Wenn es den Künstler übermannt – üppige Werkschau über Max Klinger in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Eine Dame liegt nackt am Strand, hingegossen wie auf einer billigen Postkarte. Da kommt Besuch: ein paar Vögel, darunter zwei Marabus, mit langen Schnäbeln und gierig-spöttischem Blick. Da frage jemand, wofür die Schnäbel auf dem Bild „Gesandtschaft“ symbolisch stehen könnten.

Das Pendant sind jene Krebsscheren, die beinahe zärtlich Gegenstände in sich hineinsaugen. Von dieser fiebrig-feuchten Art sind viele Bilder des Max Klinger (1857—1920). Sigmund Freud, des Künstlers Zeitgenosse in einer Epoche sexueller Unterdrückung, ist stets in der Nähe. Wuppertals Von der Heydt-Museum zeigt jetzt einen in Leipzig konzipierten Klinger-Überblick mit Gemälden, Graphik, Zeichnungen und Skulpturen, angereichert um Eigenbesitz.

Es ist ein späte, ja überreife Frucht des einstigen Kulturabkommens zwischen Bundesrepublik und DDR. Der gebürtige Leipziger Klinger wurde dort, auch zu SED-Zeiten, als sächsischer Säulenheiliger hoch in Ehren gehalten. Seine spätbürgerlichen, „dekadenten“ Antriebe (im geistigen Umkreis von Schopenhauer, Wagner, Nietzsche) verdrängte man geflissentlich – und behalf sich mit Klingers Bildern über die Märzrevolution 1848, die man zur proletarischen Parteinahme umlog.

Klinger aber ging es nicht um Politik, sondern um Aufruhr schlechthin, um schäumende Menschenmassen, Gischt der Revolution. Damit wären wir ganz zwanglos bei Klingers Seestücken. Man könnte Grillparzers Titel zitieren: „Des Meeres und der Liebe Wellen“. Hohe Wogen als Überflutung des Bewußtseins. Ob „Venus im Muschelwagen“, ob „Sirene“ oder „Ritt auf dem Hai“ – angesichts von Wasserfluten übermannt es Klinger, da brechen sich sexuelle Angst- und Wunschbilder Bahn. Doch es gibt auch die niedliche Variante mit Amor-Figuren samt Pfeil und Bogen.

Es hat Klinger offenbar häufig übermannt, nicht selten auf Kosten der Qualität. Er ließ sich, wie in Wuppertal zu besichtigen, von Figuren und Motiven derart mitreißen, daß seine Phantasie die künstlerischen Mittel überstieg. Gelegentlich unbeholfene Raumstaffelung, ungelenke Pinselführung und immer wieder das Abgleiten in läppische Anekdoten, das sind Makel einiger Gemälde.

Zum einen drapierte Klinger, sich aus dem Repertoire bedienend, manche Sachen nur beiläufig mit Jugendstil-Arabesken. Zum anderen produzierte er ziemliche „Schinken“, mit imperialer Gebärde und pompöser Inszenierung. Beispiele: „Christus im Olymp“ oder „Die Kreuzigung Christi“, gar nicht zu reden von seinem Beethoven-Denkmal. Wenn er die Mythen der Antike und des Christentums munter mixt und seiner Zeit anverwandelt, scheint er hin und wieder die Selbstkontrolle außer Kraft zu setzen, auch darin war Klinger ein Vorbote des Surrealismus.

Und doch fragt man sich: Sind dies nun Schmachtfetzen – im Sinne unserer jetzigen Postmoderne, der alles gleichgültig wird und die alles gelten läßt? Oder war Klinger unterwegs zum Gesamtkunstwerk, besonders umtriebig im „Einsammeln“ früherer Stile?

Jedenfalls war er kein Stümper. Aus seinem Unbewußten hat er nicht nur Kitschverdächtiges zutage gefördert. Bei den Gemälden gibt es sehr gelungene Werke wie das berühmte symbolistische Bild „Die blaue Stunde“. Ganz besonders aber im Medium der Graphik, das er wohl auch technisch besser beherrschte als die Ölmalerei, hat Klinger Bleibendes geschaffen. Da deuten manche Traumgesichte auf Max Ernst voraus, andere könnten es mit Blättern von Odilon Redon oder Goya aufnehmen. In Wuppertal gibt man diesem Bereich breiten Raum. Das ist gut so.

Max Klinger. Werkschau. Von der Heydt-Museum, Wuuppertal-Elberfeld, Turmhof 8. Bis 6. September. Di bis So. 10-17, Do 10-21 Uhr. Katalog 45 DM.




Eric Clapton: Auf dem Gipfel des Gitarrenspiels / Dortmunder Publikum am Rand der Raserei

Von Bernd Berke

Dortmund. Untrügliches Kennzeichen für einen Klasse-Gitarristen: Er dreht sich auch bei heiklen Passagen nicht vom Publikum weg. Und er macht keine abenteuerlichen Verrenkungen, um als Gitarrero zu imponieren. Wer jetzt in der ausverkauften Westfalenhalle gesehen hat, wie souverän Eric Clapton die irrwitzigsten Läufe „wegspielt“, weiß Bescheid.

Dieser Mann, seit „Yardbirds“-Zeiten Mitte der 60er Jahre ein Denkmal des Rock, gehört nach wie vor zur Weltelite seines Instruments. Wo andere wie auf einem Hackbrett herumfuhrwerken, entlockt Clapton der Gitarre immer neue Singstimmen. Und er trieb damit sein Dortmunder Publikum nach und nach bis an den Rand der Raserei. Auch eine Vorgruppe wie die Leute um Tony Joe White mit ihrem durchaus soliden Südstaaten-Rock verblaßte da nachträglich zur Dutzendware.

„Clapton ist Gott“ – der Graffiti-Spruch aus! den 60ern ist dennoch mindestens Blödsinn. Überdies ist John McLaughlin im Zweifelsfalle noch eine Hundertstel schneller, aber Gitarrespielen ist kein Formel-1-Rennen. Und Johnny Winter mag noch ein paar Zentimeter tiefer im Blues stecken, aber es gibt nicht nur den Blues. Vielleicht gehört Clapton in eine Art altgriechischen Götterhimmel, wo er eben nicht allein ist. Beim Zeus!

Titel aus „Cream“-Zeiten als Gerüst

Clapton (47) weiß, wann er seine allerstärkste Zeit gehabt hat – mit Jack Bruce und Ginger Baker in der Supergruppe „Cream“. Also stieg er gleich mit „White Room“ ins Dortmunder Konzert ein. „Cream“-Titel bildeten ein Gerüst der Show – von „Sunshine of Your Love“ bis „Crossroads“. Weitere Hits im Programm: „I Shot the Sheriff‘, „Layla“, eine hochenergetische Version von „She’s Waiting“ und – aus neuester Produktion – „Tears in Heaven“, ein Song über seinen tödlich verunglückten Sohn Conor.

Über zwei Stunden ohne Pause legten Clapton & Co. los. Keine Ansage, kein überflüssiges Gerede, nur ab und zu ein „Dankeschön, Thank You“. Fast alle Titel geben dem Meister, der von einer vorzüglich eingespielten Formation gestützt wird, Gelegenheit zu ausführlichen Soli. Das hört sich nach Schema an, doch Clapton sprengt es. Dabei kommt, auch an rasanten Stellen, jeder Ton hörbar einzeln und sauber heraus, da wird nichts hudelig „verschliffen“. Kraft, Dynamik und Filigranarbeit sind hier beispielhaft vereint. Wird sie so gespielt, ist auch ältere Musik nie „von gestern“.

Wenn nur die Tontechniker etwas sensibler ausgesteuert hätten! Die kreischende Lautstärke, die sie hier und da für nötig hielten (und die Clapton ja wohl „abgesegnet“ hat), hat ein solcher Könner nicht nötig. Oh Ohrenpfeifen, laß nach! Nicht nur deshalb war man dankbar, daß Clapton auch ein paar Balladen (Höhepunkt: „Wonderful Tonight“) einstreute. Klar, daß da Wunderkerzen und Feuerzeuge im Publikum feierlich aufleuchteten. Und die Augen mancher (Alt-)Freaks zwischen 16 und 60 hatten nachher jenen seidigen Glanz…




Documenta-Splitter: Große Schau mit ein paar Macken

Von Bernd Berke

  • Kassel. Der Andrang zur documenta in Kassel ist riesengroß. Bereits am letzten Wochenende, als die Weltkunstschau gerade erst eröffnet war, strömten 18.000 Leute auf das Ausstellungsgelände, bis gestern waren über 40.000 da. Zeitweise mußten einzelne Gebäude geschlossen werden, sonst hätte man nur noch Besucher und keine Kunst mehr gesehen. Bis zum Schlußtag (20. September) dürfte man also den 1987 aufgestellten Rekord von 480.000 erreichen.
  • Auf der großen Wiese vor dem Fridericianum herrscht an sonnigen Tagen echte Volksfest-Atmosphäre. Das liegt nicht nur an den zahlreichen Imbiß- und Getränkeständen (einigermaßen zivile Preise), sondern vor allem daran, daß hier auch ein Forum für allerlei Weltverbesserer und Sonderlinge entstanden ist. In diese quirlig-bunte Szene mischt sich dann und wann auch eine Gruppe namens „DuKunst“ (Köln/Iserlohn), verpaßt Besuchern Goldstempel auf die Hand, verschenkt Reiskörner, erklärt documenta-Chef Jan Hoet für abgesetzt und läßt wissen, ein gewisser „Chez“ halte sich als Ersatz bereit. Auffallen ist alles.
  • Auf dem gleichen Platz ist meist auch der wohl gesprächsfreudigste aller documenta-Künstler zu finden: Mo Edoga, in Mannheim lebender Afrikaner, der dort aus Holzabfällen eine unübersehbar große Skulptur gebaut hat und Passanten sein Opus gern und genau erklärt. Unterdessen kam auch schon die Polizei zum (etwas ernsteren) Plausch vorbei, weil in dem Kunstwerk angeblich Teile öffentlicher Straßensperren „verbaut“ worden sind.
  • Weiterer Zwischenfall: Der Stand einer Gruppe namens „Atlantis“, die am Rande der documenta zu ökologisch gefärbten Kunstdiskussionen anregen wollte, ging in Flammen auf — Brandstiftung.
  • Für noch weit größeres Aufsehen könnte der Österreicher Wolfgang Platz sorgen, angeblich der einzige Künstler, der nach Eigenbewerbung bei Jan Hoet Gnade fand. Im September will Platz in Kassel eine seiner berüchtigten Performances (Zwischending von Körper-Kunst und Theateraufführung) zeigen. Man munkelt schon, Kassel werde noch lange davon sprechen – und daß es Platz‘ letzte Performance sein wird. Wer weiß, daß Platz bereits bei anderen Anlässen seine Unversehrtheit und sogar sein Leben „für die Kunst“‚ riskiert hat, fürchtet das Schlimmste.
  • Nichtraucher und Kultur-Puristen sind erbost: Als einer der Hauptsponsoren der documenta verdingt sich eine Zigarettenfirma, die ihre Markenpackung als „Sonderedition“ mit einem aufgedruckten Sinnspruch von Jan Hoet („Kunst bietet keine klaren Antworten. Nur Fragen.“) auf der Ausstellung anpreist.
  • Wem ein normaler documenta-Besuch zu schnöde ist und wer über entsprechendes Kleingeld verfügt, kann den sogenannten „documenta-V.I.P.-Service“ in Anspruch nehmen. Für 890 DM pro Nase wird man dann rundum betreut und braucht sich um Kleinigkeiten wie Eintrittskarten oder Hotel nicht mehr zu kümmern. Auch die Erfüllung „individueller Wünsche“ sei möglich, heißt es. Je nachdem, dürfte es dann noch etwas teurer werden.
  • Regionalpatrioten werden von der documenta enttäuscht sein. Kein im Ruhrgebiet oder Südwestfalen lebender Künstler gehört zu den rund 190 Auserwählten. Gerade mal einer ist in Dortmund geboren: Martin Kippenberger, der aber schon lange in Köln lebt. Damit könnte man sich denn auch trösten. Das Gros der deutschen Künstler wohnt immerhin in NRW, sprich Köln oder Düsseldorf. Na, bitte!

 




Überall ist Künstlerland – ein Gang durch die Kasseler documenta

Von Bernd Berke

Kassel. In Kassel ist es jetzt so gut wie unmöglich, der Kunst zu entgehen. Die „documenta“ belegt ein ganzes Stadtviertel. Drinnen und draußen stößt man überall auf Kunst – selbst da, wo man es überhaupt nicht erwartet. So sind sogar unscheinbare Eckplätze wie Toilettenzugänge und Aufzüge Ausstellungsflächen geworden, und aus einem Grashügel blickt ein abgefilmtes Auge auf den Betrachter.

Im berühmten Fridericianum, dem würdevollen Zentralbau der documenta, entscheidet sich in der Regel bereits, ob die ganze Sache gelungen ist. Und tatsächlich kann man hier wechselvolle Kunst-Erfahrungen machen wie sonst in vielen Monaten nicht. Es ist ein Überblick im besten Sinne, nur hier und da – an den Rändern – in Beliebigkeit ausfransend.

Einen gewissen Schwerpunkt bilden Arbeiten, die auch Körper-Erfahrungen vermitteln, seien es solche der Angst oder auch der Freude. Da läuft man durch einen ganzen Wald aus Punching-Säcken, die einem heftige Knüffe geben, da gerät man anschließend unversehens in die „Transit-Bar“ der Exil-Tschechin Vera Frenkel und bekommt am Tresen per Videoeinspielung einige Emigranten-Schicksale „kredenzt“. Gleich danach schockiert eine Figuren-Installation, in der ein Gorilla auf einen gefesselten Menschen gehetzt wird.

Doch es gibt auch Ruhezonen – wie jenes begehbare Fach von Louise Bourgeois, in dessen Halbdunkel die Elemente einer Kindheitsgeschichte dämmern, oder Lawrence Carrolls kleine Wand- und Bodenobjekte, die sich vor dem Blick beinahe verstecken wollen und darum desto nachhaltiger wirken. Eine erstaunliche Strategie in dieser verdichteten Konkurrenz der Künstler.

Ein innerer Zusammenhalt

Überhaupt zeichnet es diese Documenta aus, daß die Künstler nicht nur intensiv auf die jeweiligen Bauten und Räume, sondern im Idealfalle auch aufeinander reagiert haben. Das verleiht dieser „Kunst-Olympiade“, allem Pluralismus der Formen und Stile zum Trotz, einen inneren Zusammenhalt.

In der „Neuen Galerie“ und im „Ottoneum“, zwei weiteren documenta-Stätten, wird dies besonders augenfällig. Dort hat man die existierenden Bestände nicht einfach ausgeräumt, sondern mit documenta-Beiträgen innig durchsetzt –in einem Fall wird auf klassische Moderne, im anderen auf naturkundliches Inventar wie etwa ausgestopfte Vögel Bezug genommen; mal bescheiden kommentierend, mal mit weit ausgreifendem Anspruch wie bei Joseph Kosuth, der in der „Neuen Galerie“ fremde Werke mit Tüchern verhängt, auf denen Sätze der abendländischen Geistesgeschichte stehen. Die Worte – so eine mögliche Deutung – haben die Bilder „aufgefressen“, die Deutungen die ursprünglichen Anlässe vernichtet.

Ein ähnlich raumgreifendes Werk hat in der neuen documenta-Halle Mario Merz installiert: ein 50 Meter langes „Gebüsch“ aus Reisigholz, versehen mit magisch leuchtenden Neonzahlen, wie man sie auch aus anderen Werken dieses Künstlers kennt. Sinnlos-selbstvergessen vor hinstampfende Maschinen und Notsignale einer nur noch dürftigen Restnatur – das sind weitere Kunstzeichen in der neuen Halle.

Nur noch leise Hilferufe?

Hier und in anderen Gebäuden taucht denn auch immer mal wieder jene von Jan Fabre gestaltete Hand auf, die sich um einen Notgriff, einen letzten Halt zu klammern scheint. So wäre es also um die Kunst bestellt: daß sie nur noch leise Hilferufe geben kann?

Kein beruhigender Befund also, was des Menschen Körperlichkeit angeht. Und auch Landschaften, so zeigen viele Arbeiten, „gehen“ längst nicht mehr ohne Zersplitterung. Sie kommen nur noch als künstliche Aufbauten und Konstruktionen vor. Oder man läuft durch notdürftig vernagelte, verlassene Endzeit-Stätten wie jenes Holzhüttendorf des Japaners Tadashi Kawamata, das allerdings auf hintersinnige Weise auch ein Stück ökologischer Hoffnung enthält.

In den sogenannten „temporären Bauten“ draußen in der Karlsaue, einer Art Kunst-Eisenbahn mit verschobenen „Waggons“, findet man schließlich auch Beispiele der guten alten Farbfeld-Malerei. Es ist eben dies, was die documenta so spannend und sympathisch macht: daß sie keine Kunstform ausklammert, und zwar nicht nach dem schnöden Prinzip, daß heute eben „alles möglich ist“, sondern indem sie zeigt, daß all diese Stile im Not- und Zweifelsfall wichtig sein können.




Ein Mann stürmt himmelwärts – Jan Hoet und die 9. documenta in Kassel

Von Bernd Berke

Jede „documenta“ hat ihr Wahrzeichn. Waren es bei früheren Ausgaben der Weltkunstschau zum Beispiel Walter de Marias im Boden versenkter „Erdkilometer“, Joseph Beuys‘ gigantische Öko-Aktion „7000 Eichen“ oder anno 1987 Ian Hamilton Finlays Guillotinen, so ist diesmal Jonathan Borofskys auf einer Glasfiberstange in den Himmel stürmender Mann das beherrschende Symbol: „Man walking to the sky“ – das könnte auch auf Jan Hoet, den Chef der morgen startenden 9. documenta zutreffen.

Auch bei der gestrigen Eröffnungspressekonferenz waren die Aussagen des Belgiers wolkig. In einer deutsch-englischen sprachlichen Achterbahnfahrt sondergleichen teilte er den fast 2000 staunenden Journalisten aus aller Welt mit, die Beiträge der etwa 190 documenta-Teilnehmer seien „Vorschläge der Künstler an die Gesellschaft“. Kunst gegen den „Körper-Verlust“ sei angesagt. Dieser Verlust äußere sich unter anderem in Phänomenen wie Aids, Armut und Krieg.

Da dies noch die Sätze mit der größten Substanz waren, artete die Presse-Show zur mehr oder weniger fröhlichen Absurdität aus. Da wurden Menschheitsfragen diskutiert wie jene, ob Boxfan Jan Hoet tatsächlich den (wegen Vergewaltigung inhaftierten) Weltmeister Mike Tyson jemals zur documenta-Diskussion eingeladen habe. Hoet dementierte dies heftig.

Eingeladen hatte Hoet hingegen den renommierten Künstler Sigmar Polke, doch der befand das „Museum der 100 Tage“ nicht einmal einer Reaktion für würdig. Hoet kleinlaut: „Ich habe gehört, er konzentriert sich lieber auf seine Einzelausstellung in Amsterdam.“ Jedenfalls vermisse er Polke ebenso schmerzlich wie jene Handvoll weiterer Künstler, die „aus technischen Gründen“ nicht präsentiert werden könnten. Dafür habe man aber erstmals „einen wirklichen Amerikaner“ dabei, nämlich einen waschechten Cherokee-Indianer…

Anflug von Chaos und Wahn

Überhaupt läßt sich Hoet von Einwänden ungern behelligen. Da wird die neue deutsche Mittellage der ehemaligen Zonenrandgebietsstadt Kassel bejubelt, doch die osteuropäischen documenta-Teilnehmer kann man an einer Hand abzählen. Da zeigt sich Hoet „bewegt, dankbar und tiefglücklich“, ist überzeugt, er habe die schönste documenta aller Zeiten gemacht, denn: „Das jüngste Kind ist immer das schönste.“ Und dann muß er unter dem meckernden Gelächter der versammelten Presse bei der Frage passen, mit welchem Etat man eigentlich wirtschafte. Antwort: Rund 16 Millionen DM.

Doch der sanfte Anflug von Chaos und Wahn, der Hoet umweht, seine entschiedene und durch nichts zu beirrende Subjektivität sowie der riesige Freiraum, den er den Künstlern gelassen hat, haben eine zu großen Teilen wirklich überzeugende Ausstellung bewirkt. Das wird schon bei einem ersten Rundgang deutlich. Von keinem Konzept eingeschnürt, läßt Hoet die ganze Breite heutiger Kunst zu – wenn das einzelne Werk nur Kraft hat.

Außerdem hat Hoet auch nüchterne Einsichten. Der Standardfrage zuvorkommend. warum mehr Männer als Frauen an der documenta beteiligt sind, sagte er, in diesem Punkt interessiere ihn weder Männlein noch Weiblein, sondern nur gute Kunst.

documenta, Kassel. 13. Juni bis 20. September. 10.30 bis 19.30 Uhr täglich / Tageskarte: 20 DM.




Zukunftsgewißheit mit rechtwinkligen Mustern – Kunstsammlung NRW zeigt Konstruktivisten

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Welch‘ eine Nüchternheit, grandios und erschreckend zugleich: An Erich Buchholz‘ Entwurf eines völlig rechtwinklig durchmusterten Zimmers „stören“ eigentlich nur noch die Rundungen des Konzertflügels.

Und wenn man in der Kunstsammlung NRW die mathematisch inspirierten Stadtplaner-Ideen mancher Konstruktivisten betrachtet, kann man sich nur die Augen reiben: Welche maschinellen Wesen sollten dort eigentlich wohnen? Doch dann gibt auch wieder die kühle Schönheit der Geometrie, etwa in den „Proun“-Bildern von El Lissitzky, in Arbeiten von Kurt Schwitters, Walter Dexel oder Theo van Doesburg.

Die Konstruktivisten betrieben „Grundlagenforschung“ in der Kunst. Wie die Chemiker die Welt auf Elemente zurückführten, so die Konstruktivisten die Bildwelt auf elementare Formen. Wie in der Naturwissenschaft, so lagen auch im Konstruktivismus Fluch und Segen dicht beisammen. Vor allem die Anwendung im Wohnungsbau hat mitunter prekäre Züge. Besagte Grundformen jedenfalls sollten universell einsetzbar sein und den Alltag durchdringen. Es war die Kunst eines technischen, eines Ingenieur-Zeitalters. Man folgte, heute nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar, einer Utopie der „Machbarkeit“, Auswüchse inbegriffen.

Himmelwärts strebende „Lenin-Treppe“

In Rußland vermählte sich die Zukunftsgewißheit anfangs noch mit Revolutions-Optimismus. Man sehe in Düsseldorf nur El Lissitzkys Modell einer himmelwärts strebenden „Lenin-Treppe“ von 1924 – und staune, wie rasch und gründlich sich derlei Huldigungen verflüchtigt haben. So viel zur vermeintlichen „Rationalität“ dieser Kunstrichtung. Auch sie ist relativ. Aller Mathematik zum Trotz, kommt selbst in der scheinbar objektiven Verteilung von Linien. Kreisen und Rechtecken immer mal wieder persönliches Temperament zum Vorschein. Der Konstruktivismus ist nicht seelenlos. Außerdem ist er unterwegs zur vehementen Verschmelzung der Künste: Schönes Beispiel in Düsseldorf ist ein Breitwand-Bild von Hans Richter, das sich auf frappierende Art der musikalischen Partitur und einer filmischen Sehweise nähert.

Ein Keim entsprang in Düsseldorf

Die Kunstsammlung NRW hat rund 130 Exponate aufgetrieben, die – auch bei weitherziger Betrachtung – keinesfalls alle dem Konstruktivismus zuzurechnen sind. Zudem sind 130 Belegstücke für eine thematisch so ausgreifende Ausstellung eine recht schmale Basis. Der damit nur angeregte Besucher kann sich am Katalog schadlos halten, der einen wirklich großzügigen Überblick gibt.

Ein Keim des Konstruktivismus sproß übrigens vor genau 70 Jabren in Düsseldorf: Die Kunstlergruppe „Junges Rheinland“ (eher dem Expressionismus zuzurechnen) hatte die internationale Avantgarde an den Rhein gebeten, darunter auch El Lissitzky und Theo van Doesburg. Die Konstruktivisten formierten sich, zunächst lose, im heftigen Widerspruch zum „Jungen Rheinland“, dessen Vereinsmeierei ihnen einfach zu fad war.

„Konstruktivistische Internationale – 1922-1927″. Düsseldorf, Kunstsammlung NRW, Grabbeplatz 5. Bis 23. August. Eintritt 8 DM, Katalog 59 DM.