Nationalgefühl kann im „Kühlschrank der Geschichte“ auftauen: „Extreme Mittellage“ – Peter Schneider zur deutschen Vereinigung

Von Bernd Berke

Die deutsche Vereinigung hat die politische „Linke“ hierzulande höchlich verwirrt, ja vielfach sprachlos gemacht. Einer der ersten, die versucht haben, die Sprache wiederzufinden, ist Peter Schneider, der schon anno 1973 mit seiner Erzählung „Lenz“ linke Selbstgewißheiten empfindlich ankratzte.

Jetzt, bei seiner „Reise durch das deutsche Nationalgefühl“, befindet sich Schneider, nimmt man den Buchtitel beim Wort, in „extremer Mittellage“, was man auch mit Ratlosigkeit übersetzen könnte. Den Tag der Maueröffnung, den 9. November 1989, erlebte der Berliner nur am TV-Bildschirm – aus 10 000 Kilometern Entfernung, in New Hampshire/USA. Auch dieses flaue Gefühl, eine historische Stunde verpaßt zu haben, hat ihn offenbar an den Schreibtisch getrieben.

Seine Hauptthesen: Die westdeutsche Linke habe sich sozusagen gehörig an die Brust zu klopfen und schuldbewußt die Häupter zu senken, denn sie habe das Thema „Deutschland“ ganz und gar verschlafen. Ein Ronald Reagan habe mit seinem simplen Appell an Gorbatschow, die Mauer abzureißen, mehr historischen Sinn bewiesen als alle vermeintlich kritischen Köpfe. Dann setzt Schneider noch eins drauf: Nicht nur die stalinistische SED-Variante sei nun erledigt, nein, sämtliche sozialistischen Utopien müsse man jetzt wohl beerdigen.

Schneiders gewagteste Überlegung geht dahin, daß es vielleicht doch richtig gewesen sein könne, die Bundesrepublik in der Adenauer-Ära mit NS-Vorbelasteten Fachleuten – ausgenommen Kapitalverbrecher – aufzubauen, weil es anders halt nicht gegangen wäre. Auch in der ehemaligen DDR komme man ja jetzt nicht umhin, vormalige SED-Experten einzusetzen…

Doch Schneider betätigt sich nicht nur als „Wendehals“, er sieht immerhin auch die andere Seite der Medaille, befürchtet er doch einen neu aufkeimenden Nationalismus, den er etwa am Beispiel der Behandlung von Vietnamesen durch Ex-DDR-Bürger dingfest macht. Auch könne ein staatliches Zusammenwachsen im Sinne eines überwunden geglaubten, uralt-deutschen Spießertums drohen. Der Autor erwägt die „Kühlschranktheorie“ (vorkriegsdeutsche Verhaltensweisen wurden in der DDR konserviert und tauen jetzt wieder auf), und prüft die Behauptung, die bisherige DDR-Identität werde sich nun ganz rapide verflüchtigen. Schneider versucht gar, die neueste Zwillingsforschung analog auf die Staatenteile anzuwenden, etwa so: Als Zwillinge geboren, dann lange voneinander getrennt, haben sie sich dennoch verblüffend parallel entwickelt.

Viele Hypothesen des Buchs sind mit „heißer Nadel“ und recht grob gestrickt. Schneiders oftmals gestanzt wirkende Sprache läßt, ebenso wie mancher Gedanke, Voreiligkeit vermuten. Als Anstoß zu weiteren Debatten darf das Buch aber alle Aufmerksamkeit beanspruchen.

Peter Schneider: „Extreme Mittellage. Eine Reise durch das deutsche Nationalgefühl“. Rowohlt-Verlag, 192 Seiten. 28 DM.




Entdeckungen in der neueren Literatur Frankreichs – mit Büchern des Manholt-Verlages

Von Bernd Berke

Es gibt Verlage, die beeindrucken nicht nur durch einzelne Bücher, sondern durch anhaltend hohes Programmniveau. Die Rede ist hier von einem vergleichsweise kleinen Haus in Bremen: Der Manholt-Verlag hat sich auf neuere französische spezialisiert – auf moderne Klassiker, besonders aber auf hierzulande noch zu entdeckende Gegenwartsautoren.

„Träume von Räumen“ von Georges Perec (1936-1982) ist eine spannende „Spurensuche“ in unser aller Alltagsleben, die – welch seltene Legierung – formale Modernität und aphoristisch geschärften Witz verbindet. Es ist fast wie bei der Erschaffung der Welt: Vom leeren Raum ausgehend, schreitet die Untersuchung durch immer größere Einheiten fort – über Bett, Schlafzimmer, Wohnung, Haus, Straße, Viertel, Stadt und Land bis zum unendlichen All. Allein was Perec über unsere Formen des Wohnens oder die Absurdität von Staatsgrenzen bemerkt und welche Alternativen er zuweilen aus scheinbar naiven Fragen entwickelt, lohnt schon die Lektüre. Der fremde Blick auf das Allergewöhnlichste lehrt ein neues Sehen und Staunen. Das Buch ist geschrieben in einem gelassenen, unaufgeregten Stil, den die Übersetzung Eugen Helmlés offenbar sehr gut ins Deutsehe rettet.

„Ich glaubte, mich gut zu kennen. Ziemlich böse, aber vor allem ohne Biß. Irrtum. Ich habe Mutter erschlagen wie nichts“. – So beginnt Ludovic Janviers Buch „Ich, Ungeheuer“. Ein wahrhaft ungeheuerlicher Anfang. Was kann darauf noch folgen? Doch nur die Psychopathologie des Mörders. Die liefert Janvier (Jahrgang 1934) tatsächlich, aber wie! Streng aus Sicht und mit Worten dieses Mörders selbst, dessen ganzes wüstes Gestammel wir ertragen müssen und dem wir sogar „über die Schulter sehen“, wenn er die Leiche zersägt.

Der Mörder richtet seinen fahrig-chaotischen Wortschwall über sein total verkorkstes Leben in mal rasender, mal gedämpfter Ich-Bezogenheit an ein ungreifbares Gegenüber ~ vielleicht einen Psychiater, Kriminalisten oder Beichtvater, vielleicht auch an einen Teil seines gespaltenen Selbst. Doch es ist eine durch und durch „schwarze“ Beichte, die er hier ablegt – und ein durchweg abgründiges Buch. Janvier gleitet nie ins Moralisieren und selten in Zynismus ab. Er mutet dem Leser die extreme, verunsichernde Erfahrung zu, gleichsam als Richter einem „Monster“ (Originaltitel „Monstre, va“ – etwa: Monster, geh weg!) gegenüberzusitzen und – bei allem Abscheu vor der Tat – sein Urteil ständig zu überprüfen.

Emmanuel Bove (1898-1945) ist in Deutschland, besonders durch Peter Handkes Übersetzung von „Meine Freunde“ schon bekannter. Im Mittelpunkt seines mit feinster Menschenbeobachtung brillierenden Romans „Ein Junggeselle“ steht der angegraute Ex-Industrielle Guittard, dessen etwas theatralische Lebensgestaltung mit sanft gleitender, wenn auch letztlich erbarmungsloser Ironie als Kette von Peinlichkeiten bloßgestellt wird. Der Hagestolz verliebt sich in jedes weibliche Wesen, das auch nur in seine Nähe gerät. Ebenso unbeholfen wie wankelmütig und vor allem blind für seine eigene Wirkung, bildet er sich dabei alle (un)möglichen Kompliziertheiten ein…

Georges Perec: „Träume von Räumen“. 120 Seiten, 26 DM

Ludovic Janvier: „Ich, Ungeheuer“, 125 S., 26 DM

Emmanuel Bove: „Ein Junggeselle“, 157 S., 28 DM

Alle drei Bücher in Manholt-Verlag, Bremen.




Suzanne Vega: Eine gewisse Melancholie

Von Bernd Berke

Münster. „Don’t be shy! Express yourself!“ – Seid nicht schüchtern, geht aus euch heraus! Die New Yorker Rocksängerin Suzanne Vega wollte ihr Publikum verbal anstacheln. Doch wie, bitteschön, hätten die Leute ihre Musikbegeisterung in dieser kreuzbraven Halle Münsterland mit ihrer aufgereihten Bestuhlung Ausdruck verleihen sollen?

Außerdem ist Suzanne Vega selbst keine Frau von extrovertierter Art. Wenn sie beim Singen mal die Knie bewegt, ist das schon viel. Nur manchmal glaubt man bei ihr eine kleine, fast diebische Freude an der eigenen Musik zu verspüren. Ihre Intensität liegt woanders: in einer leicht neurotisch angehauchten Innerlichkeit. Angetan mit einer Kluft zwischen Uniform und Schulmädchenkleid (weiße Söckchen) steht sie auf der Bühne. Blaß, zerbrechlich, aber irgendwie standhaft und tapfer.

Suzanne und ihre erprobte Band (klassische Gitarrenrock-Besetzung) bringen einen soliden Querschnitt durch die bisherigen drei LPs/CDs: „Suzanne Vega“, „Solitude Standing“, „Days of Open Hand“; Hits wie „Luka“ und „Book of Dreams“ inklusive. In der vielleicht besten Passage des Abends singt Suzanne Vega aber ohne Band, unter anderem einen kleinen Folksong aus ihrer Schulzeit.

Nicht jeder ihrer eigenen Songs ist eine kreative Öffenbarung, manche Elemente wiederholen sich. Doch jede Nummer stammt unverwechselbar von ihr, jede trifft traumwandlerisch einen gewissen melancholischen Ton, jede für sich ist anhörenswert – und manch eine schlicht und ergreifend schön.

Eineinhalb Stunden dauerte das Konzert. Für ausschweifende Zugaben reicht das Songmaterial noch nicht aus. Nicht nur die Dauer, auch die Art der Präsentation wirkt ein bißchen abgezirkelt. Alles klingt live genau wie auf Platte. Manche mögen das, sie wiederhören. Aber die Spontanität bleibt etwas auf der Strecke.

Trotz solcher Einwände: Suzanne Vega gehört zum Originellsten und Echtesten, was die Rockszene Anfang der 90er zu bieten hat.




Ein Schönling schmilzt dahin – Bodo Kirchhoffs filmreifer Roman „Infanta“

Von Bernd Berke

„Mindanao, Cebu City, Frankfurt und Rom – Januar 1985-Januar 1990″. Diese „Signatur“ von Bodo Kirchhoff am Schluß seines Romans läßt auf mehrerlei schließen. Der Autor ist reisefreudig, und er hat sich beim Schreiben Zeit gelassen. Er hat sich nicht dem Zwang unterworfen, jedes Jahr mit einem neuen Werk „auf dem Markt“ zu sein.

Ein häufiger Vorwurf an unsere Schriftsteller lautet ja, daß sie vor dem bis dato weitgehend behüteten, nicht eben zum rauschhaften Schaffen antreibenden Leben hierzulande in ferne Weiten flüchten – in Träume, erklügelte Künstlichkeiten oder fremde Länder.

Solchen Anwürfen entgeht Kirchhoff virtuos, indem er sie unterschwellig zum Thema macht. Da läßt er einen – sonst im römischen Luxus-Ambiente wohnenden – Deutschen namens Kurt Lukas, charakterlich so blaß wie die beliebige Abfolge seines Vor- und Zunamens, mitten in philippinische Revolutionswirren taumeln. Lukas ist Dressman für edle Reklame: „unbeschriebenes Blatt“, Schönling, unbeleckt von größerem Leid. Ausgerechnet so ein Mann gerät nun, quasi stellvertretend für eine (in Sachen Existenznot relativ unbedarfte) „gesamteuropäisch-amerikanische“ Zivilisation, in die Provinz eines bitter armen Landes der „Dritten Welt“.

Ohne daß Namen genannt werden, ist bald klar, daß der mit Elementen eines Polit-Krimis verschnittene Roman in jener Zeit spielt, als Diktator Marcos sich noch mit schmutzigsten Mitteln an die Macht klammerte, während die Mehrheit des Volkes für Frau Aquino demonstrierte. Zahllose Details lassen ahnen, daß sich der Autor intensiv auf den Inseln umgetan hat. So entgeht er der oberflächlichen Exotik der Schauplätze.

In die politische Zwischenzeit fällt Lukas wie in eine Untiefe: Die unaufhörlich lastende Hitze des Landes löst alle festen Formen auf, auch die Seele gerät „ins Schwimmen“. Politisch-erotischer Siedepunkt der Handlung ist das in Manila spielende Mittelstück, drittes von fünf Kapiteln. Die Aufteilung gemahnt ans klassische Drama.

Fünf Missionare, eine bizarr-liebenswerte Gesellschaft alter Männer, haben Kurt in der tiefsten Provinz der philippinischen Südinsel aufgenommen. Das heißt, eigentlich locken sie ihn dorthin, um mit ihm einen subtilen Lebend-Versuch über die irdische Liebe anzustellen, die sie allesamt nie so richtig kennengelernt haben. Zweite „Versuchsperson“ ist die wunderschöne Philippinin Mayla, zunächst Haushälterin bei den frommen „Fathers“, dann (im Sinne der Landreform) einflußreiche Sekretärin beim Bischof, die gezielt mit Lukas zusammengebracht wird.

Kirchhoff führt ein facettenreiches Panoptikum der Liebes-Zustände vor – vom kaum noch erzählbaren Ideal-Zustand bis zur absoluten Negation. Und mehr noch: Es ist dies auch ein über weite Passagen beinahe kokett-zurückhaltend wie spannend erzähltes Buch, z. B. über Reibungsverhältnisse zwischen Sprache und Liebe, Leben und Schreiben, zwischen politischer Wirklichkeit und ihrer dramaturgisch zugerichteten Darstellung in den Medien.

Kirchhoff verfügt über einen raffinierten, nur scheinbar „einfachen“ Stil. Ständige Perspektiven-Wechsel (Zitate aus fiktiven Tagebüchern der Missionare) verfeinern noch die Darstellung. Solch souveräne Könnerschaft gleicht überlegener Kälte zum Verwechseln.

Übrigens: Das Buch ist so bildkräftig, daß es nach Verfilmung „schreit“. Schon die Eingangsszene wirkt kinogerecht, wie mit einer Kamera abgetastet. Überhaupt ist Kirchhoff besonders ein Meister der Anfänge, während er für die „Durchführung“ nicht durchweg den nötigen Langstrecken-Atem hat.

Bodo Kirchhoff: „Infanta“. Roman. Suhrkamp-Verlag, 502 Seiten. 39,80 DM