Schwankender Koloß des Unrechts – „Der zerbrochene Krug“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Draußen Schnee, drinnen auch. Wer am Mittwoch abend zur Premiere von Kleists „Der zerbrochene Krug“ in Essens GrilloBau kam, hatte dieses realtheatralische Doppelerlebnis. Leise rieselte es im Bühnenhintergrund, vor kahler Landschaft mit Weidenbäumen.

Das Spiel hebt an auf einer kreisrunden, schmutzig-weißen Platte, um die sich ein Graben zieht. Das erinnert an eine Raubtierinsel im Zoo. Von oben kommt gleichmäßiges, die Szene analytisch ausleuchtendes Licht aus gleichfalls kreisrunder Öffnung. Hier also wird der Dorfrichter Adam entlarvt.

Das Stück zählt natürlich zu den „All time greats“, es ist unverwüstlich, wenn man den Dorfrichter richtig besetzen kann. Dafür bietet Regisseur Hansgünther Heyme in Essen Peter Kollek auf. Damit ist die Aufführung bereits weitgehend gerettet.

Kollek gibt den Adam als wahres Ungetüm der Ungerechtigkeit, als kantigen Koloß, der ins Wanken gerät. Wie er sich mit Händen und Füßen aus allen peinlichen Lagen herauswinden will, ist famos. Seine grotesken Körperverrenlcungen geben eine sinnliche Vorstellung von Rechtsverdrehung.

Jedoch: Dieser Adam beugt das Recht zwar in eigener Sache, steht aber auch für eine Rechtsauffassung der vor-juristischen Art. Es wird ganz deutlich, wenn er mit den streitenden Parteien der Dorfbewohner kungeln will. Da bereinigt man Mißhelligkeiten sonst wohl mit gesundem Menschenverstand und aus gegenseitiger Kenntnis – notfalls mit Augenzwinkern und Handschlag. Nur im Fall des zerbrochenen Krugs will das nicht gelingen, denn da ist Adam ja selbst verwickelt.

Hingegen ist Gerichtsrat Walter (Jean-Pierre Cornu), der sich als strenger Revisor den Adam vorknöpft, hier kein edler Herold des Rechts, sondern ein Karrierist, der per Intercity und mit Attachékoffer angereist sein könnte. Er steht für den Einheitsstaat, für die Metropole, die sich über die Provinz hermacht – und es ist sehr die Frage, ob seine schriftlichen Gesetze die menschlicheren sind. Walter würde sich von den Dörflern am liebsten wie ein Kardinal die Hand küssen lassen, er zuckt erst im letzten Moment vor einer solchen Geste zurück.

Als Adam seinen Offenbarungseid leisten muß, gerät auch Walter in Versuchung, einfach über den dörflichen Schwank mitzulachen. Doch brüllend bringt er sich dann selbst zur (Staats)-Raison.

Heyme läßt zwei Stunden ohne Pause spielen. Das ist richtig, denn eine Unterbrechung würde das Gespinst von Rede und Widerrede zerreißen. Allerdings nimmt die Regie öfter das Tempo heraus und läßt die Darsteller in spannungslosen Tableaus schweigen. Eigentlich sollte man in einem raschen Zug durchspielen, vielleicht sogar rasend. Zudem sind manche Figuren nur richtig „da“, wenn sie gerade sprechen. Besonders mit dem Gerichtsrat Walter weiß Heyme phasenweise wenig anzufangen, er läßt ihn dann unablässig Notizen machen.

Überdies sind die Kostüme der Frauen etwas zu albern. Sie charakterisieren nicht recht, sondern hängen den Figuren bunte Flicken an. Das macht es den Schauspielerinnen schwer, ihren Rollen Gewicht zu verleihen. Am besten gelingt dies Susanne Tremper als Marthe Rull.




Dachau und die schönen Künste

Von Bernd Berke

Es gibt Orte, die tragen untilgbar tiefe Spuren der Geschichte. Es gibt Leute, die neudeutsch „Image-Pfleger“ heißen und kein Einsehen haben. Zu ihnen gehört wohl auch Dr. Lorenz Reitmeier, Oberbürgermeister der bayerischen Stadt Dachau.

Von Haus aus Jurist, hat sich Reitmeier aufs Feld der Kunst begeben und nun mit Schreiben „an d i e Kulturjournalisten und Kunstkritiker in Deutschland“ – eine Adresse, die nach Kampagne klingt – ein Buch geschickt. Es enthält für 198 DM satte 1700 Farbabbildungen auf teurem Hochglanzpapjer und heißt „Dachau, der berühmte Malerort“. Uns liegt eine „Sonderaufläge für die Stadt Dachau“ vor (die bestimmt ganz ohne jeden Steuergroschen entstanden ist, oder?). Der Süddeutsche Verlag erklärt sich verschämt nur für die „technische Gesamtherstellung“ zuständig,

Angeblich eigenständig hat Reitmeier alle Recherchen getätigt, um jedes, aber auch wirklich jedes Kunstwerks habhaft zu werden, das nur irgend mit dem Namen Dachau zu tun hat. Zwar haben dort auch Koryphäen wie Lovis Corinth und Christian Morgenstern gearbeitet (während man sich mit Ludwig Thoma – bei Licht betrachtet – schon weniger brüsten kann, war der doch auf seine alten Tage ein übler Nationalist). Aber bei der Unzahl von Bildern handelt es sich in erster Linie um gemalte Heimattümelei. Die schiere Fülle soll die Sinne des Betrachters überwältigen und den Schluß nahelegen: „Aha, in Dachau ist die Kunst daheim“.

Natürlich weiß auch Reitmeier, gegen welche Vergangenheit er diese Bilderflut stellt. Das ist es ja gerade. Er tut es ganz gezielt, obgleich, wie er pikiert feststellt, das KZ, das unter dem Namen Dachau weltweit berüchtigt war, doch „in einer Nachbargemeinde“ angesiedelt war. Zitat aus dem Klappentext: „Der Glanz des Namens Dachau wurde seit 1933 überschattet von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die unter dem Namen Dachau begangen wurden. Glücklicherweise aber blühte die Kunsttradition Dachaus nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf…“ — Glücklicherweise.

So leicht ist die Geschichte entsorgt, gleichsam durch die Gnade der vielen Bilder. In Dachau hat man sich schon öfter schwergetan, wenn es darum ging, der NS-Zeit wirklich zu gedenken. Das unwürdige Gerangel um eine Begegnungs- und Erinnerungsstätte, die man am Ort nicht haben mochte, ging lange durch die Medien.

In Dachau wurde bereits im März 1933 eines der ersten KZs in Deutschland errichtet, das später 125 Außenstellen „betreute“. Etwa 200 000 Häftlinge waren in Dachau interniert, 34 000 starben.

Selbst wenn Picasso dort gearbeitet hätte: Ein Ort mit dieser düsteren Geschichte kann nicht ohne weiteres zum „Ort der Kunst“ erklärt werden.




Nationalgefühl kann im „Kühlschrank der Geschichte“ auftauen: „Extreme Mittellage“ – Peter Schneider zur deutschen Vereinigung

Von Bernd Berke

Die deutsche Vereinigung hat die politische „Linke“ hierzulande höchlich verwirrt, ja vielfach sprachlos gemacht. Einer der ersten, die versucht haben, die Sprache wiederzufinden, ist Peter Schneider, der schon anno 1973 mit seiner Erzählung „Lenz“ linke Selbstgewißheiten empfindlich ankratzte.

Jetzt, bei seiner „Reise durch das deutsche Nationalgefühl“, befindet sich Schneider, nimmt man den Buchtitel beim Wort, in „extremer Mittellage“, was man auch mit Ratlosigkeit übersetzen könnte. Den Tag der Maueröffnung, den 9. November 1989, erlebte der Berliner nur am TV-Bildschirm – aus 10 000 Kilometern Entfernung, in New Hampshire/USA. Auch dieses flaue Gefühl, eine historische Stunde verpaßt zu haben, hat ihn offenbar an den Schreibtisch getrieben.

Seine Hauptthesen: Die westdeutsche Linke habe sich sozusagen gehörig an die Brust zu klopfen und schuldbewußt die Häupter zu senken, denn sie habe das Thema „Deutschland“ ganz und gar verschlafen. Ein Ronald Reagan habe mit seinem simplen Appell an Gorbatschow, die Mauer abzureißen, mehr historischen Sinn bewiesen als alle vermeintlich kritischen Köpfe. Dann setzt Schneider noch eins drauf: Nicht nur die stalinistische SED-Variante sei nun erledigt, nein, sämtliche sozialistischen Utopien müsse man jetzt wohl beerdigen.

Schneiders gewagteste Überlegung geht dahin, daß es vielleicht doch richtig gewesen sein könne, die Bundesrepublik in der Adenauer-Ära mit NS-Vorbelasteten Fachleuten – ausgenommen Kapitalverbrecher – aufzubauen, weil es anders halt nicht gegangen wäre. Auch in der ehemaligen DDR komme man ja jetzt nicht umhin, vormalige SED-Experten einzusetzen…

Doch Schneider betätigt sich nicht nur als „Wendehals“, er sieht immerhin auch die andere Seite der Medaille, befürchtet er doch einen neu aufkeimenden Nationalismus, den er etwa am Beispiel der Behandlung von Vietnamesen durch Ex-DDR-Bürger dingfest macht. Auch könne ein staatliches Zusammenwachsen im Sinne eines überwunden geglaubten, uralt-deutschen Spießertums drohen. Der Autor erwägt die „Kühlschranktheorie“ (vorkriegsdeutsche Verhaltensweisen wurden in der DDR konserviert und tauen jetzt wieder auf), und prüft die Behauptung, die bisherige DDR-Identität werde sich nun ganz rapide verflüchtigen. Schneider versucht gar, die neueste Zwillingsforschung analog auf die Staatenteile anzuwenden, etwa so: Als Zwillinge geboren, dann lange voneinander getrennt, haben sie sich dennoch verblüffend parallel entwickelt.

Viele Hypothesen des Buchs sind mit „heißer Nadel“ und recht grob gestrickt. Schneiders oftmals gestanzt wirkende Sprache läßt, ebenso wie mancher Gedanke, Voreiligkeit vermuten. Als Anstoß zu weiteren Debatten darf das Buch aber alle Aufmerksamkeit beanspruchen.

Peter Schneider: „Extreme Mittellage. Eine Reise durch das deutsche Nationalgefühl“. Rowohlt-Verlag, 192 Seiten. 28 DM.




Entdeckungen in der neueren Literatur Frankreichs – mit Büchern des Manholt-Verlages

Von Bernd Berke

Es gibt Verlage, die beeindrucken nicht nur durch einzelne Bücher, sondern durch anhaltend hohes Programmniveau. Die Rede ist hier von einem vergleichsweise kleinen Haus in Bremen: Der Manholt-Verlag hat sich auf neuere französische spezialisiert – auf moderne Klassiker, besonders aber auf hierzulande noch zu entdeckende Gegenwartsautoren.

„Träume von Räumen“ von Georges Perec (1936-1982) ist eine spannende „Spurensuche“ in unser aller Alltagsleben, die – welch seltene Legierung – formale Modernität und aphoristisch geschärften Witz verbindet. Es ist fast wie bei der Erschaffung der Welt: Vom leeren Raum ausgehend, schreitet die Untersuchung durch immer größere Einheiten fort – über Bett, Schlafzimmer, Wohnung, Haus, Straße, Viertel, Stadt und Land bis zum unendlichen All. Allein was Perec über unsere Formen des Wohnens oder die Absurdität von Staatsgrenzen bemerkt und welche Alternativen er zuweilen aus scheinbar naiven Fragen entwickelt, lohnt schon die Lektüre. Der fremde Blick auf das Allergewöhnlichste lehrt ein neues Sehen und Staunen. Das Buch ist geschrieben in einem gelassenen, unaufgeregten Stil, den die Übersetzung Eugen Helmlés offenbar sehr gut ins Deutsehe rettet.

„Ich glaubte, mich gut zu kennen. Ziemlich böse, aber vor allem ohne Biß. Irrtum. Ich habe Mutter erschlagen wie nichts“. – So beginnt Ludovic Janviers Buch „Ich, Ungeheuer“. Ein wahrhaft ungeheuerlicher Anfang. Was kann darauf noch folgen? Doch nur die Psychopathologie des Mörders. Die liefert Janvier (Jahrgang 1934) tatsächlich, aber wie! Streng aus Sicht und mit Worten dieses Mörders selbst, dessen ganzes wüstes Gestammel wir ertragen müssen und dem wir sogar „über die Schulter sehen“, wenn er die Leiche zersägt.

Der Mörder richtet seinen fahrig-chaotischen Wortschwall über sein total verkorkstes Leben in mal rasender, mal gedämpfter Ich-Bezogenheit an ein ungreifbares Gegenüber ~ vielleicht einen Psychiater, Kriminalisten oder Beichtvater, vielleicht auch an einen Teil seines gespaltenen Selbst. Doch es ist eine durch und durch „schwarze“ Beichte, die er hier ablegt – und ein durchweg abgründiges Buch. Janvier gleitet nie ins Moralisieren und selten in Zynismus ab. Er mutet dem Leser die extreme, verunsichernde Erfahrung zu, gleichsam als Richter einem „Monster“ (Originaltitel „Monstre, va“ – etwa: Monster, geh weg!) gegenüberzusitzen und – bei allem Abscheu vor der Tat – sein Urteil ständig zu überprüfen.

Emmanuel Bove (1898-1945) ist in Deutschland, besonders durch Peter Handkes Übersetzung von „Meine Freunde“ schon bekannter. Im Mittelpunkt seines mit feinster Menschenbeobachtung brillierenden Romans „Ein Junggeselle“ steht der angegraute Ex-Industrielle Guittard, dessen etwas theatralische Lebensgestaltung mit sanft gleitender, wenn auch letztlich erbarmungsloser Ironie als Kette von Peinlichkeiten bloßgestellt wird. Der Hagestolz verliebt sich in jedes weibliche Wesen, das auch nur in seine Nähe gerät. Ebenso unbeholfen wie wankelmütig und vor allem blind für seine eigene Wirkung, bildet er sich dabei alle (un)möglichen Kompliziertheiten ein…

Georges Perec: „Träume von Räumen“. 120 Seiten, 26 DM

Ludovic Janvier: „Ich, Ungeheuer“, 125 S., 26 DM

Emmanuel Bove: „Ein Junggeselle“, 157 S., 28 DM

Alle drei Bücher in Manholt-Verlag, Bremen.




Suzanne Vega: Eine gewisse Melancholie

Von Bernd Berke

Münster. „Don’t be shy! Express yourself!“ – Seid nicht schüchtern, geht aus euch heraus! Die New Yorker Rocksängerin Suzanne Vega wollte ihr Publikum verbal anstacheln. Doch wie, bitteschön, hätten die Leute ihre Musikbegeisterung in dieser kreuzbraven Halle Münsterland mit ihrer aufgereihten Bestuhlung Ausdruck verleihen sollen?

Außerdem ist Suzanne Vega selbst keine Frau von extrovertierter Art. Wenn sie beim Singen mal die Knie bewegt, ist das schon viel. Nur manchmal glaubt man bei ihr eine kleine, fast diebische Freude an der eigenen Musik zu verspüren. Ihre Intensität liegt woanders: in einer leicht neurotisch angehauchten Innerlichkeit. Angetan mit einer Kluft zwischen Uniform und Schulmädchenkleid (weiße Söckchen) steht sie auf der Bühne. Blaß, zerbrechlich, aber irgendwie standhaft und tapfer.

Suzanne und ihre erprobte Band (klassische Gitarrenrock-Besetzung) bringen einen soliden Querschnitt durch die bisherigen drei LPs/CDs: „Suzanne Vega“, „Solitude Standing“, „Days of Open Hand“; Hits wie „Luka“ und „Book of Dreams“ inklusive. In der vielleicht besten Passage des Abends singt Suzanne Vega aber ohne Band, unter anderem einen kleinen Folksong aus ihrer Schulzeit.

Nicht jeder ihrer eigenen Songs ist eine kreative Öffenbarung, manche Elemente wiederholen sich. Doch jede Nummer stammt unverwechselbar von ihr, jede trifft traumwandlerisch einen gewissen melancholischen Ton, jede für sich ist anhörenswert – und manch eine schlicht und ergreifend schön.

Eineinhalb Stunden dauerte das Konzert. Für ausschweifende Zugaben reicht das Songmaterial noch nicht aus. Nicht nur die Dauer, auch die Art der Präsentation wirkt ein bißchen abgezirkelt. Alles klingt live genau wie auf Platte. Manche mögen das, sie wiederhören. Aber die Spontanität bleibt etwas auf der Strecke.

Trotz solcher Einwände: Suzanne Vega gehört zum Originellsten und Echtesten, was die Rockszene Anfang der 90er zu bieten hat.




Ein Schönling schmilzt dahin – Bodo Kirchhoffs filmreifer Roman „Infanta“

Von Bernd Berke

„Mindanao, Cebu City, Frankfurt und Rom – Januar 1985-Januar 1990″. Diese „Signatur“ von Bodo Kirchhoff am Schluß seines Romans läßt auf mehrerlei schließen. Der Autor ist reisefreudig, und er hat sich beim Schreiben Zeit gelassen. Er hat sich nicht dem Zwang unterworfen, jedes Jahr mit einem neuen Werk „auf dem Markt“ zu sein.

Ein häufiger Vorwurf an unsere Schriftsteller lautet ja, daß sie vor dem bis dato weitgehend behüteten, nicht eben zum rauschhaften Schaffen antreibenden Leben hierzulande in ferne Weiten flüchten – in Träume, erklügelte Künstlichkeiten oder fremde Länder.

Solchen Anwürfen entgeht Kirchhoff virtuos, indem er sie unterschwellig zum Thema macht. Da läßt er einen – sonst im römischen Luxus-Ambiente wohnenden – Deutschen namens Kurt Lukas, charakterlich so blaß wie die beliebige Abfolge seines Vor- und Zunamens, mitten in philippinische Revolutionswirren taumeln. Lukas ist Dressman für edle Reklame: „unbeschriebenes Blatt“, Schönling, unbeleckt von größerem Leid. Ausgerechnet so ein Mann gerät nun, quasi stellvertretend für eine (in Sachen Existenznot relativ unbedarfte) „gesamteuropäisch-amerikanische“ Zivilisation, in die Provinz eines bitter armen Landes der „Dritten Welt“.

Ohne daß Namen genannt werden, ist bald klar, daß der mit Elementen eines Polit-Krimis verschnittene Roman in jener Zeit spielt, als Diktator Marcos sich noch mit schmutzigsten Mitteln an die Macht klammerte, während die Mehrheit des Volkes für Frau Aquino demonstrierte. Zahllose Details lassen ahnen, daß sich der Autor intensiv auf den Inseln umgetan hat. So entgeht er der oberflächlichen Exotik der Schauplätze.

In die politische Zwischenzeit fällt Lukas wie in eine Untiefe: Die unaufhörlich lastende Hitze des Landes löst alle festen Formen auf, auch die Seele gerät „ins Schwimmen“. Politisch-erotischer Siedepunkt der Handlung ist das in Manila spielende Mittelstück, drittes von fünf Kapiteln. Die Aufteilung gemahnt ans klassische Drama.

Fünf Missionare, eine bizarr-liebenswerte Gesellschaft alter Männer, haben Kurt in der tiefsten Provinz der philippinischen Südinsel aufgenommen. Das heißt, eigentlich locken sie ihn dorthin, um mit ihm einen subtilen Lebend-Versuch über die irdische Liebe anzustellen, die sie allesamt nie so richtig kennengelernt haben. Zweite „Versuchsperson“ ist die wunderschöne Philippinin Mayla, zunächst Haushälterin bei den frommen „Fathers“, dann (im Sinne der Landreform) einflußreiche Sekretärin beim Bischof, die gezielt mit Lukas zusammengebracht wird.

Kirchhoff führt ein facettenreiches Panoptikum der Liebes-Zustände vor – vom kaum noch erzählbaren Ideal-Zustand bis zur absoluten Negation. Und mehr noch: Es ist dies auch ein über weite Passagen beinahe kokett-zurückhaltend wie spannend erzähltes Buch, z. B. über Reibungsverhältnisse zwischen Sprache und Liebe, Leben und Schreiben, zwischen politischer Wirklichkeit und ihrer dramaturgisch zugerichteten Darstellung in den Medien.

Kirchhoff verfügt über einen raffinierten, nur scheinbar „einfachen“ Stil. Ständige Perspektiven-Wechsel (Zitate aus fiktiven Tagebüchern der Missionare) verfeinern noch die Darstellung. Solch souveräne Könnerschaft gleicht überlegener Kälte zum Verwechseln.

Übrigens: Das Buch ist so bildkräftig, daß es nach Verfilmung „schreit“. Schon die Eingangsszene wirkt kinogerecht, wie mit einer Kamera abgetastet. Überhaupt ist Kirchhoff besonders ein Meister der Anfänge, während er für die „Durchführung“ nicht durchweg den nötigen Langstrecken-Atem hat.

Bodo Kirchhoff: „Infanta“. Roman. Suhrkamp-Verlag, 502 Seiten. 39,80 DM




Der tiefste Ernst ist ein Verwandter des Lachens – Frankfurter Schirn-Kunsthalle zeigt erste große Retrospektive seit dem Tod von Jean Dubuffet

Von Bernd Berke

Frankfurt. Jean Dubuffet (1901—1985) gilt heute meistenteils als Hauptvertreter der sogenannten „art brut“ (etwa: rohe Kunst), einer Richtung, die auf alle großen Traditionen (auch die der Abstraktion) pfeift und sich z. B. an bildnerische Hervorbringungen von Geisteskranken anlehnt. In der Kunsthalle Schirn zu Frankfur/Main ist jetzt, bei der ersten großen Retrospektive nach Dubuffets Tod, festzustellen, wie wenig mit solch einer Schubladen-Zuordnung gesagt ist – bestenfalls ein Körnchen der Wahrheit.

Richtig ist, daß Dubuffet (von seinen frühen und erzkonventionellen Anfängen in den 20er Jahren abgesehen) die Tradition aggressiv von sich wies. Bei seinen Angriffen auf die intellektuell hochgezüchtete Moderne hat er Beifall von falscher Seite riskiert. Dubuffet hat seinen ureigenen Weg gesucht. Dieser Weg hatte freilich viele Gabelungen. Man kann das in der Frankfurter Ausstellung anhand von 250 Exponaten aus aller Welt beispielhaft nachvollziehen: Wenn Dubuffet einmal ein Thema oder eine Form für sich entdeckt hatte, blieb er lange dabei. Dann schuf er Serien, deren Variationen sich über Jahre hinzogen. War aber ein Alphabet der Möglichkeiten durchbuchstabiert, brach der Künstler abrupt ab und wandte sich neuen „Schriften“ zu.

Wirklich eigenständig wird Dubuffets Kunst etwa ab 1943. Da malt er grell-groteske „Marionetten der Städte“, etwa jene wie an Fäden hängende Wesen in der U-Bahn („métro“-Serie). Während da der Mensch in der Menge bedeutungslos zu werden scheint, verschwindet er ansonsten in der Weite von Landschaften oder neben riesigen Kühen, die ihn mit kreatürlicher Kraft an den Bildrand drängen. Im Jahr 1945 verblassen bei Dubuffet menschliche Umrisse gar vor grauen Mauern.

Will diese Kunst über den Mensehen hinaus — oder hinter ihn zurück? Solche Menschenbilder wirken jedenfalls entweder magisch-„primitiv“ wie prähistorische bzw. Stammeskunst oder im schönsten Sinne kindlich: Tiefster Ernst und befreites Lachen liegen da oft noch ganz dicht beisammen. Wichtig werden dann billige, bewußt „unkünstlerische“ Materialien wie Kiesel, Sand und Glas. Mit derlei Ingredienzen wirft Dubuffet etwa ein grobkörnig gehäufeltes Raster über eine in Öl gemalte nackte Männerfigur, die den „Willen zur Macht“ (Titel, 1946) und damit eine Art „Ur-Hitler“ verkörpert. Großartig die Bilder, in denen der Materialeindruck sich verselbständigt, z. B. „Tischklumpen“ oder „Felder des Wohlbehagens“ (beide 1951). Diese Arbeiten wirken nicht mehr wie hergestellt, sondern wie immer schon dagewesene Materie. Konsequent, daß Dubuffet dann auch Fundsachen wie Schwämme oder Schlacke-Stücke nach winzigen Eingriffen zu Kunstwerken ernennt. Da blitzt in fast umgeformter Materie plötzlich Bedeutung auf.

Bewußt im Sinne einer „antikulturellen“ (Dubuffet) Kunst gestaltet sind die jeder Herkömmlichkeit des Genres spottenden Frauenakte. Diese Damen ähneln in ihrer zerrinnenden Körperlichkeit eher formlosen Landschaften.

Über einige weitere Bildgruppen („Paris circus“) dringt Dubuffet mit dem 17 Jahre währenden, obsessiven Experiment „Hourloupe“ (lautmalerischer Begriff) auch in die dritte Dimension und zu einer Art Bilder-Skulpturen-Theater vor. In Frankfurt ist eine Bühne zu bestaunen, auf der Dutzende dieser rot-weißblauen Pappmachefiguren ein bizarres, stummes Ballett tanzen.

Danach kehrt Dubuffet zu Collagen zurück, zu einem comic-haften „Traum-Theater“ der Lebenssituationen und schließlich zu den „non-lieux“ (Nicht-Orten), hellsichtig hingesetzten Pinselstrichen auf schwarzem Grund.

Jean Dubuffet. Kunsthalle Schirn, Frankfurt, Am Römerberg. Bis 3. März 1991. Katalog 42 DM.




Wenn jede Kunst es mit der anderen treibt – Wuppertaler Pop-Institut zeigt in Hamburg Ausstellung über Andy Warhol und „Velvet Underground“

Von Bernd Berke

Hamburg/Wuppertal. Unter der Decke schweben Cassetten-Recorder mit Kopfhörern, beim Aufschlagen eines Buches entfaltet sich eine dreidimensionale Suppendose aus Papier. Fotos zeigen ekstatisch verzerrte Gesichter im Stroboskop-Gewitter, Platten und Plakate animieren zu Rockmusik-Räuschen, es laufen bizarre Filme und Videos. Wohin sind wir denn da geraten? In die ehrwürdige Hamburger Kunsthalle.

Die große Andy Warhol-Ausstellung vor Jahresfrist in Köln war ein Publikumsrenner. In der Euphorie fiel aber kaum auf, daß ein wichtiger Werkaspekt des berühmten Pop-Künstlers total vernachlässigt wurde: seine intensive Beziehung zur Rockszene. Warhol wollte gar, auch weil er auf diesem Feld erhöhte Öffentlichkeit sowie Geschäfte witterte, mit seinen Künstlerkollegen Claes Oldenburg und Jasper Johns selbst eine Rockband gründen, die freilich ein Flop wurde. Seine Zusammenarbeit mit der rockgeschichtlich höchst bedeutsamen Gruppe um Lou Reed und John Cale, „The Velvet Underground“, wurde dann Legende. Genau diesem Thema widmet sich jetzt in der Hamburger Kunsthalle eine Ausstellung, die als NRW-Export gelten kann und später u. a. nach Köln wandern soll. Die Exponate stammen überwiegend aus dem Wuppertaler Institut für Popkultur („InPop“), einer bundesweit einmaligen Forschungs- und Sammlungs-Stelle.

Es ist eine Ausstellung der Kreuz- und Quer-Verbindungen, deren Knäuel letztlich nur mit Hilfe des Katalogs entwirrbar ist. „Pop goes Art“ (Pop-Musik nähert sich der Kunst) heißt der Titel, er würde auch umgekehrt stimmen: „Art goes Pop“. Noch verzwickter wird die Sache, weil Warhol und „Velvet Underground“ sich Ende 1965 im Zeichen der amerikanischen „expanded cinema“-Bewegung kennenlernten, so daß auch noch das — im Bann von LSD-Erfahrungen — auf Grenzüberschreitung und Bewußtseinserweiterung gerichtete Avantgarde-Kino ins Spiel der Medienvielfalt kommt. Durch die Person John Cale spielten schließlich Einflüsse von dessen Lehrmeister John Cage, also der fortgeschrittenen „E-Musik hinein. Salopp könnte man sagen: Da trieb es jede Kunst fröhlich mit jeder anderen.

Geradezu kultischen Charakter bekam die Mixtur 1966 mit der von Warhol, Velvet & Co. realisierten MultimediaShow „The Exploding Plastic Inevitable“, die u. a. minimalistische Filmtechniken, Diaprojektion und ohrenbetäubende Musik zu einer irrwitzigen Melange verquickte. Die kommerzialisierte Verschmelzung von Pop und PopArt markiert dann jene Ikone der 60er Jahre, Andy Warhols änzüglich-phallisches Bananen-Cover für die LP „The Velvet Underground & Nico“.

Uwe Husslein (31), Leiter des Wuppertaler Pop-Instituts, der in der Hamburger Kunsthallen-Phonothek einen idealen Partner für die Ausstellungspremiere sieht, will zweierlei erreichen: „Rock-Schauen wie diese könnten neue Besucherschichten ins Museum locken“. Andererseits öffne der Name Warhol wie ein Zauberwort dem Rock die Türen etablierter Museen und rücke diese Musik als ernstzunehmendes Kulturphänomen in den Blick.

Trotz des eingangs erwähnten Aufwands läßt die Schau natürlich nur einen Hauch der Aufbruchstimmung aus den 60er Jahren verspüren. Um solchem Mangel abzuhelfen, gehört zum Rahmenprogramm auch eine multimediale (und drogenfreie) „Rausch-Party“ mit der Ruhr-Rock-Siegerband „Rausch“ aus Köln. Ganz spontan im Hier und Jetzt will man dann womöglich den Geist wiederaufleben lassen, der einst Warhol und die „Velvets“ bei ihren Shows beseelte.

„Pop Goes Art“. Hamburger Kunsthalle, Glockengießerwall, direkt am Hauptbahnhof. Bis 3. Februar 1991. Katalog-Box mit Mini-CD, Luftballon usw. 45 DM.