Vom Trauma des Lebens in der Fremde – Helmut Ruges „Wer bezahlt die Zeche?“ uraufgeführt

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Waren im 19. Jahrhundert polnische Zuwanderer die „Türken des Reviers“? Um diese Frage kreist die neuen Szenencollage des Satirikers Helmut Ruge (Allerweltstitel: „Wer bezahlt die Zeehe?“), die am Samstag im Recklinghäuser „Depot“ als Produktion der Ruhrfestspiele uraufgeführt wurde.

Berge von Koffern sind die Hauptrequisiten, Zeichen für „Heimat“-Losigkeit – und das nicht nur im Hunsrück. Im kohlenschwarzen Bühnenboden klafft ein glühender Riß, als habe sich die Erde aufgetan. Ursache: „soziale Beben“.

Der Türke Erdal führt in fliegendem Rollenwechsel das epochenübergreifende Trauma des Lebens in der Fremde vor. Mal bleibt er der Erdal der „Wende“-Zeit in den 1980ern, mal wird er zum Polen Josef, der hundert Jahre zuvor ins Ruhrgebiet gekommen ist und bei den großen Bergarbeiterstreiks noch mehr Solidarität erfährt, als sie sich heute über Nationalitätsschranken hinwegzusetzen wagt. Zwei Zeitprofile werden ausschnittweise kontrastiert und treten wechselseitig deutlicher hervor: zuweilen verlaufen sie nahezu parallel: Was für den Sozialdemokraten von dazumal der kaiserliche Büttel, ist für den Türken heute der vom heimischen Militärregime beauftragte Spitzel.

Regisseur Bernd Köhler läßt die Szenen vielfach durch harte Ausblendung des Lichts abreißen. Die Einzelteile stehen für sich. Ständiger Neu-Ansatz also, denn Ruges Text zielt in gar viele Richtungen. Manchmal scheint es, als ginge es darob resignativ zu, wie bei einem aussichtslosen Kampf gegen Windmühlenflügel. Doch geht immer wieder gleichsam ein Ruck durch das Stück, und es folgen unvermittelt lustvolle Folklore-Einschübe oder (auch türkischsprachige) Bänkelgesänge. Fluchtreaktion oder Sinnenfreude, die sich nicht unterkriegen läßt?

Uneinheitlich wie der Aufbau ist auch der Inhalt: Es steht Vielsagendes neben vielfach Gesagtem. Daß die Szenenfolge nicht heillos in Resignation hie und Klamauk dort zerföllt. dafür sorgt Hauptdarsteller Erdal Merdan, der den Erdal bzw. Josef mit einer gehörigen und notwendigen Portion aggressiven Beharrungsvermögens spielt und so das Stück zusammenhält. Auch die weiteren Beteiligten aus dem Festspiel-Ensemble (u.a. Jürgen Mikol, Vesna Bujevic, Lydia Billiet) erhielten reichlichen Beifall.




„Guten Abend aus Dortmund“ – neues Regionalfenster im Fernsehen

„Regionalfenster“ in der Aktuellen Stunde (WDF, 19.35 bis 19.50 Uhr)

Wenn auch Kanalsalat und sonstige Empfangsprobleme noch nicht alle am Genuß teilhaben lassen – im Prinzip haben wir jetzt die Fernseh-„Fenster“, die den Bildschirmblick vor die Haustür gestatten. „Guten Abend aus Dortmund“ hieß es gestern um 19.35 Uhr, und das Team in der Westfalenmetropole gab sich lobenswerte Mühe, dabei auch das Sieger- und Sauerland nicht aus den Augen zu verlieren.

Thematisch war man gestern freilich noch durch die Nachwehen der Kommunalwahlen festgelegt, um nicht zu sagen eingeschränkt. Viel mehr, als bereits in den Zeitungen stand, konnte man durchs TV-„Fenster“ nicht erspähen.

Eine grundsätzlich gute Idee ist der Laien-Kommentar, der gestern von Schülerzeitungsredakteuren aus Witten vorgetragen wurde. Die jungen Leute gaben sich jedoch überhaupt nicht spontan, sondern verlasen ein strohtrockenes Thesenpapier. Damit wurde die Chance der Unmittelbarkeit leider verschenkt.

Der Bericht über das Iserlohner Bildhauertreffen wirkte ebenfalls etwas dozierend, auch war das Thema nicht gerade taufrisch.

Vorläufiges und hoffnungsvolles Fazit trotz aller Anfangsschwächen: Die TV-„Fenster“ steigern keinesfalls nur die Wahrscheinlichkeit, einmal Nachbarn und Bekannte auf dem Bildschirm zu sehen, sondern sie können sich zu einer wertvollen Bereicherung der Berichterstattung über unsere Region entwickeln.

                                                                                                          Bernd Berke

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Erschienen am 2. Oktober 1984 auf der allerersten Fernsehseite der Westfälischen Rundschau.




Die Angst des Dorfrichters vor der Revision – Kleists „Zerbrochener Krug“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Der zerbrochene Krug“ steht und fällt – wörtlich wie im übertragenen Sinn – mit dem Dorfrichter Adam. Wird auch nur diese eine Rolle unzureichend besetzt, kann man Kleists Lustspiel-Klassiker, salopp gesagt, „vergessen“.

Ein Glück also, daß die Wuppertaler Bühnen Horst Fassel haben. Er verleiht dem fleischgewordenen Justizskandal, der ausgerechnet am Prüftag des Revisors über seine eigenen Eskapaden zu Gericht sitzen muß, das unabdingbare Komik-Profil, ohne in die Klamotte abzugleiten. Wie Fassel, bis in Haar- und Fingerspitzen elektrisiert, zwischen selbstgefälliger Seligkeit des Nicht-Ertapptseins und flatternder Angst hin und her hastet, ist sehenswert.

Daß Petra Dannenhöfers Inszenierung auf die Hauptfigur bauen muß, zeigt sich gegen Schluß. „Adam“ ist endgültig entlarvt und betritt die Bühne nicht mehr. Was folgt, ist ein langatmiges Aufdröseln nebensächlicher Aspekte. Die Luft ist ‚raus. Hier hätte man, zum Wohle des Stücks, Textkürzungen vornehmen sollen. Außer der Komik arbeitet diese Wuppertaler Einstudierung nur wenig „Überschuß“ heraus. Die herbe Justizkritik Kleists etwa, die das Recht als zwischen vielerlei Interessen relativiert und zerrieben beschreibt, wird eben nur „mitgeliefert“.

Die Darsteller lassen ihre Figuren mit unterschiedlicher Fortune lebendig werden. Während Maria Pichler mit Elan die resolute „Frau Marthe“ gibt und Gregor Höppner („Schreiber Licht“) als junger Ehrgeizling seine Aufgabe löst, bleiben René Schönenberger („Gerichtsrat Walter“) und besonders Sabine Schwanz („Eve“) eher blaß.

Das Bühnenbild Sigrid Greils ist (was die Aufbauten betrifft) zweckmäßig und schlicht. Reichlich herbeigezerrt scheint mir jedoch die Bedeutung zu sein, die dem Bühnenboden beigemessen wird. Vier Keile weisen, abwechselnd rot und blau, ins Zentrum. Sie sind, wie sich erst bei Lektüre des Programmhefts enthüllt, dem Papierfalt-Spiel „Himmel und Hölle“ abgeguckt und sollen offenbar eine optische Entsprechung zum Hin- und Hergerissensein der Handelnden abgeben.