Mit dem KVR ins Revier-Theater

„Klappern gehört zum Handwerk“, heißt es. Wenn der „Kommunalverband Ruhrgebiet“ (KVR) jetzt in doppelseitigen Farbanzeigen – zum Beispiel im „Spiegel“ – das Theaterleben des Reviers anpreisen läßt, vernimmt man allerdings eher Poltern als Klappern.

Neben sanft violett unterlegten Spielplanauszügen des Monats September hat da ein profunder Kulturkenner machtvolle Zeilen gemeißelt. Da ist vom Ruhrgebiet als einer Theaterlandschaft die Rede, „die mehr Bühnen zählt als beispielsweise der Broadway“. Da haben wir ihn wieder, den beliebten Vergleich mit New York. Ob es nicht unfreiwillig komisch wirkt, zu behaupten, eine ganze Region habe mehr Theater als ein Straßenzug, ist Ansichtssache. Jedenfalls legt man uns nahe, daß „mehr“ automatisch auch „besser“ und „glanzvoller“ heißt, was wiederum eine gewisse Vergleichbarkeit voraussetzen würde. Nur: Im Uberschwang hat der KVR wohl die „kleinen“ Unterschiede zum Theatersystem des Broadway vergessen.

Eine richtig „dicke Lippe“ riskieren der Verband und die von ihm beauftragte Werbeagentur aber erst mit folgender Passage, da trägt es die Texter einfach aus der Kurve: Im Revier, so wörtlich, „haben Sie die Wahl zwischen aufsehenerregenden Inszenierungen, bei denen selbst die verwöhntesten Kritiker das Kritisieren vergessen“. Da schnappen wir erst einmal nach Luft und machen einen Absatz.

Mal ehrlich: Kein Theatermacher im Revier, der bei Trost ist, würde eine solch vollmundige Behauptung unterschreiben. Man tut den hiesigen Bühnen auch keinen Gefallen mit solcher Angeberei. Ihre Arbeit ist mal gut, mal besser, mal schlecht – wie überall.

Indes: Ein Körnchen Wahrheit ist sogar drin. Wenn wir mit Fug annehmen, daß „die verwöhntesten Kritiker“ in Hamburg, Frankfurt und München sitzen, stimmt es tatsächlich, daß sie das Kritisieren im Revier manchmal vergessen. Weil sie oft gar nicht erst herkommen.

                                                                                                                      Bernd Berke




Zwei Yuppies im Land der Orgien – Claude Chabrol hat Henry Millers „Stille Tage in Clichy“ verfilmt

Claude Chabrol verfilmt ein Buch von Henry Miller. Da läuft Film- wie Literaturfans doch das Wasser im Munde zusammen. Der entlarvende Beobachter des Bürgertums und der (nicht nur, aber auch) vital-genialische „Schweinigel“ aus Brooklyn — das müßte doch eine knisternde Melange ergeben?!

Doch da klafft ein Unterschied: Miller, dessen freizügige Bücher vielfach auf dem Index standen, war wirklich ein Bürgerschreck, Chabrol hingegen ist nur ein erschrockener Bürger. Irgend jemand hätte ihm, der so oft und unnachahmlich von innen her die haarfeinen Risse in bürgerlichen Fassaden gezeigt hat, davon abraten sollen, sich an Millers „Stille Tage in Clichy“ zu wagen. Da spielt nämlich „Normalität“, die Chabrol wohl als Resonanzboden braucht, gar keine Rolle; das Buch ist konsequent aus der Bohème-Perspektive geschrieben.

Paris, Anfang der. 30er lahre. Politisch brodelt’s schon mächtig. Trotzdem oder gerade deshalb sind in Bars und Bordellen an der Seine reihenweise Orgien angesagt. Der amerikanische Schriftsteller Joey (= Henry Millers zweites Ich) und sein Kumpan Carl sind mittenmang, sie greifen frisch hinin ins volle Frauenleben.

Doch was ist das? Mit Andrew McCarthy und Nigel Havers stellt Chabrol zwei ausgesprochene Yuppie-Bübchen vor die Kamera. Zu allem Überfluß müssen die beiden hier einen plüschig-„verruchten“ Altherrensex betreiben – in derart schwülstig überladenen Etablissements, daß man den Titel kalauernd ändern sollte: „Stille Tage in Klischee“.

Und die Dialoge: unerträglich abgeschmackt. Wo bei Miller die rasche Abfolge von sexueller Aktion und philosophischer Reflexion (ein Pendeln zwischen Nippeln und Nietzsche) für Wechsel-Spannung sorgt, bleibt hier beides seltsam belangtes und öde. Da wird z. B. ständig tiefsinnig über den Schriftsteller Marcel Proust geschwafelt, dazu fließt – logisch – literweise Champagner. Und was kommt dabei herum? „Prost, Proust!“ sozusagen, mehr nicht. Der Film findet einfach keine Linie und, schlimmer noch, kein Chaos.

Was sonst noch geschah: In einer dürftigen Rahmenhandlung will ein steinalter Schriftsteller (mitten in seinen Todesvisionen) mit einern süßen Nymphchen schlafen. Dazwischen dann die Rückblicke in die 30er Jahre. Bevor eine Frau da ihre Brüste vorzeigt, gibt sie mächtig an: „Wollt ihr das achte Weltwunder sehen?“ Ja doch, bitteschön! Doch hauptsächlich sehen wir hier den (vorläufigen?) Niedergang eines vormals verehrten Regisseurs.

„Stille Tage in Clichy“ (DeutschI./Frankr./Ital.). Regie: Claude Chabrol. Mit Andrew McCarthy, Nigel Havers, Mario Adorf. Jetzt im Kino.




Am liebsten „Gelsenkirchener Barock“: Arbeiterwohnen – Ideal und Wirklichkeit

Von Bernd Berke

Dortmund. Als in den 20er Jahren der soziale Wohnungsbau aufkam, mußten Möbel leiden. Arbeiter, die bis dahin üppige Schränke und Vertikos bevorzugt hatten, konnten die Schmuckstücke in den neuen Zimmem nicht mehr unterbringen. Also hieß es: Schränke rigoros auf Etagenhöhe kappen.

Daß die Möblierung vordem so wuchtig ausgefallen war, lag vor allem daran, daß weite Teile der Arbeiterschaft eine private Gegenwelt zur sinnentleerten „Maloche“ schaffen wollten. Dabei orientierten sie sich am Bürgertum. Sozialreformer, die ihnen einen sachlich-nüchternen Wohnstil als Ideal verordnen wollten, hatten praktisch keine Chance. Solche Erkenntnisse vermittelt – mit einigen beispielhaften Zimmer-Aufbauten und Fotodokumenten – die Ausstellung „Arbeiterwohnen: Ideal und Wirklichkeit 1850—1950″ im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte.

Im ersten Stockwerk sieht man, wie Arbeiter tatsächlich gewohnt haben; da zeigt sich, daß es die typische Proletarier-Einrichtung eigentlich nie gegeben hat. Im zweiten Stock finden sich die zumeist kargen und unterkühlten Entwürfe jener Architekten, die vom Proletariat nie auf breiter Front akzeptiert wurden; kein Wunder, hatte man sie doch nie nach ihren Wünschen gefragt. Im Zweifelsfall waren sie für „Gelsenkirchener Barock“ statt für Bauhaus oder Art Déco. Allenfalls überzeugte Sozialisten ließen sich mal zu mehr Wohnfortschritt hinreißen.

Initialzündung für die Reformer waren Gewerbe-Ausstellungen in Dresden um 1900. Fortan wollten man den inzwischen etwas besser verdienenden Arbeitern vormachen, wie sie wohnen sollten. In gemilderter Form übernahmen Großfirmen auch im Revier neue Konzepte, etwa Krupp in Essen. Übrigens: Ausgeprägter als anderswo, war im Ruhrgebiet die große Wohnküche bevorzugter Aufenthaltsort der Arbeiterfamilie, während die „Gute Stube“ nach bourgeoisem Vorbild meist mit Schonbezügen bedeckt blieb und nur an Festtagen genutzt wurde.

So sehr imitierten Arbeiter historisch bürgerliches Wohnen, daß stilistische Unterschiede zwischen diesen Klassen kaum ins Gewicht fielen. Nur: Die Möbel des Bürgers waren denn doch im Detail kostbarer, gediegener.

Barbara Scheffran, die die Ausstellung wissenschaftlich betreut hat, wurde in einigen Kellern und auf Dachböden des Reviers fündig. Dort konnte sie fürs Museum Einrichtungs-Ensembles ankaufen, die auf dem Markt kaum noch zu haben sind.

„Arbeiterwohnen – Ideal und Wirklichkeit“. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. – 18. August bis 21. Oktober. Di.-So., 10-bis 18 Uhr, Mo. geschlossen. Eintritt frei, Katalog 25 DM.




Fort mit dem ganzen Weltenplunder – Anna Blamans düsterer Roman „Auf Leben und Tod“

Von Bernd Berke

Während Stefan sich an Erlebnisse mit diversen Frauen erinnert, keimen schon seine Todesgedanken. Wir erfahren: Dieser Mann spielt sein Leben nur noch mit Minimal-Einsatz, einschließlich des erotischen Geplänkels und seines Berufs.

Ein No-future-Typ, der seine große Liebe verloren hat und nun hochmütig auf alle herabsieht, weil er glaubt, sämtliche „Windeln der Illusionen“ über das Leben abgelegt zu haben. Es bleibt kaum mehr als das nackte Sein. Folgerichtig, daß Stefan bei einem Bett-ErIebnis eine Herzattacke erleidet. Nun ist er auch physisch dem Tode nah.

Fortan geht es hauptsächlich um Verzweiflung, Tod und Teufel; eine mitunter etwas langatmige Litanei der Leere hebt an: „Jeder aufrichtige Versuch einer Beziehung bringt diese zum Scheitern“, heißt es da etwa. Und das ist erst der Einstieg in die Düsternis. Besonders in Diskussionen mit einer Kommunistin glänzt und prunkt Stefan geradezu mit Hoffnungslosigkeit. Natur, Liebe, Revolution und der ganze Weltenplunder – nichts besteht vor“ ihm. Ein tödlicher Unfall und ein Selbstmord in seiner Umgebung treiben ihn dann vollends in gottsucherische Finsternis. Am Ende dämmert ihm doch noch die bittere Lebens-Notwendigkeit von Illusionen…

Furiose Passagen des (1954 in Holland, erst jetzt bei uns erschienenen) Romans wechseln mit Textstrecken von enger Zeit-Gebundenheit. Dichtauf folgt die Handlung manchmal den seinerzeit gängigen Gedanken des Existentialismus. Das philosophische Raster scheint hier und da durch wie ein Skelett.

Dennoch ist dem Arche-Verlag zu danken. Warum? Weil der Roman von Anna Blaman (1905-1960) in seiner Zeitgebundenheit eben auch ein inniges Dokument seiner Zeit ist. Und weil wir hier endlich eine Autorin entdecken dürfen, die – vor allem in erotisch getönten Passagen – enorme Stärken hat und in den Niederlanden längst dem Olymp der klassischen Moderne angehört. Ein schlechter Witz, daß wir sonst so wenig von der Literatur des Nachbarlandes übersetzt bekommen. An Sprachproblemen kann es kaum liegen. Sollte es etwa Überheblichkeit sein?

Anna Blaman: „Auf Leben und Tod“. Roman. Arche-Verlag, Zürich. 352 S. (Nachwort von Carel ter Haar). 36 DM.




Allen Leuten gefallen – Ein Buch zur Unzeit: Christa Wolfs „Was bleibt“

Von Bernd Berke

Es geschieht selten, daß ein zehn Jahre zuvor verfaßter Text beim Erscheinen solches Aufsehen erregt. Die Debatte über Christa Wolfs „Was bleibt“ entzündet sich vor allem am Zeitpunkt der Veröffentlichung. Erst nach der DDR-„Wende“ konnte bzw. wollte sie ihre Aufzeichungen von 1979 vorlegen, in denen sie schildert, wie ihr Haus damals einige Wochen lang von der Stasi observiert wurde.

Auch Leute, die sonst abgewogen geurteilt hatten, fallen jetzt über die vermeintliche DDR-„Staatsdichterin“ her, die sie all die Jahre über letztlich doch gewesen sei und die jetzt nur noch späten „Gratismut“ beweise, um sich ein Alibi zu verschaffen. Walter Jens und Günter Grass nehmen Christa Wolf gegen derlei Vorwürfe in Schutz.

Der Anlaß der Debatten umfaßt nur 108 Seiten. Da ist die literarische Rede vom psychischen Druck auf „Objekte“ staatlicher Beobachtung. Viele Passagen dürften in ihrer Substanz auch auf schlimmere Fälle anwendbar sein. Es ist eine Qualität, daß das Buch am vergleichsweise harmlosen Beispiel das dennoch Zermürbende nachfühlen läßt. Die nach geheimem Plan wechselnden Spitzel-Autos mit geisterhaften „Männern ohne Eigenschaften“ als Insassen, die vor ihrer Wohnung postiert sind – sie schaffen hier keine direkte, konkrete Bedrohung, sondern eine kaum greifbare, kaum mit Worten zu fassende Unwirklichkeit, die in alle privaten Dinge einsickert.

Das Leben wird allmählich vergiftet, vergällt. Mißtrauen wuchert, auch gegen Freunde. Schließlich ist es egal, ob die Autos da sind oder nicht – dieses Gefühl ist immer da: es irrlichtert irgendwo zwischen Unruhe, Fühllosigkeit und allgemeiner Verwunderung. Und schließlich wächst die Bereitschaft zur Resignation: Was bleibt? Gibt es überhaupt Zukunft?

Die Autorin äußert öfters ein merkwürdiges, fürsorgliches Interesse für die Lebensumstände der Stasi-Spitzel, als seien es ihre Schutzbefohlenen. Meist sanftmütig, leise und tastend auch die Sprache. Es läßt sich an Textstellen belegen: Die volle Wahrheit zu offenbaren, spart Christa Wolf sich anno ’79 für später auf – oder überläßt es lieber gleich der nächsten Generation. „Mein beschämendes Bedürfnis, mich mit allen Arten von Leuten gut zu stellen“, schilt die Autorin sich einmal selbst. Dies Bedürfnis ist menschlich mehr als verzeihlich, politisch aber naiv. Vielleicht ist es das Hauptproblem der Christa Wolf.

Christa Wolf: „Was bleibt“. Luchterhand, Frankfurt/Main. 108 S., 24 DM.




Der Kaiser und seine Leibgarde fürs Jenseits – Dortmunder Ostwall-Museum zeigt Abglanz der Ausgrabungs-Sensation aus China

Von Bernd Berke

Dortmund. „Unsere Wagen sind perfekt gebaut / Unsere Pferde sind in bester Form / Unsere Wagen sind völlig in Ordnung / Unsere Pferde sind ganz robust“. So beschwörend machte man sich im alten China Mut. Es handelt sich um die Anfangszeilen eines chinesischen Jagdgedichts aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Sie stehen auf einer Steintrommel, die eines von insgesamt nur 92 Exponaten der „Terrakotta-Schau“ im eigens renovierten und teilweise eilends umgebauten Dortmunder Ostwall-Museum ist.

Die robusten Pferde kann man in Dortmund lebensgroß besichtigen. Flankiert von den berühmten Tenakotta-Kriegern (noch nie waren so viele außerhalb Chinas zu sehen), bildet das Ensemble im Lichthof einen derart imposanten Auftakt zum Rundgang, daß alles weitere eigentlich nur noch Beigabe ist; dies auch im Wortsinne, handelt es sich 5 doch bei vielen Stücken um Grabbeigaben.

Im Zentrum der archäologischen Schau, die freilich auch ältere Exponate bietet, steht der „Erste Kaiser“ Qin Shi Huang Di, der von 221 bis 206 v. Chr. herrschte. Dem Despoten gelang es von der alten Kaiserstadt Xi’an aus, mit eiserner Hand die Basis für ein einheitliches chinesisches Reich zu schaffen, das in seinen Grundzügen bis ins Jahr 1911 Bestand hatte. Shi Huang war es auch, der den Bau der „Großen Mauer“ beginnen ließ.

In Xi’an sind seit 1974 Tausende von Kriegern, Rossen und weiteren Grabbeigaben entdeckt bzw. ausgegraben worden. Einen fernen Abglanz dieser archäologischen Weltsensation kann Dortmund nun mit Unterstützung des „Initiativkreises Ruhrgebiet“ exklusiv zeigen. Das umfangreiche Begleitprogramm, u. a. mit Vorträgen und Theatergastspielen aus China, unterstreicht den Rang der Ausstellung. Ein extra engagierter Wachdienst läßt auf hohe Kosten (man munkelt von über vier Millionen Mark) und Besorgnis um die Unversehrtheit der Figuren schließen.

Für die Herrichtung der gigantischen unterirdischen Begräbnisstätte des „Ersten Kaisers“ sollen seinerzeit rund 700 000 Zwangsarbeiter eingesetzt worden sein. Die Terrakotta-Krieger samt Pferden waren dabei als eine Art Leibgarde fürs Jenseits gedacht. In Dortmund werden sie und die anderen Exponate aber nicht als dichte Ansammlung archäologischer Fundstücke, sondern vielmehr als ästhetische Objekte zum optischen Genuß freigegeben. Um zahlreiche Exponate hat man enorm viel leeren Raum belassen – fast wie in einer Ausstellung moderner Skulpturen. Der „luftige“ Effekt wird freilich durch den zu erwartenden Massenandrang von Besuchern wieder aufgehoben werden.

Spartanische Hartfaserplatten als Podeste tun das ihre, den Blick ausschließlich auf die Exponate zu lenken. Neben den dominierenden Terrakotta-Figuren sind u.a. Bronzen, Keramiken, Architekturteile und Eisengeräte aus den Epochen vor und nach der Qin-Dynastie zu sehen. Ihre Bedeutung erschließt sich aber erst bei Lektüre des Katalogs. Zwei „Nebenausstellungen“ in Seitennischen sind der chinesischen Schrift bzw. Fotos der chinesischen Mauer gewidmet.

Übrigens: Von der politischen Situation im heutigen China, das ja nicht eben ein Hort der Freiheit ist, war gestern mit keinem offiziellen Wort die Rede.

„Jenseits der großen Mauer – Der Erste Kaiser von China und seine Terrakotta-Armee“. Dortmund, Ostwall-Museum. 12.8. bis 11.11., tägl. 10-20 Uhr. Katalog 38 DM. Eintritt 10 DM. Karten erstmals auch im Vorverkauf: Bestellungen nur schriftlich unter Angabe des gewünschten Besuchstages an: China-Projekt der Rheinisch-Westfälischen Auslandsgesellschaft, Geschwister-Scholl-Str. 22, 46 Dortmund 1.




Van Gogh: Übermächtiges Vorbild – Große Ausstellung in Essen verfolgt seine Einflüsse auf andere Künstler

Von Bernd Berke

Essen. Manchmal ist es nur eine ganz bestimmte Farbnuance oder eine ganz gewisse Art des Pinselstrichs, der an „ihn“ erinnert; dann wieder werden ganze Motiv-Komplexe von „ihm“ übernommen oder zum Beispiel auch die – charakteristisch schräg von oben verlaufende – Blickrichtung auf Flüsse und Boote.

„Er“, das ist Vincent van Gogh. Die anderen, das sind jene Künstler, die zwischen 1890 und 1914 seinem übermächtigen Einfluß entweder erlagen oder ihn produktiv verarbeiteten und dabei mitunter selbst zu Vorbildern der nächsten Generation wurden. Mit der Ausstellung „Vincent van Gogh und die Moderne“ zieht das Essener Folkwang-Museum den Vergleich zwischen van Gogh und seinen mehr oder minder eigenständigen Nachfolgern.

Auch wenn es Einwände gibt, ist dies doch die wichtigste und vor allem aufwendigste Kunstausstellung des Jahres im Revier. Ohne den Sponsor „Ruhrgas AG“, der auch für Risiken geradesteht, hätte man nie und nimmer diese Werkfülle von Leihgebern aus aller Welt bekommen: 54 Bilder von van Gogh (darunter so berühmte wie eine „Sonnenblumen“-Version oder das Kornfeld mit Krähen) und 153 weitere, darunter einige von Picasso, Matisse, Munch sowie zahlreichen Expressionisten. Klaus Liesen, Ruhrgas-Vorstandsvorsitzender, schweigt beharrlich über die Kosten: „Das verrate ich nicht einmal unserem Aufsichtsrat“.

Glanzpunkt der Ausstellung ist sicherlich einer der wenigen direkten Vergleiche zwischen drei Boots-Motiven von van Gogh, André Derain und Max Pechstein, die unmittelbar nebeneinander hängen. Ansonsten ist man bei der Hängung leider vielfach einem chronologischen bzw. gar einem nach Ländern trennenden Prinzip gefolgt. Das macht die Sache unnötig kompliziert, es widerspricht auch dem Konzept. Mag sein, daß es nebenbei mit den strengen Sicherheitsanforderungen zu tun hat. Für den Besucher, der viel Zeit mitbringen sollte, sieht die Angelegenheit dann freilich so aus: Irgendwann zu Beginn des Rundgangs hatte man doch ein Bauernmotiv von van Gogh gesehen? Das entprechende Vergleichsbild taucht jedoch erst „einen halben Kilometer später“ auf.

Weiterhin: Nicht in jedem Falle scheint Vergleichbarkeit überhaupt gegeben bzw. sinnvoll zu sein. Unter großzügigern Blickwinkel ist da nämlich letztlich jeder Künstler der Moderne mit jedem anderen „verwandt“, was wiederum auch mit gesellschaftlichen Ursachen zu tun hat. So zeigt sich etwa im verzweifelt-leeren Blick auf vielen Selbstporträts auch ein Reflex auf die Isolation moderner Künstler, die die gesamte Avantgarde betraf. Auch der allgemeine Zug zum Eigenwert von Form und Farbe ist nicht aus der direkten Beeinflussung durch van Gogh erklärbar.

Jedenfalls zeigt sich deutlich, daß van Gogh in den meisten Vergleichsfällen triumphaler „Sieger“ bleibt. Was bei ihm klar, entschieden und kraftvoll wirkt, verschwimmt manch einem seiner minder genialen Nachahmer (die hier auch zahlreich vertreten sind) zum bloßen Accessoire oder beiläufigen Ornament, zur bloßen Manier.

Andererseits erlebt man auch Überraschungen. Wer hätte gewußt, daß der spätere Beherrscher von Quadrat und Rechteck, Piet Mondrian, anfangs im Stile von van Gogh gemalt hat? Mondrian gehört zu jenen Künstlern, die sich aus dem Schatten des Vorbilds gelöst haben. Bei manch anderem ahnt man, wie erdrückend das Vorbild auf dem Zutrauen zum eigenen Können gelastet haben muß.

„Vincent van Gogh und die Moderne 1890-1914″. Museum Folkwang, Essen, Goethestraße. 11. August bis 4. November (anschließend in Amsterdam). Do, Mi, Do, Sa + So 10-20 Uhr, freltags 10 bis 24 (!) Uhr, montags geschlossen. Eintritt: 15 DM. Katalog 50 DM.

Prosaischer Tip: Es wird mit rund 300 000 Besuchern gerechnet. Einen günstigen Parkplatz wird man also am Folkwang-Museum schwerlich finden. Daher: Fußweg von der Gruga in Kauf nehmen oder öfffentliche Verkehrsmittel bei nutzen.




Zwischen Komik und Verzweiflung: Ernst Jandl wird 65 Jahre alt

Von Bernd Berke

Während andere seitenlang schwadronieren, warum und inwiefern der Mensch ein irrendes Wesen sei, schenkt uns der Dichter Ernst Jandl diese unsterblichen Zeilen:

manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum

Derlei Gratwanderungen zwischen Genialität und Kalauer sind vor allem für den früheren Jandl typisch. Bezeichnend auch, daß er die Sprache derart zerpflückt und neu montiert, daß sie direkt verkörpern kann, was sonst umständlich umschrieben werden müßte. Klassisches Beispiel ist Jandls Lautgedicht über den „Schützengraben“, der sprachlich zum „schtzngrmm“ zusammenschnurrt und – insbesondere, wenn vom Dichter laut vorgelesen – mehr über die dumpf ratternde Motorik konventioneller Kriegführung verrät als manche Abhandlung. Heute wird der Büchner-Preisträger Ernst Jandl, vor allem als Lyriker einer der bedeutendsten Autoren im deutschen Sprachraum, 65 Jahre alt.

Auch als Dramatiker hatte Jandl mit „Aus der Fremde“ einen Erfolg (Mülheimer Dramatikerpreis 1980), der seinerzeit überraschte. Das Stück ist durchweg im Konjunktiv geschrieben, verweigert also konsequent die direkte, dramatische Rede – und ist doch ein (spielbares) Drama beschädigten Bewußtseins, dem sich allerdings nur die bestbesetzten Bühnen widmen sollten.

Der gebürtige Wiener Jandl, früher im Brotberuf Deutsch- und Englischlehrer am Gymnasium, hat sich mit seinen öffentlichen Gedichtelesungen auch als begnadeter Wort-Entertainer erwiesen. Hunderte, ja Tausende auf einmal lauschten ihm hingerissen, und zwar beileibe nicht nur Literaturkenner. Wer sonst als Jandl hätte ambitionierte ästhetische Experimente dermaßen erhellend mit dem banalen Alltag „kurzgeschlossen“?

Sein erster Gedichtband, „Andere Augen“ (1956), ließ noch nicht die spätere Hinwendung zur experimentellen Poesie ahnen. Die vollzog Jandl erst im Kontakt zur „Wiener Gruppe“ (H. C. Artmann, Gerhard Rühm u. a.), im Austausch mit seiner literarischen Gefährtin Friederike Mayröcker und unter dem Lektüre-Einfluß des Iren James Joyce; auch spielt Jazz-Rhythmik als Grundmuster eine wesentliche Rolle.

Die ersten Lautgedichte trug Jandl 1957 vor. Von solchen Lesungen gibt es Platten und TV-Aufzeichnungen, die das Sprachvergnügen noch erheblich steigern. Schriftlich gesammelt liegt diese Lyrik in Bänden wie „Hosi-Anna“ (1965), „Laut und Luise“ (1966) oder „Die Bearbeitung der Mütze“ (1978) vor.

Spätestens seit dem „Selbstporträt des Schachspielers als trinkende Uhr“ (1983) zeigt sich, daß hinter der vermeintlichen Sprach-Clownerie zusehends Verzweiflung an der Sprache wie am Leben gewachsen ist. Dies hat, wie Jandl in einem Gedicht durchblicken’ließ, inzwischen auch mit der Trauer um die verstorbenen Kollegen Erich Fried und Thomas Bernhard zu tun. Höchst nachvollziehbar, schrieb „Zeit“-Kritiker Benedikt Erenz zum „Schachspieler“-Band: „Es ist nicht mehr die Sprache, mit der Ernst Jandl jongliert – es ist die Verzweiflung selbst. Ich hatte mich auf dieses Buch gefreut; auf das nächste freue ich mich nicht mehr, ich fürchte es.“

In der Tat: Auch in den „Idyllen“ (1989) überwiegen knappste Umrißzeichnungen klirrender Einsamkeit und Vergeblichkeit, notiert in qualvoll-nachhaltig zersetzter, manchmal nur noch leise vor sich hin sirrender Sprache, die man endlos zitieren könnte. Jedenfalls legt man da die sonst so gängige „Betroffenheits“- und Laber-Lyrik am besten ganz schnell beiseite.