger“, von Brecht (Musik: Kurt Weill) als Ballett gedacht, schildert die profitable Zurichtung eines Menschen. Anna I (Ann Höling), nüchtern planend, deformiert ihre sexuell attraktive, „unvernünftige“ Schwester Anna II (Josephine Ann Endicott) auf Geheiß der Familie – hier ein sonores Männer-Quartett – zur Ware für den Geschlechter-Markt. Der „weiße Hintern“ soll Geld einbringen, von dem ein Haus gebaut werden soll. Im Verlauf der Objektwerdung verkehren sich die vom Christentum gebrandmarkten „Todsünden“ zu Tugenden. Nicht Faulheit ist von Übel, sondern nur Faulheit im Begehen des Unrechts; Käuflichkeit ist nicht länger verwerflich, sondern nötig usw. So sind die Verhältnisse – und sie hinterlassen Spuren.

Pina Bausch setzt hier geradezu mikrochirurgisch an, seziert und isoliert kleinste gestische Einheiten sexueller Inbesitznahme, die in dichter Reibung vorgeführt werden. Die serielle Struktur fügt sich zu traumatischen Szenen. Da „nimmt“ man sich die Frau, indem man etwa ihr Hinterteil zigfach im Gewaltrhythmus hin- und herreißt. Anna II, vermessen, gewogen wie Fleisch und für brauchbar befunden, umgeben von lauter Charaktermasken, windet sich bis in die Zehenspitzen, wird durch und durch geschüttelt von den Zumutungen ihrer „Käufer“.

Der zweite Teil dessen, was man wohl einen „großen Abend“ nennt, ist eine Art Brecht-Revue. Hervorragend vorgetragene Songs, u.a. aus der „Dreigroschenoper“ und „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, bilden den Ausgangspunkt für grelle Travestie, aber auch für hauchzart seelenzerstäubende Szenen. Auch hier wird man ganz Auge für diverse Erbärmlichkeiten aus dem Umgang der Geschlechter.

Erniedrigt und beleidigt: Die Frauen – abhängig, anhänglich, ichlos und kaum einmal selbst (auf)begehrend. Ein Mann (Erich Leukert) nähert sich als „Gottes Stellvertreter“, verheißt im Singsang „Fürchtet euch nicht“ Trost und Rettung, bevor er über „Sie“ (Beatrice Libonati) herfällt. Zwei Erlebnisse unter vielen: Das Lied von der Unzulänglichkeit („Der Mensch lebt durch den Kopf…“), gesungen und getanzt in zeitlupenhafter Dehnung, oder das zum schrillen Quartett verdoppelte Eifersuchts-Duett aus der „Dreigroschenoper“. Obwohl man an Brecht auch (selbst)ironisch herangeht, werden seine Texte nicht denunziert. Sie werden – mit Brecht zu reden – „kenntlicher“.

Im tosenden Schlußbeifall, der gewiß 10 Minuten dauerte, zeigte sich Pina Bausch nur widerstrebend im Kreis des Ensembles.




46 Städte sollen zur „Kunstlandschaft Bundesrepublik“ zusammenwachsen

Von Bernd Berke

Im Westen. Das hat es noch nie gegeben: Gleich 46 Städte schicken sich an, im Juni/Juli 1984 zur „Kunstlandschaft Bundesrepublik“ zusammenzuwachsen.

Unter diesem Titel wird, parallel an Orten im gesamten Bundesgebiet, ein Querschnitt durch die einheimische Kunstszene gezeigt, und zwar nach dem Tauschprinzip: So zeigt Berlin Kunst aus dem Ruhrgebiet und Westfalen, Köln präsentiert die „Szene München“, München wiederum Objekte aus Frankfurt, Münster nimmt sich die Arbeiten aus Niedersachsen vor usw.

Das gigantische Projekt, mit einem vermutlichen Aufwand von 1,5 Mio. DM noch vergleichsweise preisgünstig, wurde von der erst 1980 gegründeten Arbeitsgemeinschaft deutscher Kunstvereine (AdKV) ins Leben gerufen. Von 90 Kunstvereinen beteiligen sich 46, unter anderem der noch relativ junge Kunstverein in Siegen sowie die Pendants aus Wuppertal und Münster. AdKV-Vorsitzender Dr. Wulf Herzogenrath: „Gerade Kunstvereine in kleineren Städten bekommen wichtige Impulse.“ Von den Großstädten fehlen mangels intakter Kunstvereine jene des Reviers, aber auch das Saarland, die Pfalz und Nürnberg sind nicht vertreten.

Im Gegensatz zum millionenschweren Düsseldorfer Projekt, mit dem „Westkunst“-Macher Kasper König beauftragt wurde (die WR berichte), betont „Kunstlandschaft“ die regionale Vielfalt, läßt den höchst unterschiedlichen „Szenen“ ihr Eigengewicht. Außerdem soll nicht nur die Marktelite vorgestellt werden, sondern auch vielversprechende Talente.

Pro Region – es kristallisierten sich zehn Schwerpunktgebiete heraus – sollen etwa 35 Künstler, insgesamt also etwa 350 junge Künstler ab Jahrgang 1940 mit jeweils bis zu sieben aktuellen Werken vertreten sein. Je nach örtlicher Tradition und Beschaffenheit der Ausstellungsräume gliedert sich das Projekt auch nach Gattungen. So sollen zum Beispiel im Schloß Brühl Skulpturen gezeigt werden, während Köln Malerei präsentiert, Hamburg Raum-Installationen berücksichtigt und Wilhelmshaven Foto- und Video-Kunst in den Vordergrund stellt. Extra in NRW: Wenn die hiesige Kunst von ihren „Gastspielen“ heimkehrt, folgt im Herbst ’84 eine Präsentation in der Halle Münsterland.

Wulf Herzogenrath, der gestern in Köln vor Journalisten das Konzept umriß, wertet die Fülle der Ausstellungen als „regional, aber nicht provinziell.“ Diese Leitlinie sei der Struktur der bundesdeutschen Kulturlandschaft mit ihren vielen Zentren angemessen.

Umfangreich wie die Ausstellungen, verspricht auch der Katalog zu werden. Er soll nicht weniger als elf Bände umfassen, jedem Künstler vier Seiten widmen und an allen Ausstellungsplätzen sowohl in Einzelbänden als auch im Paket erhältlich sein.




Kunst mit Kopfsalat und Bett – Sammlung FER im Folkwang-Museum

Essen. Auf dem Fußboden liegen Carl Andres „64 Scheiben aus Blei“, grau in grau, unscheinbar. Schräg gegenüber entfalten sich desto auffälliger die Farborgien des „Neuen Wilden“ Peter Bömmels. Bewußt grell hat das FolkwangMuseum in seiner Neuen Galerie solche Gegensätze hervortreten lassen.

Die „Werke aus der Sammlung FER“ – die Abkürzung steht für die Initialen des Tablettenfabrikanten und Kunstsammlers Friedrich Erwin Rentschler – werden hier zum ersten (und für lange Zeit zum letzten) Mal öffentlich gezeigt. Eine ganz seltene Möglichkeit also, etwa 70 beispielhafte Werke der allerjüngsten Kunst aus Europa und den USA zu sehen, die schon bald wieder in der privaten „Versenkung“ verschwinden werden.

Wenn es auch nicht nach jedermanns Geschmack sein dürfte, auf einen Streich mit völlig verschiedenen Kunstrichtungen konfrontiert zu werden, so lassen sich doch exemplarisch einige Grundlinien der Entwicklung vom Beginn der 60er Jahre bis zur Gegenwart verfolgen. 35 Künstler sind vertreten. Vieles ist „vom Feinsten“, was der Kunstmarkt zu bieten hat.

Es beginnt mit Zeichnungen von Joseph Beuys aus den frühen 60er Jahren, geht weiter mit Beispielen der Minimal Art (z.B. vier je einen Kubikmeter große Messingwürfel von Donald Judd) und wird fortgesetzt mit Werken der sogenannten „Arte Povera“, bei der „ärmlich“ anmutende Alltagsmaterialien zu neuen, überraschenden und symbolischen Zusammenhängen verwoben werden – so etwa ein Bettgestell von Jannis Kounellis, aus dem mittels Gaskocher eine Flamme schlägt. Bemerkenswert auch eine Arbeit von Giovanni Anselmo, deren zwei Granitblöcke so locker mit Draht zusammengehalten werden, daß als notdürftige Polsterung ein Kopfsalat dienen muß, weleher nach ein paar Tagen fault und das ganze Objekt auseinanderfallen läßt.




Aus dem Kriegsgebiet ins Bonner Landesmuseum: „Frühe Phöniker im Libanon“

Von Bernd Berke

Bonn. Im 14. Jahrhundert vor Christus bebte im heutigen Libanon die Erde. In einem Haus sackte der Fußboden ab, drei Bewohner stürzten in den Keller. Ein Teil ihrer Habe, damals ebenfalls unter Schutt begraben, ist (neben anderen, unschätzbar wertvollen Stücken), seit gestern in Bonn zu besichtigen.

Die Ausstellung „Frühe Phöniker im Libanon“ darf trotz ihrer Überschaubarkeit (etwa 130 Exponate) als Großereignis gelten: Seit 1963 gruben bis zu 18 Mitarbeiter im Namen des Instituts für Vor- und Frühgeschichte der Uni Saarbrücken auf dem Tell Kamid el-Loz (südlich der Straße von Beirut nach Damaskus). Sie stießen auf einem Palast, einen Tempel und sogar auf eine Art „Stadtarchiv“. Die Funde aus diesen Gebäuden werden jetzt erstmals öffentlich gezeigt.

Gäbe es den Libanonkrieg nicht, wäre eine solche Ausstellung in der Bundesrepublik undenkbar. Weil aber die Stücke in den Wirren Beiruts nicht sicher geborgen geschweige denn gezeigt werden können, übergaben die libanesischen Behörden das wertvolle Gut dem Saarbrücker Expeditionsleiter Prof. Rolf Hachmann, der es bis zu einem erhofften Friedensschluß im Nahen Osten treuhänderisch verwaltet und dann zurückgeben wird.

Was gibt es zu sehen? Funde aus der älteren Eisenzeit (etwa 1200-800 v.Chr.) und aus der Spätbronzezeit (etwa 1550-1200 v. Chr.): Schmuckgegenstände aus Elfenbein (zur Entstehungszeit gab es noch Elefanten im Grabungsgebiet); Statuetten, deren Züge weitaus lebendiger wirken als die der stilisierten ägyptischen Gegenstücke. Außerdem Gefäße aus Glas, Krüge und Öllampen aus Ton, einige elfenbeinerne Spielbretter (bevorzugtes Spiel der Phöniker unbekannt), Dosen in Entenform, Teile eines Schuppenpanzers und, und, und…

Rolf Hachmann, der in Bonn nur einen Bruchteil seines „Lebenswerks“ (17 Grabungskampagnen in 20 Jahren) zeigen kann, nimmt die Phöniker – lateinisch inspirierte Lesart: Phönizier – „in Schutz“: „Dieses Volk hat eigenständigere Formensprache entwickelt, als dies bisher geglaubt wurde. Die Phöniker haben Anregungen aus Ägypten und Mesopotanien zwar aufgenommen, aber auch weiterentwickelt.“ Die als Handelsgenies („Großversand des Mittelmeerraums“) und Erfinder der Lautschrift bekannt gewordenen Phöniker „haben auch nicht, wie man früher annahm, nur entlang der Küste gesiedelt, sondern auch im Landesinneren.“ Vermutliche Staatsform: lokale, auf kleine Siedlungen beschränkte Königtümer.

Professor Hachmann ist auch nach 20 Jahren nicht immer ungefährlicher Grabungs-Kampagnen unverdrossen: „Im März machen wir weiter, falls es die politische Lage zuläßt.“

„Frühe Phöniker im Libanon“, Rheinisches Landesmuseum Bonn, Colmantstraße, bis 22. Januar 1984 (danach u. a. in Berlin und München), Katalog 20 DM.




Traumreise zum müden Monarchen – „Insel des König Schlaf“

Von Bernd Berke

Wuppertal. Manuel lebt in einem kleinen Fischerdorf, irgendwo im Süden Europas. Seine Tante drängt ihn keifend, er solle sich den Realitäten selten, vor allem aber Schularbeiten machen. Alles, was den Jungen beschäftigt, tut sie als „spinnert“ ab.

Er aber braucht nicht einmal Phantasie, um Phantastisches zu erleben. Ein Boot wird ihm geschenkt, das ihm als „Traumschiff“ dient. Und ab geht die Reise zur „Insel des König Schlaf“. Das gleichnamige Stück des Portugiesen Norberto Avila hatte am Samstagmorgen in Wuppertal Premiere. Für die von Gerhard Kelling erstellte deutsche Fassung war es sogar eine Uraufführung.

Besagte Insel ist ein Schlaraffenland. Nur einige Probleme, die der pfiffige Gast Manuel (Boris Voland) nach und nach löst, gibt es: Der König (Heinz Voss) hat seit Monaten nicht geschlafen, dem Dr. Scharlatanski (Tjaart Potgieter) will es nicht gelingen, ein Schlafmittel zu kreieren. Dafür wird er von einer roboterhaften „Kitzelmaschine“ bestraft. Dem Flötisten Liebton (Gregor Höppner) ist eine Melodie abbanden gekommen, „Dienstag“ und „Donnerstag“ (groteskes Duo: Alexander Pelz und Hans Richter) streiten über die Zeitspanne, in der die gebratenen Tauben in die Mäuler der Insulaner zu fliegen haben –  dienstags oder donnerstags. Nach Schluß der Vorstellung bilden sich rasch Kindergruppen, die lautstark der einen oder anderen Auffassung Ausdruck verleihen…

Überhaupt geht der Nachwuchs, gut vorbereitet durch das Wuppertaler Bühnen-Projekt „Kinder erzählen ihre Träume“, so richtig mit. Beispielsweise, als der König – er hat endlich eine volle Woche durchschlafen können – der unterdessen liegengebliebenen Arbeit überdrüssig ist und Staats-Depeschen in Form von Papier-Schwalben ins Publikum wirft. Klar, daß jeder eine ergattern will und das Gerangel auf den Rängen groß ist. Und wenn, nach Manuels Rückkehr ins Dorf, die Tante seinen abenteuerlichen Bericht bezweifelt, ergreifen alle empört Partei für ihn.

Regisseurin Sylvia Richter richtete das Stück konsequent als „Traumspiel“ ein, das die von der Tante (Sabine Schwanz) vertretene, platte Realität übel aussehen läßt. Vielleicht hat ihr Carrolls „Alice im Wunderland“ als leuchtendes Beispiel vorgeschwebt. Entsprechende Freude an hintersinnigen Absurditäten vermittelt jedenfalls diese Inszenierung. Bühnenbild und Kostüme (laut Programmzettel von „Rosalie“) zeugen von greller Phantasie, die üppig ins Kraut schießt. Die Schauspieler agieren durchweg überzeugend.




Kubismus mit Überraschungen – Genfer Sammlung erstmals in Deutschland

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Daß eine vermeintlich wohlbekannte Stilrichtung in der Kunst auch nach vielen Jahrzehnten überraschende Seiten darbieten kann, belegt eine Ausstellung, die am Sonntag in Recklinghausen eröffnet wird (und bis 15. Januar 1984 dauert). „Aspekte desKubismus“ lautet der Titel – und es hängt kein einziges Bild von Picasso, Georges Braque oder Juan Gris in der Kunsthalle. Wie das?

Es geht um Maler aus mehreren europäischen Ländern, die von diesen Leitfiguren beeinflußt und „in Richtung Kubismus gedrängt“ worden sind, Die 62 Werke von 20 Künstlern entstanden 1910 bis 1935 und sind sämtlich Leihgaben des Petit Palais in Genf, das damit gleich drei Viertel seiner Kubisten-Sammlung der Recklinghäuser Kunsthalle anvertraut. Die Bilder sind erstmals außerhalb der Schweiz zu sehen.

Dem Betrachter bleiben Irritationen nicht erspart. Wer unter Kubismus – grob gesprochen – die Zusammensetzung des Bildes aus geometrischen Formen wie Würfel und Zylinder versteht, macht hier Bekanntschaft mit den Randbezirken dieser Kunstrichtung. Zahlreiche Mischformen zeigen eine erstaunlich Bandbreite dieser Kunstform, die via Paris (alle hier vertretenen Künstler haben dort zumindest vorübergehend gelebt) auch von Malern aus Rußland, Polen, Ungarn oder Rumänien aufgenommen und erprobt wurde. Diese West-Ost-Verbindung – so unter anderem die frappierende Vermengung von Ikonen-Stil und Kubismus bei Natalia Gontscharowa – zu dokumentieren, ist eines der Verdienste dieser Ausstellung.

Während die Hauptlinie des Kubismus eher durch zurückhaltende Verwendung der Farbwerte gekennzeichnet ist, finden sich.in Recklinghausen Beispiele für eine Verbindung nahezu expressiver Farbigkeit mit der geometrischen Formsprache, so etwa bei dem 1885 in Bordeaux geborenen André Lhote mit seinem plakativen Bild „Die Dirnen“ (1918) oder seiner Milieuszene „Im Hafen“ von 1912. Lhote ist überhaupt einer der interessantesten dieser Maler: Geradezu wahllos scheint er mit sämtlichen Stilen experimentiert zu haben.

Auffällig auch die „Aha-Effekte“, die Lust des Wiedererkennens. Jean Metzingers „Ballspielende Katze“ erinnert stark an Tierbilder von Franz Marc, André Lhotes „Saint Tropez“ an Landschaftsmotive von Cézanne, seine „Kubistische Landschaft“ (1919) stellt gar eine gewagte Mixtur aus impressionistischen und kubistischen Elementen dar, Jean Metzinger wiederum unternimmt kubistisch inspirierte Abestecher in den Surrealismus.

Natürlich stellt sich in diesem Zusammenhang auch die Qualitätsfrage, was die Ausstellung übrigens gerade für den Besuch von Schulklassen empfehlenswert macht. Vielfach geraten die Stilformen wirr durcheinander, werden zu Stilbrüchen, zum Beispiel, wenn ein Frauenporträt in der oberen Hälfte streng geometrisch gestaltet ist, der Spitzenbesatz des Kleidausschnitts dann aber geradezu liebevoll im Detail wiedergegeben wird. Anderes wiederum scheint so stark von den berühmten Vorbildern beeinflußt zu sein, daß man von „Plagiatversuchen“ sprechen könnte, so bei der Spanierin Maria Blanchard, die sich ganz offensichtlich für Picasso begeisterte.