Im Sog der Verzweiflung – „Minna von Barnhelm“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Kriegsheimkehrer ist halb verkrüppelt. Ohne Geld, in Erwartung eines infamen Gerichtsverfahrens wegen angeblicher Bestechlichkeit, gibt er sich dem Sog der Verzweiflung hin. Das klingt fast wie ein bitterer Vietnam-Blues, doch es steht in Lessings „Minna von Barnhelm“. Der Mann, dessen „preußische Ehre“ beschmutzt wird, ist der entlassene Major von Tellheim.

In Urs Trollers Bochumer Inszeniemng bleibt freilich von Preußen keine Spur. Tellheim (Wolfgang Michael) ist ein Leidensmann, verhärmt, verhuscht, verwirrt, verwahrlost – ein Schatten von einem Menschen. In schäbiger Montur, das Haar strähnig, „wildgrubert“ er über die Bühne, ein Misanthrop, ein Monster des Menschenhasses; einer, der sich geradezu autistisch in sein Unglück vergräbt und sich einpanzert, der Genuß aus dem Leiden zieht. Nur manchmal blitzt, grotesk verzerrt, ein Rest von Glücksgier auf. Eine Figur wie von Dostojewski.

Die Behandlung solcher Seelenleiden kann, so ist das in einer Komödie, natürlich nur in Liebe bestehen. Strahlend schön, mit schwellendem Busen, betritt „Minna von Barnhelm“ (Andrea Clausen) die Szene. Durch Zufall findet sie Tellheim, dem sie seit langem versprochen ist, in einem Gasthof. Doch Tellheim will sie nicht mit seinem Unglück belasten, er sperrt sich – in vehementer Leidens-Wollust – beharrlich gegen das nahe Glück.

Fraglich ist hier, was Minna eigentlich an ihm findet. Dieser Tellheim kann wohl niemais ein „Held“ gewesen sein. Auch sein Edelmut, zu Teilen eine Utopie der Gleichheit und Freiheit (von Geldzwängen), ist so gar nicht von dieser Welt. Seine lakonischen Einwürfe wirken oft nachgerade kindlich-naiv. So scheint es, als versteige sich Minna nur in ein willkürliches Lieben-Wollen. Wenn sie ihre Intrigen spinnt, um Tellheim gegen alle Widerstände in ihren Bann zu ziehen, so hat das viel Willküriich-Spielerisches, es paßt sehr gut zum Jungmädchen-Gekicher, dem sie sich mit ihrer Dienstmaid Franziska (Micheline Herzog) anfangs ausgiebig überläßt. Doch als sie – darin stimmen Text und Inszenierung überein – das Spiel schließlich bis zur Grenzlinie des Erträglichen treibt, wandelt auch sie Verzweiflung an.

Die schauspielerischen Leistungen, mit denen dies vorgeführt wird, sind sehenswert, es gibt sogar ein paar wahrhaft packende Szenen, bei denen es im Publikum atemlos still wird.. Auch die Nebenrollen sind gut besetzt. Zwar: Diener bleibt hier Diener, ohne Bewußtsein von Knechtschaft, höchstens mal maulend, ansonsten jedoch ums Glück ihrer Herrschaften brav mitzitternd. Aber recht hübsch machen sie das schon: Micheline Herzog als „Franziska“, Thomas Anzenhofer als „Just“ und Ivo Dolder als Wachtmeister „Paul Werner“. Abermals herausragend: Sven-Eric Bechtolf – auch er eine Art „Dostojewski-Charakter“, als Glücksspieler „Riccaut“.

Der Schattenriß des Lessing-Kopfs auf dem weißen Vorhang ist Programm: In der ganzen Inszenierung ist ein Respekt vor dem Text spürbar, eine Tendenz, die Worte „stehen zu lassen“. Auch das Bühnenbild (Florian Parbs) ist keiner Weise kunsträumlich-visionär, sondern schlicht und zweckmäßig.

Kein Regietheater also, aber (inzwischen schon Bochumer Spezialität) mal wieder ein  Régiewechseltheater, denn Urs Trailer übernahm die Produktion mitten im Entstehungsprozeß.




C. D. Friedrich – Bildvergleich wäre viel zu aufwendig / Experte: London kann kein Interesse an Klärung haben

Von Bernd Berke

Dortmund/Münster. Die ersten Wogen in Sachen Caspar David Friedrich haben sich gelegt: Nachdem – wie berichtet – die Londoner National Gallery Friedrichs „Winterlandschaft“ für 4,6 Mio. DM in Monaco ersteigert hat und das Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte nachdrücklich einen Vergleich mit seinem Zwillings-Exemplar forderte, sollte jetzt die Wissenschaft das Wort haben – wenn sie es überhaupt bekommt.

Denn, so ein Experte des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) gestern zur WR: „In London kann man doch gar kein Interesse mehr an einem eingehenden, naturwissenschaftlichen Vergleich haben – jetzt, nachdem man so viel Geld für das angeblich echte Bild ausgegeben hat“. London habe sich riskanterweise auf eine rein stilkritische Analyse gestützt, also nicht auf naturwissenschaftliche Methoden zurückgegriffen.

Welche Methoden kämen da eigentlich in Frage? Neben Stilkritik und Analyse der Maltechnik könnten z. B. Art und Beschaffenheit der Leinwand, der Grundierung, der Bindemittel (Leinöl usw.) und der Farb-Pigmente untersucht werden. Die winzige Pigmentprobe etwa, die durch einen kleinen (später optisch nicht wahrnehmbaren) „Stich“ in das Bild genommen wird, wird in einem komplizierten Verfahren verdampft. Dabei kann das jeweils ganz spezifische chemische Spektrum der Farbpartikel fotografiert werden. Weitere Verfahren sind z. B. Röntgen- und Infrarotaufnahmen.

Nur: Bei allem Fortschritt der Technik stellt sich die Sache gerade bei Bildern aus dem Umkreis der Romantik und ganz besonders beim Werk C. D. Friedrichs kompliziert dar. Der LWL-Experte, der „um Gottes Willen nicht genannt sein möchte“, da „das Verfahren schwebt“, meinte zur WR, im Grunde müsse man das gesamte (!) Werk C. D. Friedrichs erst einmal Revue passieren lassen. Erst nach einem solchen Überblick könne man wirkliche Vergleichskriterien für die beiden „Winterlandschaften“ gewinnen. Über Friedrichs‘ Werk gebe es aber bislang noch gar keine größeren und aussagekräftigen Reihenuntersuchungen. Wer aber könnte und wollte dieses Riesenpensum auf sich nehmen? Sicher nicht die National Gallery, und die Dortmunder – schließlich würde das Unsummen kosten – wohl auch nicht.

Im übrigen, so der Münsteraner Experte, kenne er das Dortmunder Bild ziemlich gut und habe „keinerlei Zweifel“, daß es sich zumindest um das Werk eiries Friedrich-Zeitgenossen handle. Da liege überhaupt ein Schwachpunkt in der Argumentation des Berliner Professors Börsch-Supan, der das Dortmunder Bild für eine Kopie hält. Börsch-Supan habe in seinen Gutachten seinen Kopie-Begriff gar nicht geklärt. So könne eine Kopie zum Beispiel eben zeitgenössisch und mit Friedrichs Zustimmung entstanden sein, oder aber sehr viel später. Falls es sich um einen Zeitgenossen handele, helfe auch Sie ganze chemische Analyse nicht viel weiter. Dann könne es keine Klärung über „echt“ und „kopiert“ geben. In diesem Fall werde man nämlich nur auf die Information stoßen, daß beide Bilder im selben Zeitraum entstanden sind.




Kinder aus Nazi-Familien: Fluch der späten Geburt – Monolog-Folge „Schuldig geboren“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Draußen in der kalten Nacht geht, nervös kettenrauchend, ein Mann auf und ab. Es ist der Schauspieler Sven-Eric Bechtolf. Wir Theaterzuschauer sehen ihn durch die Fensterscheiben des Kammerspiel-Foyers, hören ihn via Mikrophon und Lautsprecher.

Hinter Bechtolf: (echte) Taxifahrer und ihre Fahrgäste, über den „verrückten“ Nachtwandler lachend. Noch weiter hinten, auf der gegenüberliegenden Straßenseite: das fernsehabendliche Flimmerlicht in den Wohnzimmern. Drinnen, im Foyer, laufen auch zwei Monitore, das Alltäglichste vom Alltäglichen zeigend, vorüberhuschende Autos.

Eine gespenstische Verzahnung: Drinnen ist draußen, draußen drinnen – und gestern ist heute. Die Texte, die hier gesprochen werden, sind authentisch. Sie entstammen Peter Sichrovskys Buch „Schuldig geboren – Kinder aus Nazifamilien“.

Sichrovsky, Jahrgang 1947, dessen Eltern als jüdische Emigranten in England lebten, hat die – heute etwa zwischen 35 und 45 Jahre alten – Kinder von Schergen und überzeugten Nutznießern der NS-Zeit nach dem Verhältnis zu ihren Eltern befragt. Die schreckliche Gewöhnlichkeit der Aussagen wird noch gesteigert dadurch, daß diese Eltern in der Mitte, nicht an der Spitze der NS-Hierarchie standen. In den Monologen der „schuldig geborenen“ Nachkommen offenbart sich ein Weiterwirken des „deutschen Syndroms“ bis in die Gegenwart, ein dauerhafter Fluch der späten Geburt.

In den 14 Texten, die für jeden Bochumer Aufführungsabend anders zusammengestellt werden (zur Premiere waren es sechs) treten in greller Verschärfung die Symptome der notorischen „Unfähigkeit zu Trauern“ zutage. Je nach Charakter, äußern die Kinder sich verharmlosend, entschuldigend, stolz, sarkastisch, ratlos oder hilflos aufbegehrend über ihre Eltern.

Eine seriöse Inszenierung darf natürlich die selbstgerechten Passagen nicht bruchlos stehenlassen, sie muß heftig konterkarieren. Das Bochumer Regieteam (Andrea Breth, Thomas Kallin, Jochen Tovote) hat sich ersichtlich bemüht, dies zu leisten. Beständige Gefahr ist dabei das Abgleiten in bloße Karikatur. So verfällt Hildegard Kuhlenberg als „Brigitte“, die ihren Nazi-Vater noch immer bewundert, in eine Art „Else-Stratmann“-Diktion, um das Gesagte zu denunzieren. Und Armin Rohde als „Gerhard, 41, der Ratlose“, liefert zwar eine bravouröse Sozialstudie eines Fleischerladenbesitzers, der wegen der Taten seines Vaters keinen Laden in der lukrativen Fußgängerzone bekam, doch geht diese Darstellung eigentlich schon zu sehr in Richtung Kabinettstück.

Die traumatische Dimension des Erinnerungszwangs wird am deutlichsten bei Sven-Eric Bechtolf als „Rudolf, 36. Der Schuldige“, der sich durch die Taten seiner Eltern ein für allemal besudelt fühlt und mit angeekeltem Zynismus deren Nachkriegs-Wohlleben in Südamerika schildert. Nie aus einem schweren Alptraum auftauchend: Ingrid Oesterheld, die sich beflissen eine bessere Zukunft einredet, am Ende aber in einer Art Blackout verstummt. Das monströse „Damals“ hat sie eingeholt. Verunsichernd schließlich: Kim Collis als angepunkte 19jährige Täter-Enkelin „Stefanie“, die rotzig einen neuen Nationalstolz einfordert.

Das Bühnenbild (Peter N. Schultze) bewegt sich sehr im Rahmen des Erwartbaren: eine Schuttlandschaft mit aufgestecktem deutschen Fähnchen.




Schurken, Helden und Kurtisanen auf edlem Büttenpapier – Holzschnitte zeigen japanisches Kabuki-Theater

Von Bernd Berke

Selm/Cappenberg. Im Teehaus ging es oft zu wie in „Dallas“. Dort konnte man, anders als hinter papierdünnen Wänden daheim, in sonorer Lautstärke üble Intrigen einfädeln – und das womöglich in Gegenwart kluger und schöner Kurtisanen. Solche Situationen waren und sind der Ausgangspunkt für Stücke des japanisehen Kabuki-Theaters, das – im Gegensatz zum höfischen No-Theater – für die breiten Volksmassen gespielt wurde.

Einen faszinierenden Einblick in diese fremdartige Bühnenweit der „Helden, Schurken, Kurtisanen“ (Ausstellungstitel) gewähren jetzt im Schloß Cappenberg 294 Holzschnitte nach Kabuki-Aufführungen. Zusammengetragen hat sie der Essener Sammler Hendrick Lühl (52), im Hauptberuf Jugendrichter.

Lühl hat sich auf Arbeiten der Holzschnitt-Meister aus dem Osaka des 19. Jahrhunderts spezialisiert und verfügt auf diesem Gebiet über eine bundesweit einzigartige Kollektion, die in Cappenberg erstmals zugänglich gemacht wird. Selbst in Japan gibt es nur eine Sammlung, die auf diesem begrenzten Felde mehr zu bieten hat.

Hintergrund: „Rund 98 Prozent“ (Lühl) aller Kabuki-Illustrationen entstanden in Edo (heute Tokio), der rare Rest in Osaka. Bis vor einiger Zeit waren diese Varianten, da von der Fachwelt sträflich vernachlässigt, noch relativ preiswert zu haben. Stilkennzeichen für Darstellungen aus Osaka sind – respektlos gesagt – die rundlichen „Hängebacken“, mit denen die Schauspieler auf den Bildern erscheinen, während in der Edo-Variante kantig-eckige Gesichter „Vorschrift“ sind.

Und so entstanden die Bilder: Schon während der Proben fertigte ein Künstler Szenen- und Porträt-Skizzen an, die hernach dem Holzschnitzer als Vorlage dienten und oft farbenprächtig auf schweres Büttenpapier gedruckt wurden – so zeitig, daß sie schon zum Start einer neuen Aufführung vorlagen. Auch vergötternde Gedenkbilder für verstorbene, besonders berühmte Schauspieler entstanden in Osaka.

Die in Cappenberg versammelten Exemplare zeigen durchgehende Merkmale. Besonders ins Auge fällt die – für unsere Begriffe – kämpferisch-verkrampfte, posierende Haltung der abgebildeten Schauspieler. Tatsächlich galten derlei Posen, ja selbst das gekonnte Schielen als absolute Gipfelpunkte der Kabuki-Schauspielkunst. Die Darsteller erstarrten mitunter, von ihren Fans im Publikum angefeuert, minutenlang in diesen kunstvollen „Verrenkungen“.

Traum heutiger Schauspieler: Die Mimen standen so hoch auf der sozialen Leiter, entfalteten so viel Luxus, daß sie – neben den Kurtisanen – als die Modefürsten der Gesellschaft gelten konnten. Solche Pracht findet sich auch auf vielen Kabuki-Holzschnitten wieder.

Frauen durften bei den oft ganztägigen Volksfesten des Kabuki übrigens nur in der Gründerphase (bis ca. 1650) mitspielen. Im 19. Jahrhundert standen längst nur noch Männer auf der Bühne – auch als Kurtisanen. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Die Cappenberger Ausstellung, bislang größtes Projekt des Kreises Unna am Platze, soll – so hoffen die Veranstalter – international Wirkung zeigen. Vorsichtshalber ließ man schon eine englische Übersetzung des informativen Farbkatalogs (28 DM) anfertigen. Ein Museum in Boston (USA) signalisierte bereits Interesse. Durchaus denkbar, daß auf dieseift Umweg auch ein japanisches Kultur-Institut die Schau übernimmt.

„Helden – Schurken – Kurtisanen“ (Schloß Cappenberg, bis 28. Februar 1988, täglich 10 bis 17 Uhr außer montags; 24., 25., 26. und 31. Dezember sowie 1. Januar geschlossen).




Heinrich Böll: Vom Kinderfoto bis zum Altersgedicht – Erstmals umfassende Ausstellung in Köln

Von Bernd Berke

Köln. „Charakterliches Streben: zufriedenstellend; Geistiges Streben: zufriedenstellend; Religion: genügend; Deutsch: genügend“ – Kein sehr glänzendes Abiturzeugnis. Aus dem Menschen kann nicht viel geworden sein, könnte man meinen. Doch die mäßigen Bewertungen stehen auf dem Reifezeugnis, das am 6. Februar 1937 auf den Namen Heinrich Böll ausgestellt wurde.

Das Origiaaldokument ist eines von rund 450 Exponaten, die zur ersten wirklich umfassenden Böll-Ausstellung gehören. Am 21. Dezember, dem Tag, an dem der wohl bekannteste deutsche Nachkriegs-Schriftsteller 70 Jahre alt geworden wäre, wird die Zusammenstellung in der Kölner Zentralbibliothek (Josef-Haubrich-Hof) mit einer Ansprache von Walter Jens eröffnet.

In dem eingangs zitierten Zeugnis wurden auch die Verhältnisse geschildert, aus denen der Autor stammte: „Geordnetes Familienleben, doch sehr dürftige Verhältnisse. Der Vater, Bildhauer, ist seit langem arbeitslos. 6 Kinder“. Unter dem Punkt „Charakter“ behaupten die Lehrer: „Schwerblütig, verträglich, vielleicht nicht energisch genug“.

Natürlich wird nicht nur Bölls Schulzeit durch Ausstellungstücke dokumentiert. Die vom Böll-Neffen Viktor und von Gabriele Ricke erarbeitete Schau ist chronologisch in sieben Abteilungen gegliedert, sie reicht vom Kinder-und Klassenfoto über die Kriegspostkarte aus Nordfrankreich, über Briefwechsel mit den Kollegen von der „Gruppe 47″ bis hin zu Dokumenten, die das stete politische Wirken Heinrich Bölls belegen. Fotos zeigen ihn z. B. bei einer Rede gegen die Notstandsgesetze (Mai 1968) und bei der großen Bonner Friedensdemonstration (Oktober 1981).

Zwei weitere Dokumente markieren die Extrempole der öffentlichen Einschätzung Bölls: eine infame Karikatur, die Böll als Helfershelfer der Terroristen darstellt – und jenes Telegramm, mit dem die Schwedische Akademie der Wissenschaften dem Schriftsteller 1972 mitteilte, daß man ihm den Literaturnobelpreis verliehen habe.

Nicht nur jene, die Bölls politische Wirkung höher einschätzen als seine literarische Potenz, kommen auf ihre Kosten. Detailliert wird – am Beispiel des Buchs „Gruppenbild mit Dame“ – Bölls Schaffensprozeß belegt. Der Einblick in die literarische Werkstatt des 1985 verstorbenen Kölner Ehrenbürgers umfaßt erste Ideen, Notizen, Entwürfe, Ma- terialien, die der Autor tieim Schreiben heranzog, Korrekturfahnen und Buchausgaben.

Ein Brief, den er Ende der 40er Jahre an seinen ersten Lektor schrieb, erhellt auch ein weniger bekanntes Kapitel aus Bölls Leben. Er war damals – kaum, daß er begonnen hatte – drauf und dran, die Schriftstellerei ganz aufzugeben, und zwar aus finanziellen Gründen. Spürbaren Erfolg hatte er mit seinen Büchern nämlich erst ab Mitte der 50er Jahre.

Daß die Materialien über Boil in Köln so zahlreich beisammen sind, ist erfreuliche Folge des Vertrags, den der Autor seinerzeit mit der Stadt schloß: Köln zahlte ihm eine Pension, Böll überschrieb der Domstadt dafür seinen Nachlaß.

Die Ausstellung schließt mit einem sehr privaten Dokument, einem Gedicht, das Böll kurz vor seinem Tod, am 8. Mai 1985, für seinen Enkel Samay schrieb:

„Wir kommen weit her / liebes Kind / und müssen weit gehen / keine Angst / alle sind bei Dir / die vor Dir waren / Deine Mutter, Dein Vater / und alle, die vor ihnen waren“.

Die Ausstellung dauert vom 22. Dezember bis 30. Januar 1988 (Öffnungszeiten: Di. u. Do. 11.30 bis 20 Uhr, Mi. u. Fr. 9-18 Uhr, Sa. 10-15 Uhr). Eintritt frei, Begleitbroschüre 2 DM.




Neuer Leiter des Ostwall-Museums: „Kunst ist auch Politik“ – Ingo Bartsch skizziert sein Konzept

Von Bernd Berke

Dortmund. „Eine reizvolle Aufgabe“ erhofft sich der künftige Leiter des Dortmunder Museums am Ostwall, Dr. Ingo Bartsch (44), von seiner neuen Stellung, die er vermutlich im Februar oder März 1988 antreten kann. Bartsch, derzeit noch stellvertretender Chef des Museums Bochum, sagte gestern, er wolle „mit einigem Fingerspitzengefühl versuchen, die verhärteten Strukturen“ an dem Dortmunder Kunstinstitut „abzumildern“.

Er setze auf das pädagogische Geschick seiner Mitarbeiter. Durch didaktische Vermittlung sollten weitere Bevölkerungskreise an das Haus herangeführt werden. Gleichwohl bleibe sein Konzept offen auch für neue und neueste, womöglich noch nicht „abgesicherte“ oder gar verstörende Kunstströmungen.

Der neue Mann für Dortmund, ein gebürtiger Berliner, der an der dortigen Freien Universität studierte, investierte volle fünf Jahre in seine 1977 abgeschlossene Dissertation über die Malerei des italienischen Futurismus und ihre Bezüge zum Faschismus. Die Anfälligkeit dieser Avantgarde-Bewegung für autoritäre Strömungen gilt Bartsch als Beleg dafür, daß Kunst nicht vom gesellschaftlich-politischen Umfeld isoliert werden kann. Bartsch: „Kunst ist mehr als bloße Ästhetik“. Diese Einsicht werde sich in seiner Dortmunder Arbeit ebenso niederschlagen wie das Spezialinteresse für Italien.

Er freue sich, so Bartsch, mit dem Ostwall-Museum nicht nur ein reines Wechsel-Ausstellungs-Institut zu übernehmen, sondern auch für die Pflege einer ständigen Sammlung verantwortlich zu sein. Diese Kombination passe zu der Ausbildung, die er bis 1979 an der Kunsthalle in Baden-Baden erhalten habe.

Der Dortmunder Sammlungsbestand – mit den Schwerpunkten Expressionismus (Sammlung Gröppel) sowie Happening und Fluxus (Sammlung Feelisch) sei beachtlich, müsse jedoch „erweitert, ergänzt, konzentriert“ werden. Da der Ankaufsetat (für 1988 lediglich 200.000 DM) durch den beschlossenen Erwerb der Sammlung Feelisch auf Jahre hinaus weitgehend blockiert ist, will Bartsch öfter mal mit anderen Museen kooperieren und sich auch auf vorsichtige Suche nach Sponsoren begeben. Allerdings: „Sponsorentum ist grundsätzlich eine knifflige Angelegenheit.“ Es dürfe keinesfalls ein sachfremder Einfluß auf die Arbeit des Museums ausgeübt werden.

Einige Neuerungen am Museum, dessen Lichthof just einen schmucken neuen Innenanstrich bekommen hat, stehen bereits fest: Teile der Sammlung werden umgruppiert. Vor allem „Neue Wilde“ und größere Objekte müssen in die Magazine. Dafür werden im Untergeschoß Räume für Künstler-Aktivitäten frei, die sich vornehmlich auf die örtliche und regionale Szene stützen sollen.

Obgleich Ingo Bartsch dem Haus am Ostwall viel Gutes abgewinnen kann („schöne Raumabfolge“), würde er sich doch auf längere Sicht – genau wie Dortmunds Kulturdezernent Dr. Gerhard Langemeyer – einen zusätzlichen Neubau wünschen. Bartsch: „Dann könnte im alten Haus die ständige Sammlung präsentiert werden, und im neuen wäre Platz für Wechselausstellungen“.




Solo für Bazon oder: Die ratlosen Ärzte am Krankenbett der Kunst

Von Bernd Berke

Witten. Vielversprechend war das Thema, grandios am Ende das Scheitern: Über „Krankheit und Gesundheit in der Kunst“ redeten sich im Wittener Saalbau einen Tag lang Experten für Kunst, Literatur und Psychologie die Köpfe heiß.

Nachmittags hielten sie hochfliegende Vorträge (Titelbeispiel: „Aus der Sintflut der Information zu gestalterischer Transformation?“), abends traktierten sie die schätzungsweise 100 zahlenden Zuschauer (Eintritt: 5 DM) mit einer Podiumsdiskussion, an deren Ende der Organisator, Dr. Ralph Driever, erschöpft bekennen mußte, man habe das Thema nicht annähernd ausloten können. „Arzte“ am Krankenbett der Kunst, ratlos.

Einen gewissen Genußwert konnte man der Hypothesen-Parade freilich abgewinnen, wenn man sich entschloß, das Ganze unter musikalisehen Gesichtspunkten anzuhören — sozusagen als „Diskussions-Serenade für fünf Stimmen und Publikumsbeteiligung“. Zwei angekündigte Solisten fielen allerdings aus: Der Aktionskünstler Wolf Vostell sagte Wochen vorher ab, Essens Schauspielchef Hansgünther Heyme, heimischer Verpflichtungen wegen, nur Stunden vorher. Da blieb denn nur noch  e i n Diskussions-Virtuose: Bazon Brock, Ästhetik-Professor aus Wuppertal, der denn auch einige unvergleichliche intellektuelle Soli „hinlegte“ und sich am Ende zum veritablen Brüll-Duett mit einem erbosten Architekten im Zuschauerraum steigerte.

Ein aus Dortmund angereistes Trio im Publikum, das sich auf einem Flugblatt als „Art Klinik“ (Kunstklinik) vorstellte, spielte dazu gleichsam basso continuo, also wiederkehrende Grundmuster. Tenor ihrer beharrlich durchgehaltenen Zwischenrufe: Alle Menschen sind verrückt, also ist Kranksein auch in der Kunst das Normale. Daran mußte jedes Argument abprallen. Zwischendurch wurde auch schon mal die Tonart gewechselt und der Basler Kunsthistorikerin Elka Spoerri bescheinigt: „Du tickst ja nicht richtig“.

Frau Spoerri versuchte, am Beispiel Adolf Wölflis (der als Psychotiker viele Jahre in Anstalten war und eine ganz eigentümliche Bildwelt ersann) darzulegen, welchen Anteil die Krankheit an der Kreativitat habe. Bazon Brock erläuterte beredt, daß Krankheit als Voraussetzung für künstlerische Arbeit ein veralteter Gedanke der Romantik-Epoche sei. Er, Brock, glaube indessen, daß Krankheit den schöpferischen Prozeß behindere. Allerdings gebe es auch eine Form vorgeblicher „Gesundheit“, die faschismusanfällig mache. Brock nannte in diesem Zusammenhang die Namen Ernst Jünger, Albert Speer und Arno Breker.

Vor der Eloquenz des Wuppertaler Professors mußten die anderen Diskussionsteilnehmer (außer den Genannten noch der Schweizer Psychiater Dr. Gottfried Waser und der Schriftsteller Dr. Hans Georg Bulla aus Hannover) ihre rhetorischen Waffen strecken. Zum zweiten Kernpunkt, wie denn die Kunst Krankheit darstelle, drang man gar nicht mehr vor.

Ziemlich einig war man sich darin, daß – aus dem Blickwinkel der Künste – viele psychiatrische Begriffe fragwürdig seien. So diene die Kennzeichnung „krank“ oft nur als Rechtfertigung, wenn man Unbequeme ausgrenzen wolle.




Wie Motive sich verwandeln – Graphik von Christian Rohlfs im Ostwall-Museum

Von Bernd Berke

Dortmund. Daß er in erster Linie Maler, konnte Christiaa Rohlfs (1849-1938) auch nicht verleugnen, wenn er sich druckgraphischen Techniken zuwandte. Während andere Künstler ihre graphischen Arbeiten in mehr oder weniger hohen Auflagen herstellten, wahrte Rohlfs fast immer die Aura des Originals und beließ es jeweils bei einem Druckabzug. Dann freilich variierte er die Motive durch Übermalungen und Uberzeichnungen vielfach.

Einen staunenswerten überblick zum gesamten (!) Motivumfang des graphischen Werks von Rohlfs, der lange Jahre in Hagen lebte, kann man sich nun im Dortmunder Ostwall-Museum verschaffen (Eröffnung: Sonntag, 17 Uhr; Dauer der Ausstellung: bis 7. Februar). Maßgeblich an der Auswahl beteiligt sind die Dortmunder Galerie Utermann, das Essener Folkwang-Museum (dorthin wandert die Ausstellung im April 1988) und nicht zuletzt die 96jährige Rohlfs-Witwe Helene, die allein 40 rare Arbeiten zur Verfügung stellte. Die Künstlerwitwe will zur Ausstellungseröffnung erscheinen.

185 druckgraphische Arbeiten von Rohlfs, dazu rund 60 Übermalungen und „Zustandsdrucke“ (gleichsam Zwischenresultate der Arbeiten) sind in Dortmund zu sehen. Mit dieser beispiellos umfangreichen Zusammenstellung bleibt das Ostwall-Museum einmal mehr seinen Traditionen treu: Dem Schwerpunkt der Dortmunder Sammlungsbestände entsprechend, liegt auch bei Rohlfs der Hauptakzent auf expressionistischen Seh- und Darstellungsweisen; zudem ergibt sich bei ihm ein ausgeprägter Regionalbezug (Hagen, Soest).

Interessant ist vor allem, wie ein- und dasselbe Motiv durch farbliche und sonstige Überarbeitung ganz unterschiedliche Qualitäten und Gefühlswerte entfalten kann. Dies gilt zum Beispiel für eines der Spitzenstücke der Ausstellung, die 1918/19 entstandene Serie „Der Gefangene“, von der auch Original-Holzdruckstöcke gezeigt werden. Die auf die denkbar knappste Formel gebrachte Leidenssituation – ein ausgemergelter Mensch zwisehen vier Gitterstäben – wirkt je nach Variante einmal ganz und gar trost- und hoffnungslos, dann wiederum so, als könnte dieser „Gefangene“ die Stäbe augenblicklich zerbrechen und sich befreien. Auch die sechs Varianten des Motivs „Singvogel“ (um 1912; ein Bauer im „Gespräch“ mit dem Tier) zeigen immer neue Facetten desselben Themas.

Ausstellung und Katalog (30 DM) werden durch die Dokumentation verschiedenster Bearbeitungsformen fast zu Kompendien dieser Techniken. Und: Von religiösen und Todesmotiven bis hin zu ganz und gar heiteren Themen, von frühen Jugendstil-Anklängen über die breite Bahn des Expressionismus bis hin zu Aufschwüngen in den Symbolismus kann man das ganze inhaltliche und stilistische Spektrum Rohlfs‘ nachvollziehen.