Puppenbild am Beichtstuhl, Krücken an den Wänden – Kunst kehrt in die Kirche zurück

Von Bernd Berke

Münster. An die Wände der Lambertikirche hat jemand lauter Krücken gestellt. Im selben Gotteshauses hängt, gleich neben dem Beichtstuhl und scheinbar höchst unpassend, ein im „wilden“ Stile gemaltes Bild, auf dem Kinder mit einer zerstörten Puppe zu sehen sind. Und in der Überwasser-Kapelle hat sogar einer die Wände vollgeschrieben. Welche Frevler waren da am Werk?

Gar keine. Es geht um eine Aktion, mit der in Münster das schwierige Verhältnis zwischen Kunst und Kirche ausgelotet wird. Seit Maler und Bildhauer in die Abstraktion abgewandert sind, fanden Amtskirche und praktizierende Christen die Werke nicht mehr anschaulich genug – und damit untauglich zur Glaubensvermittlung.

Bis zum 18. Jahrhundert schienen Kunst und Kirche verschwistert, dann riß die Verbindung zusehends. Hinter dem Münsteraner Projekt „Gegenbilder“, das Arbeiten von 13 Künstlern in vier Kirchen versammelt, stehen Vertreter der beiden großen christlichen Konfessionen als Beiräte. Für die Auswahl war der Galerist und Kunstvermittler Eberhard Lüdke zuständig: „Anfangs bin ich auf Widerstand gestoßen“, bekennt er. Doch Gespräche mit den Gemeindevorständen hätten manches Mißtrauen beseitigt. Ein Begleitprogramm soll nun das Thema vertiefen. Die Kirchenbesucher werden mit Hinweistafeln eingestimmt.

Ein geschlossenes und ein allseits offenes System

Lüdke zum Kern des Problems: „Die Kirche ist ein eher geschlossenes System, die Kunst ein allseits offenes. Das erzeugt Reibung.“ Die Kunst richte ihr Augenmerk eben auf die Zersplitterung der Welt, die Kirche auf den großen Zusammenhang. Desto mehr war Lüdke überrascht, wie bereitwillig die Künstler mitwirkten; geradezu, als hätten sie auf den Anstoß gewartet und als habe das Thema in der Luft gelegen.

Auch bekanntere Größen wie Stephan Balkenhol und Tony Cragg sind dabei. Sie fertigten ihre Arbeiten eigens für Münster an, um auf räumliche Gegebenheiten einzugehen. Mischa Kuball bedient sich der Bildprojektion, Jan van Munster verpaßt dem Steinfußboden irritierende Muster, Stephan Balkenhol hat zwei nackte Holzfiguren geschnitzt: Adam und Eva. Mark Formarek stellt einen Automaten auf, der auf Knopfdruck Trostworte spendet, und Dieter Kießling hat einen Kunst-Brunnen ans Taufbecken platziert.

Norbert Rademacher stellte die erwähnten „Krücken“ auf, die sich ästhetisch in die Säulen-Ordnung der Kirche einfügen. Es sind Pilgerstöcke, also keineswegs unchristliche Gegenstände. Überhaupt ist das Wort „Gegenbilder“ nicht als Attacke zu verstehen, sondern im Sinne eines behutsam-kritischen, freundlich gestimmten Gegenübers. Ganz klar: Ausgesprochene Kirchenfeinde oder Tempelstürmer wurden gar nicht erst eingeladen.

Fragt sich, was geschieht, wenn die Ausstellung vorbei ist. Möglich, daß etwa die Schriftzüge in der Überwasserkirche übertüncht werden. Möglich auch, daß es hier und da zu Ankäufen kommt. Welche Gemeinde hat Mut?

„Gegenbilder“. Münster (Apostel-, Dominikaner-, Lamberti- und Überwasserkirche). Bis 31. Oktober, tägl. 10-18 Uhr. Katalog 20 DM. Infos/Führungen 0251/25687.




Dem alten China ins Auge blicken – Famose Dortmunder Ausstellung „Chinas Goldenes Zeitalter“

Von Bernd Berke

Dortmund. Unter einer Besucherzahl von 200.000 fängt man in Dortmund gar nicht erst zu rechnen an. Doch es ist keineswegs Größenwahn, was Macher und Förderer der großen Dortmunder Ausstellung zur Tang-Dynastie gestern an den Tag legten. Wenn es nach Bedeutung und Qualität geht, müßte „Chinas Goldenes Zeitalter“ die Erfolgs-Schätzungen tatsächlich spielend übertreffen.

Selten wird man eine archäologische Ausstellung finden, bei der man einer fernen Vergangenheit so direkt ins Gesicht blicken kann. Es ist kaum zu fassen, wie unmittelbar und frisch die Exponate wirken. Besonders die Gesichter der Menschenfiguren zeugen von einer vitalen Charakterisierungs-Kunst, die einen sofort gefangen nimmt. Die Kameltreiber und Reiter aus „grauer Vorzeit“ sind z. B. mit Blicken und Bewegungen dargestellt, als hätten sie gestern noch gelebt. Wenn man es nicht wüßte, würde man gar nicht glauben, daß all diese kostbaren Stücke aus der Zeit von 618 bis 907 n. Chr. stammen.

Die „Inszenierung“ der Dortmunder Schau hat das Ihre geleistet, um die Objekte ins rechte Licht zu rücken. Geradezu ein erhabenes Gefühl vermittelt jener Gipfelpunkt der Ausstellung rund um den 18 Tonnen schweren Sarkophag des altchinesischen Heerführers Li Shou. Hier hat man eine Achse gebildet, so daß die Besucher durch ein Portal auf eine steinerne Schildkröte (sie birgt die Grabinschrift) blicken. Dahinter erhebt sich machtvoll der Sarkophag.

Doch neben solch monumentalen Momenten hält der Rundgang auch viele, gleichsam intimere Situationen bereit. Man kann mit den Exponaten beinahe vertraulich werden, so geschickt sind sie zwischen den „Wänden aus Leinentüchern verteilt, die die Abfolge der 120 Prunkstücke gliedern. Einziger Nachteil: Bei großem Andrang dürfte es zwischen den zeltartig gehängten Bahnen etwas eng werden.

Die Damen waren frei – und modisch

Die Tücher sind eine dezente Anspielung auf die berühmte Seidenstraße, an deren Endpunkt die alte chinesische Hauptstadt Chang’an (heute Dortmunds Partnerstadt Xi’an) lag. Handel und Wandel entlang der Seidenstraße belegen u.a. alte Münzen und Darstellungen fremdländischer China-Gäste mit imposanten Bärten.

Von Chang’an ausgehend, erfuhr das Reich der Mitte in der Tang-Dynastie eine Blüte. die bis heute wirkt. Sogar Rockgruppen nennen sich heute in China nach Tang-Begriffen. Kein Wunder! Es war, zumindest für den Adel, eine Epoche der Freiheit. Auch Frauen lebten freizügig und selbstbewußt. Die Sache mit den eingeschnürten Krüppel-Füßchen kam erst viel später.

Doch der Mode huldigten auch die Tang-Damen. Einige herrlich farbige Stücke beweisen es. Anhand dieser Frauenfiguren kann man sogar den Wechsel der Haartrachten und Kleider studieren. Auch der Körperbau war der Mode unterworfen. Anfangs hatte man(n) es lieber schön schlank, ab dem 8. Jahrhundert dann gern etwas fülliger. Und die Spiegel, in denen sich die Schönen betrachteten, sieht man in Dortmund auch.

Spektakulärer als die Terrakotta-Schau

Famos die handwerkliche Qualität der Keramik. Makellos weißes Steinzeug ist hier zu sehen, wie es in jener Zeit schwerlich anderswo auf der Welt entstanden sein dürfte. Dazu all‘ die prachtvollen Löwen wen und Drachen, die buddhistischen Skulpturen und Schriftsäulen (Stelen) – man kommt aus dem Staunen nicht heraus. Die 1990 in Dortmund gezeigte Terrakotta-Ausstellung, die eher militärische Aspekte hervorhob, war weniger spektakulär.

Wer wollte es unter diesen glücklichen Umständen den chinesischen Ausstellungs-Partnern verdenken, daß auch sie am Erfolg teilhaben wollen. Acht Prozent der Eintrittsgelder fließen ihnen zu. Außerdem bekamen sie 300 000 Dollar „Bereitstellungsgebühr“. Dafür übernahmen sie auch einen Teil der schwierigen Transportarbeiten.

Schließlich: Dortmund erhofft sich gegen starke Konkurrenz u. a. in Essen („Von Monet bis Picasso“) und Hildesheim („Bernward und die Ottonen“) von der Ausstellung erheblichen Image-Gewinn und viele Besucher von außerhalb, die Kaufkraft mitbringen.

„Chinas Goldenes Zeitalter“. Dortmund. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Königswall 14. Ab Sonntag, 22. August. Bis 21. November. Täglich 10 bis 20 Uhr. Eintritt 12 DM. Katalog (312 Seiten) 44 DM.

 




Kunst aus Afrika in Aachen: Ganzer Kontinent in einem Topf

Von Bernd Berke

Aachen. Eine Ausstellungsserie in Aachen soll uns den unbekannten Kunst-Kontinent Afrika näherbringen. „Auf der Suche nach Afrika“ heißt das Projekt im Ludwig Forum, der kulturfreundlich umgebauten ehemaligen Schirmfabrik.

Zum Auftakt zeigt man jetzt afrikanische Gegenwartskunst. Aber was heißt schon Gegenwart? Herkömmliche Arbeiten wie Fetisch-Objekte und Masken gehören ebenso zu der Schau wie plakative Malerei gegen Kolonialismus, die der Bildwirkung offenbar nicht recht traut und sie mit Texten stützt. Bunte Werbetafeln (etwa für einen Friseursalon), „naiv“ anmutende Genrebilder und Installationen im Stile der Westkunst erweitern das Spektrum.

Viele Arbeiten thematisieren die Spannung zwischen dem Althergebrachten und dem Fortschritt westlicher Prägung direkt. Cheri Samba aus Zaire malt eine schwarze Frau, die knallbunten Träumen von Luxus nachhängt. Koffi Kouakou von der Elfenbeinküste hat einen Computer-Laptop aus dem Traditions-Werkstoff Holz geschnitzt. Trigo Piula aus dem Kongo zeigt eine Mutter, die ihrem Baby nicht die Brust gibt, dafür aber von lauter Dosennahrung multinationaler Konzerne umzingelt ist. Ihre Identität ist denn auch gespalten: Auf dem schwarzen Körper sitzt – wie aufgeschraubt – ein weißer Kopf mit blonden Haaren.

Schneeweißes Auto als Sarg

Kane Kwei aus Ghana hat kuriose Kunst-Särge in Form eines Elefanten oder gar einer Mercedes-Limousine entworfen. Das ist nicht etwa parodistisch oder im Sinne der Pop art gemeint, sondern ganz ernst. Ein schneeweißer Benz gilt in Afrika als allgemeine Pathosformel für paradiesische Zustände.

Nach der Aachener Auswahl zu urteilen, bedient sich afrikanische Kunst vorzugsweise der verständlichen, volksnäheren Formen, sie ist mehr auf Kommunikation ausgerichtet und nicht so sehr auf hypersensible Ich-Suche der Künstler. Außerdem scheint man großen Wert aufs Handwerkliche zu legen. Manchmal ist es tatsächlich goldener Boden, auf dem sich Phantasie erhebt, Aber vielfach sieht man auch bloßes Kunsthandwerk.

Auswahl in New York getroffen

Doch der teilweise unbefriedigende Eindruck hat wohl auch mit dem Auswahlverfahren zu tun. Ohne afrikanische Experten heranzuziehen (weil der Umgang mit ihnen eminent schwierig sei), hat man die Schau freihändig von New York aus zusammengestellt. In Aachen wiederum sieht man mit 89 Stücken nur einen Teil der US-Version. Das ist einfach zu wenig, zumal man praktisch den gesamten Erdteil darstellen will, ohne nach Ländern zu unterscheiden. Wenn afrikanische Museen so pauschal mit Europa umsprängen, wären Spott und Aufregung groß.

Jedenfalls: Man sollte vorsichtig sein mit seiner Einschätzung. Denn wir sehen diese Werke mit europäischen Augen. Und das wird ihnen möglicherweise gar nicht gerecht.

„Auf der Suche nach Afrika“. Ludwig Forum, Aachen (Jülicher Straße 97-109). Ab sofort bis 24. Oktober. Di/Mi 11-22 Uhr, Do/Fr/Sa/So 11-19 Uhr. Katalog in englischer Sprache

 




Am Lebensabend ist die Illusion zerstoben – B. S. Johnsons erstaunliche Altenheim-Geschichten aus neun verschiedenen Perspektiven

Von Bernd Berke

Ein Autor, der in Deutschland immer noch „entdeckt“ werden kann (und sollte), ist der Engländer B. S. Johnson (1933-1973). Verdienstvoll, daß der Schneekluth-Verlag eine Werkausgabe in sieben Bänden ediert. In diesem Zusammenhang ist nun auch der Prosaband „Lebensabend. Eine geriatrisehe Komödie“ erschienen. Und das ist ein phänomenales Buch.

Johnson läßt uns die inneren Monologe einiger Altenheim-Insassen miterleben. Die acht Greise und Greisinnen sinnen alle über den selben Zeitabschnitt des selben Tages nach, von dem man also nacheinander aus acht verschiedenen Perspektiven erfährt.

Es beginnt mit einem Essen und offenbar nervtötender Heimarbeit, die die Alten für die Hausmutter ausführen müssen (sie kleben Knallbonbons zusammen), findet einen vorläufigen Höhepunkt in einer lächerlich optimistischen Senioren-Hymne, die die Greise zu singen haben – und mündet in „Ertüchtigungs“-Spielchen (z. B. ein bizarres Rollstuhl-Wettrennen) oder einen läppisch-schlechten Scherz rund um ein Päckchen, in dem sich Hundekot befindet. All‘ das schält sich aber erst ganz allmählich aus den zumeist stockend vorgetragenen Monologen heraus.

Am Schluss redet die resolute Hausdame

Johnson zeigt nun nicht nur, wie grundverschieden die acht alten Menschen das teilweise bedrückend groteske Geschehen erleben, wie ihre Gedanken in diverse Vergangenheiten und auch Verrücktheiten abschweifen. Jeder Figur gibt der Autor genau 21 Seiten. Und er benennt vorher – wie in einem ärztlichen Bulletin – ihre geistigen und körperlichen Gebrechen. Bei einem etwas verwirrten alten Mann etwa bildet sich der Gedankengang in lauter Sinnsprüngen oder gar in großen weißen Lücken auf den Seiten ab.

In jedem Abschnitt aber erfährt man vor allem, gleichsam aus intensiver „Innenansicht“, etwas von den Leiden des Alters, von verlorenen Illusionen und zerstobenen Lebensträumen. Das Buch weitet sich zu einer ebenso tiefgründigen wie leicht vorgetragenen Studie zum Prozeß des AIterns überhaupt.

Ein weiterer Clou kommt am Schluß. Da läßt Johnson als neunte Person die Hausdame reden, die all jene Spielchen und Arbeiten veranlaßt hat und die bereits die ganze Zeit als beängstigende Figur durch die Monologe der alten Leute gegeistert ist.

Erst hier erfährt man, wie obszön ihre Veranstaltungen wirklich waren und welche Theorien über Leben, Tod und Alter sie sich dazu zurechtgelegt hat. Am Ende fragt sich der Leser durchaus irritiert: Ist sie nun eine Wohltäterin mit reichlich derben, aber erprobten Methoden – oder ist sie eine Fürstin der Vorhölle?

B. S. Johnson: „Lebensabend – Eine geriatrische Komödie“. Schneekluth Verlag. 204 Seiten. 34 DM.




Zwischen Duschvorhängen und Ententüchern – Max Goldts Glossen aus dem schrägen bundesdeutschen Alltag

Von Bernd Berke

„Seltsam, daß er nie mit diesen knochigen, verbiesterten Squash-Spieler-Typen mit ihrem Ringelpiez-Humor und ihren Kater-Garfield-Duschvorhängen konfrontiert wurde, die (…) ihre solariumsverkokelten Hände falteten und altjüngferlich flöteten: Also, ich kann auch ohne Alkohol fröhlich sein …“ – Jawohl. Man sieht sie leibhaftig vor sich, diese Leutchen!

Derlei Beobachtungen gelingen Max Goldt in seinen Glossen häufig. Der Mann ist Kolumnist des Satireblattes „Titanic“ und hat sich mit „Onkel Max‘ Kulturtagebuch“ seine Fangemeinde erschrieben. Kennzeichen an der Oberfläche: fröhlich-kreatives Chaos. Doch Goldt kann erzkomisch und ernsthaft sein, manchmal im raschen Wechsel, manchmal gar beides zugleich. Hinter jeder Satzbiegung kann es wieder um was ganz anderes gehen. Das macht die Sprache geschmeidig. Dabei denkt und schreibt er wohltuend unaufgeregt, jedem Getue abhold. Und sehr oft, besonders, wenn er sich mit „Szene“-Moden befaßt, denkt man: „Da sagt’s mal einer!“

Man lese und genieße: Wie er die allgegenwärtigen „Kulturschnorrer“ erledigt; was er über die Polit-Plänkeleien von Kabarettisten oder über die in Talkshows herumgereichten „Meinungsnutten“ denkt; wie er nervtötende Selbstdarstellungs-Rituale schwuler „Subkultur“ brandmarkt, was er z. B. von englischen Rocktexten, Silvesterfeiern, Rauchern, Volksfesten, Quittenfrüchten, schwatzhaften Kinobesuchern oder gar von „Ententuch-Matronen“ hält…

Und dann jene kleinen Pfennigs-Wahrheiten. Zitat: „Wer hat nicht schon mal in einer fremden Stadt im öden Hotelzimmer gelangweilt im Telefonbuch geblättert, um nachzuschauen, ob da vielleicht Leute mit unanständigen Nachnamen wohnen? Natürlich nur, um anschließend entrüstet zu sein über diese Bürger, die keine Anstalten machen, das behördlich ändern zu lassen.“

Auch viele Splitter ergeben ein Bild, es herrscht hier nicht das schiere Chaos. Ja, Max Goldt erscheint gar als Mann von früher Weisheit und von Grundsätzen. Er ist nicht der total „abgedrehte“ Freak, für den man ihn beim monatlichen Überfliegen seiner „Titanic“-Kolumne halten könnte.

Er läßt öfter mal durchblicken, daß er sich alles ein bißchen ruhiger, höflicher, gelassener wünscht auf der Welt. Wenn es auf dieser befriedeten Erde so kurzweilig zuginge wie in seinen Glossen, dann wäre es mächtig in Ordnung.

Max Goldt: „Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau“. Haffmans-Veriag, 302 Seiten, 28.50 DM.




Das Glimmen am Rande der Welt – „Das Piano“ von Jane Campion

Von Bernd Berke

Die meisten Filme kann man sofort miteinander beschwatzen – und dann recht schnell vergessen. Doch es gibt einige wenige, deren Erlebnis man erst einmal wirken lassen muß. bevor man Worte verliert. Zu diesen gehört „Das Piano“ von Jane Campion.

Gleich der Anfang ist gewaltig: Wann hat man einen derart heillos ausgesetzten Menschen gesehen wie jene Ada! Übers Meer ist sie nachNeuseeland gekommen, ans äußerste Ende der Welt. Die Natur spricht dort anders. Diese tosende Brandung. Diese fremden Farben. In solch unwirklicher Ferne kann Magisches geschehen, es kann sich aber auch das Tor zur Hölle öffnen. Und die erste Nacht des Wartens wird kalt sein. Ada (überragend: Holly Hunter) verbringt sie in Umarmung mit ihrer Tochter Flora. Diese Flora ist wie ihr Spiegel, später auch Zerrbild. Spiegel (und anonyme Augen) sind Leitmotive.

Erst am nächsten Morgen entwindet sich dem küstennahen Dschungel eine Gruppe von Maori, seltsam tätowierte Ureinwohner: Wesen der archaischen Traumzeit – oder doch nur Helfer des Buschfarmers Stewart? Mit diesem Mann ist Ada von ihrem Vater brieflich von Schottland aus verheiratet worden, hier draußen sieht sie ihn zum ersten Mal. Stewart (Sam Neill) hat ihr Bildnis bei sich. Doch kurz bevor sie sich begegnen, reißt er die Fotografie aus dem Rähmchen, um in den Spiegel darunter zu blicken. Ein erster kleiner Gewaltakt. Er hat ihre Würde verletzt, noch bevor er sie kennt. Jede folgende Geste des Mannes erlebt Ada als Riß. Man liest glühende Abwehr in ihren Augen und Gesten. Sie ist seit ihrer Kindheit stumm.

Am schlimmsten: Stewart will Adas Piano einfach am Strand stehenlassen. Dieses Instrument, das ist sie. Ihre Verbindung zur Welt. Verzweifelt will sie ihm das klarmachen. Doch der Mann bleibt hart. Auf dieser Ehe lastet ein Fluch.

Die Bilder sind wie Atemzüge

Vollkommen ruhig erzählt Jane Campion solche aufwühlenden Szenen. Mit kunstvollem Bedacht zeichnet sie Bilder, die geradezu ein- und ausatmen – ähnlich wie die von Michael Nyman komponierte Klaviermusik, die die Handlung durchweht.

Doch zwischendurch gibt es auch jene Seelenzustands-Bilder, bei denen man sekundenlang nicht weiß, wo oben und unten ist. Unterschwellig wachsen und wuchern die Emotionen. Im viktorianischen 19. Jahrhundert gibt es das: Hier genügt ein gewisser Lichtschein auf dem Haarflaum in der Halslinie einer Frau – und schon glimmt Leidenschaft. Sie erfaßt Stewarts Dschungel-Nachbarn Baines (Harvey Keitel), als er Ada Klavier spielen sieht. Da das Piano (durch einen Handel mit Stewart) in Baines‘ Besitz gerät, kommt es zu einer Vereinbarung: Ada kann es sich – Taste für Taste – zurückerobern, wenn sie Baines zu Willen ist.

Es geht nicht um blanken Sex. Baines will Ada beim Spielen zuschauen, dann ihre bloßen Schultern sehen. Und dann. Und dann. Sie tasten sich vor. Eros wie am unschuldigen Anbeginn, als werde all das soeben erfunden.

Das allmähliche Wachsen der Gier

Doch gerade das Allmähliche, Hauchzarte der Näherung entfacht auch in Ada ganz langsam die Gier. Und nun blickt s i e in den Spiegel…

Die späteren Eifersuchtsszenen erreichen einen Gipfel, auf dem einem schwindlig wird. Doch die stille Sensation des Films sind jene Grenzverwischungen, Durchlässigkeiten und Symbiosen zwischen den Figuren. Eine Leidenschaft spiegelt die andere, entzündet sich an ihr, bis es brennt.

Irgendwann heißt es über Ada, sie könne sprachlos Gedanken in andere Menschen hineinlegen. Sie, die Verstummte, verfügt über eine mächtige Stimme. Und diese innere Stimme trägt Ada, dicht am Rand des Todes vorbei, wieder ins Leben zurück. Grandios ist das gefilmt, wie eine Auferstehung aus den Wassern.

Sowieso ist hier ein Filmzauber am Werk, über den man nichts Überflüssiges sagen mag. Sonst könnte das Gespinst zerreißen.




Der illusionslose Blick auf die Gewalt – „Violence Report“ von Leon Golub in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Gewalt gibt es immer und überall“, stellt der New Yorker Künstler Leon Golub fest. Was folgt daraus? Sollen wir, um nicht abzustumpfen, die Augen verschließen oder im Gegenteil genauer hinsehen? Golub empfiehlt mit seiner Wuppertaler Ausstellung „Violence Report“ den illusionslosen Blick.

Der Besucher geht wie durch ein Labyrinth, ständig aus dem Tritt gebracht. Denn die 31 großformatigen Bilder hängen nicht etwa an den Wänden, sondern – auf durchsichtige Plastikfolien gebannt – von der Decke herab und mitten in die Räume hinein. Solch direkte Konfrontation erzwingt Umwege. Fast wie bei Skulpturen eröffnen sich beim Umhergehen immer neue Perspektiven auf Vorder- und Rückseiten. Mehr noch: Schon ein leichter Luftzug kann die frei im Raum hängenden Bilder in gespenstische Bewegung versetzen.

Die Transparenz der Fotografien und Gemälde sorgt zudem für Durchsichten und optische Vermischung der einzelnen Motive. Die aus verschiedensten Zusammenhängen isolierten Szenen der Gewalt überlagern einander und addieren, ja multiplizieren sich zum universellen, letztlich zeitlosen Phänomen. Ist das nicht eine gefährliche, zur Resignation führende Sicht der Dinge? Ist Gewalt immer und immer wieder dieselbe, oder gibt es nicht doch Unterschiede?

„Negative Historienbilder“

Tatsächlich versteht documenta-Teilnehmer Golub (71) diese Arbeiten, die er erstmals in Europa präsentiert, als „negative Historienbilder“. Es beginnt zwar nicht mit Kain und Abel, doch eine Gewaltszene aus dem Jahr 630 v. Chr. markiert die geschichtliche Frühzeit. Politische Gewalt, Staatsterror, Folterszenen und straßenkriminelle Brachialakte fächern das Thema auf.

Golub legt Wert darauf, keinen Moment abzubilden, den man ohne weiteres dümmlich-voyeuristisch auskosten könnte. Er sucht in allen Epochen nach jenen häßlichen Schock-Sekunden, die uns womöglich stutzen und innehalten lassen. Der herrisch auf den fremden Körper gestellte Stiefel, die auf den Kopf gesetzte Pistole, das schmerzverzerrte, deformierte Gesicht, die schrecklich verrenkten Gliedmaßen. All das überlebensgroß, monumental.

Wie nehmen wir Gewalt wahr? Golub kann gar nicht anders, als die Verformung der Realität durch die Medien mitzubedenken. Mit Hilfe von Computergraphik hat er Irritationen in seine Bilder eingebaut. Sanfte Verschiebungen und Verrätselungen. Jene Bilder, die er aus Zeitungen entnommen hat, zeigen auf der Folie ihr stark vergrößertes Raster. Durchaus verfremdet kommt uns die Gewalt entgegen. Und durchaus vieldeutig. Derselbe Kopf wirkt aus dem einen Blickwinkel wie der eines rechtmäßig gestellten Verbrechers, aus dem anderen wie der eines schuldlosen Opfers. Unser Blick auf Gewalt kann jederzeit manipuliert werden.

Wer kann sagen, wie eine solche Ausstellung in den Köpfen wirkt? Vielleicht hilft sie ja, Gewalt wirklich einmal hellwach wahrzunehmen, statt sie bedenkenlos zu konsumieren.

Leon Golub: „Violence Report“. Kunsthalle Wuppertal-Barmen. Geschwister-Scholl-Platz. Bis 12. September, Di-So. 10-17 Uhr. Katalogheft 15DM.




Ohne Schweiß kein Trick – Ausstellung in Velbert erzählt die Geschichte des gezeichneten Films

Von Bernd Berke

Velbert. Wenn 140 Zeichner rund 200.000 Bilder herstellen. was kommt dann heraus? Der neue „Asterix“-Zeichentrickfilm beispielsweise, gut 90 Minuten lang. Was hinter solchen Streifen steckt, zeigt eine Ausstellung im Forum Niederberg zu Velbert.

In der kleinen Schau wird auch die Vorgeschichte des Zeichentricks aufgeblättert. Eine einfache Vorform kennt jedes Kind: Schattenspiele mit bloßen Händen bei Kerzenschein. Naja, Sie wissen schon: der Hase an der Wand, der mit den Ohren wackelt usw. Auch das Daumenkino zum raschen Durchblättern ist noch denkbar simpel.

Doch dann wird es schon technischer. Man sieht z. B. ein Motoskop. Das ist eine Art Diabetrachter, bei dem die Bilder mit einer Kurbel bewegt werden können. Gleich daneben: ein Praxinoskop. Darunter versteht man ein Rundum-Panorama für den Wohnzimmertisch, das man wie ein Karussell drehen kann. Blickt man durch eine verspiegelte Öffnung ins Innere, lernen die Einzelbilder laufen.

Mit derlei Geräten, die um die Jahrhundertwende der familiären Unterhaltung dienten, konnte man nur ganz simple Vorgänge darstellen: Vögel, die sich gerade mal schwerfällig zum Flug erhoben, oder seilchenspringende Figuren. Auf und ab, auf und ab. Mehr war nicht möglich.

Über sogenannte Schiebebilder, die berühmte „Laterna Magica“ und sekundenkurze Phasenfilme arbeitet sich der Besucher zum eigentlichen Trickfilm vor. Der erste derartige Streifen wurde am 28. Oktober 1892 in Paris vorgeführt, dauerte eine Viertelstunde und hieß „Der arme Pierrot“.

Einzelbilder werden in Galerien gehandelt

Dieses Ur-Exemplar kann man in Velbert zwar nicht bewundern. Für die Trick-Abteilung haben die Museumsleute jedoch zahlreiche Plakate und vor allem Original-Folienzeichnungen aufgetrieben, die heute zu erklecklichen Beträgen in Spezial-Galerien gehandelt werden. Oft werden sie schon bei der Filmproduktion kopiert und dann in geringen Stückzahlen gehörtet, um die Preise hoch zu halten.

Wir begegnen einer Phalanx s von niedlichen oder grotesken Trickgestalten: Zwei Geier ei- len mit einer Bahre herbei – Krankenpfleger, die uns wenig Vertrauen einflößen. Eine Maus wankt betrunken durchs Bild, vermutlich verträgt sie bei ihrem Körpergewicht nicht viel. Und dann die Prominenz: Mickey Mouse und Asterix samt Anhang, „Bernard und Bianca“, Brösels „Werner“ und „Lucky Luke“. Auch kurze Werbefilmchen in Tricktechnik zählen zum Repertoire.

Wie kompliziert die Sache ist, kann man besonders gut am Beispiel der aufwendigen TV-Trickserie „Als dieTiere den Wald verließen“ nachvollziehen. Wie viele Zeichnungen sind allein erforderlich, um den Fuchs eine kurze Wegstrecke durch den Forst ziehen zu lassen! Noch schlimmer wird’s, wenn Reineke andere Tiere trifft. Dann müssen die Bewegungsabläufe haargenau koordiniert werden. Nichts bleibt dem Zufall überlassen: Dreh- und Szenenpläne, die auch zur Ausstellung gehören, listen ebenso penibel wie für den Laien verwirrend jede szenische Sekunde auf. Immerhin: Koloriert wurde früher von Hand, heute macht es der Computer.

Wer die Einzelbilder gesehen hat, kann per Video den fertigen Film begutachten. Man sieht die Streifen nun wohl mit anderen Augen. Jeder komische oder rührende Moment hat bei der Herstellung viele Stunden Arbeit gekostet. Selten so bewußt gelacht.

„Zwölf Stunden für eine Sekunde“ – Geschichte und Herstellung des Zeichentrickfilms. Forum Niederberg, Velbert, OstStraße 20 (02051/26 22 97). Bis 26. September. Di-Fr 10-17, Sa 10-13, So 10-13 und 14-16 Uhr. Eintritt 1,50 DM. Kinder 0,50 DM. Es gibt keinen Katalog, aber ein Zeichentrick-Themenheft des Deutschen Filmmuseums (Frankfurt) für 5 DM.




Als Natur schon künstlich wurde – Deutsche Graphik der Goethezeit im Wuppertaler Museum

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Zurück zur Natur!“ rief Jean-Jacques Rousseau. Um 1800, zur vielbeschworenen Goethezeit, folgten auch viele deutsche Künstler dem Appell. Es war fast zu spät, denn am historischen Horizont dämmerte schon die Industrialisierung herauf und drohte die Idyllen zu zerstören. Wie Graphiker des Klassizismus und der Romantik die Natur sahen, zeigt jetzt ein breiter Überblick Im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum. 260 Arbeiten aus Eigenbesitz sind zu sehen.

Das Verhältnis zur Natur muß schon damals oft recht künstlich gewesen sein. Zahllose Ideallandschaften mit all ihren pittoresk drapierten Zutaten hat es so niemals gegeben. Es waren geschönte Postkarten-Ansichten, aus lauter Versatzstücken gefügt. Hier eine antike Säule, dort ein edel, tugendsam oder heroisch aussehendes Menschlein, und im Hintergrund hatten sich derweil Wald und Flur immer hübsch nach dem goldenen Schnitt zu richten. Wirklich zu schön, um wahr zu sein.

Zudem suchten vor allem einige Romantiker in der Natur noch ganz anderes: nationale Identität etwa. Es war die Zeit, in der man z. B. die Alpen als Ort eines vermeintlich sittsamen Lebens entdeckte und in der das deutsche Mittelalter mitsamt Heldensagen in Naturkulissen verpflanzt wurde. Goethe selbst, dem viele Künstler ehrerbietig Arbeitsproben sandten, bewunderte zwar manch ein Blatt in ästhetischer Hinsicht, aber das nationale Gewese wurde dem Dichterfürsten denn doch etwas unheimlich.

Im Klassizismus wurde auch der Wüstling harmlos

Interessante Blätter sind zu sehen. Beispiele: Die „Faust“-Illustrationen des Peter von Cornelius oder die einlullenden Lieblichkeiten des Ludwig Richter. Sodann finden wir Bonaventura Genellis Zyklus ,Aus dem Leben eines Wüstlings“ (im Vergleich zu William Hogarths berühmter Serie „The Rake’s Progress“: klassizistisch geglättet und verharmlost), die idealisierten italienischen Landschaften von Joseph Anton Koch, die schon der Abstraktion zuneigende Naturmystik Philipp Otto Runges – und auch zwei Blätter von C. D. Friedrich.

Thematisch fallen die außerordentlich lebendigen Tierdarstellungen Johann Christian Reinharts etwas aus dem Rahmen. Sie verraten einen sonst seltenen Drang zum Realismus, dessen Arrangements allerdings gelegentlich unfreiwillig komisch wirken, etwa wenn naturgetreu gezeichnete Kühe oder Ziegen versonnen in künstlich hochgezüchtete Landschaften blicken.

Nicht immer ist die Natur dem Menschen gut. Bei Carl Wilhelm Kolbe („Landschaft mit groteskem Eichenbaum“) zeigt sie auch schon mal eine häßliche Fratze. Und Alfred Rethels Totentänze stehen vollends für die Nachtseiten.

Im Obergeschoß hat man eine zweite Ausstellung installiert: Zeichnungen des französischen Bildhauers Jean-Baptiste Carpeaux (1827-1876), eines Vorläufers von Auguste Rodin. Aufschlußreich der Vergleich mit den Lithographien und Kupferstichen der Goethezeit. Skizzenhaft war Carpeaux‘ Strich, nervös, zuweilen verzerrend bis zur Karikatur. Die Moderne war eben schon zum Anbeginn ein schmerzlicher Abschied von Beschönigungen.

Deutsche Graphik um 1800 – Klassizismus und Romantik / Jean-Baptiste Carpeaux. Von-der-Heydt-Museum. Wuppertal-Elberfeld (Turmhof 8). Bis 12. September. Di-So 10-17, Do 10-21 Uhr. Katalog 28 DM.