Erstaunlicher Boom für Museen und Kunstmarkt – WR-Serie: Bilanz der 80er Jahre

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Jahrzehnt-Bilanz der bildenden Kunst wäre unvollständig ohne einen Blick auf Museumslandschaft und Markt. Knappste Formel: Bei den Museen gab es einen Bau- und Besucher-Boom, auf dem Kunstmarkt einen Preis-Boom.

Viele Großstädte haben sich, auch im Sinne indirekter Wirtschaftsförderung, in den 80er Jahren ganze Museumszeilen oder Kunst-Viertel zugelegt; allen voran Frankfurt, die Stadt mit dem üppigsten Kulturetat der Republik. Köln imponierte mit dem Museum Wallraf-Richartz/Ludwig, Düsseldorf bekam den Neubau für die „Kunstsammlung NRW“. Auch zwischen Duisburg und Dortmund entstand praktisch in jeder Kommune ein neues Kunst-Domizil. Freilich bleiben Wünsche offen. So wartet Dortmund weiter auf einen Neubau für das Ostwall-Museum.

Die rege Bautätigkeit hat auch Orte der südwestfälischen „Provinz“ attraktiver gemacht. So erhielt Lüdenscheid ein ansehnliches Museum. Überhaupt darf man nicht vergessen, was sich da im Sauerland getan hat: Die Städtische Galerie Lüdenscheid oder auch das Hagener Osthaus-Museum verzeichneten in den letzten Jahren deutliche Aufwärtsentwicklungen. Wo in Lüdenscheid vor allem beharrliche Arbeit an einem Konzept abseits der Modeströmungen beeindruckte, war es in Hagen der belebende Schwung, mit dem der neue Museumschef antrat. Auch konnte man in Hagen (wie in Dortmund) den Sammlungsbestand durch Stiftungen wesentlich erweitern. Und auch das Cappenberger Schloß hat sich just in den 80er Jahren als gute Ausstellungsadresse etabliert.

Den großen Museen drohen auch schon Gefahren: Die Besucherströme waren manchmal kaum noch zu kanalisieren. Nicht wenige fürchten angesichts des Massenandrangs um den Bestand der Kunstwerke. Schadensträchtige Transporte durch alle Welt tun ein übriges. Tötet der „Betrieb“ die Kunst?

Alle Museumsleute klagen zu recht über ihre Ankaufsetats. Viele begeben sich notgedrungen auf die Suche nach Sponsoren. Die jeweils ca. 91 Mio. DM, die für Bilder von Van Gogh und Picasso gezahlt wurden, sind ja nur die Spitze des Eisbergs. Selbst Werke lebender Künstler bewegen sich mittlerweile in irrationalen, unerschwinglichen Preis-Regionen. Welche Kunsthalle heißt schon „Getty-Museum“ und kann da mithalten?

Sammler und Mäzene alten Schlages gibt es kaum noch. Statt dessen hat in den 80ern endgültig der Investor die Auktions-Bühne betreten, dem es nicht mehr auf die Kunst, sondem auf den Kitzel großer Zahlen ankommt. So herrschen denn Börsen-Gesetze, und manche Experten sagen auch hier schon einen „Schwarzen Freitag“ voraus.

Apropos Kunstmarkt: Auch die Künstler der DDR, bislang gegängelt, aber im Falle des Wohlverhaltens rundum abgesichert, werden sich – nach den rasanten Veränderungen in ihrem Land – wohl oder übel den Marktgesetzen beugen müssen. Wie die Kunstgeschichte lehrt, bedeutet das Segen und Fluch zugleich. Befreiung und Ausgesetzt-Sein liegen da dicht beieinander.

Übrigens haben wir allen Anlaß, uns künftig nicht mehr nur auf „Westkunst“ zu konzentrieren, sondern unseren Blick auf die Kunst Osteuropas zu richten. Allzu lange haben wir sie – teilweise erklärbar durch die Unsäglichkeiten des nun wohl „erledigten“ Sozialistischen Realismus – aus den Augen verloren.

(Wird fortgesetzt mit einem Theater-Rückblick)




Die „wilden“ Jahre waren schnell vorüber / WR-Serie: Bilanz der 80er Jahre – Kunst (1. Teil)

Von Bernd Berke

Dortmund. Vor Jahresfrist hielt ein Buch nicht weniger als 1000 Antworten auf die Frage bereit, was denn eigentlich Kunst sei. Im vielstimmigen Chor aus allen Epochen war praktisch jede denkbare Definition zu finden, Widersprüche Inbegriffen. Ähnlich verwirrend erscheint die Szene am Ende eines Jahrzehnts, in dem mit Beuys und Warhol zwei große Identifikationsfiguren starben: Ausgangs der 80er Jahre zeigt die bildende Kunst zahllose Gesichter. Beliebigkeit oder Pluralismus?

Bei jeder großen Überblicks-Ausstellung und jeder Messe gehört es zum guten Ton, über den „Trend zur Trendlosigkeit“ zu klagen. Darüber laßt sich fast so trefflich streiten wie über die seit Jahrhunderten beschworeine, ewige „Theaterkrise“.

Flugs sprangen jedenfalls Theoretiker mit allerlei Thesen von der sogenannten „Postmoderne“ bei, deren Wesen eben darin bestehe, daß nun alles möglich und alles Vergangene zitierbar sei. Die Geschichte als Selbstbedienungsladen – zumal für jene Architekten, die der funktionalen Kasten-Huberei in der „Bauhaus“-Nachfolge überdrüssig waren und sich nun zu einem historisierenden „Zuckerbäcker-Stil, wenn nicht zu Schlimmerem verstiegen.

In der Malerei war zumindest die erste Hälfte der Dekade vom frech-fröhlichen Draufgängertum der „Neuen Wilden“ beherrscht. Die documenta 1982 bekräftigte nur den Trend. Ohne Rücksicht auf Errungenschaften der Moderne gab man sich einer heftigen Ausdrucks-Kunst hin. Nicht weniger heftig waren die Versuche mancher Galeristen,diese Richtung durchzusetzen. Tatsächlich ging ein großes Aufatmen durch die Szene, und man frohlockte: „Es wird wieder gemalt!“

Zwischen Vielfalt und Beliebigkeit

War’s auch oftmals hingepfuscht, so war’s doch wenigstens gegenständlich – so dachten wohl viele und stillten ihren „Hunger nach Bildem“. Dieser Appetit hat nach der (oft als blutleer empfundenen) abstrakten Kunst vermutlich aufkommen müssen. Doch als im Gefolge der „wilden“ Welle der Expressionismus als der deutsche Beitrag zur Kunst dieses Jahrhunderts wiederentdeckt wurde, schwante doch manchem, daß der Vergleich vielfach zum Nachteil der Zeitgenossen ausfiel.

Seither konnten sich abstrakte, geometrische und konstruktive Formen der Kunst allmählich einige Nischen zurückerobern. Und mal ehrlich: Wer spricht heute noch von vordem gefeierten „wilden“ Szene-Stars wie etwa ter Hell, Salome oder Dokoupil? Um wie vieles lebendiger und dringlicher wirkt da doch noch das Alterswerk eines Mannes wie Emil Schumacher aus Hagen. Es wird wohl so kommen wie immer: Nur einige, die den „Wilden“ allerdings eher hilfsweise zugezählt wurden, werden „bleiben“. Vielleicht gehört Anselm Kiefer dazu, vielleicht auch A. R. Penck und wenige andere.

Im indirekten Gefolge der „Wilden“, die auch mit polithistorischen Bezügen eher sorglos umsprangen, kam es auch zu einer Entkrampfung und ideologischen Lockerung. Dies wiederum hatte teils heilsame, aber auch prekäre Wirkung: Es erzeugte z. B. ein seltsames Verlangen, Werke der NS-Kunst aufs Neue vorgeführt zu bekommen. Gibt es denn wirklich keine anderen Sorgen? Ich fürchte, diese Debatte ist auch 1990 noch nicht ausgestanden.

(Wird fortgesetzt)




Endspiele der Verzweiflung – Zum Tod von Samuel Beckett

Von Bernd Berke

Wie prägend Samuel Beckett für Literatur und Theater der zweiten Jahrhunderthälfte war, zeigt sich schon daran, daß eine Theatergröße wie Thomas Bernhard mit dem Etikett „Alpen-Beckett“ belegt wurde. Becketts bloßer Name stand für eine ganze (Theater-)Welt. Zwar wurde der Ire dem „Absuiden Theater“ zugerechnet, er befand sich aber auf einsamer, alle „Richtungen“ überragender Anhöhe.

Inszenierungen seines Jahrhundert-Dramas „Warten auf Godot“ (1953) waren oft entscheidende Wegmarken in der Entwicklung der jeweiligen Bühnen – wie dies sonst nur noch bei ganz anders gearteten Gigantenwerken à la „Faust“ oder „Hamlet“ der Fall ist. Bekannt wurden auch Beckett-Stücke wie „Endspiel“ (1957), „Das letzte Band“ (1959) oder „Glückliche Tage“ (1961). Torsohafte Bühnengestalten, die nur mit dem Kopf aus Mülltonnen ragten, oder sein 30-Sekunden-Stück „Atem“, das nur aus Atemgerausch besteht, wurden zu Begriffen.

Wie kein anderer fand Beckett Chiffren für einen verzweifelten Weltzustand, aber auch für verzweifelte Komik. So zog er im „Godot“ das Leben auf eine Alptraum-Formel zusammen: Der Mensch werde „rittlings über dem Grabe“ geboren. Er schrieb aber auch „Schauspieler-Theater“ reinsten Wassers: Eine Rolle wie die des alten Krapp in „Das letzte Band“ war Herausforderung für große Darsteller wie Martin Held und Bernhard Minetti.

Der Erfolg des am 13. April 1906 in Foxrock bei Dublin geborenen Autors kam spät. Zunächst unbeachtet blieben frühe Arbeiten, wie der (auf deutsch erst 1989 erschienene) Prosa-Band „Mehr Prügel als Flügel“ (1934) oder die Romane „Murphy“ (1938) und „Watt“ (1944). „Murphy“ begann mit dem wohl meistzitierten aller Beckett’schen Endzeit-Sätze: „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues“.

Im Januar 1953 wurde dann in Paris sein Stück „Warten auf Godot“ uraufgeführt. Es rief Heerscharen von Deutern auf den Plan. Jeder konnte hier „seine“ Wahrheit suchen – der Christ, der Nihilist, der Marxist. Wohl über kein anderes Stück ist so hirnzermarternd nachgedacht worden, Beckett hatte – wie auch in anderen Werken – die Bühnenwelt auf scheinbar einfachste Grundformen reduziert, so daß man alles hineingeheimnissen konnte. Das Nichts und das Alles waren hier sozusagen eins geworden.

Der Autor verweigerte (mal verärgert, mal verschmitzt) Deutungshinweise. So wollte er z. B. sein sprichwörtlich gewordenes „Endspiel“ schlicht und einfach als „Spiel“ verstanden wissen. Auch eigene Inszenierungen seiner Stücke gaben wenig Aufschluß.

Beckett hatte 1928 in Paris seinen Landsmann James Joyce zum Freund gewonnen und war zeitweise sein Sekretär. Neben Joyce war zunächst Marcel Prousts Werk für Beckett bestimmend. Zwischen 1930 und 1938 pendelte er zwischen Dublin, London, Deutschland und Paris („Wanderjahre“), ehe er sich endgültig in Paris niederließ, wo er lange isoliert und verarmt blieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er der französischen Widerstandsbewegung angehörte, begann er auch französisch zu schreiben und war Übersetzer seiner eigenen Werke.

1969 nahm Beckett den Nobelpreis für Literatiir an, fuhr jedoch nicht zur Entgegennahme nach Stockholm. Spätestens seit den 70er Jahren galt er als Klassiker der Modeine (und wurde in mancher Inszenierung als solcher verhaimlost). Im letzten Sommer – nach dem Tod seiner Ehefrau – hatte er seine Wohnung aufgegeben und war in ein Altenheim gezogen.

Beckett starb, wie erst gestern bekannt wurde, am letzten Freitag mit 83 Jahren in Paris. Er wurde am 2. Weihnachtstag im engsten Familienkreis auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt.




Männer als dienstbare Geister der Weiblichkeit – Pina Bauschs Tanzabend „Palermo“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Bevor Pina Bauschs neuer Wuppertaler Tanzabend anfing, betrat Intendant Holk Freytag die Bühne: Man möge keine fertige Inszenierung erwarten, sondern ein „work in progress“, einen Werkstatt-Einblick also. Freytag sprach den Standardsatz dieser Tage ironisch: Es werde auch hier in den nächsten Wochen zusammenwachsen, was zusammengehöre.

Dann die erste Szene. Stille. Lang blicken wir auf eine Mauer, die schließlich mit Getöse in sich zusammenstürzt. Heiterkeit im Publikum. Deutsch-deutsche Anspielungen auch hier? Nun, zwangsläufig wird dieses Bild derzeit so „gelesen“; es steht (und fällt) aber vielleicht eher als allgemeines Zeichen für Durchbruch. Auch sollen wir ja nicht starr nach Deutschland schauen, sondern – dem vorläufigen Arbeitstitel „Palermo“ gemäß – nach Sizilien.

Freilich sind die dort landläufigen Szenerien, die das Wuppertaler Tanztheater bei einer Reise in sich aufnahm, längst durch Gruppendyamik und freie Assoziationen verwandelt (und dem Stil der Pina Bausch anverwandelt). Italien – das ist hier oft nur noch ein ferner, leiser Anklang. Es geht nicht um Reisebilder, sondern um Gefühlsbilder, deren Rätselhaftigkeit wiederum schwerlich in Begriffssprache „rückübersetzt“ werden kann.

Keine Sehnsucht kommt ans Ziel

Die Frauen sind diesmal nicht, wie früher so oft bei Pina Bausch, Opfer männlicher Attacken. Die Männer. zumeist dienstbare Geister, dürfen die weiblichen Körper allenfalls in schöner Schwebe halten oder in Schwung setzen; sie werden von den Frauen fast wie Hündchen herbeigerufen und barsch aufgefordert: „Nimm meine Hand!“ – „Halte mich!“ Doch die Geschlechter stammen „von verschiedenen Planeten“, man(n) kann nichts recht machen, keine Sehnsucht kommt da ans Ziel. Wenn die Männer die Befehle ausführen wollen, nehmen die Frauen sie meist sofort unwirsch zurück.

Überhaupt ist dies erneut eine Abfolge zurückgenommener, abgebremster, „umgebogener“ und „versickernder“ Gestik. Gäbe es eine leibliche Entsprechung zu Stichworten, so könnte man von „Stich-Bewegungen“ sprechen: Chiffren unerfüllten und ungelebten Lebens allenthalben, aber auch immer wieder Versuche, den Körper gestisch ganz neu zu definieren, ihn sozusagen in die Zukunft zu zaubern. Und vielfach ein Aufblitzen von Humor, der vom sehr konzentrierten Ensemble mit todernsten Mienen serviert wird.

Eine Maschinerie, die unentwegt Bilder erzeugt

Zahllose Kürzest-Geschichten könnte man erzählen – und hätte doch nicht das Entscheidende gesagt: Die Frau, die sich Zucker von den Lippen küssen läßt; entwurzelte Bäume, die vor verwaschenem Regenhimmel herabsinken; zwei Schönlinge, die sich Zitronensaft in die Haare träufeln: ein Preisboxer, der sich in eine tuntige Freiheitsstatue verwandelt: eine Frau, die sich – eine ausrinnende Flasche zwischen den Beinen – trotzig-triumphierend erleichtert „wie ein Mann“; eine andere, die ein paar Spaghetti als ihr Eigentum verteidigt. Später wird einer diese spitzen Nudeln wie Dolche gegen seine Brust richten – Beispiel dafür, wie hier beinahe jedes Bild fließende Bedeutung erlangt. Manchmal scheint es, als laufe da eine Maschinerie, die unentwegt Bilder erzeugt und vergehen läßt.

Die Überfülle solcher Geschehnis-Bruchteile hat tatsächlich noch den Charakter einer unfertigen, wenig strukturierten Materialsammlung. Die Reihenfolge der Szenen könnte sich ohne weiteres ändern. Nur der zweite Teil scheint schon stärker durchgearbeitet. Freilich gelingen Pina Bausch, dem Bühnenbildner Peter Pabst und der Tanztruppe auch in diesem Zwischen-Stadium bereits häufig jene starken, fremden und – trotz eines wiedererkennbaren Stils – in ihrer konkreten Gestalt völlig unerwarteten Bildszenen, denen man verfallen konnte. Überdies ist die Musikauswahl – Klänge aus allen Weltteilen – superb.

Der Premierenbeifall (volle „Fankurve“) war grandios.




Malerei als immerwährendes Experiment – Werkschau zu Christian Rohlfs in Münster

Von Bernd Berke

Münster. Vor genau zwei Jahren stellte das Dortmunder Ostwall-Museum die Druckgraphik von Christian Rohlfs (1849—1938) aus. Da zeigte sich, daß Rohlfs auch im Graphischen „malerisch“ verfuhr, indem er allzu harte Linienführungen oft nachträglich mit dem Pinsel milderte. Jetzt ergibt sich im Westfälischen Landesmuseum zu Münster, wo mit über 90 Rohlfs-Gemälden die bislang größte Retrospektive dieses Künstlers zu sehen ist, gleichsam ein umgekehrter Effekt: Viele Ölbilder sind auf beinahe graphische Weise behandelt, indem Rohlfs pastose Farbschichten mit dem Spachtel aufriß, somit jede gefällige Glätte vermeidend. Rohlfs — ein stets unzufriedener Künstler, dem keine Technik genügte, der unablässig „nachbesserte“?

Tatsächlich hat Rohlfs nie den bequemen Weg gewählt.. Zunächst hätte er durchaus als Salonmaler auf dem Markt reüssieren können. Das wies er weit von sich. Und: Erst um 1890 lernte er Bilder französischer Impressionisten kennen. In den Jahren zuvor hatte er sich auf eigene Faust eine dem Impressionismus verwandte Farb- und Licht-.Sprache“ langwierig errungen, ja erkämpft — obwohl die Grundlagen im Nachbarland längst „entdeckt“ waren.

Rohlfs, später sozusagen ein Expressiver ohne das Pathos der Expressionisten, hat zeitlebens nur ein einziges Selbstporträt gemalt. Er war ein zurückhaltender „Eigenbrötler“, der sich nie in den Hauptstrom äußerer Einflüsse begab. In Münster kann man nun seine ganze Entwicklung nachvollziehen. Das war nur in engem Kontakt mit DDR-Museen möglich, da dort die prägnantesten Beispiele für das Frühwerk (bis 1890) vorhanden sind, während das mittlere und späte Werk fast nur bei uns verfügbar sind. Was lag da näher, als sich zusammenzutun? Besonders die Kunstsammlungen in Weimar, wo die Münsteraner Ausstellung von März bis Mai 1990 Station macht, haben aufschlußreiche Exponate beigetragen. Aber auch die Museen in Dortmund und Hagen zeigten sich großzügig.

Es beginnt mit einem „akademischen Schinken“. Titel: „Der Schutzflehende“ (1880). Eine Auftragsarbeit, ersichtlich ohne Passion gemalt. Daß Rohlfs schon zu jener Zeit „ganz anders konnte“, läßt das Bild „Römische Bauleute“ (1879) ahnen: bewußt „banales“ Thema, gewagter Anschnitt der Figuren, eigenwillige Farbgebung. Da zeigt sich bereits der Mann, der konsequent seinen Sonderweg gehen wird, der unermüdlich experimentiert, dabei zu „Abstürzen“ ebenso fähig wie zu großartigen Aufschwüngen.

Rohlfs, gebürtiger Holsteiner, war innig mit Westfalen verbunden. In Soest hat er wichtige Zyklen gemalt, vor allem aber seit 1901 in Hagen gelebt. Hier war es Karl-Ernst Osthaus, der den späteren Hagener Ehrenbürger Rohlfs mit internationalen Tendenzen bekannt machte — mit Manet, Cézanne, van Gogh. Um 1903/04 erprobt Rohlfs, etwa in den Bildern „Sonnenblumen“ und „Weiden“, Ausdrucksformeln à la van Gogh. Die Farbe wird zunehmend autonom, befreit vom Gegenstand. Aber auch im nachahmenden Versuch behält Rohlfs Kunst eigenes Gepräge. Lag es an dieser ständigen Offenheit fürs Experiment, daß Rohlfs — im Gegensatz zu den meisten Expressionisten — auch ein beachtliches Alterswerk vorweisen konnte?

Sodann einige Akte und das Bild „Getreidefeld“ (1911): Rohlfs „verletzt“ die Malfläche, wahre Farbhügel und Gräben ergeben eine rissige Oberflächenstruktur. Fast scheint es, als wolle die Farbe stellenweise aus dem Bild heraus spritzen.

1914 dann der Schock des Krieges: düstere Bilder („Sklavenhalter“, „Der Gehetzte“, 1918) und biblische Motive, Themen wie Sünde und Erlösung. Großartiges Beispiel aus dem Spätwerk Rohlfs‘, der von den Nazis als „entartet“ verfemt wurde: „Alter Turm“ (1935), aquarellhaft-ätherisches Blau, fast meditativ.

Christian Rohlfs – Gemälde. Westfälisches Landesmuseum Münster, Domplatz. Bis 11.2.1990. Tägl. (außer mo) 10-18 Uhr. Katalog 35 DM.




Kraftakt mit Trabi – Wuppertal stemmt Heiner Müllers „Germania Tod in Berlin“ im Schnelldurchgang

Von Bernd Berke

Wuppertal. Rekordverdächtige Wuppertaler Bühnen: Nach nur zwei Wochen Probenzeit hat man einen „Brocken“ wie Heiner Müllers rabiat-genialische Geschichtscollage „Germania Tod in Berlin“ auf die Bretter gebracht. Und man dürfte zu den ersten Theatern gehören, die einen leibhaftigen „Trabi“ szenisch einbeziehen.

Man kann sich das in etwa vorstellen: Die Theaterleute waren – wie wir alle – fasziniert von den unglaublichen Vorgängen in der DDR, sie wollten aber nicht allzu lange sprachlos bleiben, weil sie (wie das Programmheft verrät) Angst hatten, daß Wiedervereinigungs-Schwätzer nationalistischer Prägung nun wichtige Positionen (verbal) besetzen. Her also mit einem deutsch-deutsch deutbaren Stück; hurtig also in den Kostüm- und Requisitenfundus und schnell das Passende hervorgeholt: ein Stoffbär mit Zinnenkrönchen aus Papier? Als Symbol für Berlin geeignet! Ein Hakenkreuz-Emblem? -Kann doch, auf die Jacke des „Alten Fritz“ gepappt, für die furchtbare Kontinuität deutscher Geschichte stehen!

Jeder Vergleich mit Frank Patrick Steckels Bochumer Inszenierung vor Jahrsfrist wäre ungerecht. Steckels Bearbeitung war bis in die Feinheiten durchdacht, sie trieb aus Entsetzen Scherz und aus Scherz Entsetzen hervor. Dagegen bleibt Holk Freytags handstreichartige Einrichtung des Stückes noch ganz im Bann der November-Euphorie, sie läßt die blutvolle deutsche Historie zwischen Nibelungen-Sage und Zweistaatlichkeit in nur eineinhalb Stunden vornehmlich als Farce abrollen und kommt erst spät darüber hinaus, Müllers Text einige kabarettistische Lichtlein aufzusetzen.

Breitwandeffekt im Theaterfoyer

Gespielt wird im Foyer, mit Breitwandeffekt. Von überall her, auf Treppen und provisorischen Podesten, tauchen die Figuren auf. Manche Szenen werden da ganz verschenkt, weil sie schon räumlich zu sehr auseinanderdriften. Was, wiederum mit Zeitdruck erklärbar, am besten gelingt, sind Szenen mit flüchtigem Sketch-Charakter, so z. B. ein unverhoffter „Gorbi“-Auftritt oder die Darstellung der grotesk-kindischen Nibelungen-Schlagetots. Insgesamt aber gilt: Bei dieser Parforce-Tour ist der Zuschauer ohne vorherige Kenntnis des Stücks verloren. Die Widersprüchlichkeit der Vorlage, die zwisehen Stalinismus und Antistalinismus oszilliert und mal Klitterung, mal Vision ist, wird letztlich verfehlt. Gcsetzt, der Text wäre ein Steinbruch, so hat man nur einiges Geröll und Kiesel hervorgeholt.

Zur aktuellen deutsch-deutschen Lage tragen weder Stück noch Inszenierung überragende Erkenntnisse bei. Es sei denn, man wertet die Tatsache als wichtig, daß die Texte beider Nationalhymnen prima auf die Melodie der jeweils anderen passen, wie hier sangbar demonstriert wird.

Das junge Ensemble, wiederum die kurze Probenzeit in Rechnung gestellt, schlägt sich gleichwohl tapfer. Außerdem ist vielleicht gerade dies eine Inszenierung, die sich im Lauf der nächsten Wochen noch verändern und entwickeln kann. Nur: Die Zeit hätte man sich durchaus vorher nehmen dürfen. Das Theater muß nicht mit Zeitungen konkurrieren wollen, auch wenn ein gewisser Peter Zadek das einst gefordert hat. Riesenbeifall gab’s. Es war halt ein geneigtes Premierenpublikum.




Grausame Komödie des gescheiterten Widerstands – Joshua Sobols Ghetto-Stück „Adam“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein deutscher Kulturmensch: feingliedrig, fahrig-nervös und etwas gedankenblaß. Später wird er Goethe und Shakespeare geläufig zitieren. Zunächst aber nimmt er, bestens herausgeputzt, in einem Theatersessel Platz. Er will eine Komödie genießen, eine grausame „Komödie der Irrungen“.

Kittel (Daniel Hajdu), so heißt dieser ach so kunstsinnige Mann in Joshua Sobols Stück „Adam“, ist als SS-Kommandant im Ghetto von Wilna (Litauen) Herr über Tod und Leben – in einer innigen Zwangsgemeinschaft von Tätern und Opfern. Das Drama im Drama, über das sich Kittel so köstlich amüsiert, ist der scheiterende Widerstand der Juden und ihrer historisch verbürgten Untergrundorganisation F. P.O.

Der israelische Autor arbeitet seit jeher mit Schocks: In seiner gleichfalls in Wilna spielenden Todesrevue „Ghetto“, zu der „Adam“ gleichsam ein ergänzendes Seitenstück ist, ließ er Musical-Elemente mit dem Leid der Juden kollidieren.  Auch bei „Adam“, jetzt in Wuppertal, ist das Varieté nicht weit: Der grantelnde Sep (Horst Fassel) führt immer mal wieder Zauberkunststückchen vor. Rahmenhandlungen und ein beständiges Gleiten durch die Zeit, Spiel mit Distanz und Nähe: Sep agiert auf der Vorderbühne, die eine Szene im heutigen Israel vorstellt, wo sich Seps Gefährtin Nadya (Stella Avni vom Düsseldorfer Schauspielhaus) ihrer Erlebnisse von „damals“ in Wilna erinnert.

Dahinter tut sich ein „Erinnerungs-Raum“ (Bühne: Jürgen Lancier) auf, eine schräggestellte Arena, in der die Szenen von 1943 spielen. Die alte Nadya, für die die Vergangenheit nicht vorbei ist, tritt mehrfach in diesen Raum ein, richtet das Wort an sich selbst als junge Frau (Friederike Tiefenbacher) oder an ihren damaligen, in Wilna umgekommenen Geliebten Adam (Bernd Kuschmann). Adam wurde seinerzeit von einem Gefolterten an den SS-Kommandanten als Untergrund-Kämpfer verraten. Der SS-Mann stellt dem (jüdischen) Ghetto-Vorsteher Gens, der ständig zwischen den Fronten laviert, ein Ultimatum auf sofortige Auslieferung Adams; sonst werde das gesamte Ghetto „liquidiert“. Soll man einen Mann opfern, um – eventuell – 20 000 Mensehen zu retten? Oder soll man den Aufstand wagen, den kollektiven Selbstmord?

Das Stück in Deutschland aufzuführen, ist höchst schwierig und prekär. Diesen Mut hatte bisher nur das Bonner Theater. Die (Selbst-)Kritik am jüdischen Widerstnd ist sicher wichtig für ein israelisches Publikum; hierzulande könnte sie mißverstanden werden. Auch hat das Stück selbst Schwächen: Vor Augen gestellt, gewinnen die langen Debatten der F. P. O.-Widerstandskämpfer nichts Wesentliches hinzu, was nicht auch in einem Hörspiel vorkommen könnte. Über weite Strecken gerät das in Wuppertal zum steifen Thesen-Austausch. Die Aufführung wirkt da einerseits ungeschmeidig, zeigt aber auch keine wirklichen Ecken und Kanten. Verständliche Scheu: Die Regie wagt kaum, Elemente des Dokumentartheaters und des Varietés schockhafter aufeinander prallen lassen.

Regisseur Johannes Klaus und das Ensemble sind gleichwohl ehrenvoll gescheitert: Spürbar ist eine große Ernsthaftigkeit, mit der man sich des Stoffs angenommen hat. Aber: Wuppertals Ensemble hat zwar Fortschritte gemacht, ist jedoch für eine solch heikle Aufführung noch zu ungleichwertig besetzt.

Normaler Beifall, den auch der anwesende Autor bescheiden entgegennahm.