Kunstverein Dortmund will in die erste Reihe – mit Serra-Ausstellung und weiteren Vorhaben

Von Bernd Berke

Dortmund. Mit einer Ausstellung des berühmten Richard Serra will der Dortmunder Kunstverein im Sommer ’95 Furore machen. Die Schau kommt aus New York, die Stationen heißen Lissabon, Dortmund und Rom. Weltstädte unter sich?

Bisher wurde das Projekt verschwiegen behandelt, nun ist es heraus: Zumindest großformatige Zeichnungen aus neuster Produktion des Amerikaners, dessen Stahlplastik „Terminal“ ein Wahrzeichen der Bochumer City ist, werden in Dortmund zu sehen sein. Und die Chancen auf ein größeres Ereignis stehen offenbar bestens.

Der Kunstverein verhandelt derzeit mit zwei bekannten Dortmunder Institutionen, die sich beteiligen könnten. Für eine Nennung ist es noch zu früh, aber man kann schon verraten: Ein Kooperations-Partner gehört zum öffentlichen Sektor, der andere zum privaten. Falls der Dreierbund zustande kommt, dürften zum Beispiel auch einige der tonnenschweren Stahlplastiken von Serra nach Dortmund kommen.

„Es wird höchste Zeit, daß der Dortmunder Kunstverein von sich reden macht“, findet Burkhard Leismann (41), der seit einigen Monaten als Ausstellungsmacher die Geschicke lenkt. Nach Beilegung gewisser Querelen (Ablösung seiner Vorgängerin) fühlt sich Leismann nun stark genug, um den Kunstverein als unverzichtbare Ergänzung zu den örtlichen Museen und Galerien zu etablieren.

Zu Köln und Düsseldorf aufschließen

Immerhin werde dieser Kunstverein schon zehn Jahre alt (am 27. November wird im Ostwall-Museum mit prominenten Gästen gefeiert), doch die Mitgliederzahl stagniere bei etwa 500 Leuten, von denen nur etwa 100 wirklich aktiv seien: „In einer Stadt mit über 600 000 Einwohnern und mit diesem Umland muß einfach mehr drin sein“, glaubt Leismann. In vier bis fünf Jahren, so sein Ziel, müsse der Mitgliederstand deutlich gewachsen sein. Denn mit jährlich etwa 50 000 DM an Jahresbeiträgen, die man jetzt einnimmt, lassen sich keine großen Sprünge machen.

Leismann, der parallel das Ahlener Kunstmuseum betreut, träumt „als alter Dortmunder“ davon, daß der hiesige Kunstverein mit den Pendants von Düsseldorf oder Köln in einem Atemzug genannt wird. Er möchte die Kräfte und Kontakte des Kunstvereins auch für Dienstleistungen einsetzen, sprich: Man könne ganze Kulturprogramme für Unternehmen maßschneidern – gegen Bezahlung, versteht sich. Auf diese Weise ließen sich auch die schmalen Mitgliedsbeiträge aufstocken. Und wer nebenbei noch spenden will, wird ganz gewiß auch nicht abgewiesen.

Nicht nur solche Aktivitäten und die Serra-Ausstellung sollen für Belebung sorgen. Neben einer Reihe mit südamerikanischer Kunst ist auch eine originelle Aktion mit lokalem Bezug angelaufen. Der Kunstverein hat 1000 Dortmunder um die Beschreibung ihrer liebsten Wegstrecken in der Stadt gebeten, die ersten Antworten treffen gerade ein. Einige Dutzend Wege im gesamten Stadtgebiet sollen dann von einem Kölner Künstler mit Acrylfarbe markiert werden. Keine bittere Kritik an Bausünden und mißlicher Stadtplanung also, sondern ganz im Gegenteil: nachdrückliche Hinweise auf womöglich verborgene Schönheiten. So etwas entspricht Leismanns Neigung zum positiven Denken.




Durch die verstreuten Spuren einer Gedankenwelt gehen – Ulrich Langenbach und Ernst Martin Kolbe stellen in Ahlen aus

Von Bernd Berke

Ahlen. Ganz tapfer sein müssen die Besucher in der neuen Ausstellung des Ahlener Kunstmuseums. Es wird ihnen nämlich keinerlei Erklärung zuteil – nicht einmal durch Bildertitel, bei denen man sich etwas denken könnte. Und das ist pure Absicht.

„Elf versteckte Einzelheiten“ heißt die Schau von Ulrich Langenbach und Ernst Martin Kolbe. Mit dem Titel beginnt der Trugschluß, denn er soll lediglich zum konzentrierten Hinsehen ermuntern. Wie gemein!

Der Siegener Ulrich Langenbach (Jahrgang 1950) ist Autodidakt der freien Kunst, aber längst arriviert. Er verfügt über einen großen Fundus an Objekten und bringt auch viele zum Ort des Geschehens. Doch den Löwenanteil nimmt er wieder mit nach Hause. Wieso? Weil er die Sachen immer wieder anders kombiniert, je nach Raumsituation. Und weil er zwischen den Elementen so große Leerstellen läßt, daß er das meiste Material gar nicht benötigt.

Wären die Teile strikt voneinander isoliert, hätte man’s vielleicht einfacher: Die alten Fotos, kleinen Zeichnungen, Textfetzen und Reliefs sind jedoch so verteilt, daß sie „irgendwie“ zusammengehören. Man fragt sich, ob hier Zufall oder besonders listige Vorsehung waltet. Und wo ist überhaupt die Grenze des Einzelwerks? Irritierend genug: Eins geht ins andere über und besteht doch eigenwillig für sich. Alles ist, was es ist – und will wohl gar nicht mehr bedeuten, als was man sehen kann.

Man geht also mit irrendem Blick im Raum umher. Genau das ist gewollt, es könnte – so Langenbach – zur speziellen Selbst-Erfahrung führen: „Der Betrachter soll den Halt in sich selbst finden.“ Doch auch das ist nur ein Anstoß, keine Deutung. Vielleicht kommt man dem Kern näher, wenn man sich Qualitäten und Zustände (weich gegen hart, offen gegen geschlossen) vergegenwärtigt.

Oder wenn man Langenbachs Texte liest, die zwischen den Einzelteilen stecken. Manches deutet darauf hin, daß er (mit hintersinnigem Witz) auch Kindheitsreste verarbeitet. Da geht es z. B. um Zeichenlehrer oder katholische Erziehung. Eine kleine Box, so verrät Langenbach, hat mit frühen Erfahrungen im Beichtstuhl zu tun. Privatsachen? Jedenfalls sind sie wahrnehmbare Form geworden. Man kann durch die Spuren einer Gedankenwelt gehen. Ist das nichts?

Auf den ersten Blick strenger wirken die Arbeiten von Ernst Martin Kolbe. Auch er reagiert sensibel auf Ausstellungsräume. In Siegen schlief er sogar einmal zwei Nächte am Ort, bevor er sich an den Aufbau machte. Kolbe bezieht auch unscheinbare Details wie etwa Stromsteckdosen mit ein. Daraus entstehen optische Rhythmen, es ergibt sich unterschwelliges Regelmaß.

Bleibt man geduldig, wird man belohnt: Wie gut, daß man nicht gleich versteht. Dann könnte man ja sofort wieder gehen. Solche Rätsel aber halten wach. Denn sie lassen genug zu schauen und zu denken übrig.

Ulrich Langenbach / Ernst Martin Kolbe: „Elf versteckte Einzelheiten“. Kunstmuseum Ahlen, Weststraße 98. Di-Fr 15-18 Uhr, Sa./So. 10-18 Uhr.




Gemeinsam stärker: Vier NRW-Landestheater bündeln ihre Kräfte

Von Bernd Berke

Im Westen. Weiterhin getrennt spielen, aber ab sofort mit einer Stimme für sich werben wollen die vier Landestheater in NRW. Sie leisten sich ein gemeinsames PR-Büro in Düsseldorf. Entsteht da ein Theater-Kartell?

Das Bühnen-Quartett (Castrop-Rauxel, Neuss, Detmold und Dinslaken) ist vor allem zuständig für Gastspiele auf dem „flachen Land“, also für die kulturelle Versorgung von insgesamt rund 150 kleineren Orten ohne eigene Ensembles. So manche Gemeinde in Südwestfalen etwa greift gern auf Angebote des Westfälischen Landestheaters (WLT, Castrop-Rauxel) zurück.

Doch neuerdings „wird der Markt enger“, wie WLT-Intendant Herbert Hauck und Vertreter der anderen Landesbühnen gestern in Dortmund zugaben. Burkhard Mauer vom Landestheater Neuss deutete an, daß einige Kommunen im Zuge von Sparzwängen mit dem Kommerz flirten. Sie wollen nur noch Tourneetheater verpflichten, jene lieblos um ein bis zwei TV-bekannte Stars gruppierten Wandertruppen, die mit oft seichten Produktion vermeintlich hohe Platzausnutzung garantieren.

Spielpläne aus dem „Musterkoffer“

Die Landesbühnen bieten hingegen auch sperrige Stücke an. Dies wollen sie nun mit vereinten Kräften und offensiv als Erfüllung ihres Kulturauftrags vertreten. Im gemeinsamen Büro für Öffentlichkeitsarbeit und Verkauf (Tel. 0211/7118345), gelegen in Sichtweite des Kultusministeriums, von dem alle Landesbühnen Zuschüsse erhalten, nimmt die frühere Dramaturgin Claudia Scherb (31) Platz. Doch es ist kein Sitzjob. Sie soll viel unterwegs sein und mit den Kulturamtsleitern der Städte verhandeln – bis hin zur Vertragsreife. Sie wird eine Art „Musterkoffer“ mit sich führen, aus dem sie Angebote der vier Landesbühnen zu veritablen Spielplänen zusammenstellen kann. So sollen selbst kleine Orte ein tragfähiges Theater-Konzept verfolgen können, indem sie (beispielsweise) eine ganze Brecht-Reihe aus dem Baukasten einkaufen.

Das alles verlangt penible Termin-Koordination zwischen den vier beteiligten Bühnen. Und es läuft wohl auch auf eine Art „Gebietsabsprache“ hinaus, so daß man einander nicht unnötig wehtut. Die einzelnen Spielpläne werden ja sowieso schon längst im Vorfeld miteinander abgeglichen, damit nicht auf einmal alle dasselbe Stück proben. Also doch ein Abwehr-Karteil gegen das Kommerztheater? Wenn man so will, ja. Aber was wäre dagegen einzuwenden? Freilich: Das Büro bekommt nur einen Jahresetat von 150 000 DM. Ob sich damit Bäume ausreißen lassen?




„Es muß über uns kommen“: Botho Strauß‘ Miniaturen und Etüden „Wohnen Dämmern Lügen“

Von Bernd Berke

Die Mythen stecken mitten im banalen Alltag. Sogar eine „Frau in vierfarbigem Jogginganzug“ birgt ihr Geheimnis. Denn sie stößt unvermittelt Möwenschreie aus. Ihre schockierenden Liebeslaute mit Tierstimme rufen uralte, vorhistorische Zeit wach. Derlei Magie ins heutige Leben zu verpflanzen, war seit jeher ein Bedürfnis von Botho Strauß. Auch in seinem neuen Buch mit dem Trance-Titel „Wohnen Dämmern Lügen“ betreibt er die Mischung der Zeiten und versetzt uns in eine Doppelwelt.

Ob an der Supermarktkasse oder bei der schnöden Arbeit im Büro – überall kann sich hier unversehens jener Riß in der schmucklosen Hülle bloßer Gegenwart auftun und den Blick freigeben „bis in die Urnebel“. Um solch mystische Tiefenschau faßbar zu machen, spannt Strauß keinen großen Handlungsbogen, er läßt sie vielmehr in lauter Miniaturen und Etüden kurz aufglühen – aus rasch wechselnden Perspektiven und mit immer neuen Rollenentwürfen in 37 kurzen Kapiteln.

Es ist ein vielgliedriges Buch mit einprägsamen kleinen Szenen, aus denen allmählich ein Überschuß an Vision hervorgeht: Da sitzt ein Mann auf einem verlassenen Bahnhof und erwartet einen Zug, der vielleicht nie kommen wird. Da stapft ein maskierter Vater, dessen kleine Tochter beim Festumzug Magenschmerzen bekommt, in seinem grotesken Kostüm zornbebend mit ihr heimwärts. Da gibt es ein altes Übersetzer-Ehepaar, das sich nur noch der vergeblichen Suche nach dem einen, allumfassend richtigen Wort widmet. Und so weiter, dutzendfach.

Vor allem das ziellose Liebesweh jetziger Menschen, bei denen oftmals eine Person nur Durchgangsmedium auf dem Weg zu einer unerreichbaren dritten ist, bannt Strauß nicht zuletzt in Beschreibung von verqueren Körper-Haltungen, die den Kern künftiger Theaterstücke erahnen lassen.

„Worte wie Huld, Dank und Ehre in ihrer alten Ordnung“

Nach gelegentlich dunklen und hochmütig klingenden Predigten sowie sehr mißverständlichen Essays („Anschwellender Bocksgesang“), hat Strauß sich wieder spürbar den tatsächlichen Dingen des Daseins genähert.

Wort für Wort tastet er sich heran an die Umrisse eines eigentlich Unsagbaren, erkundet behutsam Neuland. Das führt – häufig in Rollenprosa, also nicht ohne weiteres zu verwechseln mit Strauß‘ eigenem Tonfall – von Niederungen der tagtäglichen Sprache, von den Wonnen der Gewöhnlichkeit bis hinauf zu quasi-religiösen Eruptionen. Da sollen dann „Worte wie Huld, Dank und Ehre in ihrer alten Ordnung“ auferstehen, da soll gar „Die Ewigkeit“ wieder auf die Tagesordnung gesetzt werden, denn: „Es muß über uns kommen, aus uns selbst kommt nichts mehr.“ Man wüßte schon gern, was er mit diesem „Es“ meint.

Die ausufernde, eifernde Rede voller Erlösungssehnsucht bildet zwar das Schlußstück des Bandes, doch Strauß relativiert den reißenden Wortfluß sogleich. Er legt ihn nämlich einem Mann in den Mund. der anfangs als Streithammel aus einer Kneipe geworfen wird und der schließlich im eigenen Sprachstrom geradezu ertrinkt und kollabiert. Was also ist es gewesen: Hellsicht oder Umnachtung?

Dieser wohlige Schauer von Kostbarkeit

Gewiß: Strauß bringt nach wie vor das eine oder andere, im Übermaß pretiöse Wort unter und erntet auch mit großer Gebärde entlegene Lektürefrüchte (z.B. Hamann oder Theodor Däubler). Doch das nehmen wir bei ihm längst gelassen hin, es vermittelt ja auch diesen wohligen Schauer von Kostbarkeit – ungefähr wie seinerzeit jener Werbespruch: „Zu wissen, es ist Platin…“

Entscheidend ist aber Strauß‘ beängstigend präziser Blick auf gärende (oder: bereits vergorene) Verhältnisse, wie sie sich ergeben aus allseitiger Auslösung von verläßlichen Bindungen. Wir sehen in seinem Buch Menschen, die unentschlossen zwischen losen Familienverbänden driften oder in Resten zerfallener Wohngemeinschaften verkommen. Wir erleben entgeisterte Straßenpassanten in einem untergründig gewaltsamen „Gerade-so-eben-noch-Frieden“, der die Gesellschaft in Gleichgültigkeit erstarren läßt. Wir erfahren von lauter Getrennten, Alleinerziehenden, in ihre diversen Unglücke Versenkten. Wer würde sich da nicht nach Erlösung sehnen? Sie muß ja nicht gleich ewig währen.

Botho Strauß: „Wohnen Dämmern Lügen“. Hanser Verlag, München. 203 Seiten, 34 DM.




Ein Lebenslauf als explosive Kettenreaktion – Paul Austers Roman „Leviathan“

Von Bernd Berke

„Vor sechs Tagen hat sich im nördlichen Wisconsin ein Mann am Rande einer Straße in die Luft gesprengt.“ So explosiv läßt der Amerikaner Paul Auster seinen Roman „Leviathan“ beginnen.

Was war das für ein Mann, der der Sprengladung zum Opfer fiel? Diese Frage umkreist das Buch. Denn der Ich-Erzähler und Schriftsteller Peter Aaron hat ihn gekannt, jenen Benjamin Sachs. Doch hat er ihn wirklich gekannt? Zitat: „Wenn es jedoch stimmen sollte, würde dies bedeuten, daß menschliches Verhalten undurchschaubar ist. Es würde bedeuten, daß niemals irgend etwas verständlich ist.“

Alles geschieht, und sei es noch so unwahrscheinlich. Immer wieder muß Peter Aaron seine Vermutungen widerrufen, wenn er – im Wettlauf mit staatlichen Stellen – das Leben von Sachs nachzeichnen will. Dessen Biographie scheint undurchschaubaren Regeln gefolgt zu sein. Es gibt in diesem Roman ständig Wendepunkte, die vom puren Zufall regiert werden. Die Mechanik dieser Zufälle wirkt jedoch so vielsagend, als habe ein großer Konzeptkünstler seine planende Hand im Spiel. Tatsächlich taucht eine Künstlerin, die mit neurotischer Beharrlichkeit in fremde Lebenslaufe eingreift und Chaos heraufbeschwört, als Maria Turner (sprechender Name: eine, die für Wendungen sorgt) auf.

Das Privatleben des Schriftstellers Sachs wird von seiner Kindheit bis zur Ära Ronald Reagan aufgefächert: seine sonderbare Ehe mit Fanny, seine schwierige Freundschaft mit dem Erzähler Aaron, sein stetes Getriebensein, seine düster-komplizierten Büßerphantasien, in denen er für alles und jedes die Verantwortung übernehmen und notfalls unter Einsatz seines Lebens Abbitte leisten will. Ein seltsamer Heiliger. Im Lauf der Erzählung wird Sachs zu einer Art Monument. Er gleicht manchmal fast seiner Lebens-Leitfigur, der Freiheitsstatue.

Sachs, der als Instanz nur den Naturapostel H. D. Thoreau gelten läßt und meint, der „Leviathan“ (apokalyptischer Drache, totalitärer Staat) namens Amerika habe alle Ideale verraten, wird in der Ellenbogen-Ära Reagan zum waidwunden Außenseiter. Ihm geschehen wildeste Dinge: Da erschlägt er in einer nahezu alttestamentarischen Situation eineu Mann, nistet sich bei dessen Witwe ein, gibt ihr jeden Tag 1000 Dollar und schläft mit ihr. Da stürzt er bei einer Party vom Dach und bricht sich beinahe das Genick – ein vertrackter Vorfall, aus dem er eine ganze Todes-Philosophie schmiedet. Schließlich driftet er in eine sonderbare Form des Terrorismus‘ ab. Ein Leben wie eine Kettenreaktion.

Paul Austers (von Werner Schmitz sehr flüssig übersetzter) Roman nimmt uns mit auf eine irritierende und spannende Such-Reise nach der Wirklichkeit eines Lebens. Eine Ankunft gibt es nicht. Aber immer neue Anläufe und Aufbrüche.

Paul Auster: „Leviathan“. Roman. Rowohlt-Verlag, Reinbek. 320 Seiten, 42 DM.




Plötzlich beginnt die Kunst sich zu regen – Werkschau des Kinetikers Pol Bury in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. So viel sichtbare Bewegung hat es im Dortmunder Ostwall-Museum wohl noch nie gegeben. Nun schnurrt es und regt sich an allen Ecken und Enden: Der Kinetik-Künstler Pol Bury und über 100 seiner Werke sind da.

Der Belgier Bury (72) gehört zu den internationalen Größen der kinetischen Richtung, die den Kunstobjekten vorzugsweise Elektromotoren einpflanzte und ihnen so die starre Ruhe austrieb. Bereits 1955 nahm er an der berühmten Pariser Schau „Le mouvement“ (Die Bewegung) teil. In Dortmund sieht man nun erstmals in gebührender Breite, was er davor geschaffen hat: surrealistische Denk-Bilder in der direkten Nachfolge eines René Magritte. Kaum war Bury vom Gedanken der Bewegung ergriffen, hörte er mit dem Malen auf, ja, er vernichtete einen großen Teil seiner Bilder. Magritte war über diesen Sinneswandel so zornig, daß er Bury nicht einmal mehr grüßte.

Die „bewegte“ Phase beginnt mit abstrakten, gegeneinander versetzten Scheiben, denen man noch mit der Hand Anstöße versetzen kann. Doch dann übernehmen Motoren, elektromagnetische oder hydraulische Vorrichtungen diese Arbeit. Und so steht der Besucher in Dortmund staunend vor Prozessen, die ohne sein Zutun ablaufen: Hier zittert ein dürres Gezweig, als streife ein sanfter Wind hindurch, dort rumpeln kantige Holzstücke aneinander vorbei, oder es ruckeln lauter Kugeln auf einer schiefen Ebene, ohne herunterzufallen – alles wie von Geisterhand.

Die Entdeckung der Langsamkeit

Ein Kennmal Burys ist die „Entdeckung der Langsamkeit“. Er arbeitet weder so zupackend noch so monumental wie einst Jean Tinguely, auch wenn die größte Arbeit in Dortmund immerhin sieben Meter breit ist und 4087 bewegliche Teile umfaßt. Doch selbst in dieser Ausdehnung walten Zurückhaltung und Bescheidenheit, denn Bury betätigt die Bremse. Bewegung ja, aber nicht zu rasch. Man könnte im Trubel das Sehen verlernen. Nur wenige Objekte drehen sich daher so schnell und eindeutig, daß man es sofort wahrnimmt. Die allermeisten scheinen gemächlich abzuwarten, bis sie – an einer gar nicht vorhersehbaren Stelle – ganz plötzlich zucken. Man lauert geradezu, daß man sie dabei ertappt.

Manche Leute versetzt diese Wartestellung in meditative Ruhe, andere mögen eher ein nervöses Kribbeln verspüren und unduldsam ausrufen wollen: „Nun rühr dich doch endlich!“ Mit anderen Worten: Diese Werke taugen auch als Stimmungsbarometer. Vor allem aber als Schule der wachen Sinne.

Ist das alles berechnet, oder ist es Zufall? Pol Bury hüllt sich in Schweigen. Es ist wohl eine ausgeklügelte, seit langem erprobte Mischung aus beidem. Man könnte eine ganze Chaos-Theorie daran knüpfen. Man kann aber auch seine schiere Freude haben an der feinen Ironie, die in diesen Arbeiten mitschwingt. So etwa in den wirklich mobilen „Möbeln“, in denen es hölzern rattert, knarzt und schnarrt – lebendige Schränke, in denen buchstäblich „etwas los“ ist.

An einer anderen Stelle der Schau wird zwar nicht der Hund, wohl aber das Ei in der Pfanne verrückt. Scheinbar magische Kräfte lassen die Hühnerprodukte auf dem Metall rotieren. Und einige der Maschinchen sind sogar – auf elementarer Stufe – musikalisch, denn ihre Kräfte versetzen Saiten in Schwingung.

Vor Trivialisierung sind derlei Dinge nie ganz sicher, einzelne Einfälle sind von anderen zu billigem Kunsthandwerk herabgezerrt worden. Aber da ist es Kommerz. Bei Bury ist es ein Kosmos.

Pol Bury. Retrospektive 1939-1994. Museum am Ostwall, Dortmund. 14. August bis 16. Oktober. Di-So 10-17 Uhr. Mo geschlossen. Eintritt 4 DM. Katalog 49 DM.




Malen als verzweifelte Suche nach einem Ausweg – Arbeiten der früh verstorbenen Eva Hesse im Landesmuseum Münster

Von Bernd Berke

Münster. Die Künstlerin Eva Hesse schrieb 1964 in ihr Tagebuch: „Kein Wunder, daß ich mir Sorgen mache. Ab da zieht es mich immer wieder hinunter: Ich habe etwas an meinem Aussehen, an meiner geistigen Einstellung, an meinen Fähigkeiten auszusetzen, und am Ende bleibt gar nichts mehr von mir übrig.“

Inhalt und Tonfall erinnern ganz stark an depressive Passagen der amerikanischen Dichterin Sylvia Plath, die sich in jungen Jahren das Leben nahm. Eva Hesse war, als sie die zitierten Zeilen schrieb, eine gut aussehende 28 jährige Frau mit künstlerischer Zukunft. Doch offenbar war sie dem Unglück zugetan. Eine Ausstellung im Landesmuseum zu Münster beweist jetzt die außerordentliche bildnerische Kraft, die sich Eva Hesse selbst nicht zubilligen mochte.

Die 1936 in Hamburg geborene Eva Hesse kam 1939 mit den jüdischen Eltern ins New Yorker Exil. Sie wurde als junge Frau Schülerin des großen Josef Albers, der ihr Wesen zugleich er- und verkannte. Er vermißte das einheitliche Element in ihren Arbeiten, fand alles zu sprunghaft. Die Münsteraner Ausstellung macht deutlich: Gerade das ist eine Stärke von Eva Hesse gewesen, die 1970 mit nur 34 Jahren an einem Gehirntumor starb. Dies zu wissen tut doppelt weh, wenn man ihre Arbeiten sieht. Was hätte diese Frau noch bewegen können!

Stetige Sprünge und Risse im Werk

Die stetigen Sprünge in ihrem Werk bewahrten sie vor künstlerischen Moden. Sie paßt bis heute in keine gängige Kategorie. Eben hat man den Schock fließender Angstgesichter (Ölbilder um 1960) in ungeheuer kühnen Bildschnitten erlebt, da verblüffen (zeitgleich entstandene) Gouachen mit erlesenen Licht- und Schattenwirkungen.

Fast zeitlich parallel verläuft auch jene Phase, in der sie plötzlich so ungestüm und „wild“ malt, wie es andere erst zwanzig Jahre nach ihr – und zumeist schlechter – getan haben. Um 1963 wendet sie sich einer rätselvoll-labyrinthischen Zeichensprache mit Pfeilen und Strecken zu – Suche nach Wegen und Auswegen auf der Leinwand? Maschinenförmige Wesen, die mit pflanzlicher und sexueller Neben-Bedeutung aufgeladen zu sein scheinen, sind Kennzeichen einer weiteren Arbeitsphase.

Viele Bilder wirken, als habe die Künstlerin sie zwischendurch verzagt verworfen und als habe sie dann doch immer wieder neu angesetzt. Das unstete Element schafft nicht nur eine Kluft zwischen Werkgruppen, sondern spaltet schmerzhaft jedes einzelne Werk. Es sind Inbilder der Zerrissenheit.

Spekuliert man zuviel, wenn man sagt: Da hat eine wie besessen gemalt, die im Grunde gar nicht mehr weitermalen wollte, es aber unbedingt mußte? Selten sieht man Kunst, die auf den ersten Blick so zufällig erscheint – und die doch solche Spuren von Lebensnotwendigkeit trägt.

Jede neue Wendung in ihrem Werk ist spannend, auch der allmähliche Eintritt in die dritte Dimension, mit dem die Münsteraner Auswahl schließt. Zunächst ganz vorsichtig tasten sich Tentakel aus den Bildern heraus. Daraus entwickeln sich Skulptur-Objekte von verzweifelter Stille.

Eva Hesse. Bilder und Reliefs. Westfälisches Landesmuseum. Münster (Domplatz). 7. August bis 16. Oktober, di-so 10-18 Uhr. Katalog 49 DM.




Segen von oben – „Pink Floyd“ im Müngersdorfer Stadion

Von Bernd Berke

Köln. Sind dies Töne vom Anbeginn der Schöpfung oder aus der Zukunft? Es puckert, wummert, wabert und vibriert – und ist doch pralle Gegenwart in einer lauen Sommernacht am Rhein: „Pink Floyd“ spielt im ausverkauften Müngersdorfer Stadion.

Die leicht ergrauten Herren David Gilmour (Gitarre), Nick Mason (Drums) und Richard Wright (Keyboard), verstärkt um einige exzellente Begleitmusiker und drei gesangsstarke Tanzgirls, sind natürlich nicht einfach eine Rock-Band. „Pink Floyd“ läßt sich mal wieder – von ganzen Heerscharen hinter den Kulissen – überaus machtvoll in Szene setzen. Ihr Auftritt gleicht einer gigantischen Liturgie, dementsprechend ergriffen nehmen die 65.000 Leute ihn entgegen. So gesehen, könnten die vielen Wunderkerzen und Feuerzeuge eigentlich die ganze Zeit über leuchten. Die Musik richtet sich gar nicht unmittelbar ans Publikum, sie schwebt von hoch oben auf die Zuhörer herab, als sei sie eine Segnung.

Die Gruppe und ihre ausufernden Gerätschaften sind in einer riesigen Bühnen-Muschel geborgen, in deren Zentrum eine Scheibe wie das Auge eines höheren Wesens starrt – sie wird zur Projektionsfläche für allerlei wahnwitzige Video-Schnipsel und gleichsam interplanetarisches Flackern, dazu schießen Batterien von Laserkanonen ihre grellbunten Ladungen in den Himmel.

Am Schluß des Konzerts senkt sich der Lichtkreis wie ein Heiligenschein über die Musiker. Sie servieren (immerhin von 21 Uhr bis kurz vor Mitternacht) eine ausgetüftelte Mischung aus alten Songs und aus ihrer neuen Platte „The Division Bell“. Droht der Spannungsbogen einmal wirklich abzuflachen, werfen sie sogleich einen Klassiker in die Bresche.

Kühle Kontrolle über die Technik

Gipfel im zweiten Teil des Konzerts: „Wish You Were Here“, dessen Anfangs-Akkorde wundersam durch die Nacht gleiten und dann volltönend anschwellen. Und dann selbstverständlich jene Hymne aus „The Wall“, mit der unsterblichen Zeile „We don’t need no Education“ (Wir brauchen keine Erziehung) sowie der barschen Aufforderung an die Lehrer, die Kinder endlich in Ruhe zu lassen. Neben uns springen Eltern mit ihren Teenager-Kids auf und singen lauthals den antiautoritären Text mit. Wir kennen keine Generationen mehr, nur noch Rockfans.

Im Grunde spielt „Pink Floyd“ einen einzigen, endlosen Titel, in dem man das gleichmäßige Ein- und Ausatmen der Zeit spürt. Sie sind sich – bis hin zu den neuesten Songs – treu geblieben, sind nur immer mehr gewachsen und angeschwollen. Die Geburt der Musik aus dem Geist der Elektronik haben sie schon in ihren LSD-durchtränkten Anfängen (um 1967) vollzogen. Was seither kam, war eigentlich eher Angleichung an neue technische Möglichkeiten. Das hat sie wohl auch interessant gemacht für die nicht ganz unbekannte Wolfsburger Autofirma, die ihr meistverkauftes Modell nach einer noblen Sportart benennt. Diese Firma sponsert die Tournee und darf sich im Gegenzug werblich am Image von „Pink Floyd“ laben. Erstrebter gemeinsamer Nenner ist wohl die kühle Kontrolle über komplexe Technik und eben jene erwähnte Dauerhaftigkeit des populären Seins.

Weit weniger unter Kontrolle waren die Anfahrtswege zum Stadion. Endlose Staus rund um die Stadt, danach ein Parkplatz-Chaos sondergleichen – die Polizei hatte offensichtlich vor dem Ansturm kapituliert. Tausende von Fans erreichten das Ziel ihrer Wünsche erst nach Konzertbeginn. In Dortmund klappt so etwas in der Regel weitaus besser. Und vermutlich auch in Gelsenkirchen, wo „Pink Floyd“ am 23. August „auf Schalke“ spielen wird.




Verzerrte Wesen aus einer Welt der Ängste – Museum Bochum würdigt den Holländer Lucebert

Von Bernd Berke

Bochum. Die „Trolle“ mit den zerfließenden Gesichtern blecken gräßlich ihre Zähne. „Der letzte Romantiker“ hockt wie ein armseliges Insekt da – vielleicht ein schmutziger kleiner Bruder von Gregor Samsa, der in Franz Kafkas berühmter Erzählung „Die Verwandlung“ zum Käfer mutierte. Es sind Zerrspiegelwesen aus einer Welt der Ängste.

Aus seinen Alpträumen hervorgeholt hat sie der Holländer mit dem Künstlerpseudonym Lucebert. Bürgerlich hieß er Lucebertus Jacobus Swaanswijk. In diesem Frühjahr ist er mit 70 Jahren gestorben. Das Museum Bochum, mit dem Lucebert oft zusammengearbeitet hat, widmet seinem Gedenken nun eine Sonderausstellung. Doch die ist ein wenig betrüblich geraten. Das Bochumer Haus hat kein Geld für umfassende Retrospektiven, bedeutende Leihgaben sind unerreichbar. Die schmale Schau wird also aus Eigenbesitz bestritten, darunter rund ein Dutzend Arbeiten von Lucebert selbst.

Hinzu kommt, gleichfalls dem Depot entnommen, mehr oder weniger Verwandtes von K. O. Götz, Karel Appel, Asger Jorn und Constant. Diese Künstler bildeten mit die Lucebert die Gruppe „Cobra“, die in der Trümmerzeit nach dem Zweiten Weltkrieg am „Nullpunkt“ beginnen wollte und jeglicher Verschönerungs-Kunst abschwor. Am Horizont zeichnete sich damals die vage Hoffnung auf ein friedliches, vielstimmiges Europa ab, das die Gruppe in ihrer internationalen Zusammensetzung vorwegnahm.

Das Unbewußte frei strömen lassen

Lucebert war ebenso Dichter wie bildender Künstler, die lyrische Seite der Doppelbegabung trat sogar zuerst hervor. Zeitweise befaßte er sich intensiv mit Zen-Buddhismus und Kabbala-Mystik, war aber vor allem fasziniert von bildnerischen Äußerungen geisteskranker Menschen, wie er sie in der berühmten „Sammlung Prinzhorn“ kennengelernt hatte. Lucebert wollte, ähnlich wie die „Verrückten“ oder Kinder, das Unbewußte frei und ungehindert nach außen strömen lassen. Auf quasi magische Art sollten so die inneren Dämonen auf die Bildfläche gebannt werden – ein Akt der Reinigung.

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“, hieß es schon bei Goya, der ja gleichfalls Kriegserfahrungen verarbeitete. Auch Luceberts monströse Riesentiere und bedrohliche Fabelwesen stammen aus dem Zentrum menschlicher Urangst. Sie scheinen ständig darauf zu lauern, den dafür nur irgend empfänglichen Betrachter wild anzuspringen. In heftiger Mal-Arbeit (mit bloßen Händen oder groben Spachteln) attackierte Lucebert die Leinwände, die so zu rissigen Kampfstätten der Selbstbefreiung wurden.

„Nur nichts Endgültiges schaffen!“ lautete eine Devise Luceberts. Die Kunst sollte niemals starr werden, sondern offen bleiben und veränderlich. Doch der documenta-TeiInehmer (1959) ließ seine Monster keinesfalls völlig der Kontrolle entgleiten. Der Stoff ist Wahn, die Formung Kunst. Zum einen maß sich Lucebert an Vorbildern (allen voran Paul Klee und einige Surrealisten), zum anderen disziplinierte er sich immer wieder selbst, indem er einige seiner Motive auch als Radierungen oder Lithographien ausführte. Da wirken sie bedeutend ruhiger, beherrschter, von handwerklicher Anstrengung überformt. Bedauerlich, daß man in Bochum nicht mehr von alledem zu sehen bekommt.

Lucebert – eine Hommage. Museum Bochum, Kortumstraße 147. Bis 11. September, täglich außer montags 10-18 Uhr. Kein Katalog.