Drastische Szenen – niederländische Malerrebellen im Rom des Barock

Von Bernd Berke

Köln. Daß Nymphen in Flüssen baden, war um 1620 als Gemäldemotiv zur Genüge bekannt. Daß aber das gemeine Volk an die Stelle mythologischer Figuren trat und gar mitten in einer Ideallandschaft am Ufer „dringende Geschäfte“ verrichtete, das war ziemlich neu und schockierend.

Einige lebensfrohe Niederländer waren es, die solche Malsitten im Rom der Barockzeit einführten und von den dortigen Wächtern des akademischen Stils sogleich beschimpft wurden. Die holländischen Kunst-Ketzereien aus der Zeit von 1620 bis 1680 sind jetzt im Kölner Wallraf-Richartz-Museum zu besichtigen.

Hauptfigur der sogenannten „Bamboccianti“ war Pieter van Laer, der in seiner Italien-Zeit einen mehr oder weniger lockeren Kreis von gleichgesinnten Rebellen um sich scharte. Die Sammelbezeichnung „I Bamboccianti“ (etwa: dicke Kinder, Wichte) zeugte von Derbheit, bezog sie sich doch auf den verwachsenen Körper van Laers.

Teilweise drastisch war freilich auch, was van Laer und Kumpanen auf die Leinwand brachten. So malte Michelangelo Cerquozzi, einer von van Laers italienischen Stil- und Geistesverwandten, nicht etwa die Beweinung Christi, sondern (unter Anspielung auf das herkömmliche Bildschema) die Beweinung eines toten Esels durch Bauernvolk. Auch herrscht geradezu diebische Freude an rabiaten und schmerzhaften Vorgängen: Mit Vorliebe werden immer wieder Kurpfuscher beim Zähneziehen auf öffentlichen Plätzen oder auch räuberische Überfälle dargestellt, letztere gelegentlich überdramatisiert und kolportagehaft. Auch körperliche Ausscheidungen scheinen es den „Bamboccianti“ angetan zu haben. Da uriniert schon mal ein Pferd, oder es tauchen – immerhin in diskreten Rückenansichten – Männer auf, die sich an Hinterhofwänden erleichtern.

Interessant und doppelbödig wird die Sache, wenn man bedenkt, daß die Niederländer durchaus im Sinne ihrer heimischen Bildtradition malten, die für einen ganz anderen, weit weniger auf große Gebärden und Repräsentation ausgerichteten Markt stand. Gerade weil sie ihre volkstümlichen Szenen, als sie nach Rom kamen, in italienische Idyllen-Landschaften verpflanzten, und so das „Hohe“ mit .dem „Niederen“, das Bildwürdige mit dem vermeintlich Unwürdigen vermischten, war man ihnen dort gram. Aber auch der Markterfolg, den die Niederländer mit ihren Kleinformaten hatten, dürfte Neid bei den Vertretern der „reinen akademischen Lehre“ ausgelöst haben.

Manche der „Bamboccianti“-Bilder sind zwar mit Könnerschaft und Delikatesse gemalt, doch gar viele leben allein vom (Schock)-Effekt. Vor allem in der „zweiten Generation“ sinkt manches volkstümliche Sujet zur nur noch pittoresken Darstellung von Armut und zum kraftlosen Genre ab.

Außerdem hatte es schon vor den „Bamboccianti“ einen gegeben, der mit harten Licht- und Schatten-Effekten die Schocks im Grunde viel weiter getrieben hatte: Caravaggio (1573-1610). Diesem (unerreichten) Vorbild waren die Niederländer in Rom sichtbar verpflichtet.

„l Bamboccianti“. Niederländische Malerrebellen im Rom des Barock. Wallraf-Richartz-Museum, Köln (direkt am Bahnhof/Dom). 28. August bis 17. November, di-do 10 bis 20 Uhr, fr-so 10-18 Uhr, Katalog 52DM.




Der ganze Kosmos des Max Ernst – Werkschau jetzt in Düsseldorf zu sehen

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Alles ist da: Vögel ohne Zahl, dunkel-bedrohliche Wälder, riesenhafte Stadthügel, Frauenfiguren, die zu Tier- oder Pflanzengestalten mutieren. Es ist der ganze Kosmos des Max Ernst, der jetzt in Düsseldorf zu besichtigen ist. Man hat die ständige Sammlung ausgeräumt, um Platz zu schaffen.

Niemals vor dieser Tournee (London, Stuttgart, jetzt Düsseldorf, dann Paris) hat es eine derart umfangreiche Ernst-Retrospektive gegeben. Vergleichbares wird wohl auch nie wieder möglich sein, denn fast 70 Prozent der gezeigten Werke befinden sich in Privatbesitz. Wegen des 100. Geburtstags von Max Ernst (1891-1976) ließen sich die Leihgeber zur Großzügigkeit bewegen.

Der Gang durch die Ausstellung mit ihren weit über 200 Exponaten gleicht fast einer Reise durch das Werkverzeichnis. Jedenfalls sind die Gemälde — flankiert von wenigen Skulpturen und Collagen — in staunenswerterVollständigkeit zu sehen; man findet reihenweise Leinwand-Berühmtheiten wie den Elefanten „Celebes“, „Die ganze Stadt“, „Die Einkleidung der Braut“, „Die Versuchung des Hl. Antonius“. Dennoch machen nicht diese Gipfelpunkte den eigentlichen Reiz aus, noch wichtiger sind qualitätvolle Fülle und Vergleichsmöglichkeiten.

Da wird zum Beispiel klar, wie oft Max Ernst seine Figuren mit Durchbrüchen in Gestalt von „Fenstern“ versehen hat. Es sind dies Durchblicke in zweite, dritte und vierte Dimensionen. Das ist ja eben das Herrliche an diesen Bildern: daß sich am einzelnen Werk notfalls die gesamte psychologische Theorie abarbeiten könnte und doch nie an ein schlüssiges Ende käme. Diese Werke behaupten ganz souverän den Vorrang der Kunst vor deren bündiger Erklärung.

Manches grenzt an „Historienmalerei“

Dennoch sind viele Arbeiten in einem vertrackt-höheren Sinn auch realistisch, ja politisch. Man betrachte etwa das 1936 gemalte Bild „Die Lust am Leben“: undurchdringlicher Dschungel, darin eine schadenfroh lachende Monsterfigur. Intensiver läßt sich kaum darstellen, daß damals tatsächlich die „Bestie Mensch“ losgelassen wurde. Auch eine Arbeit wie „Die ganze Stadt“ scheint ja die damals gängige faschistische Architektur auf ihren lebensverachtenden Begriff zu bringen. Man könnte beinahe sagen, dies sei „Historienmalerei“, aber natürlich eine mit modernsten Mitteln.

Andere Bilder wiederum reizen — nicht nur durch ihre dadaistisch inspirierten Titel, sondern besonders durch ihre kombinatorischen Verfahren und ihre Durchlässigkeit für vielerlei Deutungen — ganz einfach zum Lachen; sie müssen in einer Art „fröhlichem Irrsinn“ oder irrsinniger Freude entstanden sein.

Schließlich hat Max Ernst auch, wie hier ersichtlich wird, immens viel mit der Gegenwartskunst zu tun. In manchen späteren Arbeiten ist er deutlich ein Vorläufer der Pop-art, andere wirken gar wie mit einem fortgeschrittenen Computerprogramm erzeugt. Und ein Bild wie „Die chemische Hochzeit“ (1948) kann gut und gerne auf düstere gentechnologische Aussichten bezogen werden. Da droht, wie überhaupt in so vielen Bildern Max Ernsts, eine Welt ohne Menschen.

Max Ernst. Werkschau. Kunstsammlung NRW. Düsseldorf, Grabbeplatz. 24. August bis 3. November. Täglich 10-18 Uhr, außer montags. Katalog 49 DM.




Schizophrenes Leben im doppelten Deutschland – Martin Walsers Roman „Die Verteidigung der Kindheit“

Von Bernd Berke

Einige Zeit vor der DDR-„Wende“ und der deutschen Vereinigung hatte Martin Walser seinen Schmerz über die Teilung bekundet. Was seinerzeit manchen befremdete und als Thema gar nicht auf der Tagesordnung zu stehen schien, erwies sich im nachhinein als wahrhaft rechtzeitig. Vielleicht hat Walser sich dann dazu gezwungen, nun auch den ganz großen Roman, ein Hauptwerk über das zerrissene Doppeldeutschland zu schreiben.

Alfred Dorn, die Hauptperson, ist in vielfacher Hinsicht ein „Kind der Teilung“ und der Verluste: 1929 in Dresden geboren, hat er – wie man in Rückblenden erfährt – als Jugendlicher das infernalische Bombardement der Stadt im Februar 1945 mit knapper Not überlebt. Erster riesiger Verlust: Die Heimat ist verwüstet, Bekannte und Nachbarn sind im Feuersturm umgekommen.

Die Handlung setzt in den atmosphärisch dicht eingefangenen, miefigen 50er Jahren ein, als Dresden mitsamt seinen Ruinen verwahrlost und Alfreds Eltern getrennt leben. Zweiter Verlust: Die Familie ist dahin. Wir sehen, wie sich Alfred als Jurastudent und dann als Beamter durchs Labyrinth der sich verfestigenden Teilung Deutschlands“ (dritter Verlust) schlängelt, wie er sich zwischen lauter Unmöglichkeiten und Uneindeutigkeiten bewegen muß.

Wir erleben, wie Alfred, den man in Leipzig wegen mangelnder Linientreue durch die Prüfung fallen ließ, 1953 ein Studium im Westen Berlins aufnimmt und – unter immer komplizierteren Bedingungen – Besuche in und aus Sachsen organisiert. Walser hat auffallend intensiv recherchiert: Wie man Z.B. in einem bestimmten Jahr einen Passierschein bekam, wie es im Jahr darauf ging, wie damals ein Studium der Rechte ablief usw. Auch lernen wir eine Unzahl sächsischer Redewendungen und regionaler Besonderheiten, die dem Bodensee-Anrainer Walser sicher nicht im Fluge beigekommen sind. Doch die vielen Einzelheiten hemmen gelegentlich den Erzählfluß.

Wir erfahren aber vor allem von den seelischen Beschädigungen, die all die besagten Verluste Alfred zufügen. Verkürzt gesagt: Er wird einfach nicht erwachsen, bleibt ein quasi geschlechtsloses „Muttersöhnchen“. Hollywood Kino und Musik sind seine irrealen Fluchtpunkte. Grotesk seine Prüderie, sein Ekel vor allem Körperlichen. Quälend die Symbiose, in der der ewige Junggeselle mit seiner Mutter lebt; die Beschreibung seiner beinahe kafkaesken Alltags-Untüchtigkeit, die ihn zum Gespött seiner Mitstudenten und später der Kollegen in den Behörden macht, wo er erst für „Wiedergutmachung“ und dann u. a. für Denkmalschutz, Angelegenheiten der Vergangenheit also, zuständig ist.

Kein Wunder, daß solch ein Mann – zumal nach dem Tod der Mutter – aus der Gegenwart flüchtet, lauter Ersatzmuttis sucht und eigentlich nur sein Projekt „Verteidigung der Kindheit“ verfolgt: keine Verluste mehr hinnehmen, alles sammeln und retten wollen, bevor es vergeht. Ziel auf dieser Suche nach der verlorenen Zeit: ein imaginäres „Alfred-Dorn-Museum“, in dem alles ist, wie es war – Schaustücke eines verschrobenen deutschen Lebens!

Die Vergangenheits-Marotte, die sich später zur lebensfeindlichen Sammel-Neurose steigert, ist hier tief und fatal in die deutsche Nachkriegsentwicklung verstrickt. Der Autor führt nicht zuletzt die Teilung der Nation auch als Schizophrenie eines Einzelnen vor. Allerdings lädt Walser seiner Hauptfigur damit auch enorm viel Historie auf die Schultern. Unter dieser Last „knickt“ sie zuweilen ein.

Seltsam orientierungslos wirkt der Anfang mit seinem Gewitter verwirrender Personennamen, mit distanzierenden Floskeln, die ohne rechte Folgewirkung bleiben. Erst nach etwa fünfzig Seiten kommen die Geschehnisse stolpernd in Gang. Es ist, als sperre sich die Thematik gegen schöne Geläufigkeit.

Es gibt aber auch über weite Strecken „besten Walser“ zu lesen, mit grandiosen Passagen unterkühlter Komik. Gegen Schluß erhöht sich das Erzähltempo zusehends. Die Jahre bis 1987 verfliegen immer rascher – flüchtige Gegenwart prägt den Schreibstil.

Martin Walser: „Die Verteidigung der Kindheit“. Roman. Suhrkamp. 520 S., 44 DM.