Wie kommt die Kunst zur Autobahn? Ein kleines Lehrstück in mehreren Akten

Ein paar Kunstwerke entlang der Autobahn aufstellen – nichts einfacher als das. Von wegen! Der Dortmunder Bildhauer Dr. Bernd Moenikes (37) kann da ganz andere Geschichten erzählen. Eine solche Sache kann schier endlos dauern. Ein kleines Lehrstück in mehreren Akten, Ende offen.

Es begann vor etwa drei Jahren – so genau weiß das Moenikes schon gar nicht mehr. Damals hatte er die Idee zum Projekt „Crossing“ (Kreuzung): Wenn Leute nicht ins Museum gehen, muß die Kunst eben zu ihnen kommen. Zum Beispiel auf die Autobahn. Geeignetes Aktionsfeld, so befand Moenikes nach Testfahrten, sei der Strang A 430 (B1/A 44) sowie die A 1. Beide Linien kreuzen einander. Grenzpunkte sollten der Anschluß Dortmund-West, das Kreuz Werl, das Kamener und Westhofener Kreuz sein.

Moenikes, bereits mit Umweltkunst-Aktionen („Tanz auf dem Müll“) hervorgetreten, dachte angesichts der Asphaltbänder und Blechlawinen nicht von ungefähr auch an einen leidensreichen Kreuzweg. Doch andererseits sehnte er lange Staus beinahe schon herbei, denn dann hätten die Menschen ausgiebig Gelegenheit, an den zwölf Stationen des Kreuzwegs Holzskulpturen zu sehen…

„Man braucht Beziehungen“

Doch zunächst mußte „das Umfeld sondiert werden“ (Moenikes). Mehrmals ging’s zum Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), der für die Sicherheit hiesiger Autobahnen zuständig ist. Im Prinzip, so Moenikes, hatte man dort nichts gegen die Skulpturen, wollte aber natürlich bei der Standortwahl mitreden.

Komplizierter wurde es, als Moenikes beim Kultusministerium in Düsseldorf vorsprach. Der Dortmunder erkannte: „Man braucht Beziehungen.“ Die Referenten fragten geradezu begierig nach Namen. Sie zeigten sich von der Idee angetan, gaben sich aber finanziell zugeknöpft. Bevor man Zuschüsse zu dem auf mindestens 500 000 DM geschätzten Vorhaben zusage, wolle man (aus Sicht des Ministeriums nur zu verständlich) ein präzises Konzept sehen, samt Teilnehmerliste und möglichst fertigen Probestücken. Das aber hieß: Moenikes hätte erhebliche Vorleistungen erbringen müssen, denn kein halbwegs prominenter Künstler hätte gratis und auf Verdacht gearbeitet.

Sponsoren haben, um Sponsoren zu finden

Einer der nächsten Wege führte zum Leiter des Dortmunder Ostwall-Museums, Dr. Ingo Bartsch. Auch der fand die Idee gut und nannte gleich hochkarätige Künstlernamen: Magdalena Jetelova, Stephan Balkenhol, Jiri Hilmar, Dani Karavan, Thomas Schütte, Claus Bury, Wilfried Hagebölling – allesamt mögliche Teilnehmer, allesamt Bekannte von Bart&ch. Der Museumsmann versprach, Kontakte zu vermitteln, falls Geld vorhanden wäre. Der Ostwall-Etat ist schmal.

Zugleich verfiel Moenikes auf die Idee, vor dem großen Autobahn-Projekt eine Schau von Planskizzen und beispielhaften Skulpturen am Ostwall zu veranstalten, die weit weniger, nämlich rund 20 000 DM, kosten und Sponsoren aufmerksam machen sollte. Doch auch diese 20 000 DM (angesichts der klingenden Namen viel zu niedrig angesetzt) wollen aufgetrieben sein. Also: Um Sponsoren zu finden, muß man schon Sponsoren haben.

Moenikes denkt an einen Ostwall-Termin im Jahr 1993, was Bartsch auf Befragen weit von sich weist: „Bis 1995 sind wir ausgebucht!“ Außerdem sei „Crossing“ ganz und gar kein Ostwall-Projekt. Er, Bartsch, habe lediglich ideelle Hilfe in Aussicht gestellt.

Ein Scheck über gerade mal 100 Mark

Auf dem Umweg über eine Münsteraner Kulturstiftung hat sich laut Moenikes kürzlich immerhin eine Holzfirma gefunden, die das Material stellen will — doch auch dazu müßte die Aktion bereits laufen. Also weiter auf Sponsoren-Suche, deren Gesetze Moenikes erst ganz allmählich kennenlernte. Der Verein „pro ruhrgebiet“ etwa habe ihn zwischendurch „monatelang vertröstet“ (Moenikes) und dann abgewunken. Weitere potentielle Förderer wollten abwarten, was die anderen machen.

Gleichwohl will Moenikes die Flucht nach vorn antreten: „Jetzt kommt der Endspurt.“ Er verschickte eine ganze Reihe von Projekt-Infos an Firmen, denen er bereits die mögliche Zahl der werbewirksamen Medien-Kontakte und sogar das Verkehrsaufkommen auf besagten Autobahn-Abschnitten vorrechnet. Der umweltkritische Ansatz ist unterdessen etwas unter die Räder geraten. Für eine autofeindliche Aktion fänden sich eben kaum potente Sponsoren.

Derzeit kommen erste Antworten auf Moenikes‘ Briefe. Eine Dortmunder Kunststoff-Firma sagte 2000 DM für die vielleicht ganz illusorische Ostwall-Vorschau zu, ein Bauunternehmen schickte einen Scheck über gerade mal 100 DM, den Moenikes enttäuscht zurücksandte. Resignation? Moenikes ist frustriert, will sich aber nicht unterkriegen lassen: „Wenn die Sache jetzt nicht läuft, belebe ich sie vielleicht irgendwann mal wieder.“




Der Fernsehapparat ist ein seltsames Haustier – Ausstellung zeigt den Umgang mit der „Glotze“ als Ritual

Von Bernd Berke

Essen. Erst stand er verschämt an der Wand und mochte seine häßliche Kehrseite nicht zeigen. Dann rückte er immer mehr in die Mitte des Zimmers, wurde rundum ansehnlicher, ja manchmal fast so schön wie eine Skulptur. Doch demnächst wird er sich wieder an die Wand klammern, denn dann wird er superflach und riesengroß sein. Die Rede ist vom Fernsehapparat, der sich in den letzten 40 Jahren kreuz und quer durchs Wohnzimmer bewegt hat – wahrlich ein geheimnisvolles „Haustier“.

Mit seiner neuen Ausstellung will das Essener Design-Zentrum Nordrhein-Westfalen uns das alltägliche Gerät wieder ein wenig fremd machen. Man hat die vielbeschworene „Exotik des Alltags“ im Sinn und möchte den Umgang mit der „Glotze“ etwa so zeigen, wie ein Völkerkundler magische Rituale beschreibt.

Kopfschmerzen mit der TV-Lupe

Tatsächlich gibt es auf diesem Gebiet die seltsamsten Dinge: War es etwa nicht exotisch, daß manche Leute sich früher ein kleines TV-Gerät kauften, das Bild dann mit einer Fernseh-Lupe aufblähten oder mit monotonen Farbfolien Pseudo-Color genießen wollten? Nun, zumindest war es kopfschmerzträchtig, denn das flimmernde Zeilenraster wucherte natürlich mit. Nicht weniger merkwürdig, daß heute offenbar recht viele Leute einem absurden Hobby frönen: Sie stieren ohne Decoder in den verschlüsselten Pay-TV-Kanal „Premiere“ und lassen bei verzerrten Bildfetzen ihre Entzifferungs-Phantasie spielen: Was mag da wohl laufen?

Die Essener Schau macht klar, wie sehr das Fernsehen den Alltag durchdrungen hat: Kaum noch ein Kinderspiel ohne optische oder inhaltliche Bezüge zum TV. Postkarten in Bildschirmform. Plattencover, deren Stars gleich vom Fernseher abfotografiert wurden. Sodann eine Flut von Werbegeschenken („Giveaways“) vor allem der Privatkanäle – die Tagesschau auf der Streichholzschachtel, das Logo der neuesten RTL-Produktion auf T-Shirts. Und auch das gemeine Knabbergebäck mutierte ja irgendwann zur „Telebar“-Schachtel mit fernsehgerecht unterteilten Häppchen.

Anheimelnde Runde am Nierentisch

In den 50er Jahren ging’s anheimelnd zu, da war Fernsehen tatsächlich noch Heim-Kino, man saß in gebannter Runde mit der halben Nachbarschaft zusammen. In Essen ist eine komplette Fernsehstube von damals aufgebaut, mit wuchtiger Truhe, Tulpenlampen, Nierentisch und CocktaiI-Sesseln. Ja, so war es.

Und wie wird es sein? Natürlich multimedial. Der Fernseher ist bald nur noch Durchgangsstation, ein Gerät unter vielen, allseits verkabelt und vernetzt. In der Abteilung „Zukunft“ dürfen die Besucher übrigens auch elektronisch mitspielen. Da wird man wohl die Kids finden.

Wandelbar bleiben die Gerate sowieso. Da „verkleiden“ sich die Apparate als Motorradhelm oder gar als aufgeschlagenes Buch. Damit man vor lauter Wechselfieber nicht gleich das ganze Gerät wegwirft, gibt es Designer-Rahmen, mit denen die „Kiste“ jeden Tag anders aussieht.

Apropos wegwerfen. Das muß nicht sein. Selbst ein verkohltes Gerät kann nämlich ausstellungstauglich sein. In Essen ist solch ein Exemplar zu sehen, von der Hitze grotesk verformt. Man hat es übrigens eigens zerstört, sozusagen mit viel Liebe – bei 250 Grad im Emailofen. Zur Nachahmung keinesfalls empfohlen!

„Unser Fernsehen! Vom Pantoffelkino zum Home-Terminal“. Design-Zentrum NRW. Essen, Hindenburgstr. 25-27. 16. Dezember 1992 bis 31. Januar 1993. Geöffnet Di.-Fr. 10-18 Uhr, Sa. 10-16.30 Uhr.

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(in ähnlicher Form auch in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 23. Dezember 1993)




Bis an die Grenzen der Sichtbarkeit – Bilder und Neon-Arbeiten von Günter Dohr in Lüdenscheid, Wilnsdorf (und Dortmund)

Von Bernd Berke

Lüdenscheid/Wilnsdorf. „Es werde Licht!“ dachte Günter Dohr, als er 1969 mit zehn Kollegen den gesamten „Ruhrschnellweg“ zwischen Duisburg und Dortmund künstlerisch markieren wollte. Doch der Neon-Künstler und all die anderen kamen damals nicht zum Zuge. Das weltweit einmalige Projekt wurde, aus Gründen der Verkehrssicherheit, politisch gebremst.

Der in Duisburg lebende Dohr (56) indessen ist dem flüchtigen Wesen des Lichts treu geblieben. In der Stadtgalerie Lüdenscheid wird jetzt ein Ausschnitt aus seiner neuesten Produktion gezeigt: Licht-Malerei, die aufs Innigste mit seinen Neon-Objekten zu tun hat.

Mit Acrylfarbe in den Tönen „Lascaux Oxidschwarz“ und „Titanweiß“ erzielt Dohr eine Vielfalt von Wirkungen, die sich keinesfalls in buchstäblichem Schwarz-Weiß erschöpfen. Die lichten Erscheinungen, mit Wasser schlierenhaft aufgehellt, schimmern zuweilen nicht nur in allen Graustufen, sondern auch bräunlich oder bläulich. Es ist. als entstiegen diese Farben dem puren Nichts.

Bekanntlich sind weder Schwarz noch Weiß veritable Farben, sondern eigentlich Rand- und Grenzphänomene der Sichtbarkeit. Genau da liegt ein geheimes Zentrum dieser Bildwelt, die sich dem Blick zugleich anbietet und sanft entzieht. Sehen oder Nichtsehen – das ist hier die Frage! Freilich: Nicht als Entscheidung pro oder kontra, sondern als gleitender Prozeß mit Zwischentönen.

Dohrs Bilder entstehen spontan, gleichsam in einem Anlauf. Da muß man vorher ziemlich genau wissen, was man will. Kalkül (und technisches Know-how) stecken noch deutlicher in Dohrs Neon-Objekten. Die ambitionierte Jordan Galerie in Wilnsdorf (bei Siegen) wirkt seit Mitte des Jahres in der Diaspora, fernab von allen Kunstzentren. Hier wird ein kleiner Querschnitt durch Dohrs Arbeiten der letzten Jahre gezeigt – willkommene Ergänzung zur Lüdenscheider Schau. Beispiel: Eine Neon-Installation im Gartenhaus bietet sich dem Betrachter immer wieder anders dar – von außen als einheitliche Farbfläche, von innen als Energiefeld im Widerstreit.

Überhaupt war es das Jahr des Günter Dohr. Gelsenkirchens Museum hat ihm eine Retrospektive ausgerichtet. Derzeit sind auch an zwei Dortmunder Stätten Dohr-Arheiten zu sehen: im Technologiezentrum und in der Galerie Voss (jeweils bis 20. Dezember).

Günter Dohr. Bilder 1992 – Städtische Galerie Lüdenscheid (Alte Rathausstraße). Ab sofort bis 17. Januar 1993, tägl. außer Mo. 11-18, Do. 11-20 Uhr // Günter Dohr: „Licht“, Jordan Galerie, Wilnsdorf/Siegerland (Breitenbachsfeld 7). Ab sofort bis 24. Januar 1993. Mi-Fr 12-18, So 10-13 Uhr.




Wer hat Angst vor der Freiheit der Farben? Arbeiten von Hartwig Kompa am Dortmunder Ostwall

Von Bernd Berke

Dortmund. Blau, blau, blau. Rot, rot, rot, rot. Gelb, gelb, gelb. – Kein hypermodernes Gedicht und auch kein Gestammel. Sondern so präsentiert sich (von links nach rechts „gelesen“) eine zehnteilige Farb-Installation im Lichthof des Dortmunder Ostwall-Museums. Erhaben und weiträumig wirkt sie, wie beinahe alles, was in diesem schönsten Teil des Gebäudes bislang zu sehen war.

Der Oberhausener Hartwig Kompa (Jahrgang 1947) befaßt sich seit fast 20 Jahren mit Farb-„Untersuchungen“, wie er es nennt. Zunächst ging er expressiv zu Werke, dann immer verhaltener, beinahe bescheiden den Ausdruckswerten der Farben folgend. Wichtig ist nicht eine Theorie von Wirkung und Wahrnehmung, Kompa will die Farben vielmehr in der Praxis auf die Probe stellen. Vertikale Rechtecke sind, weil sie körperlicher wirken als liegende, sein bevorzugtes Format.

Fast keine der 35 (zumeist mehrteiligen) Arbeiten aus den Jahren 1985-1992, die Kompa jetzt am Ostwall zeigt, trägt einen Titel. Eine Farbe ist eine Farbe. Man soll an nichts denken, sich an nichts erinnern. Man soll schauen, die Sinne schärfen, auch kleinste Wandlungen wahrnehmen. Eine Ausstellung also, für die man hellwach sein muß.

Ungebundene Pigmente

Auf den allerersten Blick erschließt sich nichts. Da sieht man beispielsweise in einem Raum nur verschiedene Blautöne. Wenn man aber verweilt, wird klar, auf wie viele Kleinigkeiten es hier ankommt: auf Höhen, Abfolgen und Abstände, auf das Spiel der Schatten zwischen den Bildern. Vor allem aber auf die Dicke der Bildträger, die man so richtig erst von der Seite her wahrnimmt. Ein und dieselbe Farbe wirkt bei derlei Variationen schon ganz anders; wie sehr unterscheiden sich erst ihre Nuancen!

Die Farbe ist frei. Buchstäblich. Denn Kompa verwendet ungebundene Pigmente in Pulverform. Das bedeutet: Die Farbmaterie ist ganz da, ganz gegenwärtig und greifbar (trotzdem gilt natürlich Berührungsverbot). Als Grundierung benutzt der Künstler feinste Metallspäne (Eisensinter), die sich auf der rauhen Leinwand festhaken. Auch der Untergrund verwandelt die Energie der Farbe. Das wird besonders augenfällig, wenn Kompa seriell arbeitet.

Noch einmal zurück zur Installation im Lichthof. Vor einiger Zeit lief in den Kinos Heiko Schiers Film „Wer hat Angst vor Rot-gelb-blau?“ Das Lichtspiel um Künstler und Kunstmarkt bezog sich auf Barnett Newmans Farb-Bild gleichen Titels, das traurige Berühmtheit durch ein irrsinniges Attentat erlangte. Im Dortmunder Lichthof leuchten nun eben jene Farben: Rot, gelb, blau. Wer hat Angst?

Hartwig Kompa – „Primär Farbe“. Museum am Ostwall, Dortmund. Ab Sonntag, 13. Dezember (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 17. Januar 1993. Di. bis So. 10- 18 Uhr. Katalog 30 DM.




Ganz Dortmund gab sich dem Vergnügen hin – Üppige Ausstellung zur Freizeit-Geschichte

Von Bernd Berke

Dortmund. Hereinspaziert, hereinspaziert! Ganz Dortmund gibt sich dem Vergnügen hin. Die einen wandern ins Grüne, die anderen schlendern durch elegante Passagen; nachmittags geht’s ins (fast) original Wienerische Caféhaus — und abends ins Theater oder Varieté.

Natürlich war es nicht ganz so. Nicht jeder konnte sich alles leisten. Und außerdem ist es so lange her, daß es jetzt ins Museum kommt: Das Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte hat – für seine bislang größte Präsentation – rund 800 Exponate zusammengetragen. Sie sollen davon zeugen, wie die Dortmunder zwischen 1870 und 1939 ihre oft karge Freizeit verbrachten.

Freizeit gleich Vergnügen? Diese Rechnung geht nicht bruchlos auf. Hinter den knallbunten Kulissen von Zirkus, Jahrmarkt oder Lunapark gab es schon zu Kaisers Zeiten Freizeit-Streß. Und mancher Spaß war reichlich bizarr. Da ließen sich unsere Altvorderen etwa auf der Kirmes freiwillig leichte Stromstöße verpassen – welch‘ fröhliche Wissenschaft… Vor allem aber setzte früh die Kommerzialisierung der Freizeit ein. Verkaufs- und Spielautomaten von anno dazumal beweisen es. An dem Modell „Hopp-Hopp“ konnte man (durchaus stadttypisch) Biermarken gewinnen.

Die üppig bestückte und teilweise drangvoll eng gestellte Schau „umarmt“ ihr Thema gleichsam von allen Seiten: Um das Vorort-Freibad Froschloch geht es ebenso wie um luxuriöse Warenhäuser und Hotels; die Westfalenhalle (Sechstagerennen) spielt ebenso eine Rolle wie die berüchtigte Linienstraße, Dortmunds Zeile der käuflichen Liebe. Auch einige alte Radios werden gezeigt. Man hörte halt in der Freizeit Funk.

Beim Anblick von Fotos und Programmblättern der großen alten Varietés befällt zumindest den eingesessenen Dortmunder Wehmut: Wo ist diese Eleganz geblieben? Zu Schutt und Asche ist sie geworden – im Zweiten Weltkrieg. Jahre zuvor hatten sich die Nationalsozialisten schon der Freizeit bemächtigt. Besonders interessant ist der Fall des Marionettentheaters Kastner. Der Bayer hatte sich mit seiner Puppenbühne in Dortmund niedergelassen und spielte zwar keine Blut-, aber Boden-Stücke. Das kam den Nazis gelegen. Die spannten Kastner für ihre KfF-Belustigungen („Kraft durch Freude“) ein. Freizeit als Ablenkung vom gesellschaftlichen Elend. Nicht minderen Dienst genommen wurde das Dortmunder „Haus der Kunst“.

Freizeit war auch eine Klassenfrage. Während der Proletarier sich aufs Fahrrad schwang, nahm der Bonze beispielsweise in der kapitalen „Horch“-Limousine Platz – eines der auffälligsten Exponate neben dem imposanten „Kaiserpanorama“.

Freizeit war, das Wort sagt es ja, eben auch eine Zeit-Frage. Auf einem Podest voller Uhren wird dem Besucher allerdings kaum klar, daß erst die Einteilung der Zeit, die Abgrenzung von Arbeit und Muße den Begriff „Freizeit“ hervorbrachte.

Rundum gelungen ist die Schau nicht. Obwohl der Bühnenbildner Gerd Herr hie und da für schöne „Inszenierungen“ gesorgt hat, gibt es auch ein paar ärmlich wirkende Ecken. Daß man etwa einige Reihen alter Kinostühle vor ein Großfoto aus einem Harold-Lloyd-Streifen stellt, bleibt weit hinter einer entsprechenden Installation in der thematisch vergleichbaren Essener Ausstellung „Viel Vergnügen“ (Ruhrlandmuseum, bis 12. April ’93) zurück.

Ansonsten haben die Dortmunder eine ungleich größere Fülle zu bieten, in der jeder etwas für sich findet. Und im Ganzen ist die Sache höchst sehenswert. Deshalb, wie gesagt: Hereinspaziert!

„8 Stunden sind kein Tag“. Freizeit und Vergnügen in der Industriestadt Dortmund 1870 bis 1939 – Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund (Eingang Königswall). Ab sofort bis 4. Juli 1993. Di-So. 10-18 Uhr – Umfangreiches Begleitprogramm mit Aufführungen, Diskussionen usw. (Info: [02 31] 5 02 55 22). Eintritt 6 DM, ermäßigt 3 DM. Katalog mit 360 Seiten 49 DM.




Prag zwischen „Tutti Frutti“ und ambitioniertem Theater

Von Bernd Berke

Prag. Die Theater in Prag kämpfen, ähnlich wie jene in den neuen Bundesländern, mit Zuschauerschwund. Manche Vorstellungen werden gar mangels Masse kurz vor Beginn abgesagt – wiederum eine Anti-Werbung, die die letzten Getreuen vergrault. Seit die Tschechen unbeschränkt reisen und fast wie im Westen einkaufen können, aber auch härter arbeiten müssen, herrscht im Theaterparkett oft gähnende Leere.

Zudem bannt der TV-Kanal „OK 3″, der einen Verschnitt gratis überlassener westlicher Produkte (auch „Tutti Frutti“ von RTL) sendet, viele Leute in den heimischen Fernsehsessel. „OK 3″ ist Vorhut und Schnupperware für das demnächst startende Privatfernsehen.

Noch haben sogar die Theaterleute, die jetzt auf Einladung der Ruhrfestspiele in Prag deutschen Journalisten ihre Situation schilderten, eine Illusion: Das Privat-TV werde zwar anfangs seicht sein, nach einer gewissen Frist aber auch Kultur bringen. Wenn man sieht, was „OK 3″ schon jetzt an sexuellen Gewagtheiten anbietet, beschleichen einen da arge Zweifel.

Händeringend Sponsoren suchen

Früher hat der sozialistische Staat die Theaterschulden stillschweigend beglichen. Nun sucht man händeringend Sponsoren. Denn nun müssen die Bühnen (wie bei uns) mit Subventionen auskommen, die nicht mehr steigen. Ganz im Gegensatz zu den Preisen. In den Geschäften am Prachtboulevard Wenzelsplatz muß man inzwischen nahezu soviel Geld auf den Tisch legen wie in Deutschland – und das bei einem monatlichen Durchschnittseinkommen von rund 4200 Kronen (etwa 250 DM) in der Hauptstadt.

Nur Theater, die ganz besondere Qualität bieten oder sich gekonnt auf „Marktlücken“ spezialisieren, halten sich in diesem Umfeld gut. Die berühmte „Laterna Magika“ etwa hat keine Probleme, ihr Haus zu füllen. Freilich sind die Besucher zum großen Teil Touristen, vor allem aus Deutschland.

Wo man alles darf, wird es schnell beliebig

Bis zur sanften Revolution anno 1989 war es in der damaligen CSSR verboten, „dekadente“ Dramen von Beckett oder lonesco zu spielen, für den Erwerb der Aufführungsrechte an anderen West-Stücken fehlten Devisen. Jetzt kann man schier alles auf die Bühne bringen. Und da liegt das Problem. Denn wo man alles darf, wird vieles unverbindlich. Dafür hat das Publikum eine feine Antenne.

Da hilft es gar nichts, sich an die tschechische Tradition des psychologischen Theaters (Tschechow-Pflege bis zum Überdruß) zu klammern. Doch mit allzu wilden Experimenten darf man den Tschechen auch noch nicht kommen, sind sie doch durch die jahrzehntelange Isolation auf ästhetische Wagnisse kaum vorbereitet. Und eine kompetente Theaterkritik, die an Neuerungen heranführen könnte, entwickelt sich erst jetzt ganz allmählich.

Die Opern verzeichnen zwar einen etwas besseren Besuch als die Sprechtheater, doch man steckt auch hier noch tief in Konventionen. Außerdem können die Tschechen ihre besten Sänger nie im eigenen Lande erleben. Die Gagen, die diese Stars verlangen, werden nur in Westeuropa, Japan und Amerika bezahlt.

Und so spielt man tapfer nach dem Prinzip Hoffnung. Oder man trauert jener Hoch-Zeit des Theaters im Jahre 1989 nach. Damals gehörten die Bühnen zu den Zentren des Aufbegehrens. Es ist, als sei das schon Jahrzehnte her.

 




Ruhrfestspiele: Zurück zur Utopie von 1968 – Hansgünther Heyme stellt Programm in Prag vor

Aus Prag berichtet Bernd Berke

Auch im Spätherbst ist Prag eine wunderschöne, aber oft neblige Stadt. Nebulös und ungewiß auch die nahe Zukunft: In weniger als einem Monat wird Prag die Metropole eines neuen Staates sein, der Tschechischen Republik. Die Slowaken gehen dann eigene Wege. Wird es gutgehen?

Das entsprechende Hickhack um Besitzstände (bis hin zum Streit um einzelne Kunstwerke), ist jedenfalls derzeit d a s Gesprächsthema an der Moldau. Selbst die schlimmen Nachrichten über deutsche Rechtsradikale dringen bislang eher gedämpft in die goldene Stadt.

Hierher also hatte Ruhrfestspiel-Chef Hansgünther Heyme gebeten, um seine Festival-Pläne für 1993 zu erläutern. Warum an die Moldau und nicht an die Ruhr? Nun, man versteht sich ja seit ein paar Jahren als Europäisches Festival. Zweiter Grund: der jäh beendete „Prager Frühling“ vor fast 25 Jahren. Denn das Jahr 1968 spielt in Heymes Plänen für 1993 eine tragende Rolle. Schließlich gehören Gastspiele von Prager Bühnen zum Programmgerüst. Und Vaclav Havel, so hofft man, übernimmt die Schirmherrschaft.

Bedeutet das Ende des Realsozialismus auch das Ende aller Utopien? Nicht für Heyme! Im Gegenteil: Er möchte am liebsten die Antriebskräfte des rebellischen Jahres 1968 wieder mobilisieren. Die damalige Aufbruchstimmung ist Schwerpunkt, wenn auch nicht durchgehende Leitlinie der Festspiele ’93.

Odysseus als ruheloser Intellektueller

Die Kunstausstellung der Festspiele wird eine Zeitgeist-Schau über 1968. Heyme selbst steuert seine Inszenierung „Heimkehr des Odysseus“ (nach Homer) bei. Odysseus, so ein Regiegedanke, ist Prototyp des ruhelosen Intellektuellen, wie er auch um ’68 aktiv gewesen sein könnte. Außerdem plant Heyme die Uraufführung eines Textes von Gaston Salvatore, in dem dieser einstige Mitstreiter Rudi Dutschkes die APO-Vergangenheit „aufarbeiten“ soll. Beide Stücke sind Koproduktionen mit Heymes neuer Wirkungsstätte Bremen.

Auch Johann Kresnik, Chef des Bremer Tanztheaters, ist dabei: Seine „Wendewut“-Choreographie basiert auf einem politischen Text von Günter Gaus über die deutsche Vereinigung. Doch schnell zurück nach Prag: Friedrich Dürrenmatt hatte „Minotaurus“ seinerzeit eigens für das weltberühmte Prager Theater „Laterna Magika“ verfaßt. Nur der Regisseur Milan Svoboda könne diesen Prosatext angemessen auf die Bühne bringen, befand der Schweizer Autor. So geschah es. Svoboda verzichtet weitgehend auf Sprache und setzt den Geist des Textes in magische Bilder um. Er kommt mit seinem multimedialen Spektakel zu den Ruhrfestspielen.

Trotz Unterdrückung an Idealen festhalten

Deutlicher sind die Bezüge zu 1968 bei der zweiten tschechischen Produktion. „Laute Einsamkeit“ von Bohumil Hrabal hatte beim „Theater am Geländer“ bereits 1983 Premiere. Obwohl bis zur „samtenen Revolution“ des Jahres 1989 nicht dafür geworben werden durfte und auch keine einzige Kritik erschien, sprach sich das Ereignis herum und kam auf über 300 Vorstellungen. Hrabals Text behandelt die Frage, wie man trotz Unterdrückung an seinen Idealen festhalten kann.

Der Programmüberblick verspricht weitere Bühnen-Genüsse: Andrea Breth zeigt ihre Berliner Version von Gorkis „Nachtasyl“. Aus New York reist das legendäre „Living Theatre“ an und spielt – erstmals in Europa – „Rules of Civility“. Vorlage ist hier ein Text von George Washington zum Thema Demokratie.

Das spanische Totaltheater „La Fura dels Baus“, das schon 1991 bei den Festspielen Furore machte, kommt mit einer neuen Produktion wieder. Mittlerweile ist die Truppe aus Barcelona durch die Gestaltung der Olympia-Eröffnungsfeier zu weltweiter Berühmtheit gelangt. Gute Bekannte in Recklinghausen sind auch Maurice Béjart und seine Tanzcompagnie aus Lausanne. Diesmal führen sie „Cinema – Cinema“ auf, eine Hommage an die Filmregisseure Fritz Lang, Pasolini und Godard zu Musikstücken von Verdi, Bartók und Schönberg.

Sogar das Musical „Anything Goes“ (Alles ist möglich) feiert Wiederauferstehung. Heyme hatte Cole Porters Werk vor Jahresfrist als publikumsträchtige Eigenproduktion bringen wollen, war mit diesem Vorhaben aber gescheitert. 1993 kommt „Anything Goes“ als eingekauftes Gastspiel vom Berliner Theater des Westens. Na, bitte. Fast alles ist möglich.