Der Zufall und die Kräfte der Geschichte – André Kaminskis rasante „Flimmergeschichten“

Von Bernd Berke

Welch ein Erzähler, dieser André Kaminski! Geradezu unglaublich, was in seinen „Flimmergeschichten“ passiert. Da häufen, ja türmen sich die Einfàlle und Zufälle, da ergeben sich die abenteuerlichsten Konstellationen. Und all die Verwicklungen schildert uns der Autor so flüssig und süffig, daß man sein Buch mühelos in einem Rutsch durchlesen kann. In manchem Sinne könnte man den „polnischen Schweizer“ Kaminski dem ähnlich erzähl-„wütigen“, famosen Tschechen Bohumil Hrabal zur Seite stellen.

Nur ein skizziertes, nicht untypisches Beispiel: Da ist die Geschichte von jenem alten Pizier, der – ständig fluchtbereit – in einem Wohnwagen bei Paris lebt. Der Ich-Erzähler,  wie der Autor Kaminski ein Mann vom Fernsehen (daher das „Flimmern“ im Titel des Bandes und daher das Medium als geheimer Kristallisationspunkt vieler Storys) spürt dem Schicksal des rastlosen Menschen nach und hört die windungsreiche Lebensgeschichte eines Mannes, der 1943 vor den Nazis mit Todesverachtung durch ein Kanalrohr voller stinkender Exkremente flüchtet, von einem Polen unter der Klappe eines Konzertflügels versteckt und dort eines Tages von einem deutschen Offizier entdeckt, aber seltsamerweise nicht verraten wird. Vielmehr spielt der kultursinnige Deutsche ausgerechnet Chopins „Revolutionsetüde“. Wurde Pizier etwa durch die Macht der Musik gerettet?

Jedenfalls hilft der TV-Mann nun dem Flüchtling, seinen damaligen Retter wiederzufinden – via polnisches Fernsehen. Erst als beide sich nach so vielen Jahren in die Arme schließen, ist der Krieg wirklich vorüber, heißt es.

Andere Erzählungen in dem Band sind noch weitaus verblüffender in ihrer Ereignis-Abfolge. Selbst den bloßen Verlauf knapp zu referieren, würde den Rahmen sprengen. Verkettungen von Zufällen spielen durchweg eine treibende Rolle. Meist bewirken sie auf wundersame Weise, daß „unerledigte Histone“ nach vielen Jahren des Umherspukens zur Ruhe kommen oder zumindest in anderem Licht gesehen werden kann – ein schönes Wunschbild. Weiteres Merkmal der Geschichten: Raum und Zeit, auch auf längere Strecken, sind letztlich machtlos gegen das geheime Beziehungs-Geflecht, gegen das Schicksals-Fieber, das immer wieder die „richtigen“ Menschen über Jahrzehnte und Kontinente hinweg zusammenführt.

Die Geschehnis-Dichte und die weltumspannenden, rasanten Schauplatzwechsel ziehen einen oft etwas atemlosen, scheinbar oberflächlichen Erzählton nach sich. Ein Buch, inhaltsvoll zwar, doch aussagearm? Vorsicht! Unter der vermeintlich glatten Oberfläche verbirgt sich der eine oder andere Sprengsatz. Pure Unterhaltung ist das nicht, auch wenn es sich listig den Anschein gibt.

Im übrigen kommt Kaminski gar nicht dazu, seine Personen mit wirklichen Charakteren auszustatten. Im Tempo der Erzählbewegung gerinnen sie gleichsam zu lebenden Legenden, die von verborgenen Kräften der Geschichte bewegt werden.

Einen kleinen Rüffel verdient das zuständige Lektorat: ein großer Mensch heißt da „Huhne“ statt Hüne, das Militär „Komiß“ statt Kommiß, ein in Eigenliebe Entbrannter „Narzist“ statt Narzißt, etwas Erhabenes ist „heer“ statt hehr – das alles steht da, und es liegt nicht an flüchtigen Setzfehlern, sondern wohl daran, daß man nicht in den Duden geschaut hat.

André Kaminski: „Flimmergeschichten“. Insel-Verlag, Frankfurt/Main. 215 Seiten. 28DM.




Schrecken und Hoffnung Europas – „Notizen zum Stand der Dinge“ von Andrzej Szczypiorski

Nichts verstellt dem Schriftsteller Andrzej Szczypiorski den Blick für Gerechtigkeit. In seinem bis 1988 fortgeschriebenen Band „Notizen zum Stand der Dinge“, dessen Kernstück Aufzeichnungen zum Ende 1981 über Polen verhängten Kriegszustand bilden, findet sich auch der Versuch einer Ehrenrettung des Sozialismus.

Szczypiorski kritisiert jene Leute, die nach dem Scheitern des osteuropäischen Kommunismus gleich alles geistig „über Bord werfen“ wollen, was nur entfernt an diese Ideologie erinnert. Für einen, Menschen, der wegen seiner oppositionellen Ansichten unter Kriegsrecht interniert und drangsaliert worden ist (was er eindringlich beschreibt), eine ganz und gar bemerkenswerte Geste.

Ähnlich wie in seinem Bestseller-Roman .„Die schöne Frau Seidenman“, spricht der Nelly-Sachs-Preisträger wiederum die Deutschen, unter denen er in der NS-Zeit physisch noch weitaus mehr gelitten hat als später unter dem Kommunismus, von Kollektivschuld frei. Nicht alle Angehörigen dieses Volkes seien Unmenschen gewesen. Deutsehe und Polen hätten gar etwas „gemeinsam“, was z. B. Polen und Schweizer nicht hätten: „Denn wenn ich mit Deutschen rede, steckt darin eine gewisse Gemeinsamkeit. Wir haben aus derselben Schüssel der Verworfenheit gegessen. Ich auf der einen Seite der Schüssel – ihre Väter auf der anderen. Sie wie ich, wir sind eingebunden in unser schreckliches, gemeinsames Europa“.

Das Buch gibt aufschlußreiehe Innenansichten polnischen (Uber-)Lebens unter dem gewesenen Regime. Der Autor bricht Tabus, macht beispielsweise den lange verleugneten und verdrängten Antisemitismus vieler Polen namhaft. Nach Szczypiorskis Bericht über die ungeheure Wirkung des Papst-Besuches in Polen, der sich selbst der damalige „Betonkopf“ Jaruzelski nicht ganz entziehen konnte, ahnt man etwas von der Bedeutung des Katholizismus in Polen, die noch gesteigert wird durch die Tatsache, daß das Oberhaupt der Katholischen Kirche aus diesem Land stammt. Ein längeres Kapitel macht denn auch die Ermordung des Priesters Jerzy Popielusko als eigentlichen Umschlagpunkt der Stimmung im polnischen Volk aus, das sich seither überhaupt nicht mehr mit dem Regime hat abfinden können.

Ein weiterer Schwerpunkt der Notate ist hochaktuell und zukunftsweisend: der kulturelie Brückenschlag zwischen Ost- und Westeuropa – wahrlich eine Denk-Notwendigkeit, um den diversen Kapital-Bewegungen nicht gänzlich das kontinentale Feld zu überlassen. Szczypiorski sieht hier auch eine Schlüsselrolle seines Landes, weil es westeuropäisch-„lateinische“ Traditionen mit intensiven (wenngleich historisch oft schmerzlich-unfreiwilligen) Kontakten zum ganz anders geprägten Russland verbinde.

Das „Rohmaterial“ nüchterner Notizen wechselt mit ausgearbeiteten literarischen Passagen. Der Stil ist niemals „brillant“, nie eitler Selbstzweck, sondern dient immer der möglichst präzisen Mitteilung, steht im Dienste von Differenzierung, Nuance und Wahrhaftigkeit.

Andrzej Szczypiorski: ..Notizen zum Stand der Dinge“. Diogenes-Verlag, 262 Seiten.. 29,80 DM.