Für „Jason Dark“ ist morgens Geisterstunde – Besuch bei Deutschlands meistgelesenem Autor: Helmut Rellergerd

Von Bernd Berke

Raten Sie mal: Wer ist der meistgelesene deutsche Autor? Siegfried Lenz? Kalt. Johannes Mario Simmel? Schon näher dran. Heinz G. Konsalik? Naja. lauwarm. Also gut: Es ist Helmut Rellergerd. Nie gehört. stimmt’s?

Kein Wunder. Der Mann schreibt unter dem Pseudonym Jason Dark. Seit nunmehr 20 Jahren bringt er allwöchentlich seinen „Geister jäger John Sinclair“ in Heftromanen und Taschenbüchern unters Volk. Staunenswerte Statistik: Heftnummer 800 der Gruselreihe wurde kürzlich überschritten. Die Wochenauflage beträgt derzeit rund 800000, die Gesamtauflage 165 Millionen. Und Rellergerds Jahresbilanz ’93 sieht so aus: 57 Heftchen à 64 Seiten hat er verfaßt, dazu zehn Taschenbücher. Damit hat er ein halbes Jahr Vorsprung vor der aktuellen Titelproduktion. Er könnte unbesorgt in Urlaub gehen. Doch „Sinclair“ läßt ihn nicht los.

Anregungen aus Opern und von Shakespeare

„Ich hab jede Zeile selbst geschrieben“, betont Rellergerd. Für seinen Geisterjäger braucht er keine Geisterschreiber. Und auch keinen Computer; er tippt immer noch auf einer alten „Mechanischen“. Aber er wird doch wohl wenigstens nachts arbelten, stilecht zur Geisterstunde? „Quatsch. Immer vormittags.“

Der vor 48 Jahren in Dahle (bei Altena) geborene Autor wuchs m Dortmund auf, lebte lange Jahre dort. Im Brotberuf Lektor beim Bastei/Lübbe-Verlag in Bergisch-Gladbach, wo auch seine Hefte erscheinen, fühlt er sich heute noch als Westfale. Eigentlich wollte er mal bei Hoesch arbeiten. Doch dann kam die Bundeswehr-Zeit – und er fing an, Krimis zu schreiben.

Woher nimmt Rellergerd seine Ideen? Für eine Heftserie, die man landläufig als trivial bezeichnen würde, nennt er edle Inspirations-Quellen: „Vor allem gehe ich gern in die Oper. Da gibt’s ganz schön viele Gruselszenen.“

Engel kommen jetzt in Mode

Aber auch von Shakespeare, vor allem aus „Fantasy“-Stücken wie dem „Sommernachtstraum“, sei etliches eingeflossen. Und aus der Bibel sowieso. Rellergerds Trend-Tip; „Engel sind schwer im Kommen.“

Einen Berg von 150 000 Leserzuschriften hat er erhalten, adressiert an Jason Dark. Manche schildern ihr ganzes verpfuschtes Leben erhoffen sich Rat und Hilfe – gelegentlich auch gegen „böse Geister“. Andere machen Themenvorschläge: „Bei uns im Dorf ist neulich etwas ganz Seltsames passiert…“ Auch da hat er manchmal zugegriffen. Un als er mal in Linda de Mols RTL-Show „Kollegen, Kollegen“ aufgetreten war, ließ er bald den Roman „Die Hexe von Hilversum“ vom Stapel. Die Hexe hieß, nur unwesentlich verfremdet, Linda ver Mol. Ein Themen Jäger darf nicht allzu wählerisch sein.

Der Held wendet sich mit Grausen ab

Held „Sinclair“ ist Angestellter bei Scotland Yard. Aus gutem Grund: „Es gibt der Sache einen seriösen Anstrich.“ Denn schließlich hat ihn die Bundesprüfstelle „auf dem Kieker“. Starken Horror-Tobak würde sie nicht dulden. Doch noch nie ist der Geisterjäger auf dem Index gelandet. Denn: „Wenn Sinclair etwas Furchtbares sieht, wendet er sich mit Grausen ab. Der Rest bleibt der Phantasie des Lesers überlassen.“ Oder der Leserin. Rund 40 Prozent der Konsumenten sind weiblich. Die mögen den sanfteren Schrecken. Rellergerd: „Man liest mich sogar im Nonnenkloster.“

Von den über 800 Heften, in denen Rellergerd seinen Helden durch alle Welt gehetzt hat, spielten immerhin drei in Dortmund – zwischen Fernsehturm und Hauptfriedhof. Seit 1989 dürfen die Gespenster auch schon mal in Leipzig oder Dresden spuken. Schließlich gibt’s im Osten viele Leser.

Am Anfang waren die Blondchen

Rellergerd arbeitet natürlich nach Schema. Wie auch anders, bei dem Ausstoß? „Ich habe fünf bis sechs Grundmuster, die ich immer wieder neu mische und mit anderen Themen fülle.“ In den to 20 Jahren sei jedoch nicht alles beim alten geblichen. Frauenfiguren gäben sich schon mal etwas emanzipierter. Rellergerd: „Am Anfang waren es ja nur dumme Blondchen.“ Auch habe der Held jetzt häufiger schwache Momente und begehe Fehler.

Und Umweltthemen seien wichtiger geworden. Motto: „Die Erde schlägt zurück.“ Allemal ein Gruselstoff, der sich ins Esoterische ausphantasieren lässt. Per Wiedergeburt und dergleichen Brimborium bricht der alterslose Held auch schon mal in andere Epochen auf. Das eröffnet neue Themenfelder.

Rellergerd ist „froh, daß mich kaum jemand auf der Straße erkennt.“ Auflage machen und trotzdem anonym bleiben, das gefällt ihm. Doch manchmal fuchst es ihn, in der trivialen Ecke zu stehen. Als er hörte, ein Lehrer habe seiner Klasse die Sinclair-Lektüre verboten, gab er einen Band mit klassischen GruselStories heraus – von Goethe, Schiller & Co. Wenn die das geahnt hätten…

 




Ein Bär mit Verstand: „Pooh’s Corner“, Harry Rowohlts gesammelte Kolumnen

Von Bernd Berke

Es gibt sie – jene höhere Weisheit. die sich hinter trudelndem Unsinn verbirgt. Zu ihren Großmeistern zählt Harry Rowohlt. Das ist einer, der spürbar immer viel, viel mehr weiß, als er hinschreibt. Und eben das verleiht seinen Sätzen einen ganz besonderen Drall.

In seiner Kolumne „Pooh’s Corner – Meinungen eines Bären von geringem Verstand“, hat Rowohlt einen scheinbar nonchalanten, ja gelegentlich regelrecht „besoffenen“ Stil in der Wochenzeitung „Die Zeit“ zur Reife gebracht. Diese sprachlichen Aus- und Abschweifungen liegen jetzt, ergänzt um einige Essays und Filmkritiken, gesammelt vor. Das wurde aber auch mächtig Zeit!

Harry Rowohlt, namentlich erkennbar ein Sproß der berühmten Verleger-Familie, ist ein Querschädel und Originalkopf, der seine kleinen und großen Besessenheiten pflegt: vor allem die Liebe zum Trinker-Paradies Irland und zu dessen größtem Autor neben James Joyce, Flann O’Brien (den Rowohlt kongenial übersetzt hat); sodann sein Kultbuch von Kindheit an, „Pu der Bär“ („Winnie the Pooh“ von A. A. Milne, 1926), das der Kolumne den Titel gab.

Rowohlts Texte sind von schönster Gelassenheit, geschrieben mit feinem Ohr für jene Neben- und Zwischentöne, auf die es ankommt, doch jeder sich aufblähenden Schwerdenkerei abhold. Sie können mit Leichtigkeit hierhin und dorthin schlingern und allerlei Hintersinn am Wegesrand aufsammeln.

Der Fuchs und das Trinkerlied

Herrlich die überraschende Kombinatorik, mit der Rowohlt das Entlegenste zusammenholt und miteinander zünden läßt. Pröbchen gefällig? „Wenn wir zum Beispiel eine Flasche öffnen und zügig einschenken, hören wir—.“ Es folgt ein Notenbild, das sogar stimmt (selber testen!) und das wiederum genau den Anfangstakten von „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ entspricht. Rowohlts souveräne Schlußfolgemng: Das sei also nachweislich kein Jägerlied, sondern ein Trinklied…

Und wie war das noch mit Alzheimer? „Früher, wenn man sich keinen Namen merken konnte, hieß das vergeßlich. Inzwischen heißt das Alzheimer. Und wieder muß man sich einen Namen merken.“ Prägnanter kann man es nicht sagen.

Ähnlich gut wie „Pooh’s Corner“ sind übrigens die Filmkritiken, was sich gerade in der Zusammenschau erweist. Rowohlt schreibt ganz, ganz knappe Rezensionen. Ach, was! Es sind eben gar keine Rezensionen im üblichen Sinne, sondern Plaudereien haarscharf am Inhalt der Filme entlang oder gar daran vorbei. Und trotzdem, o Wunder, trifft er das (Un-)Wesen der jeweiligen Filme bis ins Herz. Das schaffen die meisten mit der zehnfachen Zeilenzahl nicht!

Und wer hat sich schon mal so schön flapsig aus einem Text und vom Leser verabschiedet wie Harry Rowohlt? Zitat: „Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die bis hierher gelesen haben. Ich weiß, was in Ihnen vorgeht. Ich habe es auch satt.“

Harry Rowohlt: „Pooh’s Corner“. Haffmans Verlag, Zürich. 272 Seiten. 28,50 DM.




Der kinderleichte Traum von einer besseren Welt – Jean Giraudoux‘ „Die Irre von Chaillot“ in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein paar Kapitalisten wollen halb Paris abreißen, um vermeintliche Ölquellen auszubeuten. Doch die Erd- und Menschenschinder werden in eine tödliche Falle gelockt – und schon ist die Welt ein für allemal befreit. So simpel geht das in Jean Giraudoux‘ Stück „Die Irre von Chaillot“, das in Wuppertal Premiere hatte.

Selten wird der Zweiakter gespielt. Er ist schwer in den Griff zu bekommen. Ziemlich diffus wirkt das Figureninventar zwischen windigen Geldsäcken und Gestalten aus jener niederen Gegenwelt der Clochards und der „irren“ Frauen. Die sind hier natürlich im höheren Sinn die einzig Vernünftigen, weil am mißlichen Zustand der Welt irre geworden. Das Stück hegt eine verstiegene Hoffnung auf rebellische Randgruppen.

In Wuppertal (Regie: Kresimir Dolencic) verklammert man das Ganze zunächst mit einer Art Revueform samt Gesangsauftritten. Die Atmosphäre: so etwa zwischen Bahnhofs-Wartesaal und „Dreigroschenoper“, also zerfasert. Dennoch gelingt es, das Figurenspektrum in Fassung zu halten. Die Schauspieler stellen auf herrlich leicht scheinende Art zumindest lose, assoziative Zusammenhänge her. Wie hat doch dieses Ensemble im Lauf der letzten Jahre gewonnen!

Von Erich Fried gibt es das Gedicht ,„Die Maßnahmen“. Dort heißt es lapidar: „…Die Feinde werden geschlachtet / Die Welt wird freundlich – Die Bösen werden geschlachtet / Die Welt wird gut.“ Ähnlich kindertrotzig, wundergläubig (und totalitär) geht es zu, wenn die „Irre“ (schmetterlingsbunt: Ingeborg Wolff) ihr Tribunal über die etwas groteske Crew der Kapitalisten abhält und sie mit einem angeblichen Ölvorkommen in die Kanalisation lockt, wo die Herrschaften verenden müssen.

Giraudoux hat das Stück 1943 geschrieben, mitten im Kriege und wohl in wahnwitzig lachender Verzweiflung über die deutsche Besatzung. Daraus mag sich die „irre“ Hoffnung herleiten, die vielleicht auch die Befreiung von den Nazis auf phantastische Weise vorwegnimmt.

So schwebt die ganze Sache denn auch etwas traumverloren dahin. Aber das naive Träumen wird doch gelegentlich noch erlaubt sein. Es könnte dieser Abend recht gut unter biblischem Motto stehen: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder… denn ihrer ist das Himmelreich“.

Tatsächlich befördert die Bühnen-Hydraulik am Ende die irre Weltenretterin samt Anhang in himmlische Höhen, während aus dem Orkus die totgeglaubten Besitzenden doch wieder auftauchen, die Mäuler voller Geld gestopft. Aus der Traum: Hienieden, so muß man fürchten, bleibt Mammon König.

Nächste Vorstellungen: 26. und 28. Dez.; 2.. 9. und 15. Januar.

 




Auf der Suche nach dem Gleichgewicht – Cees Nootebooms „Der Buddha hinter dem Bretterzaun“

Von Bernd Berke

Cees Nooteboom muß man, spätestens seit der letzten Buchmesse, als er mitsamt der niederiändisch-flämischen Literatur im Mittelpunkt stand, kaum noch vorstellen. Er gilt als Kandidat für den Literaturnobelpreis, sein Buch „Rituale“ steht seit Monaten auf der Bestsellerliste. Jetzt liegt eine neue Erzählung von ihm vor.

In „Der Buddha hinter dem Bretterzaun“ beweist er seine Meisterschaft an einem Thema, das man nicht mehr für prosatauglich gehalten hätte. Denn über Thailands Hauptstadt Bangkok, so meinte man, ist doch in mehr oder minder seriösen Reportagen schon alles gesagt worden.

Nooteboom läßt einen Reisenden durch die Metropole streifen und gleich der im Titel erwähnten Figur begegnen. Hinter jenem Bretterzaun belebt sich „ein dicker Woolworth-Buddha, zwanzigstes Jahrhundert…“ Der öffnet dem Reisenden die Augen: Nicht sofort alles aufschreiben (und damit abhaken), sondern den Fluß des Geschehens erleben, heißt die Devise.

In der chaotischen Stadt prallt scheinbar Unvereinbares aufeinander: z. B. traditionell gelebter Buddhismus und Sex-Industrie. „Versöhn‘ die Bilder“, lautet eine ins Paradoxe zielende Aufforderung des Zaun-Buddhas. Auf der Suche nach Gleichgewicht (nicht nach satter Zufriedenheit) zwischen den Widersprüchen befindet der Reisende: „Die Welt ist eine bittere Waage.“ Und er weist vorschnelle Moral-Urteile von sich: „Vergiß doch mal, daß du aus Europa bist. Hier sind die Huren Engel…“

Hier also geht vielleicht zusammen, was in Europa nicht ginge. Nur muß man anders reisen, anders wahrnehmen lernen. Nootebooms Reisender versucht es und merkt: Hier läßt sich sogar die Vielfalt vorhandener Waren, anders als im Westen, als Kultur erfahren. Hier gibt es ein Behagen in der Menge. Und es gibt das Glück einfachen Tuns. Die Fülle der Eindrücke übersteigt das Vermögen der Sprache. Zitat: „Einen Ozean kann man nicht aufschreiben.“

Der Mensch, so heißt es an einer Stelle, werde im Buddhismus nur als „Durchgangsstation“ für ein überpersönliches „Karma“ begriffen, auch kenne das Thailändische kein Wort für „Ich“. Und so wird auch der Reisende zum Strom, der alles in sich einfließen läßt: Götter und Gold, fremdartige Worte, Zeremonien, Sitten.

Ein schmales, aber „großes“ Buch: über das Reisen, das Fremdsein und die Wege der wirklichen Erfahrung.

Cees Nooteboom:, Der Buddha hinter dem Bretterzaun“. Erzählung. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main. 85 S., 19,80 DM.




Weltgeist in der Erbsensuppe – Ernst Jüngers privatisierende Tagebücher „Siebzig verweht III“

Von Bernd Berke

Ernst Jünger ist der wohl umstrittenste deutsche Autor des Jahrhunderts. Sein Frühwerk („In Stahlgewittern“) half heftig mit bei der geistigen Aushöhlung der Weimarer Republik. Zwar hat er sich dann nicht direkt mit den Nationalsozialisten eingelassen, sich aber stets in deutschnationalen Kreisen bewegt. Jetzt liegt der dritte Band seiner Tagebücher „Siebzig verweht“ vor. Erbauungs-Lektüre für «Rechtsausleger“?

Jünger geriet in der NS-Diktatur (wegen „Auf den Marmorklippen“, 1939) gar in Gefahr. doch hat er allzeit mächtige Beschützer gehabt. Niemand anderer als Hitler hat Jünger vor Verfolgung durch den Blutrichter Roland Freisler bewahrt. Diesen durch Dokumente gestützten Sachverhalt teilt Jünger in seinem Tagebuch spürbar bewegt mit.

Der Garten und die Insekten

Trotz aller Bedenken dürfte Jünger, der bald 99 wird und somit ein deutsches Jahrhundert überblickt, als Zeitzeuge auf seine Art unentbehrlich sein. Wird er dieser Stellung im Tagebuch gerecht? Nun, eigentlich privatisiert er lieber, als daß er sich noch auf Zeitfragen einließe.

Die jetzt erschienenen Aufzeichnungen reichen vom l. Januar 1981 bis zum 28. Dezember 1985. In diese Zeit fällt u. a. die strittige Verleihung Goethe-Preises an Jünger. Da ergreift er ausgiebig die Gelegenheit, sich als wegen seiner Gesinnung unschuldig „Verfolgten“ darzustellen. Er stellt sich dabei gar in eine historische Reihe mit den Juden (Seite 247), was eine unglaubliche Verzerrung ist.

Seine gelegentlichen Treffen mit Kohl und Mitterrand erwähnt er nur beiläufig. Den Hauptteil der Notizen bilden indes private Ereignisse: Reisen, besonders auf Mittelmeerinseln und nach Paris; der Lauf der Jahreszeiten in seinem Garten zu Wilflingen (Schwäbisehe Alb); gelegentlich eitle Wiedergaben von Briefen seiner Freunde und Anhänger – und immer wieder seine Hauptleidenschaft, die Entomologie, sprich Insektenkunde. Über rare Käfer freut sich Jünger königlich.

Zudem denkt er nicht mehr in Jahren, sondern in Zeitaltern. Demnach stehen wir vor „dem Übergang in eine Feuerwelt“ (z. B. wegen der Kernfusion), die einen „Weltstaat“ ratsam erscheinen lasse, womit sich Jünger immerhin von nationalistischen Phantasmen entfernt. Rückblickend ringt er sich ja sogar zu folgender Ansicht durch: „Mit der Linken wären wir ohne Zweifel besser gefahren…“

Tunnelblick auf neuere Litratur

Allerdings ist Jünger erzkonservativ und elitär geblieben, was kluge Gedanken selbstverständlich nicht ausschließt. Doch schon die Sprache ist manchmal verräterisch. Das ist ein Soldat nicht etwa gefallen oder gar verreckt, sondern „vor Metz geblieben“ (Seite 503). Wie nobel.

Schließlich fasziniert ihn der prekäre Zuchtwahl-Gcdanke, nur anders gewendet: Wenn „Dekadenz und Barbarentum“ sich paarten, könne Fruchtbares entstehen… Wie er denn überhaupt dazu neigt, Gesellschaftliches unter biologischen Vorzeichen zu sehen. Und Jünger gerät oft ins Nebulös-Esoterische. Auch seine oft gerühmte Sprache wird dann manchmal ungelenk. Da raunt er von einer „titanischen Welt“, die eine neue Magie der Technik freisetze und neue Menschen zeuge, da sinniert er übers Wassermann-Zeitalter.

Manchmal wird es unfreiwillig lächerlich, so etwa wenn er den waltenden Weltgeist sogar noch auf seinem Suppenteller erblickt. Zitat Seite 446: „In einer Erbsensuppe gibt es weder Zahlen noch Individuen mehr. Die Erbsen sind mehr oder weniger deformiert… Das könnte der Zustand sein, den wir erreicht haben.“

Von seiner weltenthobenen Warte aus nimmt Jünger kaum Gegenwarts-Autoren wahr. Er nennt praktisch nur Bestseller von Umberto Eco („Der Name der Rose“) und Patrick Süskind („Das Parfüm“). Kein Böll, kein Grass, kein Walser. Welch ein Tunnelblick!

Ernst Jünger: „Siebzig verweht III“. Tagebücher. Verlag Klett-Cotta. 594 S., 68 DM.




Singselig und sturzvital – die „Kinks“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Da kommt er, solo mit Gitarre: Ray Davies (49). Er stimmt gleich den Song „A Well Respected Man“ an. Ist ja auch wahr: Seit 30 Jahren ist er mit seinen „Kinks“ auf der Szene. Das ist mehr als respektabel.

Davies beginnt in der nicht ganz ausverkauften Westfalenhalle II mit einem Medley bejahrter Erfolgstitel, das Sommerstück „Sunny Afternoon“ natürlich inklusive. Ray Davies reißt diese Hits nur kurz an. Vielleicht hat er sie sich leid gespielt. Aber sie gehören halt nicht nur dazu, sondern sind auch nachher Kern des Programms – und der Mann freut sich ersichtlich, sein Publikum mit solchen Erinnerungen in den Griff zu bekommen.

Seit 30 Jahren im Rock-Geschäft

Um 30 Jahre unverdrossen in Sachen Rock unterwegs zu sein, braucht man zweierlei: Besessenheit, aber auch so etwas wie Disziplin, um nicht irgendwann abzusacken. Ray Davies genießt es jedenfalls immer noch, wenn die alten Refrains mitgesungen werden. Oft hält er sein Mikrofon in die vorderen Reihen, so als sollten alle beteiligt sein.

Nach dem nostalgischen Einstieg kommt die Band hinzu, natürlich nicht mehr die Ur-Formation. Aber Rays Bruder Dave Davies („Death of a Clown“) ist immer noch dabei. Die zwei sind seit Jahrzehnten aufeinander eingespielt, so daß der Rest der Gruppe – Jim Rodford, lan Gibbons und Bob Henrit – völlig zurücktritt und dienende Funktionen übernimmt. Sie rollen sozusagen den Sound-Teppich für Ray Davies aus.

Manche Metaller ins Abseits gespielt

„Give the people what they want“ scheint man sich – einem Plattentitel folgend – gedacht zu haben: Man präsentiert sich eineinhalb Stunden lang vornehmlich als Hardrock-Band, die jene singselige „Rockpalast-Stimmung“ bedient. Energisch spielt man tatsächlich noch so manche Jüngelchen aus Heavy-Formationen ins Abseits. Dies den Scherzkeksen ins Stammbuch, die behaupten, zu den „Kinks“ könnten nur noch Leute mit Rheumadecken hingehen. Zugegeben, im Publikum sind angegraute Jahrgänge in der Mehrheit. Aber was heißt das schon.

Melodische Feinheiten und die zum Teil kritischen Texte gehen ziemlich unter. Die Leute hören, zumal in einer Samstagnacht, eben lieber solche „Kracher“ wie „You Really Got Me“, „All Day and All of the Night“, „Low Budget“ oder „Phobia“. Die sind aus dem Urstoff des Rock, hämmernd, treibend, fordernd, im Grunde immer optimistisch. Ein sturzvitaler Song wie „Till the End of the Day“ kann einen aufmöbeln für einen ganzen Tag.

Doch das Beste des Abends war sicherlich die furiose Hymne der Widerspenstigen: „I’m not Like Ev’rybody Else“ („Ich bin nicht wie jeder andere“). Man sang’s im Hallenchore mit. Naja, ein Widerspruch ist’s schon, massenhaft ganz anders sein zu wollen. Aber Schwamm drüber. Schön war es doch.

Ärgerlich nur die langweilige Vorgruppe „Katrina and the Waves“. Ein Lied klingt wie das andere, und alle wie eins. Die werden bis in alle Ewigkeit Vorgruppe bleiben.




Die Vermessung des Menschen – Oskar Schlemmers „Folkwang-Zyklus“ und Artverwandtes in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Also sprach der Künstler anno 1930 im Hörfunk: „Wenn erst einmal der Fernseher da sein wird, eröffnen sich auch uns Perspektiven, die gar nicht abzusehen sind… Dann können auch wir uns an die Masse des Volkes wenden.“

Der grandiose Optimist war Oskar Schlemmer (1888-1943). Anlaß seines denkwürdigen Funkauftritts war just jener Werkzyklus, der jetzt im Essener Museum Folkwang gezeigt wird.

Schlemmers „Folkwang-Zyklus“ war Ergebnis eines Ende 1927 gestarteten Wettbewerbs zur Ausgestaltung des Museums mit Wandbildern. Für den damaligen Folkwang-Direktor Ernst Gosebruch stand freilich der Sieger von Anfang an fest: Oskar Schlemmer. Dabei waren die Mitbewerber, Erich Heckel und Willi Baumeister, kaum weniger hochkarätig. In Essen kann man einige ihrer Entwürfe mit denen Schlemmers vergleichen.

„Die jungmännliche Bewegung“

Schlemmer war seinerzeit in Geldnöten. Und so stürzte er sich geradezu in die Essener Arbeit. Er gab sich ungeheure Mühe, um den Wandfries in der zentralen Museums-Rotunde zu gestalten, in deren Zentrum George Minnes Brunnen mit Knabenfiguren (1898) installiert war. Das vorgegebene Thema für die Wandbilder lautete, für heutige Ohren reichlich altfränkisch klingend: „Die jungmännliche Bewegung“. Man könnte das etwa mit Gymnastik oder Sport gleichsetzen.

Doch Schlemmer faßte das Thema viel weiter. Ihm ging es um das Verhältnis zwischen menschlicher Figur und Raum überhaupt. In Essen kann man nun anhand von 180 Arbeiten die Entstehungs-Phasen nachvollziehen. Erst nach vielen Vorstudien und drei Fassungen des Zyklus‘ rang sich Schlemmer zur gültigen Formulierung durch. Das Projekt glich anfangs einer grundlegenden Vermessung des menschlichen Körpers und seiner Bewegungen – in der Tradition eines Dürer oder Leonardo.

Typisierte Figurinen

Resultat sind keine Menschen mit individuellen Zügen, sondern typisierte, abgerundete Figurinen. Diese Jünglinge werden so paßgenau in geometrisch gefaßte Räume gespannt, daß sie mit ihrer Umgebung verschmelzen. Und der Bildraum steht dabei für den ganzen Kosmos.

Zum Vergleich werden in Essen Schlemmer-Gemälde aus der gleichen Zeit gezeigt. Bemerkenswert auch hier, wie präzise er seine Figuren gruppiert und – oft an Treppengeländern entlang – hintereinander staffelt, so daß man meint: Anders kann es gar nicht sein, es darf sich um keinen Millimeter verschieben. Gelegentlich stellt Schlemmer die Figuren in eine quasi surrealistische Schachbrettwelt hinein („Frauenschule“), die bereits an de Chirico gemahnt.

Werke in alle Winde zerstreut

Die historisch aufschlußreichste Abteilung folgt am Ende des Rundgangs. Schlemmer hatte schon 1933 seine Folkwang-Arbeiten wieder abgehängt. Der neue FolkwangChef Klaus Graf von Baudissin paßte sich dem braunen Zeitgeist an und schrieb 1934 eilfertig einen neuen Wettbewerb aus, an dem sich 240 Künstler beteiligten. Unter ihnen auch der Westfale Fritz Winter, der erstaunlich abstrakte Arbeiten einreichte und sogar in die Endausscheidung vordrang.

Es war damals eben noch nicht so recht ausgemacht, ob sich die NS-Machthaber der Avantgarde bedienen oder ob sie sie verfemen würden. Doch das Blatt wendete sich dann rasch, wie man weiß: Werke Schlemmers wurden beschlagnahmt, in alle Winde zerstreut und zum Teil im Bombenhagel des Krieges zerstört…

Oskar Schlemmer: Folkwang-Zyklus / Malerei um 1930. Museum Folkwang, Essen. 12. Dez. 1993 bis 13. Feb. 1994. Tägl. außer Mo. 10-18 Uhr, Do. 10-21 Uhr. Eintritt 5 DM. Zweibändiger Katalog 42 DM.




Mit Haußmann soll es fröhlich werden – Ab 1995 dürfte sich am Bochumer Theater einiges ändern

Von Bernd Berke

Bochum. ,lch bin ein fröhlicher Mensch“, sagt Leander Haußmann von sich. Und das werde sich im Spielplan auswirken, wenn er 1995 die Leitung des Bochumer Schauspielhauses übernehme. Doch auch bei ihm. so der 34-jährige, werde nicht ganzjährig Theater-Karneval herrschen. Er werde als Kontrast zu sich selbst auch Regisseure engagieren, die eher spröde inszenieren.

Haußmann hat gerade zähe Verhandlungen mit Bochums Kulturdezernentin Dr. Ute Ganaris hinter sich: „Es war richtig anstrengend.“ Doch erfahrene Kollegen wie etwa der frühere Bochumer Schauspielchef Claus Peymann oder Jürgen Flimm hätten ihm dringend raten, sofort alles durchzufechten: „Was du jetzt nicht erreichst, kriegst du später nie mehr.“

Vertrag noch nicht ganz sicher

Haußmann läßt durchblicken, daß er vor allem gewisse Nachbesserungen am maroden technischen Apparat zur Bedingung macht, bevor er den Vertrag unterzeichnet. Auf städtischer Seite müssen noch Kultur- und Finanzausschuß zustimmen, bevor im Februar 1994 der Rat Haußmanns Engagement endgültig absegnet. Trotzdem wurde Haußmann gestern der Presse schon quasi als Bochumer Errungenschaft vorgestellt. Der gebürtige Quedlinburger, aufgewachsen in Ostberlin, gelobte, er werde im Revier kein hochherrschaftliches Intendanten-Theater veranstalten, sondern alles auf die Schauspieler ausrichten. Und Schauspieler seien nun mal meist Komödianten.

Haußmann weckt also die Hoffnung, daß (nach den oft düsteren Visionen seines amtierenden Vorgängers Frank-Patrick Steckel) auf Bochums Bühne mal wieder bunt-sprühende Funken schlagen. Ja, er habe einige Produktionen in Bochum gesehen. Wie fand er’s? Nun ja, Steckel mache es dem Publikum nicht leicht, fordere viel Konzentration. Es fehle derzeit ein Gegengewicht, alles gehe zu sehr in diese eine Richtung. Doch das Ensemble sei hervorragend.

Peymanns Augen glänzten verklärt

Trotzdem werde er, Haußmann, viele Schauspieler mitbringen, so daß einige andere gehen müßten. So sei das eben am Theater. Es lägen ihm schon viele Schauspieler-Bewerbungen für Bochum vor („Auch von namhaften Leuten“), wie man ihn denn überhaupt um seine neue Aufgabe zu beneiden scheine. Auch Claus Peymanns Augen hätten verklärt geglänzt, als er mit ihm über Bochum sprach.

In Sachen Platzausnutzung verzeichnet Bochum seit Jahren Schwund. Haußmann selbstbewußt: Erfolge seien doch im voraus berechenbar. Wenn man etwa „Romeo und Julia“ auf den Spielplan setze, strömten die Menschen nur so ins Theater. Jedoch: „Auch Flops müssen erlaubt sein.“ Er sei nicht nur dazu da, „um das Haus vollzumachen“, sondern wolle auch mal sperrige Experimente ermöglichen.

Gagensumme soll erhalten bleiben

Kulturdezementin Canaris machte klar, daß das Gagen-Volumen fürs Schauspiel in Bochum möglichst nicht verringert werden soll – auch dies eine Bedingung von Haußmann. Allerdings, so Frau Canaris, wisse man nicht, wie sich die Stadt-Finanzen entwickeln. Die Gagensumme pro Saison beträgt 9,5 Mio. DM. Wenn freilich Leander Haußmann 1995 antritt, wird es bereits rund l Million weniger sein, denn man spart ja mit Steckels Weggang Reinhild Hoffmanns Tanztruppe ein. Dazu wollte sich Haußmann nicht äußern. Er verstehe zu wenig von Tanztheater…

Ansonsten schätzt er auch schon mal deutliche Worte. Wie er denn mit Kritikern auskomme? „Eigentlich gut.“ Aber neulich habe mal einer geschrieben, er, Haußmann, sei die fröhlichste Regie-Null Deutschlands. Haußmann: „Dem hätte ich am liebsten eins in die Fresse gehauen.“




Chaot der Rockmusik – Zum Tod von Frank Zappa

Von Bernd Berke

Das Poster, das den verzottelten Kerl auf der Toilette zeigte, hing fast überall, wo man rebellisch gestimmt war. Es war eine Ikone der 60er Jahre. Und der Titel seines ersten Albums „Freak out“ (etwa: Brich aus!) wurde zum Schlachtruf der Aufsässigen. Der Rockmusiker Frank Zappa, Symbolfigur einer ganzen Generation und Inbegriff des Underground, ist tot. Mit nur 52 Jahren starb er an Prostatakrebs.

Erst gestern früh wurde die traurige Nachricht bekannt, und die Agenturen verbreiteten sie mit dem Dringlichkeits-Vermerk „Vorrang“. Zappa starb bereits am Samstag in Los Angeles, am Sonntag wurde er schon im engsten Kreise von Freunden und Angehörigen beigesetzt. Seine Familie, Frau und vier Kinder, teilte lapidar mit, er sei nun „zu seiner letzten Reise aufgebrochen“. Vielleicht ist er ja nun in jener anderen Welt auf Tournee und logiert in einem jener „200 Motels“, die er einst besang und im Film zeigte.

„Kein Akkord ist häßlich genug…“

„Kein Akkord ist häßlich genug, um all die Scheußlichkeiten zu kommentieren, die von _ der Regierung in unserem Namen verübt werden“, befand Zappa zur Zeit des Vietnam-Krieges. Er soll schon als kleiner Junge gegen seines Vaters Arbeit in der Rüstungsindustrie protestiert haben, indem er tagelang eine Gasmaske trug. Mag das auch fromme Freak-Legende sein, so hielt sich Zappa später doch an die Sache mit den Akkorden. Keiner (außer vielleicht Jimi Hendrix konnte der Bühnen-Elektronik so nervenzerfetzende Kreischtöne entlocken und so chaotisch erscheinende Klang-Collagen basteln wie Zappa.

Impulse aus neuer E-Musik und Free Jazz

Das ging nur, wenn man andere künstlerische Fixpunkte hatte als lediglich die Rockmusik. Bei Zappa waren es Komponisten moderner E-Musik wie Strawinsky, John Cage und Edgar Varese, aber auch der Free Jazz. Ob man ihn bei solchen Grenzgängen zwischen den musikalischen Welten für ein Genie oder einen Scharlatan hielt, war ihm letztlich schnurz. So viel Sarkasmus wie seine Kritiker brachte er allemal auf. Übrigens hat er bis zuletzt verbissen gearbeitet und gegen seine Krankheit angekämpft: Im Frühjahr ’94 wird die kurz vor seinem Tod fertiggestellte Platte „Civilization: Phase III“ erscheinen.

Symbolische Massaker auf der Bühne

Berühmt wurde der am 21. Dezember 1940 in Baltimore/Maryland (USA) als Sohn sizilianischer Einwanderer geborene Zappa anfangs vor allem als Provokateur von speziellen Gnaden. Da ließ er von der Bühne herab Stofftiere ins Publikum ejakulieren, verübte symbolische Massaker an Baby-Puppen und lieferte obszöne Songtexte ab, in denen schmutzige „Four-Letter-Words“ reihenweise vorkamen. Wäre er tatsächlich in den Wahlkampf um die US-Präsidentschaft gezogen, wie er es einmal vorhatte, man hätte Amerika nicht wiedererkannt. Jedenfalls machten die rabiaten Auftritte ihn und seine Band „The Mothers of Invention“ zu Kultfiguren. Daß musikalisch eine ganze Menge Originalität dahinter steckte, merkten anfangs nur wenige.

Vermarktung – nicht ohne Zynismus

Doch auch der wildeste Freak kommt in die Jahre und möchte noch ein wenig abkassieren. So wurde Zappa in den 80er Jahren zum zynisch-gewieften Vermarkter. Auch seine Kinder spannte er ein. Kaum konnten sie singen, mußten sie vors Mikro, kaum konnten sie etwas kritzeln, gab es die Motive auf T-Shirt in Zappas Postversand. Und manchmal verstieg er sich in seiner Provokationslust auch ins Unsägliche, etwa indem er Spezial-KZ’s empfahl, um lasche Musiker auf Vordermann zu bringen…

Irgendwie hatte Grace Slick, die Sängerin von „Jefferson Airplane“ wohl schon recht, als sie mal über Zappa sagte: „Er ist das intelligenteste Arschloch, das ich je getroffen habe.“ Zappa selbst hätte gegen solche Sätze in seinem Nachruf wohl nichts einzuwenden gehabt.

 




Wenn alle Witze heillos vergiftet sind – „Comedians“ von Trevor Griffiths im Dortmunder Schauspiel

Von Bernd Berke

Dortmund. Was ist eigentlich Komik? Typisch deutsche Grübelfrage, nicht wahr? Doch in diesem Fall stellt sie der Engländer Trevor Griffiths. Sein 1975 verfaßtes Stück „Comedians“ („Komiker)“ hatte jetzt in Dortmund Premiere.

Das Studio im Schauspielhaus ist eine karge Schulklasse. Ab und zu poltert der Hausmeister (Günther Hüttmann) herein, um herumzumaulen oder den Kaktus zu gießen. Gibt es Tristeres auf Erden? Doch hier bekommen sechs Männer Abendunterricht in Sachen Witz. Alle schlagen sich sonst mit Gelegenheitsjobs durch. Eine Komiker-Karriere, und sei es in Kneipen, wäre die Chance. Folglich herrscht bissige Konkurrenz. Die Luft knistert von Brutalität, die nur notdürftig in Scherze verpackt wird. Der Stoff, aus dem die Witze sind, ist vergiftet.

Dann betritt der Lehrer Eddie Waters (Horst Westphal) die Szene, ehedem „Lachbombe“ vom Dienst, jetzt aber von Resignation zerknittert. Er predigt trotzdem schöne Ideale. Komik müsse die Wahrheit über den Menschen sagen, alles andere sei Verrat. Doch, oh weh: Der mächtige Prüfer Challenor (Lordschaft der Lachverwaltung: Heinz Ostermann), der Waters‘ Humorklasse begutachten soll, ist ganz anderer Ansicht. Der meint, mit Komik müsse man der dummen Masse zur Flucht aus dem Alltag verhelfen. Koste es, was es wolle.

Dann wird das Publikum ins Erdgeschoß gebeten. Man hat das Bistro zu einem Variété umgebaut. Hier legen die sechs Prüflinge los – und siehe da: Sie haben sich (bis auf einen, der aus Rebellion die Haßkappe „aufsetzt) an Challenors Zynismus angepaßt, haben ihre dürftigen Nummern noch fieberhaft umgestülpt, um einen Job zu bekommen. Nun lassen sie rassistische Witze vom Stapel, oder sie koddern sexuelle Derbheiten heraus. Die Spottverse auf eine gewisse „Frau Motze“ reimen sich…

Nur für üble Scherze gibt es einen Job

Hernach wandern die Zuschauer nochmals – zurück ins Studio. Dort werden die Urteile gefällt. Challenor gibt natürlich den miesesten Possenreißern die Verträge. Folgt ein angepappter Schluß, in dem man erfährt, wie Eddie Waters der Humor abhanden kam, als er nach Kriegsende das zerstörte Dresden und das KZ Buchenwald sah und dabei auch noch „einen Ständer“ hatte…

Der Abend bereitet allseits große Pein – Schauspielern wie Zuschauern. Die Darsteller müssen (das Stück will es ja so) zweieinhalb Stunden lang üble Witze zum besten geben, Rohrkrepierer allesamt. Schwerstarbeit: So zu tun, als würde man jede Pointe todsicher versauen. Es verlangt schauspielerische Selbst-Kasteiung von Kai Hufnagel, Günter Burchert, Frank Voß, Christian Tasche, Alexander Mulheim und Jürgen Uter. Respekt! Doch ihre Mühen übersteigen den Ertrag.

Lachlustige Zuschauer, die sich vom Titel locken lassen, erleiden eine todtraurige Komik, die gnadenlos zu Markte zieht. Da bleibt einem das Lachen nicht nur im Halse stecken, da kommt gelegentlich blanke Wut auf. Wollte Regisseur Johannes Zametzer das wirklich erreichen?

Danach kann man stundenlang keinen Witz mehr hören. Und man fragt sich benommen: Wie weit muß ein Stück jene Verhältnisse abbilden, die es doch wohl beklagen will?




Kühne Kunst-Pläne in einer alten Villa – Ahlen verdankt sein neues Museum einem Industriellen

Von Bernd Berke

Ahlen. Diese Geschichte könnte beinahe im kulturellen Schlaraffenland spielen: Da überläßt ein Industrieller dem Kunstverein „seiner“ Stadt eine dreistöckige, geräumige Gründerzeitvilla und sorgt auch noch für den kostspieligen Umbau zum Museum. Im westfälischen Ahlen ist die Geschichte, die in rigiden Spar-Zeiten märchenhaft klingt, wahr geworden.

„Kunstmuseum Ahlen“ nennt man das schmucke Haus an der Weststraße jetzt stolz. Der Unternehmer Theodor F. Leifeld hat den 1882 errichteten Bau dem Kunstverein Ahlen zur Verfügung gestellt – vorerst bis Ende 1996. Man will halt erst einmal sehen, wie sich die Sache anläßt. Doch vor dem Haus entsteht bereits ein kleiner Skulpturengarten. Und eigentlich denkt man auch schon an weiteren Ausbau.

Der Kunstverein, der mit aktuellen Werken weiterhin die Stadtgalerie „bespielt“, möchte in seinem neuen Domizil zunächst ein Museum mit ständiger Sammlung aus der klassischen Moderne einrichten – und dann vielleicht sogar noch eine kleine Kunsthalle für Wechselausstellungen daneben stellen. Wahrlich ehrgeizige Pläne in der „Provinz“. Dem Kunstverein (Vorsitz: Walter Rinke) kommt diese Aufbruchstimmung zugute. Binnen Jahresfrist ist die Zahl der Mitglieder von 80 auf 132 gestiegen.

Auch die Auftakt-Schau im neuen Hause läßt hoffen, daß der Ehrgeiz nicht bodenlos ist. Denn man hat eine kompakte, recht aufschlußreiche Präsentation zum Thema „Bauhaus“ zusammengetragen, mit einigen Originalwerken von Größen wie Klee, Schlemmer, Feininger, Moholy-Nagy und Kandinsky. Sie alle waren Lehrmeister am „Bauhaus“ (Weimar / Dessau / Berlin), das besonders in den 20er Jahren mit der Kunst auch eine umfassende Reform des Alltags anstrebte.

Zum Vergleich zeigt man in Ahlen auch Arbeiten von damaligen Bauhaus-Schülern. Es sind Belege für die Wirksamkeit einer Lehre, deren Verästelungen bis in die Nachkriegszeit reichen und sogar „unser aller Kunst-Unterricht in der Schule beeinflußt haben“, wie Ausstellungsleiter Burkhard Leismann meint. Auch westfälische Ausläufer der Bauhaus-Richtung (Fritz Winter, Fritz Levedag) werden dargestellt.

Das Spektrum der Ausstellung ist breit und reicht von Tafelbildern und Fotografie über Architektur-Modelle und Lampen-Entwürfe bis hin zu Sitzmöbeln – all das im nüchternen, auf praktische Funktion ausgerichteten Bauhaus-Geist. Zuweilen staunt man, wie kühn und weit „damals“ vorausgedacht wurde. Das Bauhaus setzte Wegmarken, auf die man sich erst heute wieder besinnt.

Die Ahlener warten zudem mit einer Überraschung auf. Sie konnten einige Stücke aus einer hochkarätigen Heidelberger Privatsammlung auswählen, die selbst in der Fachweit weithin unbekannt ist.

Kunst-Museum Ahlen (Weststraße 98 / Tel.: 02382/3511): „Das Bauhaus – Gestaltung für ein modernes Leben“. Ab 5. Dezember (Einlaß am Eröffnungstag: 14 Uhr) bis 6. Februar 1994. Di-Fr 15-18 Uhr, Do 15-20. Sa/So 11-18 Uhr). Eintritt 3 DM; ermäßigt 1 DM. Katalog 30 DM.




Aids macht auch Künstler hilflos – Hagen: Bilder und Objekte zum Thema Immunschwäche

Von Bernd Berke

Hagen. In einer Ecke des Museums erhebt sich ein Hügel aus lauter Bonbons. Die Info-Tafel verkündet: Jene leckeren Kleinigkeiten wiegen zusammen so viel wie ein abgemagerter Aids-Kranker. Symbolisch dürfen die Besucher den Mann gleichsam weiter schrumpfen lassen, indem sie je ein Bonbon wegnehmen. Welch ein Kurzschluß zwischen Tod und Genuß!

Ist das nun eine eindringliche Mahnung oder schlicht eine Geschmacklosigkeit? Diese Frage kann man sich in der Hagener Ausstellung „Thema: Aids“ ständig stellen.

Hagen ist einzige deutsche Station der Schau, die aus Oslo kommt und praktisch nur Aids-Kunst aus den USA versammelt. Dort ist die Diskussion weiter fortgeschritten und hat ganz offenbar Künstler animiert, sich weniger um ästhetische Werte als um die korrekte Behandlung sozialer Fragen zu kümmern. Wie prekär und zuweilen peinlich derlei beflissene Trauerarbeit sein kann, hat kürzlich Fritz J. Raddatz in der „Zeit“ für die Literatur dargelegt. Manche seiner Bedenken können wohl auf bildnerisches Schaffen übertragen werden.

Symbol, laß nach!

Man schaue sich an. wie etwa Barton Benes das Thema unter sich begräbt: Erst zeigt er Fixernadeln als Molotow-Cocktails, dann setzt er eine Dornenkrone daneben. Symbol, laß nach! Fast untrügliches Zeichen für ästhetische Hilflosigkeit: Einige Künstler brauchen enorm viele Schriftzeichen und Worte, um ihr Anliegen zu verdeutlichen. Schier endlose Listen mit Namen von Aids-Toten sind ein weiteres Mittel, das sich längst abgenutzt hat. Da hilft es auch nichts, wenn die Kolumnen in goldenen Lettern präsentiert werden, als solle das Ableben durch Aids veredelt werden.

Hilflosigkeit liegt dem Thema natürlich nahe. Sie trägt denn auch humane Züge. Davon zeugen etwa die vielen Foto-Sequenzen über körperlichen Verfall. Nur muß man dies nicht unbedingt Kunst nennen, sondern engagierte Dokumentation. Andere nehmen das Thema unter Lupe und Mikroskop: womöglich infektiöses Ejakulat in verfremdender Großaufnahme, desgleichen Blut, Zellen, Viren.

Bundeszentrale als Förderer

Man ist dankbar für verzweifelt-sarkastische Schlenker. so etwa bei jenen zunächst verdeckten GIücksspiel-Karten, die hernach die Konterfeis von Aids-Toten vorweisen. Fast jede Karte ein Verlust, nur ein paar Joker haben gewonnen. Ein Blatt zeigt den Kopf von Keith Haring, der vor einigen Jahren an Aids starb. Sein titelloser Beitrag von 1988, eine Art Virus-Labyrinth als schwarzweißes Riesenformat, zählt zu den besseren Arbeiten.

Im Seitenkabinett sieht man Aids-Aufklärungsplakate aus aller Welt, im Vorraum ebenso gut gemeinte Beiträge der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die das Projekt fördert und als „positive Strategie“ preist. Kann Kunst strategisch wertvoll sein?

Thema: Aids“. Osthaus-Museum, Hagen. Ab sofort bis 9. Januar 1994. Tägl. außer Mo 11-18, Do 11-20, So 11-18 Uhr.