Hansgünther Heyme wird 60: Lektionen von der Bühne herab

Von Bernd Berke

Ein Theater, das sich bloß kulinarisch gibt oder psychologische Feinheiten ausspinnt, ist seine Sache nicht. Er will das Publikum belehren. Dabei hat der Regisseur Hansgünther Heyme, der heute 60 Jahre alt wird, den Zuschauern manchmal staubtrockene Lektionen unterbreitet.

In Zeiten der Beliebigkeit ist Heymes Festhalten am Theater als einer „moralischen Anstalt“ sympathisch zu nennen. Irgendwie muß man ihn mögen, diesen „Dickkopf“, der nicht davon abläßt, etwa antike Dramen und deutsche Klassiker auf ideologischen Gehalt zu überprüfen. Ästhetisch war es aber doch gelegentlich zum Verzweifeln, wenn er etwa Goethes/Fausts „Gretchen“ kurzerhand eine Rockgitarre umhängte oder Schillers „Räuber“ ohne große Umschweife mit Neonazis kurzschloß.

In der jüngsten Theatergeschichte des Reviers spielt Heyme eine bedeutende Rolle: Sein vehementes Eintreten für den Bestand hiesiger Bühnen mag dem einen oder anderen Politiker ein wenig die Augen geöffnet haben. Ab 1985 war er Schauspieldirektor in Essen, und seit 1990 leitet er die Ruhrfestspiele, die er zum „Europäischen Festival“ umgestaltete und die er nicht etwa mit seinem Stil dominiert. Verschiedenste Positionen haben dort Platz – ein Zeichen, daß Heyme Lust und Laune nicht verhindern will. Nur: Er selbst kann sie eben schwerlich herbeizaubern, das überläßt er klugerweise anderen.

Gütiger Chef und Opfer der Rezensenten

Am „grünen Hügel“ in Recklinghausen schwärmen sie jedenfalls vom besten Chef, den sie je gehabt haben.

Ganz schlimme „Verrisse“ der „Kritiker-Mafia“ (so Heyme damals verbittert) ereilten ihn von 1979 bis 1985 in Stuttgart, wo er Nachfolger des im Streit nach Bochum gewechselten Claus Peymann geworden war. Schmerzlich vermißte man Peymanns poetisches Theater, das nun von Heymes zuweilen knochigen Konzepten abgelöst wurde. Oberbürgermeister Manfred Rommel gerierte sich gar als Oberrezensent und befand, Heymes Inszenierungen seien „eine Katastrophe“. Seither schweigen einige überregionale Zeitungen Heymes Arbeit tot.

Weitere wichtige Stationen waren Köln (1968-1979), dessen Schauspiel er – zeitweise mit dem Gegenpol Roberto Ciulli – leitete, und Bremen, wo er nach einem Jahr die Intendanz aufgab.

Prägend war die Begegnung des 22jährigen Heyme mit dem berühmten Erwin Piscator, dem er alsbald assistierte. Nach und nach fand er zu einem entschiedenen „Regie-Theater“, das kein Stück für bare Münze nimmt. Stets muß ein verborgener Kern freigelegt werden. Und da geht’s bei Heyme allemal politisch zu. Gewiß kein Fehler – vorausgesetzt, die Menschen auf der Bühne werden nicht zu leblosen Marionetten der Beweisführung.




Neuer Grass-Roman erhitzt die Gemüter – Heftiger Streit nach Reich-Ranickis Verriß im „Spiegel“

Von Bernd Berke

Schon lange hat es keine solch heftige Debatte mehr über Literatur gegeben wie jetzt, anläßlich des neuen Grass-Romans „Ein weites Feld“. Anlaß zur Freude? Nicht bei näherer Betrachtung. Denn es geht ja kaum noch um Literatur.

Für Aufruhr sorgt der gestrige „Spiegel“. Marcel Reich-Ranickis mehr als barsche Kritik an dem Buch („ganz und gar mißraten“) lieferte die Titelgeschichte, und eine Fotomontage auf dem Cover zeigt den gefürchteten Rezensenten-Papst, wie er Günter Grass‘ 784-Seiten-Opus buchstäblich in der Luft zerreißt – ritsch, ratsch! Reichlich geschmacklos, fürwahr.

Offenbar geht das Kalkül auf: Das Hamburger Magazin provozierte genau die Reaktionen, die es wohl beabsichtigt hatte. Grass selbst hat dem „Spiegel“ gestern den Abdruck eines fertigen Interviews untersagt. Der Göttinger Grass-Verleger Gerhard Steidl ließ es sich nicht nehmen, Reich-Ranicki einen „Harald Juhnke der Literaturkritik“ zu nennen. Und vor dem „Spiegel“-Gebäude stellte sich ein Häuflein von Demonstranten ein, das besagtes Titelbild mit dem iranischen Mordaufruf gegen Salman Rushdie und mit der NS-Bücherverbrennung 1933 in vage Beziehung setzte. Andere waren umsichtiger mit ihren Vergleichen.

Sperrfrist wurde zur Farce

Steidl hatte nicht weniger als 4500 Vorab-Exemplare vom „Weiten Feld“ an Kritiker und Freunde des Hauses verschickt, viele Autoren kommen pro Buch nicht mal auf eine vergleichbare Gesamtauflage. Schon damit war die ursprünglich vom Verlag genannte „Sperrfrist“ für Rezensionen („nicht vor dem 28. August“) eigentlich zur Farce geworden. Es begann denn auch folgerichtig allüberall eine Art Schnellesewettbewerb. Als dann das ZDF-Kulturmagazin „Aspekte“ und „Das Literarische Quartett“ (Vorsitz: Marcel Reich-Ranicki) vorfristig zur kritischen Tat schreiten wollten, als dann gar der Band in den Schaufenstern des Buchhandels auftauchte, gab’s kein Halten mehr: Jeder wollte mit seiner Rezension zuerst am Start sein.

Der „Spiegel“ wiederum hatte mit dem Steidl-Verlag einen exklusiven Vorabdruck aus dem Roman vereinbart, der durch die frühzeitige Verbreitung des Buchs praktisch hinfällig war. Für den entgangenen Coup, so kann man mutmaßen, haben die Hamburger jetzt bittersüße Rache genommen. Hat etwa „Spiegel“-Kulturredakteur Hellmuth Karasek seinem Mentor und Mitstreiter vom „Literarischen Quartett“, Reich-Ranicki, eine furiose Titelstory versprochen, wenn, ja wenn er nur gnadenlos gegen Grass zuschlage? Natürlich ist es nicht so gewesen. Und es war gewiß nur Zufall, daß Reich-Ranicki noch im April ’95, als Grass in Frankfurt erstmals Auszüge aus dem Buche las, noch wohlabgewogene Lobesworte für den Autor gefunden hat…