Handkes „Kaspar“ ertrinkt in einer Flut von Bildern – Roberto Ciullis Inszenierung in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Peter Handkes „Kaspar“ auf die Bühne zu bringen, zeugt heute von erlesener Kühnheit. Sehr zeitgebunden erscheinen Bau und Rhythmen des 1967 geschriebenen Textes. Längst zum Klischee verfestigt hat sich die Einschätzung, die Maschinerie dieses Sprechstücks werde von skandierten Demo-Sprüchen und dem „Beat“ jener Jahre mit angetrieben.

Umso spannender die Frage: Wie geht das Theater heute mit dieser – eigentlich untheatralischen – Vorlage um? Roberto Ciullis Inszenierung, die jetzt in der Mülheimer Stadthalle Premiere hatte, gibt, wie kaum anders zu erwarten, eine höchst eigenwillige Antwort. Handke ging es noch um die pure Materialität der Sprache und darum, wie mit Wort- und Satzmaterial Kaspars Identität erschaffen und sodann stromlinienförmig normiert, also zerstört, wird.

Die „Einsager“, die „Kaspar“ durch „Sprechfolter“ zurichten, sollten dabei nur (technisch verfremdete) Stimmen bleiben und keine Rollen für Darsteller abgeben. Ganz anders bei Ciulli. Am Anfang war Handkes Wort, Ciulli aber sprach: „Es werde Bild!“ Figuren des Surrealisten Magritte vergleichbar, werden hier die „Einsager“-Stimmen lebendig, betreten als Trio die Bühne und spielen „Kaspars“ Wortwerdung bildreich durch.

Zu Beginn stöbern sie Kaspar in einer rostigen Tonne auf (kein Diogenes-Faß, eher schon die Urne bzw. Mülltonne aus Becketts „Spiel“ und „Endspiel“) und behandeln ihn wie ein Objekt: erkennungsdienstlich. „Kaspar“ – hier von einer Frau, Maria Neumanft, gespielt – wird mit Kopfhörer-Musik ruhig gehalten, in aufgenötigten Verrenkungen fotografiert, muß medizinische Tests über sich ergehen lassen.

Der/die letzte Unangepaßte, der/die Zuflucht bei einem letzten, elenden Baum gesucht hat, ist „erwischt“ worden. Eine grell den Baum überstrahlende Bahnhofsuhr zeigt, was die Stunde geschlagen hat. Die Einsager nehmen den grünen Waldboden wie einen Teppich weg. Die Natur ist erledigt, das letzte Spiel kann beginnen.

Es ist eine Mischung aus Folter und Kinderspiel: Die Einsager montieren eine Kinderpuppe, stecken „Kaspar“ in einen großen Spielwürfel, setzen Worte mit einem bunten Puzzlespiel zusammen. „Kaspar“ wird nackt auf einen Tisch gelegt, desinfiziert und sieht hernach so aus wie die Puppe: ein niedliches kleines Frauenzimmerchen, das seine Sprechlektionen lernt.

Dazu eine wahre Bilderflut, in der der Text zu ertrinken droht. Ciulli hat die Gabe, bannende Bilder zu finden, gewiß. Doch im zweiten Teil verselbständigen sich die optischen Reize. Da bleibt Handkes Text fast ganz auf der Strecke, nur noch einige kurze Passagen werden zum Schluß gesprochen.

Zuvor wird man Zeuge einer ins schmerzhaft-endlose gedehnten Zeitlupen-Szene. Auf schwarzer, leergefegter Bühne (Apokalypse!) wallfahrtet eine groteske Biedermeier-Gesellschaft zu Kaspar, dem letzten Sprachkundigen, der auf seiner Tonne wie eine Heiligenstatue postiert ist. Die Damen und Herren aus dem 19. Jahrhundert, auf der Basis von uberdeutlich ritualisierten Herr-Knecht-Verhältnissen vegetierend, spielen (gleichsam Erbsünde) die Erschlagung des historischen Findlings Kaspar Hauser.

Bewundernswert die Leistungen, auch die Duldsamkeit der Darsteller: allen voran Maria Neumann, die eine tote Leere um die Worte herum „mitspricht“, als sei das Ende allen Sprechens greifbar nah.




„Maria Stuart“ und die Lust an der Buße

Von Bernd Berke

Wuppertal. Aus dunklem, augenscheinlich königlich teuren Holz sind die Wände in Maria Stuarts Gefängnis und in den Räumen ihrer Widersacherin, der Königin Elisabeth. Der Vorhang: kostbares violettes Tuch. Die Musik: Streichquartett von Franz Schubert. Durchweg edel eingefaßt wie ein Kleinod, wie ein sorgsam verwahrtes Text-Geschmeide, sieht man in Wuppertal Schillers „Maria Stuart“ – im wahrsten Wortsinn ein Schmuck-Stück.

Adelheid Müthers Inszenierung behandelt die Vorlage äußerst schonend, fast scheu. Rena Liebenow spielt die Elisabeth. Würde oder Herrscherstolz sind bei ihr nur in Ansätzen zu spüren. Auch wird sie gar nicht so sehr von erotischer Frustration umgetrieben, wie dies Text und Aufführungskonvention nahelegen könnten. Nein, eigentlich ist sie – man kann es kaum anders ausdrücken – eine „ganz patente Frau“. Wenn nur die hohe Politik nicht wäre! Auf diesem Felde wird sie zum Opfer ihrer kleinen Unsicherheiten und derer, die diese Schwächen ausnutzen: ihrer Ratgeber bei Hofe.

Elisabeths Gefangene, Maria Stuart (Sabine Schwanz), Konkurrentin in politischer, erotischer und religiöser Hinsicht, wird in dieser Aufführung weitaus mehr stilisiert. Eine religiös Verzückte ist sie, gleich zu Beginn filigrane Fingerbewegungen vollführend wie eine entrückte Prophetin oder Heilsbringerin. Sie wirkt, als sei sie einem alten Gemälde entstiegen, als sei sie längst nicht mehr von dieser Welt. Ihre sinnliche Kraft, ihre Vergangenheit als Verführerin – weit liegt das alles zurück.

Die zentrale Szene, Marias Begegnung mit Elisabeth, ist denn auch vorherbestimmt. Diese Maria hat sich längst innerlich vom Leben gelöst. Wenn sie um Gnade bittet, so fast nur der Form halber. Erst, als sie den Tod vor Augen hat, erglüht sie wieder in Liebe: Angetan mit einem tief dekolletierten roten Kleid schreitet sie in beinahe schon frivoler Büßerinnen-Lust zum Schafott.

Die Inszenierung ist über weite Strecken eher ein Geschehenlassen; weder tritt sie dem Text zu nahe, noch zwängt sie die Darsteller in ein Korsett. Die auf Aktualisierung hindeutende Anspielung im Programmheft, nach der Barschel-Pfeiffer-Affäre verdienten die klassischen Tragödien und Staatsaktionen wieder neues Interesse, ist nur Koketterie.

Grenzen und Beengungen setzt also weniger die Regie, sie liegen hier eher im schauspielerischen Vermögen. Streckenweise erlebt man Aufsagetheater nach altbekanntem Schema: Wer gerade Text hat, tritt vor, spricht, tritt zurück, verharrt still, als habe er/sie nun mit dem Stück nichts mehr zu tun. Die besseren, dichteren Szenen sind daher meist jene, in denen nur eine oder zwei Personen auf der Bühne stehen.

Die Nebenrollen sind in sehr unterschiedlicher Güte besetzt. Die Spannweite reicht von Holger Scharnberg, der mit dem Part des Sekretärs Davison höchst präsent ist, über Publikumsliebling Heinz Voss, der als Shrewsbury einfach bruch- und geheimnislos als der „Gute Mensch von Fotheringhay“ auftritt, bis hin zu Herbert Ecker („Graf von Kent“), der sehr blaß bleibt. Alles in allem war die Ensembleleistung aber passabel.




Bochums „fliegende Untertasse“

Von Bernd Berke

Das Theater, sinniert Bochums Schauspielchef Frank-Patrick Steckel, sei vielleicht einer „fliegenden Untertasse“ vergleichbar. Es komme nicht aus unserer Alltagswelt, sondern „von woanders her“. Ob die Insassen feindliche oder freundliche Absichten hätten, sei so schnell nicht auszumachen.

Mit diesem galaktischen Denkbild gab Steckel den Filmemachern Axel Bornkessel und Claus-Ferdinand Siegfried ein Stichwort, auf das diese offenbar nur gewartet hatten. Hartnäckig vertretene These ihres WDF-Beitrags „Schaupielhaus Bochum – eine Stadt und ihr Theater“: Die Bühne der Revierstadt sei weit entfernt von der täglichen Realität und besonders von den Problemen der arbeitenden Bevölkerung. Man kann so etwas behaupten, doch hier fehlte der schlüssige Nachweis.

Steckel bestätigte immerhin: Peter Zadek und Claus Peymann seien mit ihren Produktionen aufs Publikum zugegangen. Bei ihm, Steckel, möge hingegen das Publikum sich den Produktionen nähern. Steckel vertrat – zumindest in den gezeigten Statements – seine Sache nicht allzu offensiv. Er sagte vor allem, was das Theater nicht sei, nämlich weder Realitätsknecht noch Utopie-Produzent. Was aber dann?

So war es denn ein Leichtes, mit Hauruck-Montagen den offenbar vorgefaßten Befund bildkräftig zu untermauern. Muster: Ausgesucht „abgehobene“ Szenen aus Bochumer Aufführungen, dann Bilder von Krupp und Opel hart und direkt dahintergesetzt. Oder: erst „Nibelungen“, dann City-Kaufhaus. Da sollte man als Zuschauer wohl schaudernd spüren, wie sich zwischen der Stadt und ihrem Theater eine meilenweite Kluft auftut.

Nebelhaft wurde die (ansonsten recht durchsichtige) „Beweis“-Strategie, als Szenen aus Pirandellos „Die Riesen vom Berge“ dafür herhalten mußten, Bochumer Arbeiter mit eben jenen „Riesen“ gleichzusetzen, vor denen das Theater große Angst habe und sich einigele.




Erinnerungs-Fahrten durch Tod und Traum – Reinhild Hoffmanns Tanztheaterstück „Verreist“

Von Bernd Berke

Bochum. Eisblöcke überall: In derSchultüte (statt Süßigkeiten); hoch aufgetürmt als Trennwand absoluter Kälte zwischen Mann und Frau; aber auch als kofferförmiges Reisegepäck und als „Schlitten“, auf denen man lustvoll die abgeschrägte Bühne hinuntersausen kann. Eisblöcke für Spiel und Schrecken.

„Verreist“ heißt Reinhild Hoffmanns Tanztheaterproduktion, 1986 in Bremen gezeigt und am Samstag (unter brausendem Premierenbeifall) erstmals in neuer Bochumer Fassung zu besichtigen. Statt „Verreist“ (sprich: unterwegs) könnte der Abend auch wortspielerisch in „Vereist“ (sprich: gefroren) umgetauft werden. Es friert nicht nur Wasser zu Eis, sondern auch Bewegung zur Starre. So werden in einer der wenigen Szenen, die sich direkt auf die touristische Form des Reisens beziehen, die Gesten einer Schar von Strandbesuchern immer wieder angehalten und als todesstarre Imponier-Posen „ausgestellt“.

Reisen aber ist hier mehr als bloßer Ortswechsel, es ist Spurensuche und Erinnerungs-Reise, in deren Verlauf Biographie-Splitter konfettibunt aufgewirbelt werden (Ziel: Kindheit), die Reise in den Schlaf (Ziel: Traum) und überhaupt die Lebensreise (Ziel: Tod).

Bühnen-Ort solcher Aufbrüche in die Fremde ist ein von Johannes Schütz entworfener, in Richtung der Zuschauer schräg abfallender Raum mit riesigen Tapeten und überdimensionalem Fensterkreuz. Darin sind die Akteure wie Kinder in einer zu groß geratenen Welt. Aus dieser Perspektive ergeben sich helle, fast „sprühende“ Darstellungs-Bilder. So vieles geschieht gleichzeitig und durcheinander, wie im fröhlichen Tohuwabohu eines Kindergeburtstags. Die Reise führt dabei gleichsam auch durch eine, freilich surrealistisch ausgeleuchtete „Sesamstraße“: Ein zotteliger Eisbär tappt niedlich über die Bühne (wird dann aber – desto unbegreiflicher – erschossen), ein toter Fisch bekommt eine Narrenkappe aufgesetzt.

Die spielerische Unmittelbarkeit wird auch sonst häufig gebrochen. „Vorboten“ der Unwirklichkeit sind Requisiten wie die erwähnten Eisblöcke, Spiegelscherben und Glasscheiben. Die Häufung von Todes-Zeichen ist unübersehbar: Eine Art Fährmann. mit seiner Rabenmaske (wie aus Zeiten der Pest) gewiß dem Reich des Nichtmehr-Seins zugehörig, ist „Reiseleiter“. Rituale mit Kerzen, Kreuzen, Kränzen und Asche sowie Kreuzigungs-Szenen sind Stationen der Fahrt.

Aber es ist keine „Schwarze Messe“, denn zwisehen derlei Düsternis blühen immer wieder helle Szenen auf, die von – wenngleich mühsam errungener – Lust und Befreiung erzählen. So auch ganz am Schluß, wenn Julie Shanahan mit knallroten, hochhackigen Schuhen auf einen Eisblock tritt, den kalten Würfel immer mehr zerkleinernd. In einer verzweifelten Mischung aus Trotz und Triumph ruft sie ins Publikum: „Ich tanze! Ich tanze!“

Zu elektronischen Klang-Collagen (Christina Kubisch) und einem breiten Musik-Spektrum (u. a.: Ligeti, Rossini, Mahler, Tanzmusik, Italo-Schnulze „Santa Lucia“) bewegt sich Reinhild Hoffmanns fabelhaftes Ensemble auf einern Grat zwischen Tanztheater und meist wortlosem Spiel. Tanz ist Ziel-, nicht Ausgangspunkt. Die Reise dorthin hat viele fesselnde Momente.

Kleiner Einwand: An einigen Stellen wird es doch ein wenig zu geschmäcklerisch. Da scheinen, bis hin zur Abstimmung der Farben, einzelne Szenen im Sinne bloßer Selbstzweck-Ästhetik entworfen zu sein – und nicht im Zeichen von Dringlichkeit.