Fremdling auf der Erde – Bilder von Auguste Chabaud in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Paris behagte ihm nicht, in der Provence fühlte er sich auch nicht wohl. Auguste Chabaud (1882-1955) war ein Fremdling auf Erden. Jetzt zeigt das Wuppertaler Von der Heydt-Museum eine große Retrospektive mit 120 Ölbildern und 100 Zeichnungen – Wiederentdeckung einer vergessenen Nuance der Moderne.

Die Franzosen haben den Beginn der Chabaud-Renaissance verschlafen. Zwar richteten sie ihm 1992 in Graveson (bei Avignon) ein Museum ein, doch da hatte längst der Bochumer Galerist Alexander von Berswordt-Wallrabe die Bedeutung Chabauds erkannt und den Anstoß für die jetzige Schau gegeben.

In seinen besten Jahren, etwa um 1907, war Chabaud ein Meister der kühnen optischen Raffung: ein paar Striche, ein Auge – fertig war die Schafherde. Ein roter Hotelflur, zwei Türen, unter denen ein schmaler Lichtstrahl hervorscheint, ein Fuß auf der Treppe – ein Bild der Einsamkeit. Geradezu tolldreist auch die Draufsichten nach Art von Luftbildern, etwa auf Kampfarenen.

1899 war Chabaud aus seiner südfranzösischen Heimat nach Paris gezogen. Die Stadt, von der so viele schwärmen, gefiel ihm nicht. Mächtig muß er sich fortgesehnt haben. Immer wieder malt und zeichnet er jene kleinen und großen Fluchten: abfahrende Züge und in unbestimmte Fernen gleitende Seine-Schiffe, dazu Brücken, die immer aus dem Bild und damit aus der Gegenwart herausführen. Auch das nächtliche Paris mit seinen sexuellen Lockungen hat ihn wohl mehr gequält. Kokotten und Bordellszenen zeigt er in bedrohlich gleißendem Rot.

Und dann Südfrankreich. Welches Lodern, welche Helligkeit haben van Gogh, Matisse oder Bonnard dort gesehen! Nichts davon bei Chabaud. Fast immer lastet ein gewitterschwerer Himmel auf den Szenen des Landlebens, die wenigen Menschen huschen dahin wie Geprügelte.

Vielleicht lag es auch an den Umständen. 1917 hatte sich sein Vater das Leben genommen. Auguste mußte nicht nur den Bauernhof der Familie bewirtschaften, sondem auch acht Kinder ernähren. Als Greis hat er dann seinen Frieden mit der Welt geschlossen. Künstlerisch hat ihm das geschadet. Leider sogar rückwirkend, denn Chabaud machte sich über ältere Bilder her, um sie zu verbessern. Doch er hat sie verwässert.

Auguste Chabaud. Von der Heydt-Museum. Wuppertal (Turmhof 8). 30. Mai bis 18. Juli. Di-So 10-17, Do 10-21 Uhr. Katalog 45 DM.




Das Abendland endet auf dem Herrenklo – Dramen von Marlene Streeruwitz und Volker Braun bei „Stücke ’93“

Von Bernd Berke

Mülheim. Es war fast wie im Fußballstadion, wenn die eigene Elf gar nichts zustande bringt. „Aufhören-Aufhören!“-Rufe dröhnten durch die Mülheimer Stadthalle, etwa ein Viertel des Publikums suchte während der Darbietung das Weite. Marlene Streeruwitz‘ Drama „New York. New York.“ lag beim Wettbewerb „Stücke ’93“ am Rande des Theaterskandals.

Schauplatz ist eine Wiener Herrentoilette, in die auch zahlreiche Damen strömen. Das Personal besteht vornehmlich aus Nutten, Strichern und anderen Gestrandeten. Wir werden Zeugen ungebrochener Gewalt. Da schlägt etwa der Zuhälter eine Dirne blutig. Anschließend vergreifen sich andere Toilettenbesucher an ihr und schleifen die Schwerverletzte halbnackt über die Bühne. Dann taucht eine japanische Reisegruppe auf. Eigentlich wollen sie ja das historische Klo besichtigen, auf dem schon Kaiser Franz Joseph huldvoll seine Notdurft verrichtet haben soll. Doch dann nutzen sie wieselnd die Gelegenheit und fotografieren die Mißhandlung der Frau.

In diesem Stile geht es zwei pausenlose Stunden lang weiter. Jens-Daniel Herzogs Inszenierung (Münchner Kammerspiele) führt nur bizarre Zustände am Rande der Gesellschaft vor Augen, verweigert jederlei Sinngebung. Wie im abgedroschensten naturalistischen Drama wird alles in quälender Echtzeit durchlitten. Auch wenn die alte Toilettenfrau Horvath (Heide von Strombeck), die bei all dem Geschehen strickend dasitzt wie eine Höllenwächterin, einmal die Emailschüsseln reinigt, sehen wir das ungekürzt.

Welche Kultur-Mafia steckt wohl dahinter?

Irgendwann denkt man: Welche Kultur-Mafia hat nur dieses Werk in die Auswahl zum besten Stück des Jahres bugsiert? Natürlich sollte man sich an diesem Punkt sogleich selbstkritisch fragen, woher das Unbehagen kommt. Liegt’s daran, daß man so hilflos im Sessel sitzt, jeglicher Gewalt optisch ausgeliefert? Und warum erträgt man Abbilder der Realität in den Fernsehnachrichten so viel kühler?

Doch derlei Gedanken machen das jammervolle Abort-Stück, das aus unerfindlichen Gründen mit Mythen aus Antike und Hollywood-Kino durchsetzt ist, kaum besser. Diese Mythen werden mit in den apokalyptischen Orkus gezogen: Spülung betätigen und weg mit dem ganzen Abendland. Wenn denn Marlene Streeruwitz als große Hoffnung des deutschsprachigen Theaters gilt, so lasset uns verzagen!

Theater auf dein Rückzug – das gilt auch für Volker Brauns „Iphigenie in Freiheit“. Der Ex-DDR-Autor trauert dem zweiten deutschen Staat oder einer verbesserten Neuauflage desselben nach. Er verdeutlicht seine Resignation in einem Kalauer: „Wir sind das Volk“ habe es einst geheißen, jetzt nur noch: „Ich bin Volker.“ Rette sich, wer kann – vor der Wiedervereinigung. Doch da ist keine Rettung, nur Vereinzelung; so auch bei jener Iphigenie, die gleichsam an den Westen verhökert wird und darüber bittere Klage erhebt.

Das Staatstheater Cottbus (Regie: Karlheinz Liefers) müht sich, den wie eine Ursuppe wirkenden Text zu gliedern. Die Chorpassagen erinnern in ihrem Stakkato an Agitprop. Doch das Ensemble steht auch für individuelle Sprechkultur. Trotzdem: Viel mehr, als diesen an der Bühne vorbei geschriebenen Text zu Gehör zu bringen, vermag man nicht.

Nun folgen beim Mülheimer Wettbewerb noch Stücke von Peter Handke, Dea Loher und Rainald Götz. Hoffen wir also darauf.

 




Die Kinder der Revolte machen bruchlos weiter – Das legendäre „Living Theatre“ bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. So kann man’s machen: Auf der Hinfahrt zum Theater den Cassettenrecorder oder Walkman mit Musik der 60er Jahre laden. Mit Stones, Doors, Velvet Underground & Co. Dann ist man emotional ungefähr da, wo das „Living Theatre“ noch heute leibt und lebt: mitten in den Jahren der Revolte.

Die Kinder dieser Zeit machen bruchlos weiter, als sei seit jenen 60ern nichts geschehen. Diesen Eindruck, von dem man nicht recht weiß, ob man ihn verheißungsvoll oder befremdlich finden soll, nimmt man aus Recklinghausen mit. Dort tritt die legendäre New Yorker Theatertruppe bei den Ruhrfestspielen auf. Steckbrief: 1951 von Julian Beck (†) und Judith Malina gegründet, in den 60er Jahren d a s freie Theater überhaupt und eine Mutter der Alternativ-Szene. „Paradise Now“ hieß das bekannteste Projekt, der Aufschrei einer Generation.

Das neue Stück „Rules of Civility“ (etwa: Anstandsregeln) entstand durch Zufall. Bei einem Ausflug kam die Gruppe, die bis heute als Kommune zusammenlebt, in ein Nationalmuseum. Man fand dort eine Broschüre über den US-Gründervater George Washington (1732-1799). Der vermeintliche Erz-Demokrat hatte in 110 Regeln dargelegt, wie er sich das rechte Leben vorstellte. Essenz: Immer schön Respekt vor den Höhergestellten haben. Und immer saubere Fingernägel vorzeigen.

Sonnenklar, daß ein solches Korsett den Nachfahren von ’68 mißfällt. Das „Living Theatre“ zeigt nun, mit recht simplen darstellerischen Mitteln, wie solche Regeln, wenn sie von Menschen gegen Menschen durchgesetzt werden, direkt den menschlichen Körper betreffen, ihn gewaltsam einschnüren, zurichten, zurechtbiegen.

Sie sind so naiv und so schrecklich sympathisch

Die Darsteller schwärmen auch, nach ihrer Gewohnheit, ins Publikum aus und rufen damit Angstlust im Parkett hervor. Alle 110 Paragraphen werden in der englischsprachigen Aufführung zitiert und musikalisch unterlegt, der Präsidenten-Patriarch betritt als Doppel-Figur (Erwachsener und Kind) die Bühne. Hauptrequisit ist eine Ananas, die als Zeichen für Kolonialismus herhält.

Es wäre leicht, sich ironisch über die Sache herzumachen, so naiv bezieht das „Living Theatre“ George Washington auf die Gegenwart. Dessen Regeln, so ruft man uns inbrünstig von der Bühne aus zu, seien Regeln des Krieges — aus ihnen ableitbar sei Amerikas fatale Weltpolizistenrolle. Und alles, was sie uns gezeigt haben, sagen sie auch noch viele Male: All‘ diese Regeln müsse man brechen, dann werde die Welt besser.

Schön war’s ja: Wir alle benehmen uns spontan — und alsbald herrscht Frieden. Man möchte dem „Living Theatre“ seine Botschaft gerne glauben. Die Truppe ist so mit sich im Reinen, geradeaus und ehrlich. Sie sind gewiß nicht die besten Schauspieler, aber sie sind schrecklich sympathisch.

Im Grunde vollführt man ein Schattenboxen gegen Washington. Seine strikten Benimmregeln sind eh längst außer Kraft. Ja, vielleicht brauchen wir gar das Gegenteil: Mehr statt weniger Form im Zusammenleben. Wenn auch nicht im stocksteifen Sinne Knigges oder Washingtons.

Aber der Schluß ist stark: Da ziehen die Leute von „Living Theatre“ in einer Lichterprozession mit dem Publikum ins Freie – zur stillen Meditation. Rund ums „Depot“ hört man nun Vogelstimmen in der Abenddämmerung. Wer weiß: Vielleicht wird doch noch alles, alles gut…




…doch Heidegger stieg durchs Gebirge – Elfriede Jelineks „Totenauberg“ bei den Mülheimer Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Vor dem Juhnke-Rummel * hatten die Mülheimer Stücketage mit Elfriede Jelineks „Totenauberg“ begonnen, einem Drama über den Philosophen Martin Heidegger (1889-1976). Der war ein Brocken aus Granit.

In seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ genügte ihm der Begriff „Sein“ keineswegs. Er erfand z. B. auch noch „das Seiend“ und „die Seiendheit“ hinzu. Hut ab vor Elfriede Jelinek, weil sie – in Nachvollzug und Parodie – solchem Kauderwelsch eine poetische Sprache abgewann. „Totenauberg“, hier in der Fassung des Wiener Burgtheaters (Akademietheater) zu sehen, bezieht sich im Titel auf Heideggers Denkerklause im schwäbischen Todtnauberg. Derlei Wortspiele prägen den Text. Er stellt Heideggers Sprechblasen auf seine Weise so wirksam unter Verdacht wie 1964 Theodor W.Adornos Abrechnung („Jargon der Eigentlichkeit“).

Mehr noch. Das Stück konfrontiert den greisen Philosophen, der sich als Freiburger Uni-Rektor emsig mit den Nazis einließ (der Geistesriese als Moralzwerg), mit der jüdischen Denkerin Hannah Arendt. Die war als junges Mädchen in Heidegger verliebt – und wurde 1933 ins Exil getrieben, just als Heidegger seine großdeutsche Erweckung erlebte.

Trotzdem ist das Stück keine Heidegger-Schelte, sondern eine graue Litanei. Ein Alptraum aus Worten. Frau Jelinek versetzt die langen Monologe mit Passagen über furchtbar-fruchtbare Mutterschaft, Tötung „ungesunden“ Lebens, Tourismus, Naturzerstörung, Heimat, Fremde und Exil. Da tun sich Wunden auf, die auch in der Gegenwart nicht verheilt sind.

Österreichs Alpen bilden die Kulisse. Die Schauspieler müssen auch wirklich Text-Berge bewältigen, die Regisseur Manfred Karge freilich (bis an den Rand des Zulässigen) abgetragen hat. Hätte er nicht ein so großartiges Ensemble (u. a. Martin Schwab, Therese Affolter, Lore Brunner), wäre jeder Gag eine Qual. Das Ganze ist nicht für die Spielpraxis geschrieben, es ist eine harsche Herausforderung an die Bühne. Aber Jelineks kunstvolle Sprache will nicht nur gelesen, sondern gesprochen und gehört sein. Also doch eine Theatersache, wenn auch eine sperrige.

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* Juhnke-Rummel: Peter Turrinis Stück „Alpenglühen“ konnte in Mülheim nur als Lesung aufgeführt werden, weil Hauptdarsteller Harald Juhnke kurzfristig ausfiel… (darüber berichtete der WR-Kollege Rolf Pfeiffer).




Leergepumptes Herzensbett – Jeanette Wintersons schwülstiger Liebesroman „Auf den Körper geschrieben“

Von Bernd Berke

Lassen wir Jeanette Winterson und ihre Übersetzerin für sich selbst sprechen.

Seite 89: „Sie wölbt ihren Körper wie eine Katze, die sich streckt. Sie drückt mir ihre Muschel ins Gesicht wie ein Füllen am Gatter.“ Hei!

Seite 100: „Sie küßte mich, und in ihrem Kuß lag die Komplexität der Leidenschaft… Ich war schüchtern wie ein ungezähmtes Fohlen.“ Mh!

Seite 124: „Ein Schatz war uns in die Hände gefallen, und der Schatz waren wir selbst füreinander.“ Aha!

Seite 138: „Ich will kein Kissen, ich will dein lebendiges, atmendes Fleisch.“ Ja, wer würde da schon ein Kissen vorziehen?

Seite 160: „Die körperliche Erinnerung tappt durch die Tür herein, die der Geist zu versiegeln trachtete.“ Wie bitte?

Seite 227: „In dem leergepumpten, ausgetrockneten Bett meines Herzens…“ Man sieht sie direkt vor sich, diese Schlafstatt. Vermutlich eine Luftmatratze.

Genug der Zitate. Man könnte sie, in ähnlicher Stilblüten-Güte, seitenweise fortsetzen.

Das Buch „Auf den Körper geschrieben“ (armer wehrloser Körper) kreist, wie man schon ahnt, um Liebe. Und ist es auch sonst elend geheimnislos, so läßt es doch über einen Umstand rätseln: Ist die Erzählerfigur, die da reihenweise Frauen erobert und dann stammelnd einer ganz großen Leidenschaft zu einer krebskranken Arztgattin anheimfällt, Männlein oder Weiblein? Da an keiner Stelle „penetriert“ wird und die Autorin bekennende Lesbierin ist, darf man getrost von Möglichkeit Nummer zwei ausgehen. Doch im Grunde ist auch das nicht interessant. Denn ganz gleich, um welche Ausprägung von Liebe es hier geht – sie wird unter Schwulst begraben. Nichts, aber auch gar nichts gegen einen großen Roman über lesbische Liebe. Aber vieles gegen derlei haltloses Geschreibsel.

Als „kluges, rätselhaftes, erotisches Buch“ preist der Verlag das Werk der britischen Bestseller-Autorin. an, die nun offenbar alle literarischen Skrupel fahren läßt. Man bekommt direkt Angst vor Frevel, wenn sie große Vorbilder wie Shakespeare oder das biblische Hohelied der Liebe aufgreift.

Auch die Übersetzung scheint ihren Teil zum Unglück beigetragen zu haben. Kostprobe: „War es um die verlorene Verbindung zu den Großen und Würdigen der Gesellschaft.oder war es um ihre Tochter?“ Ja, um was wird es denn wohl gewesen sein?

Hat das Lektorat des Fischer-Verlages geschlafen?

Jeanette Winterson: „Auf den Körper geschrieben“. Roman. Aus dem Englischen von Stephanie Schaffer-de Vries. S. Fischer Verlag. 236 S., 36 DM.




Was rund um den Turm von Babylon geschah – Münsteraner Ausstellung über die biblisch berüchtigte Stadt

Von Bernd Berke

Münster. Wer gelegentlich Reggae-Songs hört, kennt die Formel: Viele politisch bewußte Schwarze verwenden heute das Wort „Babylon“ als Schlüsselbegriff, der die Verderbnis der ganzen westlich-weißen Kultur meint. Das Stadt-Bild aus der Bibel wirkt mächtig bis in unsere Tage weiter. Jetzt rankt sich die archäologische Ausstellung „Wiedererstehendes Babylon“ in Münster um Legende und Wirklichkeit des berühmten Turmbaus zu Babel.

Die Wissenschaft weiß heute ziemlich genau Bescheid über den Turm, mit dem laut Bibel (Buch „Genesis“) überhebliche Menschen so hoch hinaus wollten, daß sich zur Strafe ihre Sprache verwirrte. Der historische Bau aus der Zeit Nebukadnezars (604-562 v. Chr.) hatte eine Grundfläche von etwa 90 mal 90 Metern. Man kann die Kantenlänge einer Seite sogar zentimetergenau mit 92,13 m angeben. Die Höhe dürfte rund 90 Meter betragen haben. Ein Modell in der Münsteraner Ausstellung gibt den neuesten Stand der Forschung wieder. Aber auch einige künstlerische Phantasien über den Turmbau sind zu sehen.

Der Koloß ist von Fronarbeitern errichtet worden, darunter auch Juden. Später wurde er mehrfach geschleift und überbaut. Im obersten Geschoß des frühen Wolkenkratzers befanden sich Kulträume, u. a. ausgestattet mit einem goldenen Bett, in dem der König an hohen Feiertagen der obersten Priesterin beiwohnte — eine religiöse Zeremonie der Fruchtbarkeit…

Doch nicht nur über den Turm gibt die Ausstellung Auskunft, sondern auch über einige Aspekte babylonischen  Alltags. Leitlinie der in Berlin entwickelten, aber mit rund 80 Exponaten aus westfälischen Sammlungen angereicherten Schau, sind die 1898 begonnenen Ausgrabungen der deutsehen Orient-Gesellschaft. Damaliger Zeithorizont: Die Deutsehen wollten, wie leider auch auf anderen Gebieten, „Weltgeltung“ erlangen, indem sie mit dem Louvre und dem British Museum gleichzogen.

Zur Münsteraner Schau mit ihren 235 Original-Exponaten gehören z. B. Schminktöpfe, Münzen, mühsam zusammengesetzte Scherben (Löwen-und Drachen-Darstellungen für einen Prozessionsweg) oder Keilschrift-Tafeln. Kurios: ein Täfelchen mit ganz verschlungenen Strichen. Die scheinbar nur ornamentalen Schlangenlinien sind in Wahrheit Lehrbeispiele für Gedärme-Lagen, nach denen man per Eingeweideschau die Zukunft prophezeite.

Zurück in die Gegenwart: Babylon liegt auf dem Gebiet des heutigen Irak. Bis 1978 ließen die Irakis auch internationale Grabungsteams zu, seither machen sie allein weiter. Die Sache gilt als nationale Aufgabe im Sinne Saddam Husseins, der sich gern als Erbe  einer Weltkultur sähe. Im Golfkrieg von 1991 sei, so Münsters Museumsleiter Dr. Harald Polenz, die Gegend von Babylon nicht betroffen gewesen.

„Wiedererstehendes Babylon“. Westfälisches Museum für Archäologie, Münster, Rothenburg 30 (Nähe Domplatz). 16. Mai bis 22. August. Tägl. außer Mo. 10-18 Uhr. Begleitheft 15 DM.




Literatur im Zeichen der Zahlenmystik – ein großer Roman dieser Zeit

Dieser Roman kommt mit enzyklopädischem Anspruch daher: Von Aach (Allgäu) bis Zyfflich (Niederrhein) will er Sein und Wesen der deutschen Nation faßbar machen. Das Titelbild – ein fast fertiges Puzzle dieses Landes – signalisiert ein spielerisches Element, doch enthält es auch einen subtilen Verweis auf Grübelzwang.

Das Leitmotiv einer anderen deutschen (Un-)Tugend wird hier auch schon früh angeschlagen: „alphabetisch geordnet“, heißt es da. Nur: Im Laufe der Lektüre wird klar, daß auch labyrinthisches Chaos in diesem Kosmos Platz hat. Der Autor, von dem wir hier den ersehnten Roman unserer Generation haben, bleibt ungenannt. Wie viele der ganz Großen {Shakespeare, Thomas Pynchon) tritt er hinter sein Oeuvre zurück und bleibt selbst eine Rätselfigur. Er geht mitunter sehr behutsam vor. Zitat Seite 395, aus dem furiosen Kapitel „Dortmund“: „Am Ostheck 44309 – Am Ostpark 44143 – Am Overhagen 44319″.

Die Wahrheit wird umschmeichelt

Also nicht gleich „Im“, sonder „Am“, später manchmal auch „Zum“. Keine faustische Suche nach der Weltformel, sondern vorsichtige Annäherung an die Gegenstände. Literatur der kleinen Schritte. Bewußtsein, daß nicht alles sagbar ist. Wahrheit wird nicht im Sturm erobert, sondern umschmeichelt.

Fast im selben Atemzug bezieht sich der Autor (oder: die Autorin?) auf eine machtvolle Tradition aus Bibel und Mittelalter: Zahlenmystik! Symbolkräftig die fünfstelligen Ziffern – scheinbar präzise und doch abstrakt, losgelöst von allem Wirklichen. Wann hat man zuletzt so sparsame und lakonische Prosa genießen dürfen?

Ganz im Sinne der Post-Moderne

„Das Postleitzahlenbuch“ (Verlag Postdienst — Deutsche Bundespost, 986 Seiten) ist in der deutschen Nachkriegsliteratur bestenfalls mit Monumentalwerken wie Arno Schmidts „Zettels Traum“ zu vergleichen. Ganz im Sinne der Post-Moderne sammelt es, scheinbar unterschiedslos, historische Bestände aus allen Epochen ein – von der Luthergasse über die Goethestraße bis zum Adenauerplatz.

Zugleich will der Autor Kunst und Leben innig verbinden. Kein Rückzug in den Elfenbeinturm, sondern festes Vertrauen auf alltägliche Anwendbarkeit von Literatur. Man kann dieses Buch auch in froher Runde nutzen, für Ratespiele etwa. Besonders Teil zwei — weit ausgreifender historischer Exkurs im Gewand eines Straßenverzeichnisses von 209 Gemeinden — bietet hierfür unschätzbare Materialien. Wo existiert noch eine Karl-Marx-Straße? Gibt es mehr Goethe- oder mehr Schillerstraßen? Und dann das „Ortsteileverzeichnis“. Zitat: „Kreuzberg — Schöneberg — Tiergarten“. Welche Fülle von Assoziationen in diesem Dreiklang!

Durchweg herrscht zeitgemäßes Verständnis von Literatur: Der Text ist nur ein Angebot, der Rezipient (sprich: Leser) muß es bei der Lektüre vollenden. Konsequent wird dies hier durchgehalten —bis zum Schluß, wo man unter der Überschrift „Ihr persönliches Postleitzahlenbuch“ Raum für eigene Kreativität findet.

                                                                                                                Bernd Berke




Jannis Kounellis: Die Kunst erhebt sich aus der Asche

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Wir sind hier nicht in der Luxus-Abteilung: Drahtgitter, verschmutzte Leinensäcke, rostender Stahl, nackte Glühbirnen. Bruchstücke von Kohle. Bei Jannis Kounellis scheint die Kunst beinahe buchstäblich in Sack und Asche zu gehen.

Ist Kounellis ein Büßer inmitten der genußsüchtigen Konsumwelt, eine asketische Gegenfigur etwa zu Andy Warhol, dem Schöpfer der schicken Oberflächen; hingegen ein Bruder des Herrn Joseph Beuys mit Fett und Filz?

Der weltbekannte Kounellis, dem die Ruhrfestspiele jetzt eine große Einzelausstellung widmen, stammt aus Piräus/Athen. Seit vielen Jahren lebt er in Rom. Zeugnisse der Antike umgeben ihn, seit er die Augen aufschlug. Vielleicht wirken deshalb manchmal die Materialien, die er benutzt, als seien sie aus vagen Vorzeiten übrig geblieben, als habe keine Künstlerhand sie je berührt.

Doch gewiß hat das alles mit uns zu tun und gehört ganz ins Heute: Da steht etwa ein schlichtes Eisenbett, belegt mit staubigen Decken. Eine Asyl-Szenerie? Nur nicht vorschnell das Naheliegende hinzudenken. All das will erst einmal ausgiebig betrachtet sein. Freilich: Schräg gegenüber hängen einige ausgebeulte Mäntel. Tatsächlich könnte es also um das Thema Bleibe und Flucht gehen. Doch Vorsicht! Kounellis entwirft keine bildhaften Situationen, um damit etwas zu kommentieren. Er baut Energiefelder. Und in denen erhebt sich die Kunst, die doch in Sack und Asche zu gehen schien, zuweilen wie ein Phönix.

Kohlestücke, sorgsam nach Größe mit Drähten eingefaßt, hängen von der Decke herab. Rätselhaftes Rudel. Was von ganz unten, tief aus dem Bauch der Erde kommt, schwebt plötzlich über dem Betrachter. Dann findet man Kohle auf Stahlplatten wieder. Das „schwarze Gold“ ist nun so angeordnet, daß es wie eine urtümliche Schrift wirkt: ein Stück – ein Wort; zwei oder drei Stücke – ein Satz.

Kohle und Stahl. Da war doch was? Tatsächlich hat sich Kounellis vor dieser Ausstellung im Ruhrgebiet umgetan. Und tatsächlich passen diese Montan-Materialien wie angegossen zu seiner „arte povera“, jener „armen Kunst“ also, die sich mit unscheinbaren Stoffen begnügt. Es ist, als habe er von jeher damit gearbeitet. Mehr noch: Die Kunsthalle Recklinghausen, ehemaliger Weltkriegs-Bunker, eignet sich in ihrer etwas rohen Anti-Architektur hervorragend gerade für diese Ausstellung. Kounellis hat sogar dafür gesorgt, daß nachträgliche Einbauten, Ecken und Kanten in der Kunsthalle wieder entfernt wurden.

Erstmals geben die Ruhrfestspiele einem einzelnen Künstler solch breiten Raum. Das war eine weise Entscheidung. Denn Werke von Kounellis kommen erst wirklich zur Geltung, wenn sie ungestört einen ganzen Ort „besetzen“ und durchdringen können.

Jannis Kounellis. Kunstausstellung der Ruhrfestspiele. Kunsthalle Recklinghausen. 2. Mai bis 11. Juli. Di-Fr 10-18 Uhr, Sa/So 11-17 Uhr. Katalog 35 DM.