Unglück lauert überall – Ibsens Seelendrama „Gespenster“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Es beginnt wie ein Salonstück: So geläufig und scheinbar freimütig parliert Pastor Manders mit Helene Alving über Gottesfurcht und weltliche Geschäfte. Doch es ist nicht die wahre Leichtigkeit des Seins: Insgeheim lauern schon Ibsens „Gespenster“.

Sewan Latchinian hat das Seelendrama im Dortmunder Schauspielhaus inszeniert. Er ist mit dem Stück im großen und ganzen deutlich behutsamer umgegangen als kürzlich mit Shakespeares „Sommernachtstraum“.

Bühnenbildner Tobias Wartenberg hat den hinteren Teil der Szene mit lauter überdimensionalen Kartons vollgestellt. Damit sind sinnfällig Auswege verbaut. In den Kisten steckt wohl fast der gesamte Hausrat der Witwe Alving. Es springt schon mal ein Deckel auf, und dann kollern – wie peinlich! – geleerte Alkoholflaschen zu Boden. Doch ansonsten: alles weggepackt und dem Blick entzogen; eine Entsprechung zur jahrelangen psychischen Verdrängung, deren schmerzhafte Auflösung das Stück in Gang hält.

Endlich einmal reinen Tisch machen

Etwas schäbig gewordene Eleganz verflossener Tage: Die Wohnung der Alving, draußen an den Fjorden, sieht inzwischen aus wie ein Hotel Abgrund. Ein rotundenförmiges Sofa, ein grauer Kaminsims, das ist praktisch die gesamte Zimmer-Ausstattung. Aussagekraft durch Aussparung.

Es steht auch kein Tisch im Raum, doch es wird buchstäblich „reiner Tisch gemacht“. Nach und nach enthüllt die Witwe den bis dato feige vertuschten Skandal der Familie: das liederliche Leben des verstorbenen Gatten; seine folgenreichen Eskapaden mit der Haushälterin, deren Frucht das jetzige Dienstmädchen Regine (Sylvie Rohrer) war. Die wiederum ist also nicht die Tochter des Tischlers Engstrand (fuchsschlaue Komik: Heinz Ostermann), sondern Halbschwester des todkrank aus Pariser Künstlerkreisen zurückgekehrten Alving-Sohnes Osvald (Jörg Ratjen). Geisterhaft wirkt derlei Ungemach fort und fort.

Wenn sich die immer noch attraktive Frau Alving (Ines Burkhardt) und der nach wie vor stattliche Pfarrer Manders (Claus Dieter Clausnitzer) am Anfang begegnen, ist gleich alles knisternd präsent: Reste erotischer Spannung von ehedem, aber auch deren Unterdrückung. Man muß nur sehen, wie er ihr einen Handkuß geben will und sie sich mit einer raschen Wendung entzieht – und man ahnt, wie es um die beiden steht.

Immer wieder gelingen solche prägnanten Szenen. Beispiel: Regine wird von Osvald zum familiären Umtrunk gebeten und malt sich schon gesellschaftlichen Aufstieg aus. Dann aber süffelt Osvald den Schampus allein aus, und sie hockt mit zunehmend bitterer Miene und leerem Glase da, ein Häuflein Unglück.

Gegen Geister hilft kein Geplauder

Kein Geplauder kann darüber hinwegtäuschen: Pastor Manders ist ein eloquenter Funktionärstyp mit bigotten Grundsätzen. Den menschlichen Untiefen der Geschichte ist er nicht gewachsen. Hastig reist er ab, als das von Witwe Alving gestiftete Asylheim brennt und überhaupt alles zu brenzlig wird. Auch Engstrand und Regine, robuster als die feineren Herrschaften, retten ihre Haut durch Flucht.

Schließlich schnurrt alles auf einen inzestuösen Kern zusammen: Frau Alving und ihr Sohn Osvald im Zweier-Gehäuse. Leider verliert die Inszenierung, die sich sonst auf gutem Wege befindet, gegen Ende Proportion und Fassung. Es ist sicherlich schwer, den geistig-körperlichen Verfall Osvalds zu beglaubigen: Doch Jörg Ratjen nimmt gar zu viel Schaum vor den Mund, wirft sich gar zu heftig zitternd auf den Boden. Nicht wirklich mitleidend sieht man das, sondern mitleidig. Ein solch gemindertes Gefühl dürfte nicht aufkommen.

Weitere Aufführungen: 10., 14., 16., 22. Juni, 7. Juli (19.30 Uhr). Karten: 0231/16 30 41.




Nach der tierischen Orgie kommt Katzenjammer – Jelineks „Raststätte oder sie machens alle“ und Christoph Heins „Randow“ bei den Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Welch ein Wechselbad beim 20. Mülheimer Dramatikerwettbewerb: Nach einer wüsten Bühnenorgie mit Elfriede Jelineks „Raststätte oder sie machens alle“ war – wie zur Herabstimmung der Gemüter – Christoph Heins „Randow“ in einer kreuzbraven Inszenierung zu sehen.

Zwischen hochfliegenden Freiheits-Träumen und den Niederungen der Freizeit-Gesellschaft ist der Mensch längst vor die Hunde gegangen, zumal als sexuelles Wesen. Das jedenfalls will uns Elfriede Jelinek mit dem „Raststätten“-Stück eintrichtern.

In Mülheim gastierte ein Regie-Attentat aus den Reihen der deutschen Theater-„Spaßguerilla“: Frank Castorfs Inszenierung vom Deutschen Schauspielhaus in Hamburg. Castorf stampft den feministisch grundierten und rhetorisch streckenweise unangenehm pompösen Text in Grund und Boden. Am Schluß muß sogar eine an intimen Stellen aufgeregt blinkende und wienerisch schwadronierende Kunst-Figur herhalten, die der Jelinek nachgebildet ist: die Autorin als Sexpuppe. Gemeiner geht’s nimmer.

Castorf hat Frau Jelinek mal als eine Art „Krampfhenne“ bezeichnet (und sich dabei bedeutend drastischer ausgedrückt, als wir’s hier wiedergeben mögen). Er mag auch ihren „Raststätte“-Text nicht. Doch indem er alles zuschanden reitet, wird er dem Ingrimm der Vorlage auf Umwegen überraschend gerecht.

Die Jelinek setzt zwei Ehepaare und groteske Randfiguren an einer Autobahn-Raststätte aus. Die Frauen, die sonst bei ihren Gatten spuren, wollen einmal die Sau rauslassen. Dazu haben sie sich per Kontakt-Inserat mit einem Elch und einem Bär verabredet.

Extremsport für das sexuelle Punktekonto

Nach vollzogenem Extremsport mit zwei bluttriefenden Burschen heißt es lapidar: „Mit einem Tier auf dem Klo – das ist doch schon was.“ Füllt sozusagen das Porno-Punktekonto. Doch im Grunde herrscht Depression nach dem Exzeß, zumal in den Kostümen sich ausgerechnet die Ehemänner verborgen haben.

Grundmuster des Textes, der hierin geradezu „katholisch“ anmutet: Tierhafte Triebabfuhr zieht stets tiefste Trauer nach sich. Erst legen sie hündisch los, dann gibt es Katzenjammer.

Reichlich rinnen alle Körpersäfte. Zudem wird kübelweise (künstlicher, aber täuschend echt wirkender) Kot auf Leiber und Bühne geschmiert. Einige Zuschauer ließen sich tatsächlich provozieren und riefen „Pfui !“ Den meisten kam derlei endlos angehäufte Zumutung in der Summe freilich fade vor. Man sollte diesem verquast-bemühten Stück keinen Preis angedeihen lassen. Allerdings verdient es just eine solche Inszenierung.

Balsamisch ging’s hingegen bei Christoph Heins „Randow“ zu. Der erzählt eine ostdeutsche Leidensgeschichte mit einem Realismus auf Sparflamme. Der Text glimmt nur vor sich hin. Eine Frau, die sich in der DDR-Bürgerbewegung engagiert hat, will nun ihre Ruhe genießen und zieht sich zum Malen in ein Natur-Idyll an der Grenze zu Polen zurück. Doch eine fatale Koalition aus ehemaligen Stasi-Leuten, Rechtsradikalen und gierigen „Wessis“ vertreibt sie aus dem vermeintlichen Paradies.

Hein, dem wahrlich schon prägnantere Stücke geglückt sind als diese wie mit Spinnweben durchwirkte Elegie, arrangiert seine übergroße Themenfülle betulich, wird darin allerdings noch übertroffen von der unbeholfenen Einrichtung des Dresdner Staatstheaters.




Der Kleinbürger möchte ein Monster sein – Franz Xaver Kroetz‘ Sexualkomödie „Der Drang“ bei den Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Otto möchte mit seinem Weibe auch mal tun, was „alle anderen Männer“ mit ihren Frauen dürfen. Doch Ottos Hilde scheut Eskapaden zwischen den Daunen. Kommt vor. Ist normal. Dann taucht Hildes Bruder Fritz auf. Der hat wegen Exhibitionismus im Knast gesessen. Kommt auch vor. Ist aber nicht normal. Oder verhält es sich anders?

In Franz Xaver Kroetz‘ Szenenfolge „Der Drang“, mit der jetzt der 20. Mülheimer Dramatikerwettbewerb eröffnet wurde, ist Normalität nur ein Vexierbild entfesselter Träume. Besagter „Herzeiger“ Fritz ist auf Bewährung frei, er findet Unterschlupf samt Fronarbeit bei Schwester und Schwager in der Friedhofsgärtnerei. Auf den Pflanzenbeeten schießt nicht nur Blattwerk wollüstig ins Kraut…

Um seinen Trieb zu dämpfen, schluckt Fritz Medikamente. Das mindert seinen Drang, doch nicht die Phantasien der anderen. Otto hält seinen Schwager für ein Sex-Monster, das er am liebsten kastriert sähe, das er andererseits aber gern selbst einmal wäre. Der Kleinbürger möchte rasend werden. Auch Ottos Angestellte Mitzi läßt sich anheizen. Sie entlockt Fritz das (falsche) Geständnis, er sei Sadist – und ist sofort bereit, sich erregungshalber mit der Stricknadel pieken zu lassen. Sie bekommt aber nur Ohrfeigen, läßt sich ersatzweise mit Otto ein und beschwört dessen Ehekrise herauf. Am Schluß renkt sich alles halbwegs ein: Fritz geht „geheilt“ seiner Wege, und Otto scheint zu Hilde heimzufinden, die endlich mal wieder Reizwäsche anzieht.

Kroetz, der in dieser Fassung der Münchner Kammerspiele selbst Regie führt, hat seinen Lust-Boulevard in Dutzende von kurzen Szenen gestückelt. Die Bühnenarbeiter, die zwischendurch immer wieder umbauen, sind insgesamt fast ebenso lang auf der Szene wie das sehr beachtliche Schauspieler-Quartett (Sibylle Canonica, Franziska Walser, Horst Kotterba, Edgar Selge). Die Räumerei kostet Zeit, ergibt aber einen gewissen Verfremdungs-Effekt.

In Mülheim geht es vornehmlich um die Qualität des Textes. Dieser erkundet die Bereiche unter der Gürtellinie und in der Hirnschale – bei aller groben Gaudi – letztlich ernsthaft und genau. Auch wenn die Sache im zweiten Teil arg ausgewalzt wird, so ist dies doch ein brauchbares Stück über Domestizierung und Freisetzung des Triebes. Keine bloße Ferkelei also, sondern eine mit gedanklichem Überbau.

Heute abend wird’s in Mülheim mutmaßlich noch härter hergehen. Für den zweiten Wettbewerbsbeitrag, Elfriede Jelineks „Raststätte oder Sie machens alle“, verkünden die Prospekte: „Für Jugendlliche unter 18 Jahren nicht geeignet!“ Kommt noch so weit, daß man mit hochgeschlagenem Kragen ins Theater schleicht.




Sehnsucht nach dem Echten – „Lisbon Story“ von Wim Wenders

Von Bernd Berke

Die Fahrt führt von Frankfurt nach Lissabon. Wim Wenders setzt die Zuschauer seiner „Lisbon Story“ gleich mit in den Wagen. Durch die Frontscheibe blicken wir immerzu auf Asphaltbänder. Bald wechseln die Länder, doch die Straßen bleiben sich so ähnlich. Schlimm genug.

Schlimmer noch: Aus dem Autoradio quellen Musik- und Sprachfetzen. Die Stationen nudeln Pop, und die Moderatoren schwadronieren zwar in verschiedenen Sprachen, aber im gleichen Gutelaune-Ton. Und was denkt sich der lakonische Mann am Lenkrad bei all dem? „Europa wächst zusammen“.

Ein Seufzer schwingt mit: Der alte heimatliche Kontinent wird nivelliert, die Suche nach dem Unverwechselbaren immer schwieriger. Wo also kann man noch Bilder fürs Kino finden? Vielleicht am Rande des Erdteils, in Lissabon? Im Innersten der eigenen Seele? Oder kann die Welt gar nicht mehr abgebildet werden? Derlei fundamentale Fragen beschäftigen Wim Wenders und seine Hauptfigur.

Besagter Autofahrer heißt Phillip Winter (Rüdiger Vogler) und ist Tontechniker. Der befreundete Filmemacher Friedrich Monroe (Patrick Bauchau) hat ihn per Postkarte nach Portugal gerufen. Winter soll Originaltöne zu Monroes Filmbildern von Lissabon einsammeln. Doch als Winter nach einigen slapstickreifen Autopannen endlich eintrifft, ist Friedrich fort, wie vom Erdboden verschluckt. Was nun? Warten auf Godot. Winter nistet sich in Friedrichs Behausung mit pittoresker Patina ein.

Einsame Nächte, schwerblütige Gedichte

In einsamen Nächten liest er schwerblütige Gedichte von Fernando Pessoa (der auf deutsch mit Nachnamen „Niemand“ hieße, wie Winter schaudernd bemerkt) oder jagt – kleine Groteske – auch schon mal Mücken. Außerdem begegnet er jenen Musikern, die gleichfalls für die Tonspur arbeiten. Die Sängerin Teresa hat’s ihm angetan. Doch auch diese Angelegenheit kommt nicht vom Fleck.

Winter verfällt also in jene somnambule Stimmung, die der Darsteller Rüdiger Vogler so unnachahmlich vorleben kann. Wie in Trance streift er tagsüber durch die Stadt und nimmt Geräusche auf. Ein wenig in Wallung gerät er nur, als Kinder aus der Nachbarschaft ihn mit einer Videokamera behelligen. Grund des Zorns: Um die Zukunft des Sehens muß es zappenduster bestellt sein, denn der Nachwuchs gibt sich mit einem Gerät ab, aus dem doch nur verfälschte, kommerziell verseuchte Touristenbilder entstehen können…

Und so, angefüllt mit kaum gestillter Sehnsucht nach der wahren Empfindung, verstreicht etliche Zeit. in der uns Wim Wenders alle Wonnen der Minuten-Dehnung auskosten läßt. Wer wird dies „Langeweile“ nennen, wo doch unterwegs das hundertjährige Kino und seine Urgründe noch einmal ganz von vorn aufgerollt werden? Sogar die gute alte Kreisblende, mit der die Bilder allmählich sich zum Punkt verkleinern, kommt dabei zu Ehren.

Ein deutscher Film! Gründlich traumverloren, immer dem Eigentlichen auf der Fährte. Wie lautete doch jener Werbespruch? „Für das Echte gibt es keinen Ersatz“.




Gretchen, mir graut vor dir! – „Faust Wurzel aus 1 + 2″ von Christoph Marthaler bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Ein ranghoher Hamburger Politiker hat mal den Satz geprägt, er wolle „seine“ Klassiker auf der Bühne gefälligst wiedererkennen. Ha! Da wäre er bei Christoph Marthaler an den Falschen geraten. Der nämlich hat Goethes „Faust“ gründlich durch den Wolf gedreht. Die tollkühne Tat des Schauspielhauses Hamburg war bei den Ruhrfestspielen zu sehen.

Von Goethes Text kommen in „Faust Wurzel aus 1 + 2″, der verwegenen Variante des Schweizer Theatermachers, bestenfalls noch drei Prozent vor. Dafür sehen wir gleich scharenweise „Mephistos“ (für gewisse Kernbereiche der Figur sollen Siggi Schwientek und Ulrich Tukur stehen) sowie ein ganzes „Gretchen“-Quartett durch die fabrikhafte Szenerie stolpern. Rücklings auf dem Klappbett, haucht Fausts vierfaches Liebchen immer wieder im Chor seinen Vornamen: „Heinrich“. Gretchen, mir graut vor dir!

Marthaler, von Haus aus Musiker, traktiert die Vorlage wie eine unverbindliche Notenansammlung, der man beliebige Valeurs einhauchen kann, oder wie eine abstrakte mathematische Aufgabe, bei der bestimmte Formeln munter multipliziert werden, während komplette Ketten unter den Tisch fallen.

Gelegentlich ist’s wie ein Schülerscherz mit haßgeliebtem Bildungsgut: Von Fausts berühmten Monolog („Habe nun, ach…“) bleiben auf diese Weise nur die Vokale übrig, die wie dadaistische Bröckchen hervorgewürgt werden. Rein darstellerisch betrachtet ist das meisterlich, doch die kunstfertige Mühsal hat was arg Vergebliches.

Marthalers „Faust“ (Josef Bierbichler) schwankt – am Ende eines völlig desillusionierten Jahrhunderts – durch Alpträume. Gewiß hat er Kafka und Beckett gelesen, bestimmt weiß er von allen Katastrophen unserer Zeit. Und so erlebt er sein uraltes Drama als qualvoll leerlaufende Maschinerie aus Vervielfältigungen und Wiederholungen, als rohen Slapstick der Verzweiflung. Nach und nach splittert und zerbröckelt all das. Man vernimmt dann gleichsam nur noch das Röcheln, Stöhnen, Keuchen, Zischen und Blubbern aus der Ursuppe des Textes. Das trieb etliche Zuschauer vor der Zeit nach Haus…

Zudem steht Goethes Werk mal wieder unter strengem Verdacht unguten Deutschtums. Teutonischer Sang klingt bedrohlich gemütlich, „faustisch“ ist in dieser Lesart wohl eine Vorstufe von „faschistisch“. Fragt sich nur, ob aufgepfropfte Provokatiönchen als Bannfluch taugen.




Beklemmung und Freiheit – Kunst bei den Ruhrfestspielen: Kawamatas Holzbauten mit dem Titel „Bunker“

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Reges Treiben in der Recklinghäuser Kunsthalle. Offenbar wird der ehemalige Luftschutzbunker erneut umgebaut, denn aus den Fenstern im zweiten Stock schauen ja schon Gerüstbretter. Doch selbst oberflächliche Kenner der strikten deutschen Bauvorschriften schütteln gleich den Kopf. Diese fragile Holz-Anordnung mißachtet alle technische Vernunft. Es muß etwas anderes im Spiel sein.

Das im Wortsinne „Heraus-Ragende“ ist ein Freiluft-Ausläufer der dreiteiligen Großinstallation, die der japanische Künstler Tadashi Kawamata (42) in die Kunsthalle eingebracht hat. Der zweifache documenta-Teilnehmer, der 1992 ein ganzes Holzhüttendorf in die idyllische Kasseler Karlsaue stellte, hat sich in Recklinghausen mehrfach inspirieren lassen: von Herkunft und üblicher Bestimmung des verwendeten Grubenholzes, aber auch von der Bunker-Vergangenheit der Kunsthalle. Und damit spielt schließlich das Friedensmotto des Auftraggebers, der Ruhrfestspiele, indirekt mit hinein.

Im Erdgeschoß müssen größere Menschen die Köpfe einziehen, so niedrig hat Kawamata, ein Virtuose der Raum-Verwandlung, die Holzbohlen kreuz und quer in die Schwebe gehängt. Ein unterschwelliges Gefühl von Bedrängnis kommt auf, als befinde man sich tatsächlich in einem Stollen oder „Bunker“. So heißt denn auch das Gesamtwerk, das sich über drei Stockwerke erstreckt und aus insgesamt 20 Kubikmetern verschraubten und verdübelten Holzes besteht. Nach Schluß der Schau wird übrigens alles zerstört und somit dem Kunsthandel entzogen. Kawamata lebt in erster Linie vom Verkauf der Plan-Graphiken, die auch in Recklinghausen, angeboten werden – zum Vorzugspreis von 150 DM.

Mit dem Licht verändert sich die Ansicht

In der ersten Etage verdichtet sich die beengte Atmosphäre. Dort hat der Künstler eine komplette hölzerne Zwischendecke einziehen lassen. Wie Striche eines informellen Bildes fügen sich die vielen Bretter zusammen. Das Material ist spröde und schroff, roh und rissig, man sieht etliche Ausfaserungen. Die Ansicht verändert sich, je nach Lichteinfall. Aus bestimmten Blickwinkeln merkt man zudem, wie die Hölzer, als seien es magnetisierte Späne, Richtung aufnehmen. Die scheinbar ungefügten Bestandteile geraten miteinander in optische Bewegung, in einem dynamischen Sog, der den ersten Eindruck der Enge überschreitet und nahezu aufhebt. Man fühlt sich zwar immer noch verunsichert. bekommt aber auch eine Ahnung von Freiheit, die in solcher Irritation stecken könnte.

Nochmals gesteigert und anders austariert wird derlei geistige Grenzgängerei im zweiten Stock. Kawamata hat dort, mit allerlei Verstrebungen und geschichteten Holzstößen, kleine Passagen errichtet, die allerdings noch nicht nach draußen führen, sondern vor die düstere Wand. Man muß erst eine Treppe besteigen (Kunsthallenchef Ferdinand Ullrich: „Auf eigene Gefahr“), um aufs oberste Deck der Installation zu gelangen.

Droben wird einem wiederum etwas mulmig zumute. Man stakst vorsichtig herum, den Blick immer zu Boden geheftet, denn an etlichen Stellen sind zwischen den Brettern Löcher belassen, durch die man hinunterfallen könnte. Doch ganz hinten, an der Fensterfront, strebt die Konstruktion endlich ins Luftige hinaus. Ein Gefühl wie vorn auf der Klippe. Auch das also kann Freiheit bedeuten: riskante Lockung.

Kawamata: „Bunker“. Ausstellung der Ruhrfestspiele in der Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Bis 2. Juli, Di-Fr. 10-18 Uhr. Sa./So. 11-17 Uhr. Katalog 35 DM.




Christos frohe Botschaft von der Verhüllung des Reichstags – Aachener Skizzen-Ausstellung im Vorfeld der Berliner Aktion

Von Bernd Berke

Aachen. Wenn der Künstler Christo ab 17. Juni den Berliner Reichstag verhüllt, werden restlos alle Deutschen glücklich sein. Warum? Christos Gefährtin Jeanne-Claude verriet es gestern in Aachen: 80 Prozent freuen sich, wenn die Hülle aufs Gebäude gelegt wird – und 20 Prozent frohlocken. wenn man sie wieder abzieht.

Christo Javacheff erschien im üblichen Räuberzivil und mit genialisch-wirrem Haarschopf. Der Bulgare, der seit Langem in New York lebt, erinnert ein wenig an „Stadtneurotiker“ Woody Allen.

Gefährtin ist um kein Wort verlegen

Er und seine um kein Wort verlegene Ehefrau (Christo: „Nun laß mich doch auch mal antworten“) kamen jedenfalls ins Aachener Suermondt-Ludwig-Museum, um eine Ausstellung mit Skizzen sowie Fotografien zu dieser und zu früheren Verhüllungen (Pariser Brücke Pont Neuf, 3100 gelbe bzw. blaue Schirme in Japan und Kalifornien) zu eröffnen. Doch natürlich richtete sich die Neugier der versammelten Presse ausschließlich auf das gigantische Projekt in Berlin. Wie fühlt man sich, so kurz vor der Verwirklichung eines Traums, der nahezu 24 Jahre lang ein bloßes Luftschloß geblieben ist – bis der Bundestag 1994 endlich seine Zustimmung gab? Jeanne-Claude: „Stellen Sie sich vor, Sie wären 24 Jahre lang schwanger gewesen und nun stehe die Geburt endlich bevor.“

Wie sich die Sache mit dem Reichstag optisch und ästhetisch ausnehmen werde? Ja, da sei man selbst sehr gespannt, ließ Christo wissen. Das Vorhaben sei so riesenhaft, daß es eben die Vorstellungskraft übersteige, es habe eine „offene Dimension“. Eben deswegen, soufflierte Jeanne-Claude, nehme man solche Dinge ja in Angriff: „Weil wir sehen wollen, wie es dann wirkt.“ Wie die Deutschen den verhüllten Reichstag wahrnehmen werden, wage er erst recht nicht zu prophezeien: „„Ich bin kein Deutsch.“

Technisch tut man unterdessen alles Menschenmögliche. In zwölf Fabriken werden die Verhüllungs-Materialien gefertigt. Christo legt großen Wert auf die Feststellung, daß jede Firma ihre Vergütung pünktlich erhalte. Hingegen habe er, der keinen Pfennig Steuergeld in Anspruch nehme, zunächst enorme Schulden machen müssen. Wie heißt es doch so schön in der Werbung: Zahlen Sie mit Ihrem guten Namen…

Die vielen Ziffern und die Harmonie

Trotz der Gesamtkosten von rund zehn Millionen DM ist Christo zuversichtlich, am Ende keinen Offenbarungseid leisten zu müssen. Der Finanzierung dient ja nicht zuletzt die Aachener Ausstellung, denn die Skizzen sind – nach Schluß der Schau – käuflich zu erwerben. Interessenten können sich diskret vormerken lassen. Für größere Zeichnungen sind übrigens auch schon mal 200 000 DM fällig.

Mit erwartungsfroh leuchtenden Augen schwelgte Christo in Zahlen und Ziffern: 15 600 Meter Seil werde man zur Befestigung der 110 000 Quadratmeter Spezialstoff um den Reichstag spannen, die Faltentiefe werde etwa einen Meter betragen. Na, und so weiter. Er war kaum zu bremsen.

Und wenn alles getan, alles verhüllt ist? Dann wolle man dafür sorgen, daß es rund um den Reichstag Stunden voller Harmonie geben werde. Freude, schöner Götterfunken !

Christo und Jeanne-Claude: „Der Reichstag und urbane Projekte“. Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen (Wilhelmstraße 18). 6. Mai bis 6. August Di-Fr 11-19 Uhr, Sa/So 11-17 Uhr, Mi 11-21 Uhr. Katalogbuch 29,80 DM.