„DGB muß der Kultur mehr Stellenwert geben“ – WR-Gespräch mit dem scheidenden Geschäftsführer der Ruhrfestspiele

Von Bernd Berke

Recklinghausen. „Der Deutsehe Gewerkschaftsbund muß der Kultur endlich mehr Stellenwert einräumen als bisher.“ Das forderte gestern, in einem Gespräch mit der Westfälischen Rundschau, der scheidende DGB-Geschäftsführer der Ruhrfestspiele, Dr. Fred Eckhardt.

Mit seiner Forderung benennt Eckhard, der nach zwölf Jahren in Recklinghausen um Lösung seines Vertrags bat (WR berichtete), zugleich einen Hauptpunkt, der ihn zu diesem Schritt bewogen hat. Seine Entscheidung, so Eckhard, habe subjektive und objektive Gründe. Subjektiv: Als künftiger Leiter einer Berufsfachschule für Theatertanz und Theaterpädagogik könne er in seine alte Heimatstadt Hamburg zurückkehren und endlich wieder vorwiegend künstlerisch tätig sein.

Doch nicht nur persönliche Interessen sind der Grund für den Wechsei. Eckhard: „Die Sparzwänge bei den Ruhrfestspielen sind in den letzten Jahren immer mehr gewachsen. Dieser Druck schlägt auf die künstlerischen Ergebnisse durch.“ Seit Jahren müsse man mit einem gleichbleibenden Etat stetig steigende Kosten bewältigen. Sogar längst zugesagte Gastspielreisen – z. B. in die UdSSR – müßten mangels Finanzmasse auf die lange Bank geschoben werden.

Die beiden Träger der Ruhrfestspiele (Stadt Recklinghausen und DGB) hätten gewiß ernsthafte Geldsorgen. Doch sei die finanzielle Ausstattung der Festspiele zunächst auch eine Frage des Bewußtseins. Eckhard: „Im Grundsatzprogramrn des DGB steht, daß sich die Gewerkschaften auch für kulturelle Belange der abhängig Beschäftigten einsetzen sollen“. Dies sei, obgleich es Zeichen eines Umdenkens gebe, noch nicht ausreichend der Fall. Die Basis in den Einzelgewerkschaften, aber auch der DGB-Bundesvorstand müßten dringend darüber reden, ob sie hauptsächlich eine „Tarif-Maschine“ sein oder ob sie auch kulturelle Zeichen setzen wollten.

Der große Apparat des DGB erweise sich in Kulturfragen oft als schwerfällig, man müsse viel schneller auf die Herausforderungen der „Freizeitgesellschaft“ reagieren. Die mißliche Situation der Ruhrfestspiele, die „endlich wieder eine Perspektive brauchen“, vergleicht Eckhard mit der eines leckgeschlagenen Ozeanriesen: „Da kann man doch auch nicht sagen: ,In vier Wochen laufen wir Singapur an, dann wird alles repariert‘.“

Eckhard nennt Zahlen: Zehn Mio. DM wären für eine halbwegs vernünftige Renovierung des Festspielhauses (vorsintflutliche Bühnentechnik, 23 Jahre alte Bestuhlung) und anderer Festspieleinrichtungen vonnöten. Und: „In der Jubiläumssaison 1986 hatten wir ausnahmsweise eine Million Mark Zusätzlichen Jahresetat“. Stoßseufzer: „Damit konnten wir tolle Sachen veranstalten. Wenn wir nur diese Zusatz-Million in jedem Jahr hätten…“

Einen Hoffungsschimmer sieht Eckhard im Gutachten des Berliner „Deutschen Instituts für Urbanistik“ (DIFU). Die Expertise entsteht unter Leitung von Prof. Dieter Sauberzweig und soll im Frühjahr vorliegen. Die Studie, so Eckhard, könnte den Ruhrfestspielen gangbare Wege in die Zukunft weisen. Dann dämpft er freilich die eigenen Erwartungen. Bis das Gutachten alle Gremien passiert habe und „greifen“ könne, würden auch die Festspiele 1990 ins Land gehen – eine kaum noch erträgliche Durststrecke.

Eckhards Appell: „Wir sind es den Gründern, die in der Hungerzeit nach dem Krieg kulturellen Weitblick bewiesen haben, schuldig, die Festspiele zu stärken“.




Der dumpfe Untergrund bürgerlicher Spießigkeit – Kotzebues „Die deutschen Kleinstädter“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Goethe, in Weimar auch Theaterdirektor, wußte, warum er mehr Stücke von August von Kotzebue als etwa von Schiller spielen ließ. Weil, so befand Goethe, Kotzebue uns Mittel „in die Hand gegeben hat, die Zuschauer zu unterhalten und der Kasse zu nutzen“.

Das Kassen-Argument wird auch in Wuppertal eine Rolle gespielt haben. Dies ist legitim, aber ist es auch hinreichend, um Kotzebue (1761-1819) heute noch mit Zipfelmützen und Schlafröcken zu spielen, ganz so, als müsse es uns lediglich um „Die deutschen Kleinstädter“ (Stücktitel) von Anno 1800 gehen?

Titelsucht, Prinzipienreiterei, Engstirnigkeit, Kleinigkeitskrämerei, lachhafter (Lokal)-Patriotismus und eine „christliche“ Moral, die man festtags wie eine Monstranz vor sich herträgt, während man alltags als Prozeßhansel um Nichtigkeiten streitet – das alles ist das sprichwörtlich gewordene Städtchen Krähwinkel. Durch Ehrsucht und ein paar schlichte Mißverständnisse halten die Kleinstädter den angereisten Olmers für ein ganz hohes Tier, sie hofieren ihn aufs Unterwürfigste. Zwischendurch wird er als vermeintlich titelloser Scharlatan „entlarvt“; allerdings: man weiß dann doch nicht so recht. Schließlich besitzt er das Empfehlungsschreiben eines Ministers.

Aus all dieser Unentschiedenheit und weil Olmers eigentlich gekommen ist, um die Tochter des Krähwinkler Bürgermeisters zu heiraten, um sie auch so vor einer Zwangsehe mit dem „Riesenbaby“ Sperling zu bewahren, bezieht das routiniert gebaute Lustspiel noch heute wirksame Komik – und da bleibt das Wuppertaler Ensemble vor allem vor der Pause auch kaum etwas schuldig.

Jeder, allen voran Dietmar Bär (Sperling), Gerd Mayen (Bürgermeister) und Rena Liebehow (Großmutter), hat da seine fulminanten Momente. Nur gelegentlich gibt es (Regie: Johannes Klaus) noch kleine Tempoprobleme, „Durchhänger“, Leerstellen. Im komischen Detail und in überlegten Gruppierungen der Schauspieler hat die Aufführung ihre Stärken. Insgesamt aber bleibt sie bieder und kleinmütig, was wohl auch daran liegt, daß Markus Hoffmann (Olmers) zu brav agiert. Sonst nämlich hätte man womöglich die Umstände seiner Eheschließung, die er sich schließlich auch durch Anpassung an die Krähwinkelei erkauft, boshafter hervorheben können.

Kotzebue, 1819 aus politisehen Motiven von dem Studenten Sand ermordet (was eine Art „deutschen Herbst“ nach sich zog), hat an einigen Stellen hellsichtig den dumpfen Untergrund der Spießigkeit und ihren Zwangscharakter erfaßt. Wenn da etwa Krähwinkels Hauptweg „eine anmutige Promenade bis hin zum Galgen“ genannt wird, legt dies eine unbequeme Schärfe nahe, die man in Wuppertal vermißt.

Schon das Bühnenbild (Birgitta Weiss) ließ freilich ahnen, daß man dem Stück nicht biestig zuleibe rücken wollte: ein Podest, mit hellgelbem Stoff ausgeschlagen wie ein heimeliges Körbchen; nur ein paar Schadstellen in der Tapete deuteten vorsichtig auf Risse in der Gemütlichkeit.




Was Künstler aus Würfeln machen können – Hagener Ausstellung mit spielerischen Akzenten

Von Bernd Berke

Hagen. Der eine Würfel kann aufgeklappt werden, bis sich nur noch eine hölzerne Linie über den Fußboden erstreckt, ein zweiter blockiert bedrohlich einen Treppenaufgang, ein dritter hat fensterartige Öffnungen und wird so zum Würfelhaus, im vierten leuchtet ein Gedicht-Text als geisterhaftes Hologramm.

Der Würfel ist, das erfährt man jetzt in einer sehenswerten Ausstellung des Hagener Osthaus-Museums, kein simples und einförmiges Ding. Rund 60 Arbeiten von 37 Künstlern (darunter so hoch gehandelte wie Sol Lewitt und Tony Smith) belegen die Wandelbarkeit des scheinbar profanen Urthemas.

Für die Schau „Aus dem Würfelmuseum“ wurden ausschließlich Künstler geholt, die sich ausführlich mit Kubus-Themen befaßt haben. Daß sie über diese Formen lange nachgedacht haben, merkt man vielen Arbeiten auf den ersten Blick an, so etwa Diethelm Kochs besagtem Klappwürfel oder seinen aus Recht- und Dreiecken gebildeten, fast mathematisch ausgetüftelten Würfelfaltungen. Derlei Konstruktionen wiederum ironisiert Alfonso Hüppi mit seinen „Ent-Würfelungen“. Dekonstruktion also, eine Art „Abbau“, betreibt auch Ewerdt Hilgemann, der einem hohlen Stahlwürfel die Luft entzog, worauf das gute Stuck zum Knautschgebïlde schrumpfte. David Nashs „Crashing Boxes“ geraten gleichfalls aus der angestammten Form. Nash baute sie aus verschiedenen HolzSorten (Eiche, Esche), die auch unterschiedlich trocknen, so daß sich die Linien verziehen.

Überhaupt ist das spielerisch-ironische Moment in der Ausstellung stets gegenwärtig. Der Holländer Herman de Vries, vielleicht ein Anhänger des Würfelspiels, macht sich den puren Zufall zunutze und kippt einige Dutzend Würfel aus einer Kiste in die Museumsecke. Wie’s dann liegt, ist’s halt recht. Oft spielt auch nicht nur das faßbare Material eine Rolle, sondern auch Schattenlinien, so bei Hans Florey, der aus lauter kleinen Farbwürfeln eine wiederum würfelförmige Netzstruktur bildet, die einem biochemischen Anschauungsmodell gleicht. Hier und bei anderen Werken macht geschickte Beleuchtung den Verlauf von Schattenlinien zu Bestandteilen der Kunstwerke.

Ein durch und durch systematischer Beitrag stammt von Dieter Hacker, der zeichnerisehe „Reihenuntersuchungen“ an Würfelformen vorgenommen hat. Ausgerechnet dieser Künstler hat sich übrigens inzwischen am weitesten vom kühlen Konstruktivismus entfernt, er ist zur expressiven Kunst „abgewandert“.

Ähnlich wie in Lüdenscheid, wo Bürger dem Museum Knopfkunst liefern können, kann man sich auch an der Hagener Würfel-Schau beteiligen. Wer möglichst pfiffige, würfelförmige Gegenstände hat – vom Suppenwürfel bis zum abstrakten Objekt – kann sie dem Museum für die Dauer der Ausstellung überlassen. Auch einschlägige Ideen sind hochwillkommen, denn zur Ausstellung erscheint zwar kein Katalog, wohl aber nachher ein Buch, das sich dem Würfelthema eingehend widmet. Osthaus-Chef Dr. Michael Fehr: „Mit der Ausstellung hört das Thema nicht auf, es beginnt erst.“

Osthaus-Museum, Hagen, Hochstraße 73. Bis 27. März (Di.-Sa. 11-18 Uhr, Do. bis 22 Uhr, So.11-16Uhr), Führungen donnerstags ab 18.30 Uhr. Katalogbuch (25 DM) erscheint erst nach der Ausstellung.




Wanderer zwischen den Malstilen – Bilder von Hans Platschek in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Vom vielbeschworenen „Zeitgeist“ hat sich der Maler Hans Platschek zwar anregen, nie aber vereinnahmen lassen. In Kunsttheorie (und funkelnder Kunstpolemik) viel zu beschlagen, um neuesten Stimmungen leichtfertig nachzugeben, hat er seit Beginn der 50er Jahre eine vordergründig schlüssige Werk-Entwicklung gleichsam „verweigert“ und sich in vielerlei Stilen umgetan.

Wie jetzt eine Ausstellung des Essener Folkwang-Museums belegt, gab es immer einen „roten Faden“ in Platscheks Werk: Stets spielte Figürlichkeit eine Rolle, sogar in der produktivsten Phase ab der Mitte der 50er Jahre, in der Platschek (damals documenta- und Biennale-Teilnehmer) mit dem – bei anderen Kütistlern völlig gegenstandsabstinenten – Informel experimentierte. Selbst diese scheinbar „wilden“ und spontanen Bilder sind bei Platschek keine chaotischen Mal-Orgien; der Anfangs-Impuls wird eingefaßt in strengere Formen, er sprengt nie den Bildrahmen und bleibt auch bei den traditionellen Materialien: Öl auf Leinwand.

Erste Anregungen empfing Platschek, dessen Familie vor den Nazis nach Südamerika flüchtete, aus der dortigen, in ganz anderen Farben blühenden (Kunst)-Landschaft. Auch sind Einflüsse von Klee und Miró erkennbar.

Interessantester Teil der Folkwang-Ausstellung sind die Beispiele für den Übergang vom Informel zur „Neuen Figuration“ gegen Ende der 50er Jahre. Schlüsselbilder: ein Porträt des Künstlers Emilio Vedova (1959), auf dem schemenhaft, aber doch untergründig-kraftvoll, ein Gesicht aus dem Farbgewoge auftaucht. Der entscheidende Schritt zur Figürlichkeit wird dann mit dem Porträt „Franz Roh“ (1960) vollzogen. Hier drängt die Gestalt mit aller Macht hervor.

In der Folgezeit entwickelt sich Platschek zum kritischen Realisten. Wichtiges Bild in dieser Phase: „Die Sprache der Kategorien“ (1967/68) mit drastischer Kombinatorik. Im Hintergrund eine Kopie des Mittelstücks von Grünewalds Isenheimer Altar, vorn, auf den Betrachter zukriechend, eine nackte Frau, die Platschek aus einem Pornoheft abmalte und der er noch einen Greisinnenkopf aufsetzte.

Vergreisung und Verfall auch auf anderen Bildern dieser Zeit. Ein Baby blickt wie ein Achtzigjähriger aus dem Kinderwagen; ein totes Pferd liegt – beinahe grinsend – in seiner Blutlache, bürgerliche Festivitäten erscheinen allemal als tödlich trostlos.

Neuerdings entfernt sich Hans Platschek wieder von solch sarkastischen Realismen. Jüngste Arbeiten lassen wieder stärker die flächig-malerischen Formqualitäten der Gegenstände hervortreten, so etwa das fast wie ein surrealistisches Zufallsbild aufgebaute „Stilleben mit Hummer und Ibis“ (1988).

(Bis 26. 2.; di-so 10-18, do 10-21 Uhr; Katalog 29 DM)




Malen am Abgrund der Seele – Zum Tod von Salvador Dalí

Ich selbst weiß nicht, was meine Bilder bedeuten“, soll er einmal bekannt haben. Und in Anspielung auf seine exzentrischen Eskapaden:„Gäbe es 200 Dalís, wäre das Leben auf der Erde unmöglich.“ Salvador Dali, am 11. Mai 1904 in Figueras bei Barcelona geboren, eine der Leitfiguren des Surrealismus, ist tot.

Er war so bekannt wie unter den Malern dieses Jahrhunderts allenfalls noch sein Landsmann Pablo Picasso. Das Inventar seiner Bilder – brennende Giraffen, zerfließende Uhren, endlos weite Sandflächen, Menschen mit bizarren Krücken und Schubladen im Körper – ist visuelles Allgemeingut geworden; genau wie sein Erkennungszeichen, die „Antennen zum Außerirdischen“ (Dalí), also die hochgezwirbelten Schnurrbartspitzen.

Seine Person beschäftigte Befürworter und Gegner meist mehr als seine Kunst. Ob der Mann nicht eher ins „Irrenhaus“ als in die Kunstgeschichtegehöre, darüber haben Generationen von Dalí-Deutern gerätselt. Dalí selbst, alles andere als von Bescheidenheit angekränkelt, bezeichnete sich selbst als genialen Schöpfer der „kritisch-paranoiden“ Methode, die – sei es Simulation, sei es durch echte Veranlagung – ihre Bildwelten aus dem krankhaft verformten Unbewußten zutage fördere. Natürlich griff auch er auf Vorbilder zurück: Die Lektüre der „Traumdeutung“ von Sigmund Freud gab entscheidende Impulse, Gemälde von Velazquez und Vermeer legten Motive nahe, Böcklins „Toteninsel“ oder das Werk de Chiricos wiesenWege zur optischen Umsetzung der Wahn- und Traumgebilde.

Dalí fand, nach futuristischen und kubistischen „Tastversuchen“, in den späten 1920er Jahren zu einer bis dahin unbekannten, bewußt schockierenden Bildsprache der Halluzinationen. Kernstück der mit bemerkenswert „akademischer“, an Klassikern orientierter Meisterschaft gemalten Bilder: Abgründe zwischen Erotik und Verwesung.

Fast alle Anekdoten über Dalí beziehen sich auf haarsträubende Exzesse. Daß er mit 20 Jahren achtkantig von der Kunstakademie Madrid „flog“, weil er seine Prüfer als Dummköpfe beschimpfte, ist ein vergleichsweise harmloser Schwank. Was Wunder, daß er im sensationsversessenen New York der 30er Jahre – noch mehr als zuvor in Paris – Furore machte.

Ein Kapitel für sich waren Dalís äußerst fragwürdige politische „Ansichten“. Die letzten Sympathien in der Gruppe der (mehrheitlich kommunistisch orientierten) Surrealisten um André Breton verscherzte sich der Aristokraten-Freund durch seine Begeisterung für einen Schlachtenmaler und Bemerkungen wie die, daß er Eisenbahnunglücke herrlich finde, sofern die 1. Klasse nicht betroffen sei. Später befürwortete er nachdrücklich die Franco-Diktatur. Auch langjährige Freunde, wie der 1983 gestorbene Filmregisseur Luis Buñuel, fanden derlei Zynismus unverzeihlich.

Sein Werk ist – nicht immer ohne Duldung oder Zutun des Meisters – beispiellos ausgeschlachtet worden. Fälscher und sonstige Nachahmer traten auf den Plan, und Dalí ließ es zu, daß in immensen Auflagen seine „Original“-Graphik verramscht wurde.

In den letzten Jahren war es stiller um ihn geworden. Seine vergötterte Frau „Gala“, die ihn nach eigenem Bekunden vor dem endgültigen Abgleiten in den Wahnsinn rettete, starb 1982. Der todkranke Dalí zog sich schon vor Jahren von aller Welt auf Schloß Pubol an der Costa Brava zurück.

                                                                                                                            Bernd Berke




„Denkmalschutz“ für das Sauerländer Platt – Wörterbuch-Autoren zu Besuch bei der Rundschau

Eigener Bericht

Arnsberg/Dortmund. (bke) „Roter Hund, raus!“ – ein Testsatz, der es in sich hat. Auf Sauerländisch Platt lautet er: „Räoe Ruie riut!“ Wer die halsbrecherische Folge kehliger R’s und die Diphtonge (Zwielaute wie „äo“ oder „iu“) nicht einwandfrei hinbekommt, der kann auch kein „Platt“ – zumindest nicht die kurkölnisch-sauerländischen Variante, wie sie im Hochsauerlandkreis und im Kreis Olpe „gekuiert“ (gesprochen) wird.

So richtig können es ja eigentlich nur noch die Alteingesessenen. Vor allem ältere Mitarbeiter waren es auch, die, auf Anregung des Sauerländischen Heimatbundes, von 1982 bis 1988 die Fleißarbeit für ein „Plattdeutsches Wörterbuch für das kurkölnische Sauerland“ leisteten. Das Ende 1988 erschienene Buch (Strobel-Verlag, Arnsberg, 272 Seiten; 24,80 DM) hat Erfolg. Die Startauflage von 1500 Stück war im Nu ausverkauft, jetzt ist die zweite im Handel. Zwei eifrige Zulieferer des Wörterbuchs, Dr. Maria Rörig und Ludwig Klute, bei ihrem Besuch im Dortmunder Rundschau-Haus: „Der Band ist wirklich ins Volk gegangen“.

Zwar hat die Kommission für „Mundart- und Namenforschung Westfalens“ (Münster) die rund 5000 Worte wissenschaftlich überprüft; doch das Resultat ist kein trockener Germanisten-Stoff. Dafür sorgt schon die Auflockerung durch Fotos und Redewendungen. Ludwig Klute: „Ganze Familien blättern gemeinsam in dem Wörterbuch.“

In den Wortkolumnen findet man viele Beleg-Sätze für die oft drastische Komik der Mundart. Maria Rörig charakterisiert Sauerländer Platt als besonders wortmalerisch. Im Unterschied zum bedächtigen Münsterländisch wirke das Sauerländische lebendiger, beweglicher – „wie eine Quelle, von denen diese Region so viele hat“. Daß Sauerländer gern foppten und Schabernack trieben, hat sich in die Mundart „eingeschrieben“. Ein Beispiel für die derbe Bildkraft: Den Umstand, daß eine junge Frau im Haus Männer anzieht, beschreibt eine Redewendung so: „Bai siek ne Hitte imme Hiuse höllet, matt leyen, dat de Bock düört Finster keyket“ — Wer eine Ziege im Haus hält, muß dulden, daß der Bock durchs Fenster (herein)schaut.

Sprachlich näher an Holland als am Siegerland

Eine Grenze zieht Ludwig Klute: „Wir haben sprachlich mehr mit Holland zu tun als mit dem Siegerland.“ Sauerländer Platt hat allerdings seinerseits etliche Spielarten. Beispiel „Braut“: Dem Wörterbuch zufolge sagt(e) man in Arnsberg-Sundern „Bruie“, in Brilon „Bröit“, in Elspe „Bröut“, in Schmallenberg „Bröüt“, in Attendorn und Olpe „Brut“ (mit langem „u“), in Olpe auch „Brüe“, in Balve „Bruite“…

Auch Maria Rörig (aus Endorf) und Ludwig Klute (aus Allendorf) mußten feststellen, daß sie als Kinder verschiedene „Platts“ gelernt haben. Das Wörterbuch solle jedoch auch zur Überwindung des Kirchturmdenkens beitragen. Da „Platt“ keine wirklich lebendige Sprache mehr sei und jüngere Leute es höchstens noch „streypelig“ (mit Hochdeutsch vermischt) beherrschten, gelte es „zu retten, was zu retten ist“. Der (sprach)-denkmalschützerische, konservatorische Aspekt steht also im Vordergrund.

Immerhin, so Maria Rörig, gebe es Anzeichen für eine Rückbesinnung („Platt“-Messen, Lesewettbewerbe usw.). Falsch sei es jedenfalls, die Mundart künstlich wiederzubeleben, indem man den Duden Wort für Wort in ein synthetisches Platt übertrage und Begriffe wie „Computer“ einschließe. Für das Wörterbuch ist man umgekehrt vorgegangen: Aufgrund bestehender Wortlisten wurde das tatsächlich gesprochene Platt ermittelt. Maria Rörig: Man habe gleichsam ein echtes Fachwerkhaus restauriert, statt es bloß nachzubauen.

So wird das Wörterbuch zum „Wort-Museum“, zum authentischen Dokument alter Volkskultur. Wenn Maria Rörig und Ludwig Klute von und auf Platt erzählen, kommen sie schnell auf alte sauerländische Originale und „Dönekes“ zu sprechen. Auch erschließt Platt die versunkene Lebenswelt der früheren Landwirtschaft und des einfachen Handwerks.




Bilder einer vernetzten Welt – Arbeiten Gustav Deppes aus Wittener Eigenbesitz

Von Bernd Berke

Witten. Der Himmel ist vernetzt und verbaut. Riesige Hafenkräne, die Röhren einer Raffinerie und immer wieder turmhohe Strommasten – der Horizont ist voller Lineaturen, Kreuz- und Querverstrebungen.

Diese Linien verselbständigen sich, ihre Verflechtungen werden – das bietet sich bei diesem Motiv einfach an – bis zur Grenze der Abstraktion vorangetrieben. Was einst, gleich nach 1945, vielleicht auch als Verheißung einer technisch bestimmten Ästhetik und als Bekräftigung des allgemeinen Aufbauwillen gedacht war, ist heute zur Not auch als Zeichensystem der Bedrohung „lesbar“. So betrachtet, haben die damaligen Bilder Gustav Deppes auch heute noch ihre Aussagequalität.

77 Arbeiten Deppes aus den Jahren 1936-1961, den gesamten Eigenbesitz, zeigt jetzt (bis 5. März, Katalog 20 DM) erstmals das Märkische Museum der Stadt Witten. Es ist überhaupt die erste Wittener Deppe-Ausstellung seit 1961. Die Ruhrstadt besitzt die weitaus größte öffentliche Kollektion an Deppe-Frühwerken.

Gustav Deppe, heute 75 Jahre alt, war kurz nach dem Krieg Mitbegründer der damals im Revier maßgeblichen Gruppe „junger Westen“ (mit Thomas Grochowiak u. a.), er hat ab 1936 viele Jahre in Witten gelebt und war bis zu seiner Pensionierung als Professor an der Dortmunder Werkkunstschule tätig. Der Künstler, der nun mal in Bochum, mal im Westerwald wohnt, bekommt zur heutigen Ausstellungseröffnung (Beginn 17 Uhr) den mit 5000 Mark dotierten Ehrenpreis des Wittener Kunst- und Kulturfonds.

Die Ausstellung ist, da sie ausschließlich aus Eigenbesitz bestritten wird (und so eine Sammlungskonzeption früherer Jahre widerspiegelt) insgesamt etwas eintönig geraten. Gar zu sehr dominieren die Strommast-Bilder. Zweiter Schwerpunkt sind Landschaften, zumeist Idyllen aus den grünen Randzonen des Reviers. Vereinzelt sieht man auch „Ausflüge“ ins gegenstandslose Reich des Informel. Sie stehen hier sehr unvermittelt neben den andeten Arbeiten.




Ein Mann spielt um sein Leben – Tankred Dorsts „Ich, Feuerbach“ am WLT

Von Bernd Berke

Schäbige Theaterwelt: Wie Gemmpel türmen sich die Requisiten, alles wirkt wie „von gestern“, als sei die Farbe abgeblättert. Aus Schweigen und Finsternis – wie am ersten Schöpfungstag – taucht einer auf, der hierher paßt: schlecht sitzender Anzug, abgetragene Schuhe, loser Schlips — eine leicht „verrutschte“ Figur, umgeben von einem Hauch der Verwahrlosung.

Der Mann heißt Feuerbach, ist Schauspieler und zum Vorsprechen geladen. Doch der Regisseur, ein gewisser Lettau, läßt – fast wie Becketts „Godot“ – auf sich warten, nur sein Assistent ist da. Daraus entwickelt sich in Tankred Dorsts Stück „Ich, Feuerbach“, das jetzt im Studio des Westfälischen Landestheaters (WLT) Premiere hatte, ein Quasi-Monolog.

Feuerbach spielt – zwei Stunden ohne Pause – um sein Leben. Sogar vor dem Assistenten, den er eigentlich verachtet, versucht er, sein ganzes Rollen-Register abzuspulen; doch es sind nur noch Rollensplitter, die Wahrheit seines verpfuschten Lebens bricht immer wieder durch. „Feuerbach“ war, wie sich schließlich herausstellt, einige Jahre in einer Heilanstalt; den Anschluß an das Theater, an die dort erforderliche Kunst-Disziplin, sucht er mit wachsender Verzweiflung.

Regisseur Manfred Repp setzt kräftige Kontraste. Offenbar um den Anschein zu verstärken, „Feuerbachs“ Wahn könne entstelltes Anzeichen von Genialität sein, bleiben der Regie-Assistent (Peter Dobrowolski), „Frau Angermeier“ (Gabriela Leinitzer) sowie zwei mürrische Bühnenarbeiter geheimnislose Karikaturen, nur durch wenige „Running Gags“ gekennzeichnet: Der Assistent, amusisch wie eine Mohrrübe, kratzt sich beständig dummlich-obszön zwischen den Beinen, „Frau Angermeier“ nestelt ebenso hartnäckig an ihrem Halstuch.

Schwierig die Titelrolle: Sie verführt zu lauter Bravourstückchen, doch der Darsteller muß sein eventuelles Virtuosentum zügeln, gilt es doch, einen Schauspieler zu zeigen, von dem man eben nie eindeutig wissen darf, ob das Flackern zwischen Hochmut und Depression womöglich auf Genie hindeutet. Feuerbach-Darsteller Norbert A. Muzzulini gelingt die Gratwanderung über weite Strekken überzeugend, nur gelegentlich verfällt auch er zu sehr in Extreme: Schreie und Flüstern. Das mindert die subtile Spannung des Stücks.




Mit Mathematik zum Mythos – Bilder von Johannes Itten im Essener Folkwang-Museum

Von Bernd Berke

Essen. Eine Komposition in doppelter Hinsicht: Das Bild „Der Bachsänger“ (1916) scheint – wie ein Musikstück des Meisters – aus Akkorden, Intervallen und Kontrapunkten gefügt zu sein; doch es erklingen hier nicht Töne, sondern Farben und Formen. Johannes Itten (1888-1967) hat, wie kaum ein anderer Künstler, seine Mittel systematisch, ja mit geradezu mathematischer Genauigkeit entwickelt.

Bis heute ist Itten vor allem als Kunstlehrer und Theoretiker bekannt. Daß er auch ein passionierter Künstler gewesen sei, will jetzt das Essener Folkwang-Museum mit einer Ausstellung ins Gedächtnis zurückrufen, die sich auf Ittens Jahre in Stuttgart, Wien und am Bauhaus in Weimar (insgesamt: 1913-23) konzentriert.

Nicht nur Gemälde und Zeichnungen sehen, sondern auch zahlreiche Tagebuchseiten und Briefe, aus denen die Genese von Ittens Farb- und Formtheorien ablesbar ist, so daß man sie gleich auf die Bilder beziehen kann. Ittens Beschäftigung mit (auch östlichen) Reiigionen, mit Goethes Farbenlehre oder den Theorien Rudolf Steiners fließt in die Bilder ein. Diese sind zwar keine „gemalten Theorien“, doch ohne den geistigen Hintergrund würde eine entscheidende Dimension fehlen.

Aufgrund seiner Farben- und Formenlehre wollte Itten zu einer „Objektivierung persönlicher Erlebnisse“ gelangen. Die Farb-Form-Mathematik sollte letztlich wieder der Individualität, ja sogar einer neuen Mythologie dienen. Aus solchen Ansätzen erwuchs ein ganzheitlich-lebensreformerisches Konzept, das Itten dem (unter Walter Gropius stärker auf Funktionalität ausgerichteten) Bauhaus entfremdete.

Jede Farbschattierung hat ihren eigenen Ausdruck

Jeder Farbschattierung schrieb Itten eine ganz bestimmte Gefühls- und Ausdrucksqualität zu, das Vokabular abstrakter Formen wurde so gleichsam „sprachfähig“. Durch bewußt konstruierte Strukturen dieser „Sprache“ ergaben sich auch enge Verwandtschaften zur Zwölftonmusik, mit deren Vertretern (Schönberg, Berg und Josef Matthias Hauer) Itten in Wien zusammentraf.

Am stärksten freilich beeindruckt Itten, wo er sich bildnerisch von der Theorielast befreit hat. Arbeiten wie die „Komposition aus zwei Formthemen“ (1917) atmen viel Theoriegeist und scheinen doch eher schematisch-experimentelle Durchführungen gedanklicher Vorgaben zu sein. So tauchen theoretisch ermittelte Farbgegensätze in verschiedenen Bildzonen auf, die einander mit einer Art von akribisch-wissenschaftlichem Interesse konstrastiert werden.

Mehr Ausdrucks-„Überschuß“ setzen hingegen Bilder wie „Der rote „Turm“ (1917/18) oder „Die Begegnung“ (1916) frei. Letzteres Bild, entstanden nach dem Tod einer Freundin, beschreibt einen Zustand zwischen Trennung und Festhalten-Wollen. Beispiel für ein sehr persönliches Erleben ist auch das frühe Hauptwerk „Barmherziger Samariter“ (1914/15), in dem Itten zu Beginn des Ersten Weltkriegs seinen Wunsch Gestalt annehmen ließ, den Leidenden beistehen zu können. (Bis 26.2., Katalog: 38 DM.)