Politische Gründe: Land streicht Zuschüsse für chinesische Tournee – Gastspiele in Iserlohn und Lüdenscheid gefährdet

Von Bernd Berke

Düsseldorf/Lüdenscheid. Die große Gastspiel-Tournee der chinesischen Sezuan-Oper durch zehn NRW-Städte, darunter Lüdenscheid und Iserlohn, ist nunmehr ernsthaft gefährdet. Wie die WR gestern erfuhr, hat das Land Nordrhein-Westfalen seine Zuschüsse für die Gastspiele zurückgezogen.

Jürgen Weiss, in der Düsseldorfer Staatskanzlei zuständig für intemationale Fragen, zur WR: „Angesichts der politischen Ereignisse in China erschien uns die finanzielle Unterstützung derzeit als nicht opportun“. Damit fehlen insgesamt 100 000 DM für die Gastspielreise, also 10 000 DM pro beteiligter NRW-Stadt. Es ist fraglich, ob die Kommunen diesen Anteil aus eigenen Töpfen ersetzen können.

Lüdenscheids Kulturdezernent Klaus Crummenerl, der erst durch die WR vom Düsseldorfer Entscheid erfuhr, reagierte gestern tief enttäuscht: Er halte den Beschluß für nicht richtig Und „politisch doppelbödig“. Die Kultur dürfe nicht auf solche Weise zum Büttel der großen Politik gemacht werden. Falls jetzt Schadenersatzansprüche von irgend einer Seite auf die Stadt Lüdenscheid zukämen, werde man überlegen, ob man sich i nicht beim Land schadlos halten könne, sagte Crummeneri. In Iserlohn war noch keine Stellungnahme zu erhalten.

Jürgen Weiss von der Düsseldorfer Staatskanzlei räumte ein, man sei „ein bißchen hin- und hergerissen“ gewesen, denn kulturelle Bindungen müßten normalerweise gepflegt werden. Und: „Die Verindungen zum chinesischen Volk wollen wir ja halten“. Es habe aber bereits im Juni, kurz nach den Massakern in Peking, einen Düsseldorfer Kabinettsbeschluß gegeben, nach dem die Beziehungen des Landes zur Volksrepublik China vorläufig „einzufrieren“ seien. Ausnahmen waren dabei lediglich für laufende vertragliche Verpflichtungen des Landes NRW vorgesehen. Solche hätten aber im Falle der Sezuan-Tournee wohl nicht bestanden. Man habe jedenfalls abgewartet, ob sich die Lage in China entscheidend verändern würde. Das sei bekanntlich nicht geschehen.

Das spektakuläre Gastspiel der Sezuan-Oper (kompletter Name: Chengdu Municipal Sichuan Opera Theatre) sollte am 5. Oktober ein Kernstück der Lüdenscheider Kulturtage mit China werden. Wie berichtet, hatte die Truppe Bert Brechts Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ auf die klassische Spielweise der chinesischen Oper übertragen wollen. Die China-Ausstellungen der Kulturtage sind durch den Düsseldorfer Beschluß nicht gefährdet.




Künstler werden für 320 Mark

Wer möchte nicht ein Künstler sein? Dieser Beruf kann unter Umständen viel Prestige einbringen. Wird nämlich ruchbar, daß man’s ist, steht man womöglich sofort im Mittelpunkt jeder Party.

Mancher, der es vielleicht noch nicht ist, kann es nun werden. Er/sie kann sogar ein entsprechendes Diplom erhalten, einen Künstler-Ausweis dazu und den Kunstpreis „La Musa dell’Arte“ gleich obendrein. Wie das?

Eine neue Organisation mit dem blumigen Namen „Albo professona!e degli artisti europei“ (nüchtern übersetzt: Berufs-Album europäischer Künstler), ansässig im italienischen Calvatone, verspricht Rat und Hilfe.

Per Rundbrief wird einem europaweiten Interessentenkreis der Beitritt schmackhaft gemacht. Nicht nur bildende Künstler könnten Mitglieder werden, nein, willkommen seien z. B. auch: Arzte, Architekten, Rechtsanwälte, Schauspieler, Tänzer, Journalisten, Musiker „sowie alle übrigen, die sich auf humanistischem Gebiet einsetzen“. Ein breites Spektrum, fürwahr.

Jedenfalls: Wer beitritt, soll ins Berufsalbum eingetragen werden und ein Vorzeige-Exemplar desselben erhalten, Mitgliedsausweis und Diplom inklusive. Außerdem möge man doch folgenden Satz ankreuzen und mit Unterschrift besiegeln: „Nehme die Verleihung des großen Preises von Europa ,La Musa dell’Arte‘ an und erwarte, daß ich diesen großen Preis zugesandt bekomme“. Wer kann da schon Nein sagen? Schließlich bestehe die Auszeichnung aus einer Messingskulptur mit 24 Karat Gold („einzig auf der Welt“) .

Übrigens: Der Mitgliedsbeitrag beläuft sich auf 320 Mark. So „preiswert“ kann es sein, Künstler zu werden.                                                                                          Bernd Berke




Ahnungen vom Wesen und Wirken der Pflanzen – Herman de Vries will unser Natur-Bewußtsein erweitern

Von Bernd Berke

Hagen. Museen zeigen oft das, was es s o nicht mehr gibt, aber vielleicht (wieder) geben sollte. Das Hagener Osthaus-Museum zeigt Pflanzen. Vorbotschaft drohender Zeiten, in denen wir die Natur nur noch in sorgsam behüteten Relikten, mithin nur als Vergangenes besichtigen können?

Nicht ganz. Der holländische Künstler Herman de Vries (58) sammelt seit Jahren Pflanzen auf Reisen und an seinem Wohnort im fränkischen Steigerwald, wo er noch eine erstaunliche Vielfalt vorfindet. Aus Marokko, dem Senegal und Indien hat er rund 2000 Beispiele (vornehmlich mit heilenden Wirkstoffen) mitgebracht und jetzt erstmals in solcher Fülle arrangiert: Die Ausstellung „Natural relations“ (Natürliche Beziehungen) hat in Hagen Premiere, geht dann weiter nach Holland und Dänemark.

De Vries erhebt keine Anklagen in Sachen Umwelt, er will uns ein sinnliches Naturerlebnis vermitteln, das man auch mit der Nase nachvollziehen soll. Im Museum verströmen nun botanische Boten fremder Länder betörend-exotische Würzdüfte, während das Steigerwald-Grün schon geruchsweise „deutsche“ Herbheit ahnen läßt.

Rauschmittel im „verschlossenen Paradies“

De Vries will keineswegs die wissenschaftliche Botanik außer Kraft setzen, wohl aber sie versöhnen mit verschüttetem, nicht-rationalem Wissen von Wesen und Wirkung der Pflanzen. Dies bedeutet zugleich den Versuch, die Grenzen zwisehen Wissenschaft, Kunst und Leben zu sprengen und schließt auch „geistbewegende“ (de Vries) Effekte ein, deren pflanzliche Urheber in einem ständig bewachten Gewächshaus gezeigt werden. „Das verschlossene Paradies“ (Werktitel) enthält – vom Tabak über Mohn, Stechapfel und „Traumwurzel“ bis zum Mescalin-Kaktus – Gewächse, die zur Erzeugung von Genuß- und Rauschmitteln taugen. Selbst eine vermeintlich harmlose Zierde wie die Buntnessel zählt übrigens dazu. Aufzucht in Hagens Stadtgärtnerei und Aufstellung im Museum mußten eigens vom Bundesgesundheitsamt genehmigt werden.

Der Künstler proklamiert nicht etwa den Gebrauch solcher Mittel. Im Gegenteil: Er glaubt, daß wir uns so weit von den „Ursprüngen“ entfernt haben, daß wir mit solchen Substanzen gar nicht mehr umgehen können. Gleichwohl hat de Vries einiges am eigenen Leibe erprobt und darüber Buch geführt: Es nennt alle Pflanzen(produkte), die er zu sich genommen hat – von Senf und Blumenkohl bis hin zu Drogen. Der Mensch – letztlich ein Produkt und Abkömmling der Pflanzenwelt?

Blüten, Blätter, Stauden, Samenkörner usw. hat de Vries auf langen Tuch-Bahnen ausgelegt, und zwar auf dem Fußboden, denn: Wachstum habe eben mit Boden zu tun; zudem hätten jene Pflanzen, die er auf Märkten erwarb, zu ebener Erde im Angebot gelegen.

Es gibt keine sprachlichen Hilfen, keine Bezeichnungen – und somit auch keine hinderlichen Wort-Barrieren. Die Funde sind lediglich numeriert. Informationen können später im Katalog (800 Seiten!) nachgeschlagen werden. In der Ausstellung selbst muß man die Sinne bemühen, schauen und schnuppern.

Die Pflanzenreihen sind nicht nach künstlich-ästhetischen Mustern sortiert. Mögliche „Aussage“: Natur, allein und für sich betrachtet, ist schön genug, ihr Formen- und Farben-Reichtum ist immens. Auch rückt die bloße Präsentation in einem Museum diese Exponate bereits in einen ästhetischen Zusammenhang. Doch nicht immer verzichtet de Vries auf nach- und ausdrückliche Kunst-Anstrengung: 108 Pfund Rosenblüten wandelten sich unter seiner Hand zum magischen Kreis namens „rosa damascena“.

Osthaus-Museum. Hagen, Hochstraße 73. Bis 24.9., di-sa 11-18 Uhr, do 11-22 Ubr, so 11- 16 Uhr, montags geschlossen. Eintritt 4 DM, Katalog 50 DM.




Die Katastrophe nistet überall: „Zungen aus Stein“ – Erzählungen von Sylvia Plath

Von Bernd Berke

Die US-Schriftstellerin Sylvia Plath hat sich 1963 – mit nur 30 Jahren – das Leben genommen. Ihre Bücher enthalten zwar keine ungefilterte Vorgeschichte dieses verzweifelten Schrittes, sondern bemerkenswerte literarische Schöpfungen. aber biographische Partikel scheinen in den Erzählungen doch immer wieder durch; meist in Form einer unterschwelligen, gleichsam leise sirrenden Bedrohung.

Selbst zunächst ungetrübt scheinende Glücksphasen werden da alsbald sanft und kaum merklich überschattet. Die Katastrophe nistet überall, in jedem Winkel. Und manchmal bricht sie hervor.

Typisch ist jene traurige Kindheitsgeschichte: ein baumstarker Vater, dem die Tochter blind vertraut. Doch dann siecht der Mann, von einer geheimnisvollen Krankheit befallen, dahin. Es bedeutet für die Tochter das Ende der Zuversicht, des Vertrauens in die Welt.

Überhaupt ist das Gleiten aus vermeintlich sorgloser Kindheit ins bedrohliche Erwachsenen-Leben, ist das „verlorene Paradies“ eines der Hauptthemen von Sylvia Plath; beispielsweise in der Erzählung „Superman und Paula Browns neuer Schneeanzug“, in der kindliche Comic-Phantasien mit furchtbaren Kino-Szenen aus dem amerikanisch-japanischen Krieg düster unterlegt werden. Da zerstäuben alle Illusionen über den Zustand der Welt.

Die meisten Geschichten werden leichthin und „beiläufig“ erzählt, üben dann aber eine Art Sog ins Dunkle aus. Die stärksten Erzählungen sind jene, in denen diese Verwandlung lautlos vor sich geht, so etwa „Diese Witwe Mangada“, die zunächst ganz unterschwellige Querelen um Mietbedingungen in einer spanischen Ferienwohnung beschreibt, dann aber hart an seelische Substanz rührt.

Etwas aus dem Rahmen fällt die Story „Steinknabe mit Delphin“ rund um eine College-Fete. Da sind die Verstörungen der Hauptperson überdeutlich in die Außenwelt projiziert, die damit von Anfang an verzerrt erscheint. Überall stürzende Linien, fast wie in einem expressionistischen Bild oder Film. Auch in der titelgebenden Geschichte eines körperlich-seelischen Verfalls, „Zungen aus Stein“, kommt ein schrecklicher Selbstauslöschungs-Drang offen zur Sprache.

Sylvia Plath: „Zungen aus Stein“. Erzählungen. Frankfurter Verlagsanstalt, 36 DM.




Bizarre Welt aus Holz – Skulpturen des „Naiven“ Hans Schmitt in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Schon ohne Besucher ist das Vestische Museum dicht bevölkert: Opa mit Enkeln, Mutter mit Kind, Putzfrau mit Eimer. Die „Leute“ sind aus Holz; Friedlich stehen sie Seit‘ an Seit‘ – mit einem „Beatle“, mit „Adam und Eva“, Pferden, Katzen usw.

Wir sind mitten im Phantasie-Reich des „naiven“ Bildhauers Hans Schmitt (77), eines ehemaligen Kuhhirten, Kohlefahrers, Gemeinde- und Privatdieners aus Bayerns Provinz, der erst im Alter kreativ wurde und wie ein Besessener Tausende von Skulpturen schuf. Inzwischen gilt er, neben dem 1971 verstorbenen Revier-Naiven Erich Bödeker, als einer der wichtigsten deutschen Vertreter jener Kunstrichtung.

Die „naive“ Sichtweise kann sich einer bewahrt oder aber mühsam wiedererobert haben. Zwischen beiden Polen der „Naivität“ erstreckt sich jedenfalls leider ein weites Feld glatter und marktgängiger Gefälligkeiten. Davon kann bei Hans Schmitt, der nie auf Moden und Entwicklungen der Kunstgeschichte geachtet hat, gar nicht die Rede sein. Seine Arbeiten sind urtümlich, schrundig, rauh, eben nicht glatt. Derlei Qualitäten erheben die Skulpturen über bloßes Kunsthandwerk. Manchmal „unterlaufen“ Schmitt im Schaffens-Rausch gar Figurationen wie die „Dame in Grau“, die stark (und doch eigenständig) an kubistische Plastiken von Picasso gemahnt, oder wie die „Tänzerin“ in beinahe futuristisch anmutender Bewegung sich ergeht.

Schmitt arbeitet ganz offenbar „additiv“, er fügt seinen Figuren immer noch weitere Teile hinzu, „baut an“, als sei es noch nicht genug. Reduktion ist seine Sache nicht. Die findet man weit eher bei Erich Bödeker, von dem einige Arbeiten als „Kontrastprogramm“ der Schmitt-Ausstellung beigegeben sind. Weiterer Unterschied: Schmitt ist entschieden „schamloser“, längst nicht so zurückhaltend wie Bödeker; er protzt geradezu mit Nacktheit.

Die wohl bizarrste Arbeit der Schmitt-Auswahl ist eine klinische Gruppenszene liebenswert-bedenkenloser Art, „Operation“ (1976): Krankenschwester „Narko“ schwingt den Hammer, Doktor „Heuler“ fletscht bedrohlich die Zähne, und Schwester „Placenta“ trägt schon das Austauschherz auf dem Tablett herein…

Recklinghausens Museumsdirektor Ferdinand Ullrich möchte übrigens künftig das Vestische Museum zum gleichrangigen Ausstellungsart (neben der Kunsthalle) aufwerten. Für sein Programm hat er bereits „einen dicken Fisch“ an der Angel: Er verhandelt mit Lothar-Günther Buchheim, dem bekannten und für zäheste Eigenwilligkeit berüchtigten Maler, Autor und Sammler, über eine Ausstellung expressionistischer Zeichnungen aus der Buchheim-Kollektion. Buchheim gehört übrigens auch zu den wenigen Förderern des „Naiven“ Hans Schmitt. Das ehrt ihn.

Hans Schmitt. Recklinghausen, Vestisches Museum, Hohenzollernstraße 12. Bis 8. Oktober. Begleitheft 10 DM, Buch über Schmitt 39,80 DM.

 




Kraftvoll leuchtet die Lebensfreude – Werkschau über Max Pechstein auf Schloß Cappenberg

Von Bernd Berke

Selm/Cappenberg. Man muß fast ein bißchen um die waldreiche Schloß-Idylle von Cappenberg bangen. Nicht, weil der Bergbau dort schon wieder ein neues Kohlefeld aufgetan hätte, sondern aus einem rundweg erfreulichen Grund: Im Schloß läuft jetzt d i e Kunstausstellung des Jahres im Revier, eine umfassende Werkschau des Expressionisten Max Pechstein (1881- 1955).

Höchstwahrscheinlich wird die Traumbesucherzahl der Cappenberger Barlach-Ausstellung (65 000) diesmal noch weit übertroffen. Jedenfalls waren gestern, zur Eröffnung, sämtliche Hotels der Umgebung ausgebucht, und auf Parkplätzen am Schloß herrschte drangvolle Enge. Da muß noch Infrastruktur nachgebessert werden, will man der Essener „Villa Hügel“ Konkurrenz machen.

Die rund 240 Exponate sind ausschließlich in Cappenberg zu sehen, darunter 76 Ölbilder, ferner Zeichnungen, Aquarelle, Druckgraphik usw. Da ein Großteil des Pechstein-Werkes in Kriegswirren verloren ging, sind übrigens auch die graphischen Arbeiten oft rare Einzelstücke.

Der Kunsthistoriker Dr. Jürgen Schilling hat die Schau – mit Leihgaben aus vielen europäischen Ländern (auch DDR) sowie den USA – in der überaus kurzen Zeit von etwa zehn Monaten zustande gebracht. Als Pechstein-Spezialist kannte er alle wichtigen Ansprechpartner. Schilling konnte sogar in New York glaubhaft machen, daß Cappenberg ein lohnender Ausstellungsort ist.

Max Pechstein war nach dem Krieg etwas in den Hintergrund gerückt; seine zeitweiligen „Brücke“-Mitstreiter Heckel, Schmidt-Rottluff (derzeit Werkschau in Bremen — bis 10.9.), Nolde und Kirchner wurden genauer wahrgenommen. Der gebürtige Zwickauer Pechstein war der einzige aus dieser Gruppe, der eine gründliche Kunstakademie-Ausbildung vorweisen konnte — und um 1910 auch der erste, der breite öffentliche Anerkennung fand. Jetzt tritt er, im Zuge der Aufwertung des „Malerischen“ gegenüber allerlei „Kopf-Kunst“, wieder ins Blickfeld.

Im Vergleich zu den anderen „Brücke“-Künstlem ist Pechstein der Sinnlichste, der unmittelbarer Ansprechende, derjenige mit dem ausgeprägtesten Hang zu schöner Harmonie. Seine Experimente mit dem Eigenwert der Farbe und der Aufteilung der Bildfläche waren zwar entschieden modern, aber nie „formstürzend‘ und aggressiv.

Auf das Nachkriegs-Alterswerk hat man in Cappenberg weitgehend verzichtet. Da wollte Pechstein durch Reprisen den Geist verschollener Werke wieder aufleben lassen. Interessant aber, daß er um 1948 noch mit surrealen Formen gearbeitet hat, wofür sich hier Beispiele finden.

Die Ausstellung zieht sich durch die langen Raumfluchten zweier Stockwerke. Der Rundgang beginnt mit Arbeiten wie „Frühlingslied“ und „Die Quelle“ (1906), noch ganz im Bann des ornamentalen Jugendstils. Dann aber der Aufbruch, etwa in der Orientierung an van Gogh: Die mit breitem Pinselstrich pastos gemalten „Fischerhäuser in Nidden“ (1909) stehen dem Vorbild an Intensität kaum nach. Später malt Pechstein auch Hafenbilder von geradezu „klassischer“ Ruhe. Immense Leuchtkraft der Farbe: Die „Gelbe Maske“ (1910), auch Plakatmotiv der Schau, lockt geheimnisvoll-sirenenhaft ins wandelbare Reich der Künste. Das „Selbstbildnis mit Hut und Pfeife“ (1918) zeigt bereits einen selbstbewußten Künstler, der sich durchgesetzt hat.

Auch auf den Zeichnungen dominieren immer wieder jene Motive, die Pechstein zur lebensfroh-sinnlichen Darstellung herausforderten: Bade-, Tanz-und Karnevalsszenen, dazu farbenprächtige Reminiszenzen einer Südsee-Reise nach Art von Gauguin, wun-| dervolle Frauenporträts und Akte — eine Schau zum Schwelgen.

Fazit: Mit der Pechstein-Retrospektive erlangt Cappenberg bundesweite Bedeutung. Gar keine Frage, daß erst die Finanzhilfe (200 000 DM) durch die Unternehmen des „Initiativkreises Ruhrgebiet“ diese Schau des Kreises Unna ermöglicht hat.

Bis 15.10., di-so 10—17 i Uhr, mo geschl. Katalog 44 DM




Letzte Trümmer vom „Schlachtfeld der Kunst“ – Skizzen und Zeichnungen der „Wiener Aktionisten“ in Köln

Von Bernd Berke

Köln. Seltsame Kontraste im Kölner Doppelmuseum Ludwig/Wallraf-Richartz: Vorbei an prachtvollen „alten Meistern“ wie Tintoretto führt der Weg in ein verschwiegenes Seitenkabinett. Die Namen der dort präsentierten Künstler sind skandalumwittert: Hermann Nitsch, Günter Brus, Otto Mühl, Rudolf Schwarzkogler. Dieses Quartett stand in den 60er Jahren für den berüchtigten „Wiener Aktionismus“.

Jeder tat auf seine spezielle Weise mit, der eine etwa als schweinischer Faun (Mühl), der andere als exzessiver Masochist (Schwarzkogier), doch alle waren sie beseelt vom selben Drang zur Abgründigkeit.

Wir blicken zurück: Die „Aktionisten“ sorgten mit ihren Ritualen und Orgien – u.a. unter „Verwendung“ von Tierblut, zumeist nackten Menschenleibern und deren sämtlichen (!). Ausscheidungen – für fragwürdige Erlebnisse weit jenseits der Ekelschwellen; sie ließen halt „alles ‚raus“. Ihre auch schriftlich und in Skizzen dargelegten Obsessionen reichten bis zu Lustmorden und Ausrottungs-Phantasien.

Mit einer Aktion in der Wiener Uni („Uni-Ferkel“) trugen sie 1968 so ganz nebenbei die ohnehin nur rinnsalhalft vorhandene österreichische APO-Bewegung frühzeitig zu Grabe, indem sie sie gründlich diskreditierten. Ziel solcher Anstrengungen auf dem „Schlachtfeld der Künste“ waren allemal Durchbrüche von der bloßen Darstellung ins „wirkliche Leben“ und Vorstöße in die Tiefe des Unbewußten.

Wenn nun das Ludwig Museum Skizzen und Zeichnungen der „Aktionisten“ zeigt (bis 17. 9.), beruft es sich u. a. auch auf Freud, der allerdings – daran muß erinnert werden – gerade die Sublimierung („Verfeinerung“) roher Triebe als Bedingung für Kulturleistungen ansah. Doch es hilft nichts, die Kölner Museumsleute wollen die Aktionisten nun einmal zu „Klassikern“ erklären. Ausdrücklich wird an die künstlerische Ausbildung des Quartetts erinnert, werden Verbindungen zur Tradition (Klimt, Schiele) beschworen.

Was man zu sehen bekommt, ist einigermaßen dürftig. Die kruden Körperarchitektur-Entwürfe des (zuletzt durch „Titel, Thesen, Temperamente“ und seine Frankfurter Professoren-Anwartschaft in die Schlagzeilen geratenen) Hermann Nitsch etwa oder seine Planzeichnungen für ein „Orgien-Mysterien-Theater“ sind recht eigentlich Produkte privater Besessenheiten, die als bloße Vorarbeiten in die Schublade gehört hätten. Noch enttäuschender ist Otto Mühls kreuzbrave Serie der Prominentenporträts von Mao bis Adenauer. Andy Warhol hat so etwas besser gekonnt.

Graphische Qualitäten entfalten immerhin die Arbeiten von Günter Brus, dessen mit zahllosen Geschlechtsteilen bebilderter Wahnsinns-Roman „Irrwisch“ hier erstmals vollständig gezeigt wird.

Nein, „klassisch“ ist das wahrlich nicht, aber auch nicht mehr provozierend. Voyeure werden allenfalls im Katalog (45 DM) fündig, der auch die Aktionen fotografisch dokumentiert. Mögen diese Aktionen seinerzeit bei manchen noch „Kitzel“ erzeugt haben, so sind die gezeigten Überbleibsel vollends wie tot, nichtssagend. Und so könnte der Ausstellungstitel „Zertrümmerte Spiegel“ böswillig umgedreht werden: „Gespiegelte Trümmer“.