Große Zerreißprobe blieb beim Autorenkongreß aus – Ansätze zur deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung

Aus Lübeck berichtet Bernd Berke

Lübeck. Die große Zerreißprobe blieb aus beim ersten gesamtdeutschen Kongreß des Schriftstelleryerbandës (VS). Der alte und neue Bundesvorsitzende Uwe Friesel (Hamburg) war „sehr überrascht“, daß er und seine Vorstandskollegen bei der Tagung im Kurhaushotel zu Lübeck-Travemünde so ungeschoren davonkamen. Mit 56 von 67 möglichen Delegiertenstimmen wurde der 52jährige Friesel gestern wiedergewählt. Er trat nur unter der Bedingung nochmals an, daß der Vorsitz künftig rotiert. Begründung: Akute Arbeitsüberlastung.

Vor allem vom Berliner Landesverband hatte man heftigeren Einspruch gegen Friesel erwartet – von jenem Verband also, der der aus Leipzig stammende Autor Erich Loest pünktlich zu Kongreßbeginn via „Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt“ nachgesagt hatte, er sei womöglich von Gregor Gysis PDS gesteuert. Schließlich hatte man es an der Spree noch nicht verwunden, daß Friesel jene 23 Briefe an mutmaßlich SED-linientreue Autoren gesandt hatte, mit der Bitte, ihre Anträge auf Aufnahme in den VS doch bitte noch zurückzustellen. Einige der betroffenen ostdeutschen Autoren wähnten sich durch Gesinnungsschnüffelei und „Berufsverbot“ verfolgt. Berlins Verband setzte sich vom Bundes-VS ab und nahm 18 der 23 Beschuldigten in seinen Reihen auf.

Briefe an angeblich „linientreue“ DDR-Autoren

Bis in abstruse Details hinein waren diese Vorgänge nochmals Diskussionsgegenstand. Doch so lang man auch redete, so matt blieb die Auseinandersetzung. War es vielleicht die Einsicht, daß hinter Friesels Brief ein bitter nötiger moralischer Anstoß zur Vergangenheitsbewältigung stand – und nicht etwa der Versuch, Schriftsteller an ihrer Berufsausübung zu hindern; oder blieb nur das reinigende Gewitter aus?

Zu einer wirklichen Klärung kam es nicht, die ganze Sache soll nun an eine (schon vor Monaten angekündigte) Kommission verwiesen werden. Die wird auch zu untersuchen haben, ob Friesel tatsächlich – wie in der Debatte geargwöhnt wurde – einige von den 23 Briefen an die Falschen (sprich: nicht als SED-Denunzianten vorbelastete Autoren) gerichtet hat. Dann wären Entschuldigungen fällig.

Erasmus Schöfer: „Ich schäme mich für meinen Verrat“

Weit mehr Eindruck als der Streit um die Brief-„Affäre“ hinterließ der Kölner Schriftsteiler Erasmus Schöfer mit seinem Bekenntnis: „Ich schäme mich für meinen Verrat an mir selbst und anderen“. Er meinte jenen Irrweg vom Mainzer VS-Kongreß 1983, als man – um der lieben Friedensbewegung willen – gemeinsame Sache mit Hermann Kants DDR-Autorenverband gemacht habe. DDR-Dissidenten, so Schöfer, seien ihm schlicht unsympathisch gewesen, „weil sie meine Hoffnungen auf Sozialismus störten“. Schöfer: ..Auch dafür schäme ich mich heute.“

Etwas mehr verklausuliert betrieb auch Uwe Friesel Selbstkritik: „Schriftsteller sind immer anfällig für Utopien. Wir haben uns täuschen lassen.“ Hart ging Friesel mit Hermann Kant ins Gericht, der bis heute jede Reue vermissen lasse. So einen könne man im VS nicht brauchen.

Nachdenkliche Töne von Wolfgang Schäuble

Doch insgesamt überwog jener leise, nachdenkliche Tonfall, den Bundesinninminister Wolfgang Schäuble zum Kongreßauftakt angeschlagen hatte, als er vor jeder Selbstgerechtigkeit in Sachen Vergangenheitsbewältigung warnte und Respekt zwischen ost- und westdeutschen Autoren dringlich anmahnte. Schäubles Rede imponierte sogar Stefan Heym, der sich sonst nicht auf Höhe der Zeit zeigte. Ein weiterer Versuch mit der DDR hätte ihm allemal besser gefallen als die Vereinigung.

Heym war der einzige anwesende Autor von großem Bekanntheitsgrad. Kein Lenz oder Walser war da – beide im Gegensatz zu Grass noch VS-Mitglieder. Und auch kein Bernt Engelmann, der bei früheren Kongressen die Fäden gezogen hatte. Ihm hätte ein Bekenntnis wie das von Schöfer gut zu Gesicht gestanden. Max von der Grüns Fernbleiben war entschuldbar: er wurde am Samstag 65.

Zum Ausgleich glänzte diesmal Politprominenz. Nach Schäuble kam Björn Engholm vom SPD-Landesparteitag im Nachbarhotel herüber zu den Autoren. Er gelobte, es werde einen SPD-Kongreß zu Literaturfragen geben.




Lübeck und die Hoffnung der Schriftsteller – vor dem ersten gesamtdeutschen VS-Kongreß

Von Bernd Berke

Wichtige Dinge stehen bevor, doch es droht Gefahr, daß sie mit Kleinmut erledigt werden: Heute beginnt in Lübeck-Travemünde der erste gesamtdeutsche Kongreß des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS). Die Zeichen stehen auf Streit, vielleicht gibt es im Tagungshotel an der Ostsee gar einen ost-westdeutschen Sturm.

Konflikte sind vor allem um jene ostdeutschen Autoren zu erwarten, deren Vergangenheit in der Ex-DDR, um es ganz gelinde zu sagen, nicht astrein war und die nun in den VS aufgenommen werden wollen. Schon im Vorfeld hatte es einigen Hickhack gegeben. Der VS-Bundesvorstand hatte 23 OstAutoren brieflich aufgefordert, ihre Anträge aufMitgliedschaft zurückzustellen. Darüber setzte sich wiederum der Berliner Landesverband hinweg.

Umstrittenste Figur ist der ehemalige Vorsitzende des aufgelösten DDR-Autorenverbands, Hermann Kant, der u. a. 1979 heftig am Ausschluß mißliebiger, der SED-Führung nicht genehmer Autoren mitwirkte. Er will an diesem Wochenende Lübeck meiden, denn er vermutet nicht ganz zu unrecht, daß er dann Gegenstand eines persönlichen Tribunals sein werde – auf Kosten von Sachthemen. Deren gibt es wahrlich auch genug. Nicht zuletzt wird sich der VS um die desolate Situation ehedem leidlich „versorgter“ DDR-Autoren kümmern müssen.

Schließlich darf man eines nicht vergessen: Auch die westdeutschen Autoren im VS, der zur IG Medien gehört, haben vielfach Anlaß, Vergangenheitsbewältigung zu betreiben. Wie oft haben sie zu unerträglichen Vorgängen in der ehemaligen DDR geschwiegen oder nur gewundene Erklärungen abgegeben?

Eines von Hermann Kants damaligen „Opfern“, Stefan Heym, soll in Lübeck den Eröffnungsvortrag halten. Heute trauert Heym der DDR nach. Wie wird seine Bestandsaufnahme aussehen? Sein Kommen und ein Referat zugesagt hat auch Bundesinnenmimster Wolfgang Schäuble. Schon vorab allen Respekt für seine Teilnahme. Wann hat sich zuletzt ein Politiker dieser Ranghöhe bei Schriftsteller-Tagungen blicken lassen?

Das Treffen steht übrigens unter einem Leitmotto, das man dem Gedicht „Der Gang aufs Land“ von Friedrich Hölderlin entnommen hat und das den Willen zu ehrlicher Aussprache signalisiert: „Komm ins Offene, Freund“. – Bei Hölderlin, der zunächst Düsternis malt („… fast will / es mir scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit“), lesen wir weiter: Wenn nur „erst unsere Zunge gelöst“ sei, keime Hoffnung. An dieser Stelle wird der Bezug zwiespältig: Zu fürchten steht ja, daß, wenn in Lübeck sich manche Zungen lösen, die Hoffnung eher zerschellen könnte.




Die Geschichte läuft fürchterlich ins Leere – Texte von Dorst, Strauß und Seidel bei „stücke ’91“

Von Bernd Berke

Mülheim. Die Geschichte von Nation und Welt dürfte gar nicht mal sonderlich katastrophal weitergehen. Sie wird halt fürchterlich ins Leere laufen. Solch eine Essenz könnte man zur Not aus den drei bisher aufgeführten Texten beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb „stücke 91″ ziehen.

Den Anfang machte Tankred Dorsts „Karlos“ (Schauspiel Bonn/Regie: Peter Palitzsch). Damit lag die Hürde furs Publikum gleich hoch. Hier haben wir einen labyrinthischen Text, der seine Ein- und Ausgänge mit Fleiß versperrt. Fast nichts außer dem Namen hat dieser Infant von Spanien mit Schillers „Don Carlos“ gemein. Um ihn von rebellischen Aktionen abzuhalten, umstellt ihn der Großinquisitor schlau mit lauter Doppelgängern. In diesem monströsen Spiegelkabinett der Nicht-Identitäten verirrt sich Karlos bis zum Wahnsinn; geschichtlicher Impuls verläuft ins Leere.

Auf der Bühne präsentiert sich das trotz einiger theaterwirksamer Szenen ziemlich hermetisch als fremde Welt des Bösen. Man hat bereits Parallelen gezogen zwischen der allseitigen Täuschung des Karlos und der unwirklichen Computer- bzw. Mediensimulation des Golfkriegs. Das scheint denn doch arg weit hergeholt. Man kann dem Text einiges attestieren: Experimentierlust, Ernsthaftigkeit, meinetwegen auch Tiefe. Aber gehört „Karlos“ wirklich zu den Stücken, die zur Zeit dringlich sind?

Ganz anders Botho Strauß. Sein „Schlußchor“ (Staatstheater Wiesbaden/Regie: Annegret Ritzel) ist formal geradezu genial einfach, ja fast populär komponiert, 1. Bild: Gruppe beim Fototermin. 2. Bild: Garderobenraum bei einer Party. 3. Bild: Szenen in einem Bistro. Alles ist richtig aus dem Leben gegriffen, dazu gibt’s jede Menge Strauß’scher Pointen. Um es unter Verwendung zweier früherer StraußTitel zu sagen: Wir erleben wieder einmal jene bekannten Gesichter und gemischten Gefühle, sehen Paare und Passanten bei ihren Beziehungs-Etüden, ihren Endspielen im Taschenformat. Da hinein platzt gegen Stückschluß – am Tage der Berliner Maueröffnung – ein DDR-Paar. Die ganze „Wende“ ist hier gleichsam nur ein Nebensatz, auch diese Sache läuft ins Leere. Lieber leckt man seine seelischen Wunden, als der Historie Genüge zu tun. Deutschland, deine Neurosen.

Strauß‘ alte Doppelneigung kommt im „Schlußchor“ erneut zum Vorschein: Einerseits scheinbarer Unernst à la Boulevard-Theater, dann entschwebender Sinn und mythologische Klimmzüge. Obwohl die Regie diesen Gegensatz etwas kleinmütig entschärft hat, mag sich das Ganze nicht recht zusammenfügen. Beiseite gesprochen: Immerhin ist die Inszenierung doch so einleuchtend, daß einem mal wieder schwant, was Dortmunds Theater an Annegret Ritzel verloren hat.

Dritter Abend, drittes Stück: „Villa Jugend“, letztes Werk des im Juni 1990 verstorbenen DDR-Dramatikers Georg Seidel (Berliner Ensemble/Regie: Fritz Marquardt). Die Mülheimer Vorauswahl-Gremien schätzen Seidel offenbar über die Maßen. Schon 1987 und 1990 war er im Wettbewerb – mit „Jochen Schanotta“ und „Carmen Kittel“. Auch „Villa Jugend“, dessen Schlußteil man in Seidels Schreibcomputer entdeckt hat, ist wieder eine strenge Übung. Der Autor hat das wortlastige Stück um einige Kern- und Merksätze herum aufgebaut, denen er selbst traumverloren nachhorcht; eigentlich eher ein lyrisches Verfahren.

Auch hier sinnentleerte Historie: Das größtenteils 1989 geschriebene Stück ist ein durchweg melancholischer Abgesang auf die vergehende DDR, die recht penetrant mit der zum Verkauf anstehenden Villa in Bezug gesetzt wird – bis hin zu Anspielungen auf morsche Fundamente. Auf- und Abtritte der Figuren („lebende Tote“ allesamt) erfolgen zudem nach monotonem Reihen-Schema. Dagegen würde selbst beste Regie wenig helfen, die Theater-Scharniere knarren hörbar, das Spiel bleibt starr. Stellenweise ist dies zwar ein Text, der Auskunft geben mag über gewisse ostdeutsche Befindlichkeiten, über unheilbare biographische Brüche. Doch er bleibt letztlich eindimensional, wirkt beklagenswert entkräftet und von bloßer Resignation durchdrungen. Wehe, wenn dieser Autor auf lange Sicht Recht behält!

Halbzeit also in Mülheim. aber ein „Stück des Jahres“ hat sich noch nicht aufgedrängt.




Ostdeutschen Museen droht die Auszehrung – Museumsbund tagte in Iserlohn

Von Bernd Berke

Iserlohn. Es war die erste gesamtdeutsche Tagung des Deutschen Museumsbundes, die gestern in Iserlohn endete. Folglich spielte die Situation in Ostdeutschland thematisch die Hauptrolle, zumal (von etwa 200 Tagungsteilnehmern) rund 50 Museumsvertreter aus den neuen Ländern ins Parktheater gekommen waren; zwei von ihnen sitzen denn auch im neuen Bundesvorstand.

Wie kaum anders zu erwarten, waren Hiobsbotschaften en masse zu hören. In den Museen östlich der Elbe hat auf breiter Front der Stellenabbau begonnen, manche Institute wollen ihr Personal um die Hälfte reduzieren. Und nachdem schon manches Ausstellungsstück auf dunklen Wegen den Besitzer gewechselt hat, droht neuerdings die Gefahr, daß etwa kleinere Kreismuseums-Gebäude im Zuge von Gebietsreformen an private Interessenten verscherbelt werden.

Vor derlei kurzsichtigen Verkäufen warnte gestern der Vorstand des Deutschen Museumsbundes eindringlich. So könne man vielleicht kurzfristig finanzielle Nöte lindern, man werde den Substanzverlust aber später bitterlich bereuen. Gerade regionale und lokale Museen seien ein „kollektives Gedächtnis“ und von großer Bedeutung für die Identität ehemaliger DDR-Bürger.

Immerhin: Die Museumslandschaft der Ex-DDR war und ist keineswegs eine Wüste. Zumindest auf die bisherigen Ost-Stellenpläne waren die westdeutschen Kollegen neidisch. Fast alle Museen wurden dort hauptamtlich geleitet, während bei uns manches ehrenamtlich vonstatten geht. Die gute Besetzung ermöglichte es auch, eine in Ansätzen beispielhafte (wenn auch oft ideologisch verbrämte) Museumspädagogik aufzuziehen. Diese ist nun ebenso bedroht wie die Sicherheit. Seitdem Museumswärter arbeitslos werden, ist die Zahl der Kunstdiebstähle im Osten sprunghaft angestiegen, denn es fehlt auch das Geld, um die Wärter durch Video-Überwachungssysteme zu „ersetzen“. Auf Dauer könnte der Wert der gestohlenen Exponate bei weitem die eingesparten Gehälter übertreffen…

Der in Iserlohn neu gewählte Präsident des Museumsbundes, Prof. Siegfried Rietschel (Staatl. Museum für Naturkunde, Karlsruhe), betonte, daß man bei Neumitgliedern aus dem Osten keinerlei Gesinnungsschnüffelei, etwa per Fragebogen, betreiben werde. Wer aufgrund seiner SED-Vergangenheit nicht mehr tragbar sei, das müsse einzig und allein von den ostdeutschen Kollegen geklärt werden. Westlicher Beistand sei vielmehr in Sachen Öffentlichkeitsarbeit und Rechtshilfe gefragt.

Zweiter Schwerpunkt der Tagung waren die Technik-Museen. Hier zeichnet sich offenbar ein Bewußtseinswandel ab: Unkritische Darstellung technischer Vorgänge ist nicht mehr gefragt, ökologische Aspekte sollen immer stärker einbezogen werden.

In jeder Hinsicht war man über Iserlohn als Tagungsort und Westfalen als Umland des Lobes voll. Zahlreiche Exkursionen, so z. B. ins Hagener Freilichtmuseum und ins Westfälische Industriemuseum zu Dortmund, vermittelten den aus anderen Landstrichen angereisten Museumschefs unverhoffte Aha-Erlebnisse. Auch die Tagunsorte für die nächsten Jahre stehen weitgehend fest: 1992 trifft man sich in Schleswig, 1993 in Dresden oder Leipzig.




Harenberg gibt der Buchmesse einen Korb

Von Bernd Berke

Diese Nachricht wird man am Main mit Mißvergnügen aufnehmen, vielleicht wird sie sogar zum Signal: Der Dortmunder Harenberg Verlag teilt mit, daß er nicht mehr an der Frankfurter Buchmesse teilnehmen will.

Das vor allem durch seine „Chronik“-Editionen bekannte Haus ist einer der Riesen in der Buchlandschaft – nicht unbedingt wegen höchsten Renommees bei der Kritik, wohl aber wegen Auflagenzahlen, Größe und Einfluß; dies auch durch sein Branchen-Magazin „Buchreport“.

Verlage, Buchhändler und Leser kämen in Frankfurt nicht mehr miteinander ins Gespräch, lautet ein Argument für die Messeabsage. Überdies seien „bei wachsender Unübersichtlichkeit rapide steigende Kosten zu beklagen“, der Aufwand sei nicht mehr angemessen.

Der erste Teil der Begründung mag etwas für sich haben. In der unüberschaubaren Vielfalt der Messe kann tatsächlich kaum ein Gespräch in die Tiefe gehen, leicht gerät es in marktgerechter Eile zum bloßen Small talk, zum Geschwätz kultureller Bescheidwisser. Wenn aber Harenberg „Gespräche“ vermißt, dürfte es sich nicht um einen Mangel an Literaturtheorie, sondern um Geschäfte drehen. Und da wittert man auf mittlere Sicht höhere Wachstumsraten in Ostdeutschland. Von einer Absage an die Leipziger Messe ist nicht die Rede. Im Gegenteil.

Etwas vorgeschoben wirkt das Kostenargument. Wer je auf der Frankfurter Buchmesse war, weiß, daß gerade Harenberg immer einen der allergrößten Hallenbereiche aufwendig belegte. Auch richtet man neuerdings in größeren Buchhandlungen Extra-Harenberg-Ecken (mit eigenem Lesetisch usw.) ein und trägt sich in Dortmund mit gigantischen Neubauplänen für das Verlagszentrum. Wahrscheinlich ist es halt so, daß in Frankfurt die vielen hundert anderen Verlage doch sehr stören…




Festspiel-Schauen in Recklinghausen: Deutlich näher an der Gegenwart

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Museums-Chef Dr. Ferdinand Ullrich machte am Samstag die Probe vor versammelter Presse. Erst Klopfzeichen, dann: „Wolfgang, hörst du mich?“ – Beuys-Schüler Wolfgang Wendker (alias „IGADiM“) hörte. Dumpf kamen seine Antworten („Mir geht’s gut“) aus einem mit Stahldeckel verschlossenen Erdloch. Der unterirdische Künstler (die WR berichtete über das Projekt) setzt den wohl auffälligsten Akzent bei der Ausstellung der Ruhrfestspiele.

Doch auch sonst hält die gestern eröffnete „Europäische Werkstatt Ruhrgebiet“ einiges bereit. Sicher: Es gibt da einige Kopfgeburten, die ihre Deutung gar zu offensichtlich nahelegen. Doch das Gros der Arbeiten hält auch dem kritischen zweiten Blick stand. Vorbei jedenfalls die Zeiten jener Festspiel-Schauen, bei denen pflichtschuldigst die montanindustrielle Vergangenheit bemüht wurde, meist mit Gemälden aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Diesmal ist man deutlich näher an der Gegenwart.

Der Strukturwandel im Revier gibt gleichsam den Takt vor, 34 Künstler aus ganz Europa (Polen bis Island, Türkei bis Norwegen) haben sich damit auseinandergesetzt. Bis auf einige Projektskizzen gibt’s auch keine Bilder zu sehen, sondern 55 Installationen in allen drei Museen der Stadt und im Freien. Einige Arbeiten werden der Stadt erhalten bleiben. Die Kunst erobert Terrain.

Bestes Beispiel in diesem Sinne ist Vincenzo Bavieras gigantischer „Streitwagen“ auf einer Wiese vor dem Hauptbahnhof. Das Monument des Schweizers besteht aus einer Seilscheibe und Fahrleitungsmasten, greift also Formen des Bahnverkehrs und der Zechentechnik auf, verschmilzt sie zu geglückter Einheit.

Der Italiener Silvio Wolf erhebt, vor allem an der Fassade der Kunsthalle, mit Blattgold-Einfasssungen simple Signets des Bergbaus ironisch zu Ikonen, er bezieht sich damit auch auf das renommierte Ikonenmuseum am Ort. Just dort entfachte Raffael Rheinsberg (Berlin) Volkszorn, weil er die Gebäudefront mit einem Fries von Gefahrenwarnschildern aus der Arbeitswelt versehen hat. Manche sehen darin eine Verunglimpfung religiöser Inhalte des Ikonenmuseums. Staunenswert präzise hat Andrej Roiter (UdSSR) eine Wehmut des
Reviers mit seinen „Workersongs“ (Arbeiterlieder) getroffen: Kalte Neonschrift überstrahlt schäbige, mit Kohlestaub gefüllte Koffer. Die Vergangenheit auf Abreise ins Exil.

Abgesänge aufs schwarze Gold auch sonst: Der Spanier Julio Jara präsentiert Kohlebrocken im abweisenden Stahlgehege wie Reliquien, der Brite David Nash schichtet verkokelte Grubenhölzer zu einer Art Grabeshügel auf. Die schöne neue Zukunftswelt der Europäischen Gemeinschaft (EG) hat der Schwede Stefan Karlsson im Visier: Er packt die Buchstaben E und G schlicht auf zwei Einkaufswagen – ein Kontinent erliegt Kommerz und Konsum.

„Europäische Werkstatt Ruhrgebiet“. Recklinghausen, Kunsthalle, Vestischeses Museum, Ikonenmuseum, diverse Freigelânde. Bis 17. Juli. Di-Fr 10-18, Sa/So 10-17 Uhr, Katalog 20 DM.