Ein Kraftkerl wühlt im Urschlamm des Kleinbürgertums – Texte von Werner Schwab und Michael Zochow bei „stücke ’92“ in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Von Zeit zu Zeit liebt man im deutschen Theater die Kraftkerle. Selbst Goethe war am Anfang so einer; zuletzt bescherte uns Rainald Goetz seine Wort-Metzeleien. Und nun haben wir fürs Grobe den Werner Schwab aus Graz.

Gleichviel, ob man ihn nun als „Nestroy der Punk-Generation“ oder als außer Rand und Band geratenen Thomas Bernhard einordnen will – sein Drama „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ (Version der Münchner Kammerspiele) hat jedenfalls den Dramatikerwettbewerb „stücke ’92“ aufgemischt.

Worte gefressen und wieder ausgeschieden

Schwab schöpft aus dem alten Topf der Bühnen-Provokation: Sauferei, Hurerei, Gotteslästerung, Inzest, Meuchelmord. Seine Sprache aber läßt aufhorchen, nicht nur wegen der immens vielen Kraftworte. Schwab hat einen wirklich eigenen, unverwechselbaren Ton gefunden, eine aus dem österreichischen Dialekt hervorgetriebene Kunstsprache. Sie wirkt sinnenstark und streckenweise durchaus poesiefähig. Es ist, als seien Schwabs Worte direkt durch den Körper hindurchgegangen; gefressen und wieder ausgeschieden, mit Verlaub gesagt.

Doch sein Text über eine abgefeimte Haus-„Gemeinschaft“, der im Urschlamm des Kleinbürgertums wühlt und jeglichen Menschen als des Menschen Wolf vorführt, bewegt sich auch schon an der Grenzlinie zur Originalitäts-Sucht. Wehe, wenn dieser Mann zum „Kultautor“ hochgejubelt wird. Dann liefert er uns solche Dinge am Fließband.

Wenn die Sternlein aufgehen, kommt der Frieden

Zuvor war ein Stück des jüngst gestorbenen Michael Zochow gespielt worden. Wahrheit muß Wahrheit bleiben, und die lautet im Falle von Michael Zochow: Er ist kein großer Dramenautor gewesen. Auch seine „Drei Sterne über dem Baldachin“ leuchten nicht übermäßig.

Bei Zochow kommen Sinn und Zeit ins Wanken: Palästinensische Terroristen, das alte jüdisches Ehepaar Grünfeld, eine dummdeutsche „Gretchen“-Figur sowie eine Klofrau und Ex-Wagnersängerin — sie alle begegnen sich just bei den Bayreuther Festspielen (Obacht, Faschismus-Anspielung!). Das Dienstmädchen Bertha hat den Grünfelds zur NS-Zeit das Leben gerettet, ihrem jüdischen Bräutigam Fritz aber nicht. 50 Jahre hat sie Fritz treulich betrauert; jetzt glaubt sie ihn ausgerechnet in einem Bombenleger aus Palästina wiederzuerkennen, was am Ende in eine alle Widerspräche glattbügelnde Heirat mündet.

Über dem ganzen Stück, das aus Sternenfeme an Lessings „Ring-Parabel“ von der Versöhnung dreier Weltreligionen gemahnt, wabert ein naiver Kinderglaube: Wenn die Sternlein aufgehen, wird alles gut und die Menschen vertragen sich. Unterwegs bekommt man noch die Erkenntnis geliefert, daß es besser sei, einander die Hände zu reichen als darin Waffen zu halten. Wer würde das bezweifeln?

Gravitätisch vorgetragene Naivität ist noch keine Poesie, Holperschwellen sind noch keine produktiven Brüche. Zudem wurde (vom Wiener Schauspielhaus) ziemlich grauslich gespielt. Stück und Aufführung – hier konnte keines das andere retten, sie gingen miteinander unter.

Heute Abend folgt das siebte und letzte Stück im Wettbewerb, Gert Jonkes „Ohrenmaschinist“. Ansonsten kann man (jeweils mit Abstrichen) Werner Schwab und Klaus Pohl („Karate-Billi“) für den Preis ins Kalkül ziehen – und erneut George Tabori („Goldberg-Variationen“), der im Falle des Falles schon zum dritten Mal geehrt würde.

 




Verführung im Gewächshaus – Die ersten Abende bei „stücke ’92“

Von Bernd Berke

Mülheim. Wechselbad zum Auftakt des Mülheimer Dramatikerwettbewerbs „stücke ’92“. Zwei von sieben konkurrierenden Texten sind über die Bühne gegangen. Zuerst gab es mit Klaus Pohls „Karate-Billi kehrt zurück“ ein Zeitstück, dann mit Philipp Engelmanns „Oktoberföhn“ ein erstaunlich zeitenthobenes.

Daß „Oktoberföhn“, in Mülheim vom Landestheater Tübingen dargeboten, die Vorauswahl überstanden hat, muß einigermaßen verwundern. Das mehr esoterische als erotische Stück dreht sich – wie in einer Endlos-Spirale — um ein „spätes Mädchen“, das im Gewächshaus einen verklemmten jugendlichen Bucherwurm (Woody AIlen-Typ) verführen will. Zwischendurch taucht noch ein Blumen streuender Troll auf und fordert die beiden zur hemmungslosen Liebe auf. Heißa! Jedoch: Das ungleiche Paar bekommt immer wieder Föhn-Kopfschmerzen, und zwar so oft, daß auch im Zuschauerraum deutliches Stöhnen vernehmbar wird.

Engelmanns Stück ist nicht von heute, dringt aber auch in keine andere (Traum-)Zeit vor. Die Sprache bleibt seltsam flach, sie weist an keiner Stelle über den bloßen Wortlaut hinaus. Das ist halt beim Theater schon der halbe Miet-Rückstand. Nun gut. Nehmen wir’s leicht und betrachten wir die Sache als Pausenfüller der Stücketage.

Ganz anders Pohls „Karate-Billi“, derzeit von zahlreichen Bühnen nachgespielt. Das ist | ein tagesaktuelles, griffiges, derb zupackendes Werk. Britische Theaterschule, sozusagen. Klar, daß solch ein Express-Theater auch seine Schwächen hat. Die Geschichte des ehemaligen DDR-Zehnkämpfers „Billi“, nach harmlosen Eskapaden von der Stasi dreizehn Jahre lang in der Psychiatrie gequält, zerfällt leider in fast unvereinbare Bestandteile. Zudem läßt die allseitige Entlarvung von Stasi-Mittätern doch ein wenig den „Besserwessi“ durchschimmern.

Aber Pohl kann einprägsame Figuren und Situationen erfinden. Sein Titelheld, in Jürgen Bosses ansonsten braver Inszenierung vom herausragenden Mathias Kniesbeck zum Steinerweichen gespielt, lebt auch von der Fallhöhe: Selbst einen solchen Pfundskerl hat der SED-Staat also kleingekriegt. Insgesamt: gutes Gebrauchstheater, freilich nur „haltbar bis 1993″.

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(aus Notausgabe zur Zeit des Druckerstreiks)




Wer hat Angst vor dem wilden Murphy? Gründlich mißlungenes Psychodrämchen einer Recklinghäuser Autorin

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Murphy aus New York kotzt ständig Kraftworte aus. Doch nicht nur das. Er verkörpert auch sonst des Wohlstandsbürgers gesammelte Alpträume: Da nimmt der US-Provinzler Frank Henderson den unflätigen Kerl, dessen Mutter gerade gestorben ist, in seinem trauten Heim auf – und dann macht der 19-Jährige sich dort unverschämt breit, verführt die Frau des Hauses und drangsaliert die Tochter, deren Freund er zuvor mit dem Messer bedroht hat.

Nach vielem Palaver bestätigt sich endlich, was man schon früh ahnte: Der Junge hat Grund zur Rache, und dieser Grund hat mit Inzest zu tun: Murphy ist ein „Bastard“, gezeugt von Henderson und dessen Schwester. Versteht sich, daß die Sache auch noch eine vulgärsoziologische Seite hat.

„Murphy“ ist leider die Hauptfigur des gleichnamigen Stücks von Nicole Frasa (22). Die Ruhrfestspiele haben der gebürtigen Recklinghäuserin und bisherigen Büroangestellten wahrlich keinen Gefallen getan, als sie ihr Drämchen sogleich auf die Bühne des „Depots“ hievten (Regie: Peter Kühn).

Unverdauter und unverdaulicher Zitatenbrei

Wo war da die künstlerische Kontrollinstanz? Hat Festivalchef Hansgünther Heyme etwa die Proben nie besucht? Und warum nur hat diese Autorin keinen Text aus ihrem Alltag geschrieben, warum mußte es unbedingt Amerika sein, warum ein so abgegriffenes Thema aus der Mottenkiste des Theaters? Ihr Stück ist weder von Phantasie noch von Erfahrung gesättigt. Es ist unverdauter und unverdaulicher Zutatenbrei, durchweg angelesen und abgeguckt, daher schmerzlich unwahr.

Man vernimmt hier ein unablässiges und völlig geheimnisloses Geschwätz, das irgendwo im luftleeren Raum trudelt: So ungefähr zwischen einem auf Trivial-Format gebrachten „Ödipus“, plattem Naturalismus, Tennessee Williams und „Dallas“. Alles wird lang und breit ausgesprochen, alle Klischees aus der psychosozialen „Betroffenheits“-Kiste kommen vor. An diesen erkünstelten Figuren und ihren Sprechblasen kann wenig Interesse aufkommen.

Hanebüchene Handlung, unfreiwillig komisch

Arme Regie, arme Schauspieler. Was sollten sie tun? Diesem Text war eben nicht viel Bühnenleben abzugewinnen. Als habe der Regisseur schnell die Lust verloren, investiert er auch kaum Einfälle: Wenn etwa Henderson (Michael Krone) verzweifelt ist, hat er geistesabwesend die Lamellen einer Jalousie zu zerknittern, seine Frau (Anna Kurek) klimpert derweil traurig am Klavier oder trommelt auf dem Rücken des Gatten herum.

So müht man sich, mehr schlecht als recht, mit ungestalteter Sprache und hanebüchener Handlung ab, die – den ernsten Schicksalen ganz zum Trotz – immer mehr ins unfreiwillig Komische abgleitet. Von den Darstellern hatte es Jochen Stark in der Titelrolle noch am leichtesten. Er mußte nur recht rüpelhaft sein. Aber auch das war nicht abendfüllend.




Eros als Triebkraft des Lebens und als Todesbote – Graphik-Zyklus in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. Kaum zu glauben, welche Schätze in Depots und Kisten des Kölner Museums Ludwig schlummern. Da findet sich zum Beispiel – mir nichts, dir nichts – ein kompletter Graphik-Zyklus mit 156 Blättern aus Picassos letzter Schaffensphase.

Thema sind alle Schattierungen der Erotik – passend zum laufenden „Akzente“-Festival in Duisburg, das sich ganz der Liebe widmet. Da bedurfte es nur noch des glücklichen Zufalls, daß der Chef des Lehmbruck-Museums, Dr. Christoph Brockhaus, ehemals Leiter der Graphischen Sammlung im Museum Ludwig war. So fiel es ihm leicht, die seit vielen Jahren nicht mehr gezeigten Picasso-Bilder nach Duisburg zu holen.

Picasso und die Erotik – ein Universum für sich. Mit ungeheuer kühnen Stilwechseln, die sich fast kein anderer Künstler erlauben dürfte, hat sich Picasso dieses Themenkreises bemächtigt. Manchmal kontrastiert er sogar innerhalb eines Bildes mehrere Stilformen, ohne daß es wie Stilbruch wirken würde.

Vielgestaltig auch die Epochen, in denen der Künstler seine freizügigen Figuren ansiedelt. Mal kommen sie wie Steinzeitmenschen, mal antikisch gewandet, mal orientalisch oder spanisch daher. Eros ist zeitlos und allgegenwärtig, die Triebkraft allen Lebens; aber auch ein Vorbote des Todes. Daher ist die Skala der erotisch-sexuellen Lockungen in diesem Zyklus denkbar breit. Mal herrscht reinste Harmonie zwischen den Geschlechtern, dann wieder bricht die schiere Gewalt aus. Einmal ist Eros nackt und brutal, ein andermal zu höherer Liebe geläutert.

Picasso stellt seine Figuren, die sich oft zu Abbildern des (Unter-)Bewußten auftürmen oder einander umschlingen, gleichsam auf „Probebühnen“ — entweder ganz wörtlich genommen auf imaginäre Theaterbühnen oder ins Atelier, wo er die Varianten des uralten Themas „Maler und Modell‘ durchspielt. Weitere Schauplatze der Geschlechter-Begegnungen sind Zirkus-Arenen und Bordelle – immer also geschlossene, künstlich inszenierte Räume, Seelen-Käume.

Die Anwendung verschiedener Radiertechniken prägt hier sichtlich die Art des Zugriffs: Während leichte Ritzungen in weichem Wachs den Bildern etwas Fließendes verleihen, das die Figuren sanft und zärtlich umspielt, sorgt die metallische Kaltnadel-Radierung schon durch den nötigen Kraftaufwand für aggressive Linienführungen.

Natürlich fängt auch ein Weltkünstler wie Picasso mit derlei Techniken nicht am Nullpunkt an. Vorbilder scheinen durch: die Auseinandersetzung mit dem Surrealismus, aber auch der souveräne Rückgriff auf Rembrandt und Goya.

Interessant in diesem Zusammenhang, daß Picasso zwei Künstler, nämlich Rembrandt und Degas, auch mehrfach in seinen Bildern „auftreten“ läßt, und zwar als ganz entgegengesetzte Typen. Rembrandt steht für bedingungslos sich verströmende Sinnlichkeit, Degas für den distanzierten Voyeur, der sich von den Bordellhuren gleichermaßen angezogen wie abgestoßen fühlt.

Geradezu phänomenal ist der Zyklus, wenn man bedenkt, wann Picasso all diese Blätter (zwischen 1970 und 1972) geschaffen hat. Er war damals bereits 90 Jahre alt. Zyniker mögen sagen, das habe sich ein Greis „Vorlagen“ verschafft, und es mag ja all dies auch in gewisser Weise eine Ersatzhandlung gewesen sein. Mehr aber noch ist es die bewegende Bilanz eines Lebens und seiner innersten Konflikte.

Übrigens: Das Lehmbruck-Museum wird zwar eigentlich bestreikt, nicht aber der Trakt mit der Picasso-Ausstellung.

„Pablo Picasso – Liebe und Tod“. Letzte graphische Blätter. Lehmbruck-Museum, Duisburg. 6. Mai bis 14. Juni. Katalog 20 DM. Di 11-20 Uhr, Mi-So 11-17 Uhr. 




Die (noch) verborgene Kunst – Ruhrfestspiele und ÖTV-Streik

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Nach der Premiere des Musicals „Kiss me, Kate“ (die WR berichtete), liegt jetzt ein zweites Hauptereignis der Ruhrfestspiele wegen des ÖTV-Streiks auf Eis: die Ausstellung „Cowboys and Indians“.

Wirrwarr am Samstag: Hatte es mittags noch geheißen, die Schau werde nicht eröffnet, aber zumindest der Presse vorgestellt, war am Nachmittag schon wieder alles anders. Auch die versammelten Journalisten durften noch keinen Blick hinter jene Eisentür werfen, hinter der Bilder von Andy Warhol, Horst Gläsker, Friedemann Hahn und Horst Antes vorerst verborgen bleiben.

Kunsthallen-Chef Dr. Ferdinand Ullrich hatte eine solche Situation noch nicht erlebt: eine fix und fertige Ausstellung, auf die er merklich stolz ist, die er aber niemandem zeigen darf. Zwar standen keine Streikposten vor der Kunsthalle, doch eine Weisung der Festspiel-Geschäftsführung hatte dem Museumsleiter die Hände gebunden.

Grundlage ist ein Abkommen zwischen der ÖTV-Kreisleitung und der Festspiel GmbH. Genaugenommen werden nicht die Festspiele als solche bestreikt, sondern „nur“ die städtischen Einrichtungen, die an das Festival vermietet sind. Dazu zählen Festspielhaus und Kunsthalle, nicht aber das „Theater im Depot“. Jedenfalls verpflichteten sich die Festspiel-Macher, den Streik nicht zu brechen.

Ferdinand Ullrich schilderte, in welchem Zwiespalt viele Kulturschaffende dieser Tage stecken. Man wolle den ÖTV-Aktionen nicht in die Parade fahren, aber doch liebend gern die Früchte der oft monatelangen Proben- und Vorbereitungs-Arbeit herzeigen. Nicht nur Theaterleute, sondern auch Ausstellungsmacher arbeiteten – mit stetig wachsender Anspannung — auf Premieren- bzw. Eröffnungs-Termine hin. Wenn die dann ungenutzt verstrichen, sei erst einmal „die Luft ‚raus“ (Ullrich).

Auch finanzielle Probleme wirft die Situation auf. Natürlich entgehen den Ruhrfestspielen Eintrittsgelder. Sie müssen aber nach Lage der Dinge wohl auch an Streiktagen die (maßvolle) Miete für jene Gebäude zahlen, die sie derzeit aufgrund „höherer Gewalt“ gar nicht bespielen können.

Vollends vertrackt: Andererseits finanziert die ÖTV via Gewerkschaftsbund die Festspiele mit.