In der Bundesliga des Theaters spielt das Ruhrgebiet nicht mit

Von Bernd Berke

Allherbstlich wird sie mit Spannung erwartet: die Jahresumfrage des Magazins „Theater heute“. Welche Sprechbühnen gehören in die „Bundesliga“, wer steigt ab, wer steigt auf? Geht es nach dem Urteil der befragten 40 Kritiker, so war es in der letzten Saison um die Theater des Ruhrgebiets so schlecht bestellt wie lange nicht mehr.

Zwar verteilt man bei „Theater heute“ noch keine symbolischen Masken wie Kochlöffel, doch man ist der Hitlisten-Manie immerhin so weit verfallen, daß man arglos „Die Sieger“ ausruft. Bester Schauspieler: Jürgen Holtz (keineswegs nur als „Motzki“); beste Schauspielerin: Kirsten Dene (an Peymanns Burgtheater); bester Regisseur: Luc Bondy. Frank Castorfs Berliner Volksbühne steht als „Theater des Jahres“ auf Platz eins. In dieser Rubrik (Gesamtleitung einer Bühne) mochte nur noch ein Unverdrossener überhaupt ein Revier-Theater nennen – ein einsames Stimmchen erhebt sich für Roberto Ciullis Mülheimer Theater an der Ruhr. Das war’s dann auch schon.

Ansonsten taucht die Region nur mit ganz wenigen Einzelleistungen auf. In der Sparte „Beste Inszenierungen“ wird, als revierweit einzige, immerhin viermal Jürgen Goschs Bochumer Handke-Einrichtung „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ nominiert. Die Tat eines Gastregisseurs also, während man z.B. den Namen des Bochumer Noch-Schauspielchefs Frank-Patrick Steckel vergeblich sucht. In Sachen Bühnenbild/Kostüme werden immerhin Andrea Schmidt-Futterer, Dieter Hacker und Kazuko Watanabe für Bochumer Produktionen erwähnt.

Noch finsterer sieht es offenbar bei den Schauspielern aus. Nur ein Name aus dem gesamten Ruhrgebiet taucht überhaupt auf, und auch das nur einmal: Matthias Kniesbeck (als „Othello“ in Oberhausen).

Gnädigerweise hat man das Revier wenigstens in der Spalte „Beste/r Nachwuchskünstler/in“ nicht ganz vergessen. Und hier ist denn auch, neben der Bochumer Schauspielerin Judith Rosmair, endlich und erstmals Dortmund vertreten, freilich durch die Regisseurin Amelie Niermeyer (für ihre „Lysistrata“), die man leider längst nach München hat ziehen lassen.

Tja, warum ist Frau Niermeyer wohl an die Isar gegangen? Wohl auch, weil sie dort überregional eher wahrgenommen wird als in Dortmund. Denn die Nichtberücksichtigung im Jahrbuch von „Theater heute“ hat nicht immer mit Mangel an Qualität zu tun, sondern vielfach damit, daß die 40 Kunstrichter die Abstecher gescheut haben. Sprich: Was sie nicht kennen, können sie auch nicht nennen. Was bleibt? Immerhin zwei Zukunftshoffnungen: die kommende Ära Leander Haußmann in Bochum und Jürgen Bosse in Essen.




Neues Gustav-Lübcke-Museum mit Luft und Licht für die Kunst – Zur Eröffnung in Hamm: Schau über ägyptischen Totenkult

Von Bernd Berke

Hamm. Mit einer weit ausladenden und doch sanften Schwingung, fast wie ein riesiger Konzertflügel, ragt der Bau in die sonst recht gesichtslose City. Welch ein Gewinn für eine Mittelstadt wie Hamm! Um ihr neues Gustav-Lübcke-Museum nach Entwürfen der dänischen Architekten Bo und Wohlert dürften die Westfalen überall beneidet werden. Der Neid wird wohl vorhalten, denn dies dürfte für lange Zeit der letzte große Museumsneubau in der Region bleiben.

36 Millionen DM hat das Haus gekostet. Um die Pläne, die bis ins Jahr 1981 zurückdatieren, wurde zäh gerungen. Die „Kulturfraktion“ aller Parteien hat den städtischen Finanzexperten sogar noch Luxus abgetrotzt. So durfte man zur Außenverkleidung Marmor statt Sandstein nehmen.

Das Kunst-Domizil ist deutlich lichter und luftiger geworden als das zehn Jahre alte Museum Bochum, das von denselben Architekten stammt. Gewisse Elemente finden sich zwar auch in Hamm wieder: die lange Rampe etwa, über die man in die obere Etage flanieren kann. Doch was in Bochum ein wenig beengt wirkt, ist hier zum allseits offenen Haus geraten. Nirgendwo stößt man auf verwinkelte Ecken, nirgendwo auf verschlossene Türen. Und im zweiten Stock mit seinen neuartig konstruierten Oberlichtern wird die Tageshelle staunenswert kunstfreundlich gefiltert.

„Durchbruch für diese Stadt“

Prof. Jürgen Gramke vom Sponsorenzirkel „Initiativkreis Ruhrgebiet“ legte denn auch nationale Maßstäbe an. um das Werk als „Durchbrach für diese Stadt“ zu preisen. Der Initiativkreis hat folglich in seine Schatullen gegriffen und die Eröffnungs-Ausstellung mitfinanziert. Was wenige wissen: Hamm verfügt über die größte ägyptologische Sammlung von NRW. Um diese Bestände gruppiert sich die Premierenschau – vor allem mit Leihgaben aus dem Roemer- und Pelizaeus-Museum zu Hildesheim.

„Ägypten – Geheimnis der Grabkammern“ versammelt etwa 300 Exponate aus 3000 Jahren Totenkult. Da die alten Ägypter fest an ein Fortleben im Jenseits glaubten, handelt es sich vor allem um Grabbeigaben, die den Verstorbenen eine bekömmliche Existenz über den Tod hinaus sichern sollten. Neben Nahrungsgefäßen für die Todesreise gab es sogar hilfreich-magische Figürchen, die den Sterblichen in jener anderen Weit die lästige Arbeit abnehmen mußten. Ein Höhepunkt der Ausstellung ist die fotomechanisch reproduzierte Grabkammer des Bürgermeisters Sennefer von Theben. Das dreidimensionale Schaustück hat schon einige Tourneen hinter sich.

Keine geringen Folgekosten

Mag die Eröffnungsschau auch sehenswert sein und mag auch die Hammer Sammlung (Schwerpunkte: Informel-Malerei, Stadtgeschichte) nun erstmals richtig zur Geltung kommen, so bleiben doch offene Fragen. Wie sieht es z. B. mit den Folgekosten aus? Eine Stadt wie Frankfurt, die sich in besseren Zeiten reihenweise neue Museen zulegte, verzweifelt heute daran. In Hamm kommen durch das Museum zwei Mio. DM jährliche Kosten auf die Kommune zu.

Oberstadtdirektor Dieter Kraemer ließ durchblicken, daß das Museum durch gewieftes Marketing einen Großteil dieser Lasten selbst ausgleichen soll. Für die Eröffnungsschau kalkuliert Museumsleiterin Ellen Schwinzer mit bis zu 60 000 Besuchern, für künftige Vorhaben im Schnitt mit 30 000. Das zeugt nicht gerade von Pessimismus.

Neues Gustav-Lübcke-Museum. Hamm, Bahnhofstraße 9. Tel. 02381/17 25 24. Eröffnungsschau „Ägypten – Geheimnis der Grabkammern“. 26. September bis 27. Februar 1994 (Eintritt 8 DM, Grundkatalog 28 DM, dreibändig 58 DM).

 




Das Theater muß rigoros abspecken: „Letzte Vorstellung“ von Gerhard Stadelmaier – das passende Buch zur Krise

Von Bernd Berke

Das Berliner Schiller-Theater schließt in wenigen Tagen. weitere Häuser stehen gewiß „auf der Kippe“. Was tun? Wann, wenn nicht jetzt: Nachdenken über unsere Theater-Landschaft, und zwar ohne Tabus. Daß derlei gründliche Revision in Zeiten der finanziellen Nöte noch unterhaltsam sein kann, beweist Gerhard Stadelmaier mit seinem Buch „Letzte Vorstellung“.

Stadelmaier ist Theaterkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). In ihre Diensten hat er so viele Vorstellungen erlebt, daß sein Urteil nicht so sehr aus Anmaßung, sondern aus Anschauung hervorgeht. Und man ist nicht ganz abgeneigt, ihm zu glauben, wenn er behauptet: Deutsches Theater, das ist furchtbar oft eine un-sinnliche, weil kopf- und apparatelastige Veranstaltung.

Blecheimer auf schräggestellter Bühne

Fast möchte man meinen, Stadelmaier habe im Laufe der Jahre einen Haß aufs Theater entwickelt, so fulminant zieht er über seine Macher her, durchleuchtet er seine diversen Köpfe: beispielsweise die mittlerweile etwas angegraute Crew der stilprägenden Regisseure („Machtköpfe“), die denkwütigen Dramaturgen („Schwellköpfe“), die vom Regietheater gebeutelten Schauspieler („Geisterköpfe“), die aus dem Theater verbannten Gegenwartsautoren („Papierköpfe“) – und jene grandiosen Geldverpulverer namens Bühnenbildner, bei denen es immer noch ein bißchen Goldauflage mehr sein darf und die doch als Hauptrequisit in den letzten Jahren nicht viel mehr ersonnen hätten als jenen notorischen Blecheimer auf schräggestellter Bühne mit Wassergraben…

Der landläufige Abonnent, der eine Art neurotische Ehe mit „seinem“ Theater führe, kommt gleichfalls zur Sprache. Stadelmaier schont jedoch auch das eigene Metier nicht. Der Kritiker, so Stadelmaier, sei jenes seltsam ratlose Wesen mit dem Leuchtkugelschreiber, das im Theater aus Prinzip niemals lacht. Ein Typus sehe so aus: „Er sitzt, meist schon ein älterer Herr, oft mit grauem Bart, in Reihe vier auf Platz achtzig und notiert Adjektive, die in seinen Kritiken in Klammern nach einem Doppelpunkt wieder auftauchen.“ Etwa so: „(Renate-Yolinde Müller-Frauenschuh: ein reizendes Kammerkätzchen)“.

Gewerkschaften aus dem Hause jagen

Und noch nicht genug der Schelte. Stadelmaier treibt sich auch in deutschen Foyers herum. Er findet dort (im Gegensatz zu anderen Ländern) ebenso fade wie maßlos überteuerte Pausen-Büffets; dazu langweilige Büchertische und gähnende Garderobe-Frauen, die jedoch draußen vor der Saaltür selten etwas Nennenswertes versäumen. Wohin man auch blickt: Genuß vergällt!

Die ganze Misere, so befindet Stadelmaier, hänge letztlich mit dem „Wasserkopf“ (sprich: Verwaltung und Technik) zusammen. Er plädiert zwar gegen besinnungslose Bühnen-Privatisierung, aber für den rigorosen Abbau aller Dinge und Verhältnisse, die nicht unmittelbar mit dem Spiel zu tun haben: „Das ganze Theatersystem müßte mit leichterem Gepäck marschieren.“ Und weiter: Weg vom teuren Gemischtwarenladen eines lustlos ständig präsent gehaltenen Repertoires, hin zum durchgängigen Spiel weniger, dafür sorgfältig einstudierter Produktionen.

Sein letztes Rezept wird bestimmt nicht jedermann gefallen und mag auch mit Stadelmaiers großbürgerlich orientierter Zeitung zusammenhängen. Es müsse der heimliche Traum aller Theaterleute erfüllt werden: „die Gewerkschaften aus dem Theater zu schmeißen“. Die komplizierten Tarif-Regelungen erstickten jede Phantasie, weil es z.B. „dem Regieassistenten verboten ist, als Stuhlabräumer einzuspringen, auch wenn das dem Fortgang der Probe nützlich wäre, man aber so lange warten muß, bis der zuständige Bühnenarbeiter seinen Pausenzeit beendet hat.“

Sicher, dieser Autor ist polemisch. Für eine witzige Formulierung biegt er notfalls die Wahrheit auch schon mal etwas zurecht. Doch das ist als Denkanstoß legitim, spricht er doch vom Theater wie ein Liebhaber – wenn auch ein enttäuschter, etliche Male um sein Vergnügen betrogener. Und so einer darf gelegentlich zürnen. Zumal, wenn der Schimpf die Szene so schlagartîg erhellt.

Gerhard Stadelmaier: „Letzte Vorstellung“. Eichborn Verlag, Frankfurt/Main (Reihe „Die andere Bibliothek“). 299 Seiten, 44DM.




Nostalgie und brauner Zucker – Musical-Gastspiel in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Der Broadway verläuft mitten durchs Ruhrgebiet: Zumindest am vergangenen Wochenende schien es so: „Cabaret“ in Dortmund, „Bubbling Brown Sugar“ in Recklinghausen – und in Bochum dampft unverdrossen der „Starlight Express“. Musicals allerorten in Ruhr Town.

Im Recklinghäuser Festspielhaus erlebte man zwar „nur“ das dreitägige Gastspiel im Zuge einer Europa-Tournee, dafür aber ein extrafeines. Der „Brodelnde braune Zucker“ ward in den Niederlanden angerührt und zur furiosen Mélange aufgekocht. Keine Original-Broadway-Produktion also, aber besetzt mit vielen Darstellern von der New Yorker Amüsiermeile.

„Bubbling Brown Sugar“ unternimmt eine Reise in die große Zeit des schwarzen Viertels Harlem. Die nur notdürftig mit Handlungsfädchen verknüpfte Nummernrevue führt vor allem durch die tosenden Nightclubs der 20er und 30er Jahre. Ausgiebig läßt sie Jazz- und Bluesklassiker aus dieser Ära wiederaufleben. Duke Ellington ist sozusagen der Schutzheilige.

Nostalgie ist natürlich mit im Spiel. Einige ältere Leute, die jene goldene Epoche noch miterlebt haben, sind die leicht wehmütig gestimmten Animateure auf der Fahrt ins schwarze Lebensgefühl, das sich hier zumal in unbändiger Freude an swingenden Rhythmen äußert. Derlei Freude steckt an, gerade weil sie sich ein wenig naiv gibt.

Regisseur und Choreograph Billy Wilson inszeniert ohne überflüssigen Aufwand. Eine einfache Showtreppe und geschickte Lichtführung reichen aus, um Sänger und Tänzer zur Geltung kommen zu lassen.

Die 17köpfige Company erweist sich als eine Art „Dream Team“ nach Art von US-Basketballern: Jedes Zuspiel kommt an und wird traumhaft sicher verwandelt. Und sei alles noch so hart erarbeitet, man läßt sich nichts anmerken. Keep Smiling: Strahlend lächeln sie noch bei der schwierigsten Ton- oder Schrittfolge. Auch musikalisch (Bandleader: Steve Galloway) erhebt sich die Darbietung über jeden Zweifel. So überzeugt man auch Musical-Muffel.

Als Top-Star des Abends war Kimberly Harris angekündigt. Tatsächlich machte sie ihre Sache als „Young Irene“ prachtvoll. Doch eine andere war eindeutig Liebling des Publikums: Capathia Jenkins als stattliche „Gospel Lady“. Ihr Können und ihr hinreißendes Temperament würde man liebend gern auch bei einem Soloabend bewundern.




Einen Turm bis in die Wolken bauen – Wladimir Tatlin: Der Künstler und die russische Revolution

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Einen Turm bis in die Wolken bauen oder auf einem geflügelten Fahrrad durch die Lüfte segeln – solche übermenschlichen Träume weckte die Sowjet-Revolution bei dem Künstler Wladimir Tatlin (1885-1953). Die Düsseldorfer Kunsthalle zeigt als „Weltpremiere“ (Direktor Jürgen Harten) eine umfangreiche Werkschau des Russen.

Große Überraschung: Tatlin, der doch weithin als Bannerträger der Revolution galt, hat – bis auf eine recht begrenzte Phase – vorwiegend konventionell gearbeitet. In seiner Frühzeit versenkte er sich in Blumen-Stilleben, vertrat dann heftig Positionen der Moderne, wandte sich aber schon nach einigen Jahren wieder Porträts und Landschaften zu. Es war offenbar eine erzwungene Anpassung an die Zeitläufte: Kühne Traum-Konstruktionen waren im erstarrten Sowjet-Reich nicht mehr genehm. Sie hätten die Menschen daran erinnern können, daß das Leben viel Besseres zu bieten hat als aschgrauen kommunistischen Alltag oder gar finsteren Stalinismus.

Im Vor- und Umfeld der Revolution ergießt sich Tatlins Kunst geradezu in die erhoffte Zukunft hinein. Selbst eine Aktdarstellung („Weibliches Modell“, 1913) wird in jener Phase zum Fanal: Der Frauenleib schraubt sich dynamisch und selbstgewiß in den Raum – körperliche Vorform jenes Turms zu Ehren der „III. Internationale“, der Tatlin berühmt gemacht hat.

Optimismus oder Anmaßung?

Das schneckenförmige, himmelstürmende Gebilde, in Düsseldorf als Rekonstruktion zu sehen, sollte zum Ruhme des Sozialismus 400 Meter in die Höhe ragen, ist aber nie gebaut worden. Es wäre vielleicht eine Art zweiter Turm zu Babel geworden, Zeichen eines grandiosen Optimismus, der in Anmaßung umschlagen kann.

Bewegliche Teile im Turm sollten sich nach bestimmten Zeitmaßen drehen – wie bei einer gigantischen Uhr, die dem Menschengeschlecht anzeigte, daß die Stunde der Befreiung vom Kapitalismus geschlagen hatte. Eine Kunst, geboren auch aus dem Geiste der Physik, gedacht für ein „wissenschaftliches Zeitalter“. Von Ideologie einmal abgesehen, kann man sich der formalen Faszination auch heute nur schwer entziehen.

Ähnlich bemerkenswert auch das Luftfahrrad, das Tatlin nach sich selbst benannte („Letatlin“) und mit Gebrauchsanweisungen versah. Auch diese Erfindung zeugt davon, daß der „neue Mensch“ über die Wolken hinaus zu den Sternen strebt. Wie war das noch mit Dädalus und Ikarus: Gab es da nicht einige Pannen? Turm und Fahrrad bilden das optische Zentrum, jedoch nicht das Schwergewicht der Schau. Die zahlreichen Bühnenbild-Entwürfe belegen, daß Tatlin über enorme szenische Vorstellungskraft verfügte.

Typisierungen fürs Theater

Seine gezeichneten Figurinen, Anschauungsmaterial für Theaterrollen, stehen für eine entschiedene Typisierung, die freilich böswillig auch schon wieder als Entindividualisierung im Sinne eines gesichtslosen Kollektivismus mißdeutet werden könnte. Ganz anders die Porträts im späteren Werk: Hier bekommt der Einzelmensch sein Antlitz wieder zurück.

Tatlin hatte seine liebe Not mit den Sachwaltern der kommunistischen Kunstlehre. Arbeiten wie seine „Konterreliefs“ aus Holz, Metall und Schnüren, die aus der Bildfläche hervortraten und als Objekte in den Raum vorstießen, waren den Herrschaften nicht realistisch geschweige denn heroisch genug. Trotzdem halten manche nun der Kunsthalle vor, „in diesen Zeiten“ einen Kommunisten zu präsentieren. Kommentar überflüssig.

Eine stille Sensation verbirgt sich hinter der Ausstellung. Im Vorfeld wurde enorme Forschungsarbeit geleistet. Listete das bisher größte Werkverzeichnis nur 50 gesicherte Tatlin-Arbeiten auf, so sind es nun über 1300. Davon sind in Düsseldorf rund 320 zu sehen.

Wladimir Tatlin. Retrospektive. Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4. Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 39 DM.




Der Autor als Fabelwesen oder: Roman aus der Datenbank – Ulrich Holbeins Suada „Warum zeugst du mich nicht?“

Von Bernd Berke

Ist Ulrich Holbein ein Mensch oder eine Datenbank? Zu jedwedem Thema hat dieser Autor eine Flut von passenden Zitaten aus der gesamten Weltliteratur parat. So einen Kerl hat die deutsche Literatur lange nicht mehr gesehen.

Ist dieses Fabelwesen, 1954 in Erfurt geboren, jetzt in Nordhessen lebend, Deutschlands (post)modernster oder nur sein modischster Schriftsteiler, ein Gegenwarts-Kasper ohne weiteren Tiefgang?

Holbein nimmt praktisch sämtliche Einwürfe, die seinen Roman „Warum zeugst du mich nicht?“ betreffen könnten, in diesem selbst vorweg. Er hat seine eigene Kritik mitgeschrieben, aber auch die Lobhudelei auf sich selbst. Ein äußerst schwieriger Patron also. Stets mit dem Hirn schon eine Windung weiter, eine Ebene höher, so scheint es. Wie der Igel, der den Hasen immer schon zurufen kann: „Ick bün all hier“.

Kein Thema und alle Themen zugleich

Der Titel spielt sowohl auf die Zeugung eines Kindes als auch auf die Schaffung eines literarischen Werkes an. Die beiden Themenfelder werden vielfach übereinander geblendet und mit vielen Dutzend anderen derart versetzt, daß man von einem uferlosen, ja ozeanischen (ein Holbein-Lieblingswort) Buch sprechen kann. Es hat kein Thema, und es hat möglicherweise alle. Das schadet dem Fortgang des Romans ebenso wie Holbeins ungeheure Belesenheit. Diese veranlaßt ihn immer wieder zu bandwurmartigen Aufzählungen im Imponiergestus, als wolle er sagen: „Seht her, was ich euch noch zu bieten habe!“

Schon die Einleitung ist eine Suada des Größenwahns, bei der der Autor nur mühsam in eine Erzählerrolle schlüpft. Dieser Erzähler behauptet frechweg, er sei über alle Literatur zwischen Homer, Shakespeare, Goethe, Botho (gemeint: Botho Strauß) und Bodo (gemeint: Bodo Kirchhoff) weit, weit erhaben. Auch sein Psychoanalytiker ist längst durchschaut: So einem Durchblicker ist nun wahrlich auf Erden nicht zu helfen.

Uferlose Aufzählung statt Erzählung

Aufzählung statt Erzählung, das ist Holbeins größtes Leiden. Und wenn er denn einmal ins Erzählen gerät, so wird es schnell ziellos bizarr, so etwa beim Streifzug durch einen Sexshop der Zukunft, beim blutigen Vernichtungsfeldzug gegen seine eigenen Figuren (Metzelei per ComputerLöschtaste), bei seinen sarkastischen Exkursen in fernöstliche Heilslehren.

Ein gewisses Vergnügen an solchen Dingen trübt er allemal selbst, indem er schlichtweg überdreht. Holbein hat Mühe, seine Ideenfülle stilistisch zu bändigen. Er geht mit seinen Stoffen nicht ökonomisch um, er verschleudert sie en masse. Das Deutsch, das er schreibt, ist eben nicht von jener Edelgüte à la Handke oder Botho Strauß. Und: Seine Figuren bleiben seelenlos.

Holbein ist überdies ein Autor, dem man ständig mißtrauen muß. Führt er einen nicht andauernd hinters Licht? Das mag ja produktiv sein. Aber ist er nicht auch völlig scham- und herzlos, so wie er erzählt? So ganz ohne jede Überzeugung, wie einer, der sozusagen überhaupt keine Verwandten kennt? Da bewegt sich einer haltlos durchs Reich der Sprache, der offenbar immer nur mit Buchstaben umgegangen ist. Ein brillanter Essayist, der sich aufs Terrain des Romans verirrt hat.

Aber, wie gesagt: All diese Einwände sind dem Manne bewußt. Wie soll man ihm nur beikommen?

Ulrich Holbein: „Warum zeugst du mich nicht?“ Roman. Haffmans Verlag, Zürich, 262 Seiten. 36 DM.




Nur den Staatsanwalt will niemand gerne spielen – Therapie-Projekt in Eickelborn: Drogensüchtige stellen ihre Lebensgeschichte auf der Theaterbühne dar

Von Bernd Berke

Lippstadt/Eickelborn. „Rolltreppe abwärts“, „Nullouvert“. Schon solche Stücktitel deuten an, daß Theater sich in die Niederungen begibt; nach ganz unten – dorthin, wo z. B. Drogen-Karrieren enden.

Jetzt hat die Gruppe mit dem Namen „Stoffwechsel“ bereits ihr drittes Stück einstudiert. Es heißt „Popshop“. Besonderheit: Die Schauspieler sind 14 Drogenpatienten der psychiatrischen Landesklinik in Lippstadt-Eickelborn. Sie gehen in diesen Tagen sogar erstmals auf eine kleine Tournee, spielen vor Schülern und Jugendlichen. Damit die nicht eines Tages auch an irgendein schlimmes Zeug geraten.

Der Titel „Popshop“ stammt aus dem Szene-Jargon und bedeutet so viel wie „Endstation“ oder „Nichts mehr zu sagen/machen“. Die jungen Leute haben das Stück (mit Hilfe ihrer Therapeuten Günter Seidenberg und Caroline Happe) selbst verfaßt und auch das Bühnenbild erstellt. Viele Stunden haben sie dafür geopfert.

Die meisten sind Männer zwischen 20 und 30, allesamt erst seit wenigen Monaten „clean“, also noch lange nicht über den Berg der Sucht hinweg. Das Theaterspielen wurde zum Teil der Therapie. Einer sagt’s für alle: „Wir hatten endlich in unserem Leben das Gefühl, selbst mal was Sinnvolles auf die Beine zu stellen.“ Klar, „etwas zäh und mühsam“ sei die Sache anfangs gewesen. Man hatte nicht nur mit dem Text zu kämpfen, sondern auch mit sich selbst. Und mancher konnte sich zunächst mit seiner Rolle nicht anfreunden. Welcher Drogensüchtige mag schon gern einen Staatsanwalt spielen?

Der Text handelt von jenem Uwe, der aus Berlin nach Dortmund zieht und wegen eines Beschaffungsdiebstahls in den Knast kommt. In Rückblenden werden Stationen seiner Drogenkarriere beleuchtet. Dabei kommen Justiz und Sozialarbeiter nicht gerade gut weg. Essenz des Stückes: Drogensüchtige sind weniger kriminell als krank und waren vor ihren Taten selbst Opfer. So weit das Pflichtprogramm im Sinne einer liberalen Sozialpädagogik.

Doch natürlich geht es um mehr. Zum einen lernen die Drogenpatienten auf der Bühne, sich offen und ehrlich vor Publikum zu ihrer Sucht zu bekennen. Zum anderen wirken sie als Darsteller auf das junge Publikum viel glaubhafter als Profi-Schauspieler. Sie haben selbst durchlitten, was sie da spielen. Sie machen einem nichts vor. Und sie stellen sich nach jeder Aufführung der Diskussion.

Kann sein, daß sie den einen oder anderen labilen Zuschauer vom Einstieg in harte Drogen abhalten. Dies allein würde das vom Land bezuschußte Projekt rechtfertigen. Die Produktion ist jedenfalls weit entfernt vom läppischen Laienspiel. Dazu ist sie zu nah an der Wirklichkeit.

Aufführungen: 13.-16. September in Werl, Soest, Lippstadt, Beleke (vermutlich ausverkauft). 20., 24. Sept. und 27. Sept.-l. Okt. in Lippstadt-Eickelborn. jeweils 19 Uhr.




Ruhrpott-Fantasy: Vampir Müller soll den Mörder finden

Von Bernd Berke

Bochum. Auch Bücher verkaufen sich nicht mehr so leicht. Da müssen neue MarketingIdeen her, hat sich wohl der renommierte Münchner Piper-Verlag gedacht – und zur unterirdischen Roman-Präsentation mit „Vampir-Drinks“ ins Deutsche Bergbaumuseum zu Bochum eingeladen. Im Mittelpunkt des Zaubers: der Marler Autor Ludger Vortmann (24) und sein Werk „Müller – Der Ruhrpottvampir“.

Das geheimnisvolle Vampir-Gesöff, das da bereitstand, erwies sich als Sekt mit Cassis. Gag der Gags: Besucher mit bestimmten Endziffern auf ihren Blutspenderausweisen bekamen zwar nichts abgezapft, durften aber Gratis-Buchpakete nach Hause tragen. Und statt in die Gruft ging’s drei Stockwerke runter – ins Bochumer Anschauungsbergwerk.

Drunten im Stollen erleben rund hundert Leute eine kurze und überraschend normale Lesung aus dem Krimi, dürfen das Buch (12,90 DM) gleich erwerben, vom Autor signieren lassen und ihm mehr oder minder kluge Fragen stellen („Haben Sie autobiographisches Material verwendet?“). Ja, der Vampir-Detektiv sei eine Art Bruder für ihn geworden, verrät Vortmann, hauptberuflich Moderator bei einer privaten Rundfunkstation in Recklinghausen. Wenn er vorliest, gewinnt denn auch sein Buch erheblich – im Vergleich zur stillen Lektüre.

Überirdisch ist das Buch gewiß nicht. Die ganze Geschichte des fledermausigen Müller (Lieblingsgetränk außer Blut: Zimtmilch mit „Schuß“), der im Auftrag der Polizei einen mysteriösen Todesfall aufklären soll und dabei zwischen einer militanten Tierschützerfront, einer schäbigen Autowerkstatt und einer Chemiefabrik hin und her flattert, wirkt reichlich unausgegoren.

An den Nerven zerren Vortmanns Sprach-Marotten. Dialoge mit Reimzwang sind fast noch das geringste Übel. Kostprobe von vielen: „Warum macht das nicht die Polizei? Macht ihr Sommerpause? Oder ’ne Sause, vielleicht auf Hawaii?“ Vortmanns Ausdrucksweise ist mal geschraubt („Den Anruf seines Arztes hatte er unlängst erhalten“), mal schlampig („hattrickmäßig“) und produziert etliche Stilblüten.

Der Krimi spielt in einem Revier, das gewiß nicht von Image-Politikern erfunden wurde. Hier geht es noch so rußig und düster zu wie ehedem. Auch ein paar halbwegs komische Passagen bietet das Buch. Schmankerl für Dortmunder Borussen-Fans, die derzeit sonst nicht viel zu lachen haben: „Kenns du den Unneschied zwischen Schalke un ein Mistkäfa? – Sie kriegen beide einfach keine Punkte!“ Das Buch soll jedenfalls mit einer Startauflage von 8000 Stück als Originalausgabe im Taschenbuchprogramm unters Volk gebracht werden. Den Löwenanteil wird der Münchner Verlag wohl in unseren Breiten absetzen.




Am Fenster sehen Krieg und Frieden völlig anders aus – Uwe Timms Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“

Von Bernd Berke

Uwe Timm ist ein Wanderer zwischen den Themen. In „Heißer Sommer“ gab der Autor eine Innenansicht der Studentenbewegung zur APO-Zeit, in „Der Mann auf dem Hochrad“ erzählte er eine circensisch angehauchte Geschichte aus Großvaters Epoche, in „Morenga“ schilderte er Deutschlands Kolonial-Historie. Jetzt bemäntelt er mit einem scheinbar komischen Titel ein ernstes Thema: „Die Entdeckung der Currywurst“ handelt vom Kriege und vom kleinen Widerstand.

Timms namenloser Ich-Erzähler besucht die erblindete Frau Lena Brücker, die er seit seiner Kindheit kennt, in einem Hamburger Altenheim. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg soll sie die Currywurst erfanden haben. Doch Timm spart des Rätsels Lösung auf. Am Ende erweist sich die Sache mit der Wurst als eher beiläufige Münchhausiade.

Tatsächlich hat Lena Brücker ja auch eine viel interessantere Geschichte erlebt. In den letzten Kriegstagen, als schon alles in Schutt und Asche lag, hat sie den Deserteur Bremer in ihrer Wohnung versteckt. Bremer ist verheiratet, sie ist verheiratet. Doch die Ehepartner sind in den Kriegswirren fern.

Natürlich entwickelt sich zwischen Bremer und Lena eine Liebschaft auf Zeit. Nachts das lustvolle Matratzenlager, tags die Angst vor Blockwart und Gestapo, die Bremer um ein Haar aufspüren. Er zittert um sein Leben. Nur um eines muß man sich kaum Sorgen machen. Lena Brücker arbeitet in der Lebensmittel-Verwaltung und kann dort öfter etwas beschaffen.

Deutschland im Jahre „Null“ – eine Groteske

Und plötzlich ist der Krieg vorbei. Lena Brücker schwankt zwischen Freude und Entsetzen. Einerseits: der Friede! Andererseits: Wenn Bremer in seinem Versteck davon erfährt, wird er sie verlassen und zu seiner Familie zurückkehren. Also hält sie gleichsam Zeit und Atem an – und sagt ihm nichts. Sie läßt ihm seinen Irrglauben, nun kämpfe Deutschland gemeinsam mit Briten und Amerikanern gegen die Sowjets…

Bremer, ohne Zeitung und Radio, erlebt die langsame Veränderung des Lebens nur im Blick aus dem Fenster. Diese (sozusagen kleinbürgerliche) Perspektive hat Uwe Timm geschickt gewählt. In solcher Verfremdung und Ausschnitt-Verkleinerung wirken historische Ereignisse wie das Auftauchen britischer Soldaten oder die Entstehung des Schwarzmarkts ganz anders, wie unter einer Lupe. Deutschland im „Jahre Null“ – eine Groteske.

Timm, ein solider, gelegentlich etwas zu routinierter und beflissener Erzähler, übt sich in wirksamer Bescheidenheit. Heutzutage nennen die Verlage Jedes Buch über 100 Seiten ein „Roman“. Hier gibt man sich mit der Bezeichnung „Novelle“ zufrieden. Auch sonst ist das Buch eine zwischen Elegie und Zuversicht schwankende Feier des Unscheinbaren, des Unauffälligen – zumal des kleinen Widerstands kleiner Leute im großen Krieg. Hier werden keine Heiden aufgeboten, um zu zeigen, wie widerwärtig Krieg und Naziherrschaft waren. Komische, fast chaplineske Einfälle hat der Autor. Vielleicht die schönste Stelle: Ein Koch verköstigt die Leute vom Reichsrundfunk so übel, daß sie die angeblichen Triumphe der Wehrmacht am Mikro nur noch mit Würgelauten vermeiden können.

Kein großes Buch. Das will es auch nicht sein. Aber ein lesenswertes. Und schließlich: Wer möchte denn nicht wissen, wie die Currywurst erfunden wurde?

Uwe Timm: „Die Entdeckung der Currywurst“. Kiepenheuer & Witsch. 221S., 29,80DM.




Die Wege der Begierde sind verschlungen – Erotische Grafik von Hans Bellmer im Museum Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Mensch ist eine Schlingpflanze. Im zeichnerischen Werk des Surrealisten Hans Bellmer nimmt er jedenfalls mancherlei botanische Gestalt an und windet sich so tief wie möglich in sein Gegenüber hinein. Überall möchte er hinkriechen, wenn er nur sein Ich aufgeben kann. Derlei verschlungene Wege der Begierde zeichnet jetzt eine Ausstellung in Bochum nach.

Der gebürtige Schlesier Bellmer (1902-1975) war Opfer einer sehr rigiden Erziehung. Mag sein, daß gerade deshalb seine sexuellen Phantasien hernach so explodiert sind und gelegentlich auch in sadistische Gefilde à la Marquis de Sade abschweiften.

Über die Berliner Dadaisten, über Kontakte mit George Grosz und Otto Dix führte sein Weg in den 30er Jahren nach Frankreich – ins Herzland des Surrealismus, wo seine lasziven Fotoserien von einer Auszieh-Puppe auch den Bewegungs-„Papst“ Andre Breton begeisterten. Aus dieser Zeit stammen denn auch die frühesten Vorlagen für die aus Issoudin (Frankreich) übernommene Schau.

Hier kommt eine Besonderheit ins Spiel. Tatsächlich sieht man nämlich keine einzige Arbeit, die Bellmer von eigener Hand gefertigt hat. Hintergrund: Bis in die 50er Jahre stand sein Werk unter Pornographie-Verdacht; erst um 1966 stellte sich Erfolg ein, der über verschwiegene Privatsammler-Kreise hinausreichte.

Nun stiegen die Marktpreise, und nun kam Bellmer plötzlich mit der Produktion nicht mehr nach. Da fügte es sich, daß eine junge französische Künstlerin ganz auf eigene Schöpfungen verzichtete, um nach seinen gezeichneten Vorlagen kongeniale Kupferstiche und Radierungen herzustellen. Sie hieß Cécile Reims.

Kupferstecherin Cécile Reims wurde billig abgespeist

Doch das wußte damals kaum jemand, denn der geschäftstüchtige Bellmer signierte ihre Druckgraphiken, während man die arme Cécile regelrecht vor der Kunstwelt versteckte und mit Handwerkerlohn abspeiste. Sie soll sogar Gefallen an diesem (un)heimlichen Leben gefunden haben… Erst 1979, vier Jahre nach Bellmers Tod, wurde ihr Inkognito gelüftet. Jetzt steht ihr Name auf dem Katalog, etwas kleiner als der Bellmers, aber immerhin.

Cécile Reims muß einen überaus starken Hang zu Bcllmers Künsten gehabt haben, sonst hätte sie nicht mühsam und getreulich rund 200 seiner Arbeiten mit Stichel und Nadel nachgezeichnet, von denen in Bochum 75 zu sehen sind.

Eine biegsame und wie in feuchten Träumen wandelbare Begierde sieht man da. Die Menschenleiber nehmen notfalls jederlei Gestalt und Verformung an, werden – im unaufhörlichen Reigen – zu seltsamen Gewächsen der Liebe, ja zu bloßen Ornamenten der Erotik. An Deutlichkeit und Drastik lassen die meisten Exponate nichts zu wünschen übrig. Doch all das Prangen der Geschlechtsmerkmale dient nur dem wohligen Schauer des Ich-Verlustes. Und an diesem Punkt begegnet wohl auch der abgefeimte Voyeur einem Spiegelbild sexueller Ekstase: der endgültigen Auslöschung des Ich, dem Tode.

Hans Bellmer und die Kupferstecherin Cécile Reims. Museum Bochum. Samstag, 4. September bis 10. Oktober. Mi-Fr 12-20 Uhr. Sa/So 10-18 Uhr, Mo/Di geschlossen. Katalog (in französischer Sprache mit deutschen Beiblättern) 25 DM.