Cleverer Onkel und ein Kultur-Eckchen für die Damen – Carl Sternheims „Tabula rasa“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Diese Farbsymbolik ist schon reichlich dick aufgetragen: Wenn in der Wuppertaler Inszenierung von Carl Stemheims Stück „Tabula rasa“ wirtschaftlich-politische Dinge verhandelt werden, spielen sie sich in Wolf Münzners Bühnenbild auf einer großen grauen Fläche ab, die bis in die Tiefe der Bühne reicht und fast nur den Herren der Schöpfung vorbehalten bleibt.

Für die dienenden Damen gibt’s links vorn, schräg nach hinten gekippt, ein kleines rosarotes „Kultur-Eckchen“ mit Klavier, Staffelei, Ballettstange und Spiegel. Die Verbindung beider Sphären ist denkbar gering und wacklig: Mit einem Bein ragt ein Tisch aus dem grauen in den rosaroten Bereich, nur gestützt von einer winzigen Klassiker-Büste.

An dem Tisch residiert Wilhelm Ständer, Sozialdemokrat auf Abwegen: Heimlich ist er zum Mitaktionär der Rodauer Glasfabriken geworden. Nach wie vor kehrt er den kämpferischen Arbeiter heraus, doch hinter verschlossenen Türen und Vorhängen läßt er sich von einer Magd bedienen und lebt wie ein Bourgeois. Die Geschichte: Um von diesem Widerspruch, der bei einer Generalrevision zum Betriebsjubiläum ans Licht zu kommen droht, abzulenken und schließlich „reinen Tisch“ zu machen (sprich: sein egoistisches Selbst ausleben zu können), setzt er ein Scheingefecht um eine Arbeiterbücherei in Gang und spielt dabei radikale und gemäßigte Sozialdemokraten gegeneinander aus; Revolte und Rückzug halten so einander aufs Prächtigste die Waage und verschaffen Ständer den nötigen Handlungsspielraum.

Das Fatale an Sternheims 1919 uraufgeführtem Stück: Es baut als Gegner Ständers nur kleine Popanze und Phrasendrescher auf, die furchtbar leicht zu überwinden sind – und es billigt Ständers rigorose Selbstverwirklichung; ganz im Sinne Nietzsches.

Satirische Spitzen abgebrochen

Doch wild-entschlossen geht es hier keineswegs zu: In Ulrich Greiffs Wuppertaler Inszenierung ist Ständer (redlich bemüht wie auch die anderen Darsteller, die alle mehr können, als sie hier zeigen dürfen: Gerd Mayen) alles andere als ein selbstsüchtiger Dämon. Er wirkt wie ein netter, cleverer Onkel, der halt weiß, wie man ans Geld rankommt, und dies dem Publikum augenzwinkernd mitteilt. Diese Haltung billigt sich, weil nett und „harmlos-alltäglich“, noch viel leichter. So hat denn die ganze Sache einen Grundgestus von Versöhnlichkeit, satirische Spitzen sind abgebrochen.

Komik überhaupt stellt sich in dieser – über weite Strecken erschreckend hilflosen – Inszenierung nur in Ansätzen ein (am ehesten noch bei Andreas Peckelsen als gemäßigtem „Sozi“ Artur Flocke), sie bleibt meist äußerlich: Die teilweise abstrusen Kostüme wirken eher wie „Narrenschellen“, die man den Figuren angehängt hat.

Überdies sind Raum- und Zeiteinteilung ungeschickt gehandhabt: Der weitläufige Bühnenraum verlangt unnötig lange Wege von den Schauspielern; dabei wird sinnlos Zeit verbraucht, es entstehen ungefüllte „Textlöcher“, die Aufführung findet keinen Rhythmus. Extrem wird das, wenn ein ganzes Arbeiterstatisten-Heer gemächlich Einzug hält und noch umständlich Stühle bereitgestellt werden. Die nachfolgende Massenszene ist die ärgste des Abends, sie erhebt sich nur wenig über Laienspielniveau.

Nur höflich-wohlwollender Beifall für die letzte Schauspiel-Premiere der Intendanten-Ära Fabritius.




„Strukturwandel auch für die Kultur nutzen“ – Dortmunds Schauspielchef Guido Huonder im Rundschauhaus

Dortmunds Schauspielchef Guido Huonder (4. von links) im Kreise von Rundschau-Redakteuren. (WR-Bild: Franz Luthe)

Eigener Bericht

Dortmund. (bke) Der Strukturwandel im Revier habe auch ein Bewußtsein für die Wichtigkeit von Kultur geweckt: „Dieses neuerwachte Bewußtsein müssen wir nutzen, um den Politikern klarzumachen, daß Kultur kein freiwilliger Geschenkartikel, sondern eine Pflichtaufgabe ist.“ Das sagte Dortmunds Schauspielchef Guido Huonder bei einem Redaktionsbesuch im Dortmunder Rundschauhaus.

Huonder, dessen Ensemble bundesweit gefragt ist und bei mehreren renommierten Festivals die Stadt repräsentiert (heute, Samstag, 20 Uhr, gibt’s im Dritten TV-Programm die Dortmunder Fassung von Taboris „Mein Kampf“ beim NRW-Theatertreffen), erklärte sich im Kampf gegen Etatkürzungen „total solidarisch mit den anderen Revier-Theatern“, denn „im Ruhrgebiet gibt es kein einziges Theater zuviel“. Der gebürtige Schweizer ist da fürs: „Kantönlidenken“: „In der Schweiz ist jede Stadt stolz, daß sie alles hat.“

Früher 45 Ensemblemitglieder, heute nur noch 25

In Dortmund, so Huonder, habe man zuerst die bittere Erfahrung gemacht, die nun z. B. auf Essen zukomme. Die in Dortmund vor Jahren veranlaßten Einschnitte „werden jetzt erst eigentlich spürbar“. 1975 habe das DO-Ensemble noch aus rund 45 Schauspielern bestanden, heute seien es 25. Folge: So gerne man auf Festivals für die Stadt werbe, so schmerzlich sei es, daß man an den betreffenden Tagen daheim nicht mehr spielen könne. Die Personaldecke sei einfach zu kurz. Huonder: „Ich kann meine Leute nicht auswringen.“ Ohnehin müsse man „am Rande der Ausbeutung“ arbeiten: „Unsere Erfolge sind ein Ding von Arbeit und Maloche“.

Die oft als Spar-Chance erwogenen Kooperationen mit anderen Bühnen brächten erfahrungsgemäß gar keine Einsparungen, sondern sogar Mehraufwand. Eine zentralisierte Werkstatt für mehrere Revier-Theater könne hingegen sinnvoll sein. Weitere Konsequenz der Festival-Verpflichtungen sei ein höherer Erwartungsdruck. Es sei aber eine Qualitätsgrenze erreicht, die mit den jetzigen Mitteln nicht überschritten werden könnc.

Gerne mal einen Widerhall aus Politikermund hören

Der gute überregionale Ruf ist hochwillkommen, aber: „Ich bleibe gern auf dem Teppich“. Allerdings, so Huonder, würde er gerne öfter mal einen Widerhall der Erfolge aus Politikermund hören. „Das würde etwas in der Öffentlichkeit bewirken“. Viele Politiker hätten aber immer noch nicht gemerkt, daß „Kultur eine feste Größe ist, die man eigentlich gar nicht anrühren darf.“

Man müsse eben endlich weg von der Diskussion, ob Kultur nötig sei, und lieber darüber reden, welche Kultur man wolle. Denn: „Kultur ist der Humus einer Stadt“. In einer der reichsten Nationen der Welt müsse doch einfach das Geld dafür vorhanden sein. Vorsicht sei jedenfalls beim Anzapfen mäzenatischer Geldquellen geboten. Im Erfolgsfall könnten Politiker versucht sein, die Kulturschaffenden vollends auf private Geldgeber zu verweisen.

Theatermann vermißt ein übergreifendes Konzept

Huonders rhetorische, bislang noch zu verneinende Frage: „Gab’s einmal ein kulturpolitisches Konzept in Dortmund?“ Der Theatermann träumt jedenfalls von einem solchen Konzept, das – gleichsam eine große Inszenierung auf der „Bühne Stadt“ – die gesamte örtliche Kultur einbezieht und bündelt, aber dennoch das Einzelne, Individuelle „zum Blühen bringt“.

Auch zum Bochumer Musical-Unternehmen „Starlight Express“ äußerte sich Huonder. Er glaubt – „wenn wir gutes Theater machen“ – nicht an Besucherschwund in Dortmund, fürchtet aber eine „Amerikanisierung“, die als Vorbild in Politiker-Köpfen spuken könnte. „Starlight“ das sei bloße Importware ohne rechte Ecken und Kanten – „und ohne Revier-Power“.




Das Gewicht von Lüdenscheid

Von Bernd Berke

Lüdenscheid. Der rührige Uwe Obier, Leiter der Städtischen Galerie Lüdenscheid, steht dafür ein: In der Kunstlandschaft hat die Stadt ihr Gewicht. Das nimmt der Künstler Peter Freese – mit Anhauch von Ironie – ganz wörtlich.

Aus Holzlatten hat Freese ein schematisches Autobahnnetz von NRW angefertigt; die Stadt-Punkte werden mit Eisengewichten, wie man sie vom Wochenmarkt her kennt, markiert. Was schon die Anschauung offenbart, wird auf der zugehörigen Skizze präzisiert: Lüdenscheid kommt ein sattes 10-Kilo-Gewicht zu. Daneben nehmen sich Dortmund (ein Kilogramm), ja selbst die Kunstmetropolen Köln und Düsseldorf als Leichtgewiçhte aus. Bochum ist sogar nur durch eine Leerstelle repräsentiert. Wo ein Gewicht stehen müßte, tut sich das blanke Nichts auf.

Klar: Das ist stark übertrieben, ist Chuzpe, eine Frechheit. Doch der „Standort Lüdenscheid“, den Freeses Arbeit so gewichtig versinnbildlicht, wird auch in der Ausstellung gleichen Namens seinem Ruf gerecht, ein bemerkenswertes Kulturzentrum Südwestfalens zu sein.

Anlaß der Ausstellung „Standort Lüdenscheid“ ist das zehnjährige Bestehen des „Märkischen Stipendiums“, hier desjenigen für Bildende Kunst. Gezeigt werden in der Städtischen Galerie (Alte Rathausstraßel) insgesamt rund 50 Arbeiten jener Künstler, die während dieser zehn Jahre eines der (mit 24 000 DM und freiem Atelier in Lüdenscheid dotierten) Stipendien erhielten. Der Überblick macht deutlich, daß die Juroren keine bestimmte Richtung über die Jahre hinweg favorisiert und schon gar keinen Modeströmungen nachgegeben haben, sondern nur dem Argument der Qualität.

Wer vielleicht Schwellenangst vor gegenwärtiger Kunst verspürt, bekommt dies Gefühl in Lüdenscheid auf spielerische Weise „gespiegelt“: Der einzig gangbare Weg in die Ausstellung führt nämlich über die „Markierungsarbeit“ von Hannes Forster – eine Aufpflasterung, die man  wohl oder übel beschreiten muß. Wer das tut, der „steht auf Kunst“. Auch das mag man wörtlich nehmen. Eine weitere Bodenplastik, von Nikolaus Gerhart, ist stummes Zeugnis einer „Rettungsaktion“. Es handelt sich um ein Wandstück, das Gerhart beim Abriß einer alten Lüdenscheider Werkstatt beiseite bringen konnte. Ein minimaler Rest von Vergangenheit. Doch es gilt zu retten. was zu retten ist.

Den allermeisten Arbeiten (rare Ausnahme: Freese) kann man sich kaum auf einer bloßen Inhaltsebene nähern; man muß sich schon auf Form-Sprachen einlassen. Das gilt etwa für die Lineaturen der Schrift-Bllder von Rolf Nickel, für die antennenartigen Installationen von Günther Zins und die metallischen Schwingungsgebilde von Erwin Herbst.

Die Ausstellung ist bis 3. Juli zu sehen (Katalog: 25 DM).




„Waldheim hat mich in den Nacken geküßt“ – furioses Interview mit Claus Peymann in der „Zeit“

Wien/Hamburg. (bke) In die vollen gegangen ist Wiens Burgtheaterdirektor Claus Peymann in einem gestern veröffentlichten Interview mit der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Schon der Einstieg ist stark. Peymann über Wien: „Wenn Sie wüßten, was für eine Sch.. . ich hier erlebe! Man müßte dieses Theater… abreißen lassen. Vielleicht schmeiße ich morgen schon alles hin.“

Peymann, der sich selbst als einen „Vergewaltiger auf der Probe“ bezeichnet, der „brutalste Gewalt“ anwende, um Schauspieler auf seine Linie zu zwingen, schont auch seine Regie-Kollegen nicht. George Tabori danach „eine absolute Sau in der Arbeit“, „ein Tyrann erster Güte.“ Klaus Michael Grüber (Schaubühne Berlin) sei eh nur „dauernd besoffen“, Dieter Dorn (Kammerspiele München) sei jemand, der „eine Inszenierung nach der anderen hinwichst“. In diesem Stil zieht Peymann, der sich in dem Gespräch „weitaus gebildeter als die meisten Regisseure“ nennt, munter weiter vom Leder. Kritiker, Autoren, Schauspieler – alle bekommen ihr Fett ab.

Grotesk schließlich, was der Ex-Bochumer Schauspielchef über Österreichs Bundespräsidenten Kurt Waldheim verrät. Das umstrittene Staatsoberhaupt habe ihn, Peymann, „neulich überraschenderweise in den Nacken geküßt.“ Damit habe Waldheim – nach einer Aufführung von „Richard III.“ – überfallartig seine Bewunderung für Peymanns Arbeit bekunden wollen. Peymann: „Es war eine Vergewaltigung.“




In der Höhle der Theater-Löwen – Diskussion über Kulturfinanzen im dritten Programm

TV-Kritik: „Mittwochs um acht“ (West 3; 20.00 Uhr)

In die „Höhle des Löwen“ wagte sich gestern abend NRW-Kultusminister Hans Schwier. Die Live-Diskussion aus dem Essener Grillo-Bau (Thema: Theaterkrise in NRW) führte ihn mit finanziell gebeutelten Theatermachern, darunter Essens Schauspielchef Hansgünther Heyme, zusammen.

Schwier hatte unlängst den Theatern „Versorgungsempfänger-Mentalität“ vorgeworfen, Heyme war am entschiedensten gegen Etateinschnitte aufgetreten. Als lautester „Löwe“ erwies sich jedoch Bochums Schauspielleiter Frank-Patrick Steckel, der zunächst – was man vielleicht noch ganz gut nachvollziehen kann – gegen Glitzer-Kultur à la „Starlight Express“ wetterte („Schrott“, „schäbiges Profitinteresse“), sich dann aber vollends in Unsachlichkeit hineinsteigerte: „Ich hab‘ Ihnen doch schon mal gesagt, Herr Schwier: Treten Sie zurück!“ Weitere Rundumschläge folgten.

Die anderen Theaterleute (Heyme aus Essen; Roberto Ciulli vom Mülheimer „Theater an der Ruhr“; Willi Thomczyk von der freien Truppe „Theater Kohlenpott“ in Herne) sowie der Kritiker Ulrich Schreiber argumentierten bedächtiger, waren aber auch nicht eben gut auf Politiker zu sprechen. Schwier stand praktisch „allein gegen alle“. Allerdings wurden, je nach Subventionslage (Thomczyk bekommt keine Zuschusse, Ciullîs Truppe arbeitet ohne Tarifverträge) auch Differenzen zwischen Schwiers Widersachern sichtbar. Thomczyk bezeichnete die Debatte um Zuschußkürzungen gar als Gerede um „Kräuterbutter auf dem Schnitzel“, mithin als Luxus.

Die 90-Minuten-Sendung, aufgelockert mit Unterhaltungs-Einschüben und kurzen Filmeinspielungen, erfüllte ihren Zweck: Sie versammelte kompetente Gesprächspartner, deren Positionen deutlich zum Ausdruck kamen. Das ergab einen recht guten Überblick zur derzeitigen Theater-Situation. Die Moderatoren, Bernd Müller und Ines Jacob, griffen im Sinne des Zuschauers ein und sorgten dafür, daß man nah am Thema blieb. Mehr konnte man nicht erwarten.

Bernd Berke




Totentanz und Trauermarsch – Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Bochum

Von Bernd Berke

Rostrote Häuserwände, Fenster wie Totenaugen; darüber ein fahlgelber Himmelsausriß. Die freudlose Gasse (Bühnenbild: Susanne Raschig) ist in Bochum Schauplatz von Ödön von Horváths Totentanz „Glaube Liebe Hoffnung“.

Zu Chopins Trauermarsch zieht eine aus, die Hoffnung zu verlernen: Elisabeth (Martina Krauel) betritt die Bühne voller Zuversicht, mit „Kopfhoch-Mentalität“. Doch sofort bricht sie zusammen. Ein stummer Prolog, der ihr Schicksal vorzeichnet.

Von bedrohlicher Unwirklichkeit die nächste Szene: Dem anatomischen Institut will Elisabeth ihre Leiche im voraus vermachen – und sofort 150 Mark kassieren. Im Elend der Wirtschaftskrise (das Stück wurde 1932 geschrieben) ist Elisabeth auf einen Wandergewerbeschein angewiesen. Aber die Gebühr dafür bekäme sie nur durch Arbeit, die dieser Schein ja erst ermöglichen soll – Teufelskreis der Gesetze, in dem sie schuldlos schuldig wird.

Elisabeth kaspert anfangs herum, Clownin mit aufgeschminktem Optimismus, ihr blaues Käppi leuchtet Hoffnung. Doch dann beginnt ihr Leidensweg durch eine fühllose Macht- und Männerwelt, die Horváths Dementi zum Trotz, viele satirisch-überspitzte Seiten hat.

Diesmal keine durchweg düstere Veranstaltung in Bochum: Benjamin Korns Regie kostet komische Momente aus, treibt manche Szenen gar zur Klamotten-Turbulenz voran, als sei’s ein Stück von Sean O’Casey. Da bleibt das Lachen oft nicht, wie jene abgenutzte Formel lautet, „im Halse stecken“.

Doch schon die Schweigepausen des Stücks reißen abgrundtiefe Gräben zwischen den Personen auf. Und fast überfallartig, also desto stärker, wirken dann die tragischen Szenen. In schmerzhafter Wortlosigkeit hat die Inszenierung, hat auch die Hauptdarstellerin der Elisabeth ihre allerstärksten Momente: Wie Martina Krauel, als alle Hoffnung geschwunden ist, in ein stummes Lachen ausbricht – das ist greifbar der grelle Wahn, Vorbote ihres Selbstmords. Dichte Studie der Verzweiflung auch, wenn sie im unsichtbaren Kerker der Verhältnisse (zwischen Männern auf der Polizeiwache) als Gefangene taumelt.

Keine „Ausfälle“ im Ensemble, ganz im Gegenteil: Nicole Heesters z. B., als geldgierige Geschäftsfrau Irene Prantl – sie „hat es“ (und uns) sofort, als müsse sie sich ihre Wirkung gar nicht erst erspielen, als wirke sie durch bloße Präsenz. Bemerkenswert auch Peter Roggisch als Präparator. Prasselnden Beifall gab’s (auch für die Regie), für Martina Krauel verdiente Bravos.




Wie die Lektüre Kunst und Leben beeinflußt – Bilder des Lesens bei den Ruhrfestspielen (und ein Beitrag des Fritz-Hüser-Instituts)

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Buch und Leser stehen im Mittelpunkt zweier Ausstellungen in der Kunsthalle Recklinghausen, die jetzt bei den Ruhrfestspielen – zusammen mit KollwitzDruckgraphik und DDR-Freizeitkunst – Bilder-Akzente setzen: Unter dem Titel „Magie des Buches“ werden rund 160 Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen und Objekte zum Thema ausgebreitet, und das Dortmunder Fritz-Hüser-Institut steuert die didaktische Schau „Alltag, Traum und Utopie“ bei (beide bis 3. Juli).

Zunächst zur Kunstausstellung, die zum Teil hochkarätige Exponate (Chagall, Corinth, Heckel usw.) enthält und sich auf Werke des 19. und 20. Jahrhunderts konzentriert. Nur Bilder, auf denen Bücher und Leser zu sehen sind? Langweilig, könnte man argwohnen. Doch dem zweiten und dritten Blick enthüllt sich, wie verschieden die Künstler mit dem Thema umgegangen sind.

Mal ist das Buch eine Zutat sehnsuchtsvoller Romantik (Johann Peter Hasenclever: „Die Sentimentale“, 1846), öfter auch Accessoire des bürgerlichen Porträts; es dokumentiert „gehobenen“ Lebensstil, dient gleichsam als „Bildungsausweis“. Doch es gibt auch die Darstellung dringlicher Lektüre. Beispiele hierfür sind Ernst Barlachs Skulptur „Der Buchleser“ (1936) oder Gerhard Marcks‘ Plastik „Albertus Magnus“ (1955). Werden Lesende ansonsten meist isoliert gezeigt, so kann man bei Marcks auch die Folgen der Lektüre geradezu mit Händen greifen: „Albertus Magnus“ blickt vom Buch auf – mit einer Geste, die den Beginn eines Gesprächs andeutet. Einige Bilder zur „Bücherverbrennung“ lassen ahnen, für wie gefährlich Diktatoren solche Lektüre-Konsequenz halten.

Die Darstellung lesender Frauen ist nicht selten eine sanft verhüllte Liebeserklärung, sie betont den zärtlich-erotischen Aspekt der Versunkenheit und Selbstvergessenheit. Beispiel: Pierre Bonnards „Lesende Frau“ (1909). Vom Lesevorgang abstrahiert dann Paul Klee. Sein „Bilderbuch“ (1937) fungiert als Träger geometrischer Figuren – ein Übergang zu den Buchobjekten: Bücher sind hier nicht nur Thema, sondem selbst Medium der Kunst. Da gibt es etwa Timm Ulrichs‘ „Büchmanns geflügelte Worte“ (1977): Buchbände auf Notenständern, die von einem Ventilator durchgeblättert, also „beflügelt“ werden, oder Claudia Kölgens metallisch flirrendes Buch „Ohne Titel“, dessen haarfeines Gewölk die elektrisierende Wirkung mancher Leseabenteuer verdeutlicht.

Sehenswert auch der Dortmunder Beitrag über „Lesegeschichten und Lebensgeschichten“, der eine aufwendigere Präsentation verdient hätte. Immerhin sieht man Schrift-Dokumente (Zeit mitbringen!) und Lese-Ambiente: Schulbänke, Küchentische.

Vier Revier-Biographien aus vier Generationen (vom Bergmann bis zur Studentin), nach langen Interviews aufgezeichnet, werden zur jeweiligen Lektüre in Bezug gesetzt. Erstaunlich, wie verwoben Leben und Lesen, bei Licht betrachtet, sind. So zieht sich ein frühes Leseerlebnis des Bergmanns (Schillers „Tell“) wie ein Leitmotiv durch sein Leben, beeinflußt nachhaltig sein Gerechtigkeitsempfinden und das Engagement für Kollegen im Betrieb. Fast schon zu mustergültig: Der Weg einer jungen Frau, die durch Uwe Timms „Heißer Sommer“ (Roman über die APO-Revolte) eine idealtypisch „linke“ Lebensbahn einschlägt.




Käthe Kollwitz: Zwischen Leid und Aufstand

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Seltsame Wege der Geschichte: Um das Werk von Käthe Kollwitz, deren Hauptthema bekanntlich das Leid der Unterdrückten war, haben sich in den letzten Jahren vor allem Banken gekümmert, und zwar in Köln und West-Berlin. Unsere Museen haben sich da eher „bedeckt gehalten“.

Anders die Kunstinstitute der DDR – nicht natur-, aber gesellschaftsgemäß: Die DDR-„Akademie der Künste“ schickte ihre bedeutende Kollektion an Kollwitz-Druckgraphik bereits durch viele Länder. Jetzt sind die 124 Arbeiten, ergänzt um sechs Stücke aus anderen DDR-Sammlungen, erstmals in der Bundesrepublik zu sehen: bei den Ruhrfestspielen, im Vestischen Museum Recklinghausen (Hohenzollernstr. 12; bis 5. Juni. Katalog: 12 DM).

Alle großen Themen der Kollwitz kommen in der Druckgraphik (Radierungen, Holzschnitte, Lithographien) vor. Dazu gehört der – von Gerhart Hauptmanns Stuck „Die Weber“ angeregte – Zyklus zum Weberaufstand (1895), außerdem sind z. B. Bildfolgen zu den Bauernkriegen (1905/07) und über das Proletariat (1925) zu sehen. Anfangs, beim Thema „Weberaufstand“, sind die Revoltierenden noch als Vereinzelte, sich gerade erst zögernd Zusammenschließende dargestellt. In der Bauernkriegs-Serie wirkte die aufbegehrende Masse dann schon wie aus einem Block gefügt.

Neben solchen Massenereignissen vergaß Käthe Kollwitz – und das zeichnet ihr Werk besonders aus – aber auch nicht die Leiden des einzelnen, ganz gleich, ob politisch verursachte oder existentielle. Besonders hervorzuheben sind die Variationen des Mütterlichkeits-Motivs. Biographisch stand am Anfang der Tod ihres Sohnes, der als Soldat im Ersten Weltkrieg fiel. Immer wieder stellt Käthe Kollwitz Mütter dar, die ihre Kinder umklammern, vor Krieg, Not und Elend bewahren wollen.

Schwächer werden die Kollwitz-Arbeiten nur, wenn sie sich (ganz selten) auf symbolische Sehweisen einläßt, wenn sie etwa eine allegorische Frauenfigur über eine Aufruhr-Szene stellt. Ergreifender ist es allemal, wenn sie die Realität umformt, als wenn sie Phantasiegestalten nachhängt. Die formalen Brüche auf manchen Plakaten und Flugblättern (darunter „Nie wieder Krieg!“, das vor einiger Zeit als Nachzeichnung an einem Dortmunder Weltkriegsbunker für Aufsehen sorgte), stammen hingegen nicht von der Kollwitz: Unpassende .Schriftzüge wurden diesen Auftragsarbeiten von fremder Hand zugefügt. Kollwitz souveränes Formempfinden wird hier augenfällig: Wenn sie nämlich selbst die Schrift gestaltet hat, „stimmt“ der Aufbau.

Die Selbstporträts aus verschiedenen Schaffensphasen sind keine reinen Ich-Darstellungen. Käthe Kollwitz, die sich schon früh (1893) als leidensbereit und leidensfähig zeichnet, „verhärtet“ oft ihre eigene (in natura eher sanfte) Mimik, Gestik und Gestalt, so als wollte sie sich mit einer kampfbereiten Arbeiterschaft identifizieren. Diese Energie zerbricht aber in späteren Jahren zusehends. Zutiefst erschreckend: das Selbstbildnis von 1938, das eine vollkommen resignierte Frau zeigt, oder gar das Blatt „Der Tod wird als Freund erkannt“.




Kambodschas Geschichte als fünfstündiges Bühnendrama – Hansgünther Heyme inszeniert Hélène Cixous in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Verkehrte Verhältnisse im Essener Grillo-Theater: Die Sitzreihen befinden sich im Bühnenraum, die Szene ist dort, wo sonst die Zuschauer Platz nehmen.

Wenn das Publikum die umgebaute Theaterstätte betritt, platzt es mitten in den Prolog der Gemüseverkäuferin Khieu Samnol (Astrid Gorvin) {Astriâ ‚Gorvin), die – wie auf einem Jahrmarkt – die Leiden des kambodschanischen Volkes ausruft. Gedränge und Geschiebe der Zuschauer, die Plätze sind nicht numeriert; und wenn man sitzt, muß man sich recken, um etwas zu sehen. Man kommt sich vor wie inmitten einer Volksmenge. Doch mit diesem Gefühl und den Klagen der Khieu Samnol hat das Volk auch schon ausgespielt. In den folgenden fünf Stunden ist es nur noch Manövriermasse.

„Die schreckliche, aber unvollendete Geschichte von Norodom Sihanouk, König von Kambodscha“, das Stück von Hélène Cixous, 1985 im Pariser „Théâtre du Soleil“ der Ariane Mnouchkine uraufgeführt und am Samstag in Hansgünther Heymes Regie erstmals deutschsprachig gezeigt, ist (auch) ein Schnellkurs in kambodschanischer Historie. Was zur Premiere als Doppelabend (Epoche 1955-1970/1970-1979) herauskam, wird später auf zwei Abende verteilt.

Wer sich nicht gerade einen Südostasienexperten nennen kann, tut gut daran, die theatralische Tour durch 24 Jahre kambodschanischer Geschichte anhand der Nacherzählung im Programmheft zu verfolgen. Vom feudalen Gerichtstag Sihanouks (1955) bis zum Einmarsch vietnamesischer Truppen in Kambodscha (1979) verdichtet sich das Netz politischer Intrigen im Kräftefeld zwischen USA, UdSSR, China, Vietnam und den Roten Khmer. Die von Prinz Sihanouk angestrebte Neutralität Kambodschas gerät zur Farce. Das Land wird in den Vietnam-Krieg hineingezogen und später von Pol Pots Revolutionsgarden mit Terror überzogen.

Dabei scheint anfangs alles wie ein Spiel: Sihanouk (großartig: Volker K. Bauer) schlängelt sich körperlich wie stimmlich zwischen den Fronten hindurch, bedient sich der geschichtlichen Bedingungen, als lägen sie frei verfügbar in einer Spielzeugkiste. Doch das Ziel einer weltpolitisch neutralen, sozialistischen Monarchie erweist sich sehr bald als naiv. Sihanouk, zunehmend eine tragische Figur, muß Konzessionen nach allen Seiten machen und Geister anrufen, die er nicht mehr loswird.

Das große Welttheater, in dem Kissinger, Kossygin und Tschu Enlai die Fäden ziehen, endet im Geisterreich. Tote (u. a. Sihanouks Eltern, gespielt von Wolfgang Robert und Margit Carstensen) huschen gespenstisch durch den zweiten Teil.

Cixous Geschichtsdrama (passend: Alfons Nowackis Musik, die oft an Brechtsche Songs erinnert), ist streckenweise zu geschwätzig, um die Größe des mehrfach beschworenen Shakespeare zu erreichen, liefert aber viele Szenen für pralles Theater, das in Essen auch Rauch und Theaterdonner nicht verschmäht. Die Ensemble-Leistung kann sich sehen lassen. Sehr zu loben: Wolf Münzners Bühnenbild und Kostüme, die jeden falschen Exotismus meiden.

Immenser Beifall, der sich für Hauptdarsteller Volker K. Bauer zum Bravo-Orkan steigerte und auch die Regle einschloß.