Hansgünther Heyme will in Essen „Verkrustungen aufbrechen“ – Neuer Schauspieldirektor stellt seine Pläne vor

Von Bernd Berke

Essen. Es war viel von Strategie die Rede, als Essens neuer Schauspieldirektor Hansgünther Hemye gestern seine Spielplan-Vorstellungen für die Zeit bis Ende 1987 unterbreitete. Die Spielstätten- und Finanzlage erzwinge vorerst reduzierte Saisonplanungen. Gerade dies, so Heyme, wolle man nutzen, um profilierteres Programm zu machen.

Wer die heftigen Diskussionen um Heyme-Projekte an seinem vormaligen Wirkungsstätten Köln und Stuttgart verfolgt hat, ahnt, daß es dabei nicht zuletzt um politisch aufstörende, Utopie einfordernde Akzentsetzungen geht.

Die nächste Essener Premiere (9. Januar ’86) ist noch eine (leicht variierte) Übernahme aus der Stuttgarter Zeit, Heymes Inszenierung von Lessings „Nathan“. Am 26. Januar folgt Athol Fugards „Die Insel“. Ein neues Doppelprojekt, Heyme inszeniert selbst, hat am 16. März Premiere: Schillers „Iphigenie in Aulis“, „ein weimarisierter Euripides“ (Heyme) sowie „Die Troerinnen“ des Euripides werden am Premierentag hintereinander, später auch schon mal separat aufgeführt.

Erstmals am 23. April kommt „Alles beim Alten – Alles in Ordnung“ auf die Bühne: Unter Heymes Leitung werden vornehmlich Lessing-Texte gespielt, die – unter bewußtem Bezugauf den Skandal umFaßbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ – von Juden handeln. Die Produktion soll „Verkrustungen aufbrechen“, so daß man sich eventuell zur Jahreswende 1987/88 direkt an den Faßbinder-Text wagen könne (was Heyme zur Zeit für nicht opportun hält).

Für die Spielzeit 1986/87 plant Heyme u. a. Christoph Heins „Cromwell“ (erstmals außerhalb der DDR), Brechts „Dreigroschenoper“ (es wäre Heymes erste „Wiederbeschäftigung“ mit Brecht seit rund zehn Jahren), Heiner Müllers „Mauser“ und „Bildbeschreibung“, Tschechows „Kirschgarten“ und – als deutsche Erstaufführung – David Hares „Map of the World“, ein Stück über UNESCO und Nord-Süd-Konflikte.

Heyme wiederholte nachdrücklich seine Forderungen: Erhalt und später Umbau des jetzigen Opernhauses fürs Schauspiel, mehr Geld, Mitsprache bei der Mützel-Nachfolge. Andernfalls werde seine Ära in Essen vorzeitig enden.




„Welttheater“ auf nur einem Kontinent

Von Bernd Berke

Was ist davon zu halten: Wenn ein Band schon „Welttheater“ heißt – und ganze Kulturkreise wie Ostasien, Indien oder Südamerika werden überhaupt nicht berücksichtigt; wenn das Buch (nach Auflagen in den 60er Jahren) vollständig umgeschrieben, aktualisiert worden ist – und es fehlen vollständig die „freien Truppen“, sogar jene von Format und Wirkkraft des „Living Theater“, des „Squat Theater“, von „La Mama“. Was davon zu halten ist? Die Verfasser scheinen ein ganz schön elitäres Verständnis von Theater zu haben!

Die „großen“ Bühnen der Bundesrepublik, der DDR, besstenfalls noch Englands, Frankreichs, Italiens beherrschen alles – und was „groß“ ist, versucht Henning Rischbieter, rühriger Mitherausgeber dieses Wälzers (unlängst legte er ein „Theaterlexikon“ bei Orell & Füssli vor), schon seit langem auch in seiner Fachzeitschrift „Theater heute“ zu bestimmen. Dortmund, unter vielen anderen Städten, ist nach solchem Verständnis ein weißer Fleck auf der Theaterlandkarte, ein Nicht-Ort sozusagen. Selbst Claus Peymanns Bochumer Ära rangiert unter „ferner liefen“, während seine Stuttgarter Zeit noch Gnade findet. Ganz erstaunlich, daß auch Theater-Großtaten von Ariane Mnouchkine oder Robert Wilson nicht vorkommen.

Der Band lebt von überquellender Bebilderung. Höhepunkte zahlloser Inszenierungen werden, auf meist packenden- Fotos, dokumentiert. Die Textbeiträge stammen zum Teil von Kritikerpäpsten wie Hellmuth Karasek und Joachim Kaiser. Sie referieren nicht, sondern wagen – vom Verriß bis zur Hymne – Wertungen, was ein Vorzug ist. Aufs Ganze gesehen, ergibt sich eine Mixtur aus Bilderbuch, Theatergeschichte, Schauspielführer und Lexikon (dafür ist freilich das Register zu dünn geraten, es fehlen etwa Orts- und Schauspielernamen).

Die meisten Stücke werden inhaltlich nur knapp umrissen, deutlicher wird hingegen ihr Sinnpotential für Inszenierungen bloßgelegt. Effekt: Die Dramen erscheinen eher als „Rohmaterial“ im Sinne des Regietheaters, das mit den Vorlagen frei verfährt. Eine Glaubensfrage.

Henning Rischbieter / Jan Berg (Hrsg:): Welttheater. Westermann-Verlag, Braunschweig, Großformat, 496 Seiten, 98 DM




Ansichten aus „24 Stunden Ruhrgebiet“ im großen Buch der Zufälle

Von Bernd Berke

Mit Pauken und Trompeten hatte der Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR), der den Anstoß zur groß angelegten „Belichtung des Reviers“ gegeben hatte, dieses Buch schon Monate vor dem Erscheinen angekündigt. Eins ist klar: Es ist das Revierbuch dieses Herbstes, an dem die meisten, nämlich 72 Fotografen aus aller Welt, beteiligt sind. Und es ist das Revierbuch, dessen Fotos in der kürzesten Frist, nämlich am 24. Mai 1985 zwischen 0 und 24 Uhr, entstanden sind.

Jedoch: Spektakuläre Rekorde allein reichen nicht aus. „Das Fotoereignis“ – so lautet der stolze Untertitel des Bandes. Kein Zweifel, es finden sich unter den 600 Ablichtungen zahlreiche gelungene, sogar der eine oder andere Geniestreich. Im Ganzen aber hat der Zufall die Oberhand behalten – und das ist auch kein Wunder bei 72 so unterschiedlichen Fotografen-Temperamenten, kein Wunder auch, weil die meisten ohne näheren Bezug, sozusagen „unvorbereitet, wie sie sich hatten“, aufs Revier gestoßen sind (bzw. gestoßen wurden).

Immerhin sorgen derlei Zufall und Spontanität auch dafür, daß eine breite Palette des Lebens im Revier erfaßt wird. Durch Industrie zerstörte Teile der Landschaft werden nicht schamhaft bemäntelt, die Arbeitswelt zwischen Kohle und Computer spielt ihre gebührende Rolle, die Freizeit zwischen Disco, Schrebergarten, Fußballplatz und Freibad ebenso.

Vor allem einige Menschenbilder prägen sich ein. Hier hatte die Spontanität wirklich ihr Gutes: Es gab kaum Zeit für Vorbereitungen und damit kaum Gelegenheit, Szenen oder Porträts auszuklügeln und zu „stellen“. Menschen des Reviers (Arbeiter, Künstler, Hausfrauen, Schüler, Politiker, Wirtschaftsführer) scheinen sich den von auswärts angereisten Fotografen unmittelbarer erschlossen zu haben als das oft verwirrend strukturlose Konglomerat der Stadtlandschaft.

„24 Stunden Ruhrgebiet“. Reise- und Verkehrsverlag, München, 280 S., ca. 600 (meist farbige) Fotos. Begleittexte von Ralf Lehmann. 98 DM.




Was Vaganten auf die Straße treibt

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Die Herrschenden „mit der Zunge zu durchbohren“, sei Sache der Vaganten. So heißt es an zentraler Stelle der neuen Ruhrfestspiel-Produktion „Vaganten Leben“ (Regie: Bernd Köhler) über die fahrenden Spielleute. Gar so bohrend ist es denn aber doch nicht geworden.

Im ..Malersaal“ des „Depots“, vergleichbar einer Kneipe, bestellt man noch Getränke, da setzt unvermittelt an drei Tischen anschwellendes Gemurmel ein. Es sind schon die ersten drei von 15 Texten dieses Programms. Weil sie gleichzeitig und also durcheinander gesprochen werden, versteht – je nach Lage des Sitzplatzes – jeder Besucher etwas anderes. Stichworte beschädigten Lebens fallen – von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Ausbeutung, Erniedrigung ist da die Rede.

Die Worte verweben sich vage, als erlausche man sie an Nebentischen im Lokal, zu einer Ahnung von biographischen Katastrophen. Dergestalt, das macht der folgende, schon auf der kleinen Bühne gesprochene Text von Dario Fo klar, sind die Verhältnisse, die die Vaganten überhaupt erst auf die Straße treiben. Keine Romantik also, sondern härteste Realität.

Es handelt sich hier nicht um die (gemeinhin als „Vaganten“ bezeichneten) Theologieschüler des 11. bis 13. Jahrhunderts, die mit Texten und Liedern voller Lebens- und Liebeslust sowie drastischer Kirchenkritik durch die Lande zogen. Schade, denn es gibt z. B. vom „Archipoeta“ („Erzpoet“) neue Übersetzungen, die so frech und frisch klingen, als wären sie erst in den Revolten unseres Jahrhunderts entstanden.

In Recklinghausen widmet man sich den mehr oder weniger legitimen Nachfolgern des „Archipoeta“. Natürlich sind Lieder von François Villon dabei – keine Entdeckung mehr. Den größten Teil des Programms, das Texte aus den Jahren zwischen 1447 und 1982 (!) versammelt, nimmt Dario Fo ein. Gleich zweimal gar vernimmt man aus seiner Feder stammende Witzeleien über Päpste, als sei im Vatikan noch immer die ärgste Form von Herrschaft beheimatet.

Neben einigen anonymen Texten, etwa dem märchenhaften „Der größte Räuber im Lande“, erklingt auch das altvertraute „Nur nicht aus Liebe weinen“, ein Fremdkörper in diesem Zusammenhang.

Umgesetzt wird das vom Darsteller-Trio (Ursel Schmilz, Nedim Hazar und Heinz Kloss) als Unterhaltung, die nur hier und da bissig wird. Anstöße, blitzartig Erhellendes oder Überraschendes sind Mangelware.

Übrigens: Die intensiven Vorstudien im real existierenden Penner- und Strichermilieu, die einen Darsteller (die WR berichtete) sogar kurz in Polizeigewahrsam brachten, wären für diese Produktion nicht nötig gewesen. So wörtlich muß man Naturalismus nicht verstehen.