Luftiger Reigen der Seelenregungen – Eric Rohmers Film „Sommer“

Von Bernd Berke

Manchmal neigt Gaspard zu Depressionen. Dann fürchtet er: „Ich existiere nicht, ich bin durchsichtig, unsichtbar. Ich seh‘ die anderen, aber die anderen sehen mich nicht.“ Doch entweder kokettiert der gutaussehende junge Mann mit düsteren Gedanken, oder er kennt sich selbst schlecht. Denn kaum spannt er ein paar Tage am Strand der Bretagne aus, hat er schon die Wahl zwischen drei wunderhübschen Mädchen.

Nun sind wir allerdings in einem Film von Eric Rohmer, der mit „Sommer“ seinen zartsinnigen Liebes-Reigen der Jahreszeiten fortsetzt. Und da wird Erotik nicht platterdings vollzogen, sondern in den allerfeinsten Nuancen erwogen.

Also flüchtet der unzufriedene Gaspard vorm Strand- und Kneipen-Gewimmel und begibt sich täglich auf ausgedehnte Spaziergänge – mal mit Margot, mal mit Solène oder Lena. Mit den drei Grazien redet und redet er, Schritt für Schritt. Vor allem über die Liebe, über deren fließende Grenzen zur Freundschaft zwischen Mann und Frau. Auch prüfen sie die Frage, ob man dem Glück nachsetzen oder es durch Abwarten irgendwann auf sich ziehen solle. Gaspard neigt zur zweiten Option, er wäre am liebsten ohne alle Anstrengung ein Frauenheld.

Klar, daß es bei solchen Gesprächsthemen „funken“ kann. Doch Gaspard ist ein Zauderer und verstrickt sich durch pures Abwarten in eine ziemlich komplizierte Vierecks-Geschichte. Er weiß einfach nicht, welchem der drei Mädchen er sein neu komponiertes Gitarrenlied widmen und mit welcher er einen Insel-Ausflug unternehmen soll. Selbst beim Volleyball am Strand hält sich dieser Glückspilz, der seine Chancen nicht wahrhaben (oder sie allzu gründlich ausloten) will, ersichtlich zurück. Er wartet mit linkisch verschränkten Armen auf den Ball und pitscht dann schüchtern davor. Anfangs gefällt seine Zögerlichkeit den Mädchen ja ganz gut, doch irgendwann wollen sie auch mal ’ne Entscheidung von ihm hören. Schwierige Sache. Und doch ein Film wie ein frischer Quell.

Rohmer hält diesen luftigen Reigen, in dem sich – außer mancherlei Seelenregungen – ja wenig ereignet und der bei anderen rasch langweilig werden würde, aufs Schönste in der Schwebe. Er erfaßt die kleinsten Gesten der Zuneigung und Näherung, so daß ein Hauch von taufrischer Verliebtheit durch alle Szenen weht. Welch eine paradiesische Harmonie zwischen Mann und Frau, wenn sie hier miteinander singen. Ach, wie so trügerisch…

Sensibel sondiert wird das Spannungsfeld zwischen Reden und Tun, zwischen Offenheit, Verschweigen, Verstellung und Lüge. Und nichts von dem, was wir da hören und sehen, wirkt konstruiert oder künstlich herbeigeredet; sondern wie durch Zufall belauscht.




Als die Jungfrau Maria der alten Göttin Isis glich – Christliche Kunst der ägyptischen Kopten in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Seien wir ehrlich: Archäologische Ausstellungen gleichen sich oft wie Zwillinge. Man sieht reihenweise Vitrinen mit Grabbeigaben, ein paar Zeugnisse der Alltagskultur, beispielsweise Münzen, Krüge, Vasen und Öllämpchen, dazu reichlich blendenden Schmuck. Das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm möchte mit „Ägypten – Schätze aus dem Wüstensand“ solcher Einheitsoptik entgehen.

Nimmt man nur das Titelwort „Ägypten“ wahr, hat man sich schon in die Irre führen lassen. Denn es geht nicht um Pharaonen oder Mumien und auch nicht um islamische Kultur, sondern um die Kunst der Kopten, der ägyptischen Christen.

Seit über 30 Jahren (damals in der Essener Villa Hügel) ist es die erste große deutsche Kopten-Ausstellung. Da haben sich die Hammer Veranstalter wohl gedacht: So trocken können wir den Laien diese Spezialitäten nicht anbieten. Folglich hat ein Ausstellungs-Architekt die Sache in die Hand genommen und so getan, als sei dies eine Ausstellung moderner Kunst. Die Wüstenschätze werden nicht gelehrsam nach Zeitenfolge dargeboten, sondern nach ästhetischen Maßstäben.

Nach Schönheit aufgestellt

Da prangen Säulenkapitelle aus ganz verschiedenen Jahrhunderten auf orangefarbenen Podesten in einer trügerischen Reihe – weil es so schmuck aussieht. Da flankieren zwei Löwenfiguren einen Grabstein, zu dem sie gar nicht gehören und mit dem sie stilistisch nichts zu tun haben – weil es so beruhigend symmetrisch wirkt. In derlei Fällen ermöglicht erst der Katalog die korrekte Zuordnung.

Die Schau, die u. a. noch nach Mainz und München weitergereicht wird, imponiert mit über 500 Exponaten. Etwa 300 kommen aus Berlin. Leihgaben des Koptischen Museums in Kairo fehlen leider völlig, denn im Bann des zunehmenden Fundamentalismus hält man es dort wohl nicht für opportun, Kleinode ins westliche Ausland zu geben, schon überhaupt nicht für eine Ausstellung christlicher Kunst.

Vielfältige Einflüsse

Gezeigt werden kunstvolle Handschriften, Buchmalereien und Textilien, Ikonen und Skulpturen, Grabsteine, Alltagsgerät, Werkzeuge, kostbares Geschmeide. All dies zeugt von handwerklicher Hochblüte und dezentem Sinn fürs schlichte Schöne.

Die koptische Spielart des christlichen Glaubens entfaltete sich schon früh. Um 120 n. Chr., das belegen Papyrus-Fragmente, waren Altes und Neues Testament am Nil schon bekannt. Im 5. Jahrhundert gab es dort eine eigenständige Koptische Kirche.

Religion wie Kunst der Kopten unterlagen in der Folgezeit vielfältigen Einflüssen. Zunächst sind altägyptische Elemente nachweisbar. So wird etwa die Muttergottes dargestellt wie die ägyptische Göttin Isis.  Später werden auch Gestalten wie Aphrodite gleichsam in christlichen Dienst gestellt. Denn auch altgriechische, römische, byzantinische und schließlich islamische Traditionen fließen nach und nach ein. Angesichts dieses beständigen Wandels fällt es schwer, das Gemeinsame in der koptischen Kunst dingfest zu machen.

Askese steht in den Gesichtern

Die Kopten waren ausgesprochene Asketen. Zu Tausenden zogen sie als Eremiten in die Wüste, gelobten vielfach Ehelosigkeit und Schweigsamkeit, und sie schufen gar die ersten bekannten Mönchsregeln. Manche aber flüchteten auch in die Wüste, um den Steuereintreibern Roms oder den kaiserlichen Christenverfolgungen Diokletians zu entkommen.

Askese meint man auch in den Künsten zu spüren. Die dargestellten Gesichter haben fast stets etwas Entsagungsvolles. Auch die mit spröden Inschriften versehenen Grabteile aus Kalkstein geben sich nicht prunkvoll, sondern karg. Die Symbole, ob Vögel oder Muscheln, beziehen sich meist auf Vorstellungen der Wiederauferstehung und eines bekömmlichen Daseins im Jenseits.

Unseren Sinnen am leichtesten zugänglich sind natürlich die alltäglichen Objekte, so etwa der Holzkörper eines Saiteninstruments, verzierte Schmuckbehälter oder auch Steinscherben, in die Vertragstexte eingemeißelt wurden. Hoffentlich hat man die Kontrakte auch so steinern fest eingehalten.

Bis 13. Oktober in Hamm, Gustav-Lübcke-Museum (direkt hinterm Bahnhof, Neue Bahnhofstraße 9). Täglich 10-18 Uhr, mittwochs bis 20 Uhr, montags geschlossen. Eintritt 10 DM. Katalog 49 DM.




Zeitreise in die Zauberwelt – Bob Wilson inszeniert „Time Rocker“ im Hamburger Thalia-Theater

Von Bernd Berke

Hamburg. Die vielen Kamerateams konnten ihren Sendern erfolgreiche Prominentensuche melden: Zur Uraufführung von „Time Rocker“ in der Regie des texanischen Theaterzauberers Bob Wilson gab es erheblichen Auftrieb im Thalia-Theater – von etlichen Bühnenchefs oder Schauspielern (Mathieu Carrière, Ulrich Tukur) bis zum „Tagesschau“-Sprecher Wilhelm Wieben. Sie alle waren hergepilgert, um gleichsam ein Sakrament in Empfang zu nehmen.

Denn Bob Wilson läßt Theater nicht einfach spielen, er zelebriert es als Liturgie wie kein anderer; mit atemberaubenden Bilderfolgen und ungeheuren Licht-Erscheinungen. Nach „The Black Rider“ und „Alice“ war „Time Rocker“ bereits seine dritte Hamburger Weihe-Handlung. Diesmal hatte Lou Reed, seit seinen wilden Zeiten mit „The Velvet Underground“ eine unumstößliche Größe der Rockszene, die Musik geschrieben.

Kriminalstory führt ins Nirwana

In 31 Szenen mit 16 Songs schleusen uns Wilson, Reed und Texter Darryl Pinckney in eine ausgedehnte Zeitreise ein. Anfangs geht’s zurück bis in die vorchristliche Ära, später voraus in visionäre Zukunftswelten. Notdürftig verknüpft sind diese Fahrten durch eine Kriminalstory. Priscilla (herausragend auch als Sängerin: Annette Paulmann) und Nick (Stefan Kurt, fernsehbekannt durch den „Schattenmann“) werden in seltsam mechanisch abschnurrenden Slapstick-Szenen von Scotland Yard beschuldigt, ihren Herrn und Meister, den Erfinder Dr. Procopius (Hans Kremer), hingemeuchelt zu haben. Dabei ist der Mann auf Zeitreise gegangen, und in dieses grenzenlose Nirwana zwischen den Epochen flüchten ihm nun Priscilla und Nick nach.

Und schon hat die Inszenierung ihren ersten ganz großen magischen Moment. Wenn die Zeitmaschine in Form eines weißen Fisches erscheint und vor blauem Breitwand-Hintergrund davonsegelt, glaubt man sich versetzt ins Zauberreich.

Kurz darauf wandert ein kleines weißes Haus über die dunkle Bühne – und man sieht gleichzeitig, wie sich jemand die überlangen, phosphoreszierend grünen Fingernägel abbeißt. Bewegliche Steine, tanzende Würfel, leuchtende Altäre, alles gibt’s in diesen taumelnden Welten. Rätselvolles Theater mit Charisma.

Es ist, als ob Wilson ein wunderschönes großes Bilderbuch umblättere. Und wo sind wir Zuschauer nicht überall gewesen! In einen altägyptischen Tempel sind wir geraten, in eine chinesische Opiumhöhle, zwischen drei mannstolle Studentinnen („Klick mich an, ich bin deine Maus“) oder in eine Badeanstalt der Zukunft, wo nackte Körper schwerelos schweben.

Ein Stuhl stürzt minutenlang um

In all diesen seherischen Szenen entfaltet sich der typische Wilson-Stil der Verlangsamung. Wenn etwa ein Stuhl umstürzt, so sieht man diesen Vorgang in einer mehrminütigen, enorm spannungsgeladenen Zeitlupe. Überhaupt wird „Time Rocker“ zu einer Meditation über das Zeitempfinden, aber auch über das Geisterhafte des menschlichen Körpers in einer technisch entgrenzten Zukunft.

Der Zusammenhang ergibt sich nicht wie sonst im Theater, sondern eher wie im Traum oder wie in einer betörenden Kunstausstellung. Nur daß man hier keinen Rundgang unternimmt, sondern die Bilder an einem vorbeigezogen oder – wie seltene Schätze – gehoben werden.

Von bezwingender Kraft und Einprägsamkeit ist auch Lou Reeds Musik. Schönes Wechselspiel: Mal lassen sich die Töne von und in den Bildern treiben, mal peitschen see die Szenen voran.

Termine: 16., 17., 18., 19. Juni. Karten: 040 / 32 26 66.




Die Haut des Bildes mit dem Messer öffnen – Werkschau über Lucio Fontana in der Frankfurter Schirn

Von Bernd Berke

Frankfurt. Will ein Künstler berühmt werden, braucht er ein Markenzeichen. Bei Joseph Beuys waren es die Filzanzüge, bei Andy Warhol die Suppendosen, bei Georg Baselitz sind es kopfstehende Figuren. Und Lucio Fontana (1899.1968) ist eben der, der seine Bilder mit Messern aufgeschlitzt hat. Daß sich dahinter viel mehr verbirgt, erfährt man nun in einer Frankfurter Retrospektive.

Rund 160 Arbeiten versammelt die Schau in der Schirn-Kunsthalle. Die meist einfarbigen, oft schlohweißen Bilder, deren Kargheit eingangs der 50er Jahre den Drang zum Neubeginn signalisierte, hat Fontana mit Messern und Sticheln immer wieder anders bearbeitet. Breit gefächert sind die emotionalen und ästhetischen Varianten: Mal muß Fontana aggressiv zu Werke gegangen sein, dann spielerisch, ein andermal streng, mathematisch präzise – oder so behutsam, als wolle er die Haut des Bildes vor dem Schlimmsten behüten.

Absage an Erwartungen

Mit einer Gruppe von durchstoßenen eiförmigen Bildern wird dann unversehens „Das Ende Gottes“ (Titel) verkündet. Man muß es wohl so verstehen: Jede Erwartung an die „gottähnliche“ Schöpferkraft der Kunst wird verneint. Zugleich steht das Oval symbolisch für Endlosigkeit. Ein unauflösliches Rätsel.

Mal mäandern die Loch-Reihen fast wie im Luftbild gesehene Spuren einer Ur-Zivilisation, mal wirken die Perforierungen wie eingestülpte Münder. Oder sie werden erotisch: Auf knallrotem Grund wirken sanfte Einbuchtungen wie eine Huldigung ans Intimste des weiblichen Geschlechts.

Der gebürtige Argentinier Fontana pendelte zeitlebens zwischen diesem Land und dem seiner Vorfahren, also Italien. Im Zweiten Weltkrieg lebte er in Südamerika. Dort hat er 1946 eines der ersten „Happenings“ veranstaltet. Aus Protest gegen die Baupolitik bewarf er in öffentlicher Aktion ein Haus mit Unrat.

Frühe Experimente mit Fernsehtechnik

Ebenfalls sehr zeitig, schon 1952, experimentierte er in Italien mit Fernseh-Bildern. Der mehrfache documenta-Teilnehmer war ein Mann der Avantgarde, immer der Zukunft zugewandt.

Vor seinen „Loch- und Schlitz“-Bildern, die unter dem Begriff „concetti spaziali“ (Raumentwürfe) firmieren, hat er sich vor allem als Bildhauer betätigt. Sein Vater übte diesen Beruf aus, der Sohn lernte die Grundlagen in heimischer Werkstatt. Nach traditionellen Anfängen zeigen die Skulpturen der 30er Jahre die Auflösung der Form. Als seien es schmelzende Wachskerzen, so zerfließen Commedia dell’arte-Figuren „Arlecchino“ oder „Colombina“.

Fontanas Einschnitte in Tafelbilder sind nichts anderes als befreiender Aderlaß, Öffnung der Fläche ins Räumliche hinein. Auch auf andere Weise treibt er das Verwirrspiel: In einer Serie blendet er schattenspielartige Figuren-Umrisse vors eigentliche Bild. Und in einer Frankfurter Installation, einem gleißend weißen Labyrinth, fühlt man sich geradezu schwerelos und fast verloren.

Geschmackvoll und manchmal gefällig

Übrigens wollte Fontana die Menschen mit seiner Kunst nicht verstören und vor den Kopf stoßen, sondern immer „geschmackvoll“ bleiben. Ganz selten verstieg er sich mit diesem Wunsch ins bloß Gefällige. Dann phosphoreszieren die Bilder postkartenhaft idyllisch, oder es glitzern ganz harmlos die Materialien wie Kupfer. Dann wird das Schöne gar zu schön.

Lucio Fontana. Retrospektive. Schirn-Kunsthalle, Frankfurt / Main. direkt am Römerberg. Bis 1. September. Di-So 10-19 Uhr, Mi/Do 10-22 Uhr. Eintritt 12 DM, Katalog 49 DM.




Wenn die Kindfrau mit ihren Verehrern singt – Gerhart Hauptmanns „Und Pippa tanzt“ als Rockoper in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Niemand ist vollkommen: Neben Klassikern wie „Die Weber“ und „Die Ratten“ hat Gerhart Hauptmann auch ziemlich verquaste Texte auf dem Kerbholz; zum Beispiel sein theatralisches Glashütten-Märchen „Und Pippa tanzt“ (Uraufführung 1906). Daraus hat man jetzt beim Wuppertaler Schauspiel eine Rock-Oper gestrickt.

Um sich von der bedrohlich flammenden Faszination durch die damals 17jährige Schauspielerin Ida Orloff „freizuschreiben“, hat der 43jährige Ehemann seine wunde Seele dramatisch in mehrere Männerfiguren aufgespalten, die allesamt von der Kindfrau und Tänzerin Pippa magisch angezogen werden. Vier Seelen wohnen, ach, in seiner Brust: ein bürgerlicher Genußmensch (Glashüttendirektor), ein tierisches Triebwesen (Glasbläser Huhn), ein junger Schwärmer aus treudeutschem Geiste (Wandergesell Hellriegel) und ein mystischer Zauberer (Dr. Wann).

Alles drängt nur noch bebend zum Licht

In Hauptmanns Männer-Phantasien ist Pippa, Mädchen aus Venedig, die wahlweise als verlockendes „Vögelchen“, „Schmetterling“ oder „Motte“ bezeichnet wird, nur Projektionsfläche aller möglichen erotischen und künstlerischen Begierden. Daraus erwächst ein symbolistisches Gewoge, das keine Menschen, sondern stets nur Prinzipien und Traumbilder zueinander treibt.

Nur die derbe Eingangsszene in einer Schenke, wo Pippas Vater wegen Falschspiels erstochen wird, gibt sich noch naturalistisch. Danach wird’s wolkig, und alles drängt nur noch bebend zum Licht, endet aber finster. Kein idealer Stoff für rockmusikalische Zubereitung. Doch auf Hauptmann-Texten lasten keine hinderlichen Rechte mehr, man kann praktisch alles mit ihnen anstellen. Und irgendwann müssen sich die Beteiligten auch gesagt haben: Zum Deibel mit Hauptmann, wir machen unser eigenes Ding!

Dann aber hätten Texter Gerold Theobalt und Gastregisseur Tom Mega, der manchen als Kultrockstar gilt, das Stück auch konsequent durch den Wolf drehen sollen. So schleichen sich jedoch – nicht nur gesanglich – viele schiefe Tonlagen ein, denn manchmal nimmt man das Märchen für bare Münze, dann wieder weiß man offenbar nicht so recht…

Schlichte Farbdramaturgie: Die begehrte Pippa (bestürzend naiv und geheimnislos wirkend: Franziska Becker) kommt ganz in Rot daher, ihre Verehrer schwarz oder weiß, gelegentlich bläulich angestrahlt: schlesisch-nördliche Kälte, die sich nach italienischer Hitze in Literatur und Liebe sehnt. „Brenne, zünd‘ an, loder auf“, heißt es dann brünstig im Text. Dämonisch röhrt solche Zeilen der alte Huhn (Bernd Kuschmann), der schließlich Pippa mit ins Verderben reißt.

Die Reimqualität der Songs erhebt sich nicht allzu weit übers „Herz-Schmerz“ oder „Not-Tod“-Schema. Bekanntlich gibt’s gute Rockmusik mit simplen Texten, doch hier wird die akute Wortschwäche oft nur noch grell ausgestellt.

Dem „Tanz“-Titel zum Trotz wirkt die Aufführung hüftsteif und ungeschickt Die Bühne (Oliver Kostecka) ist unpraktisch vollgestellt, Figuren, die gerade nichts von sich geben, drucksen herum. Die beherzten Griffe zu den Gesangsmikros – zumal vom Sterbelager aus – sorgen für unfreiwillige Komik.

Die Musikstücke selbst, komponiert von Otto Beatus und dargeboten von den Lokalmatadoren „Das Pferd“, sind kreuzbrav, die Melodie-Linien oft bis zur Selbstverleugnung einfach. Das ist auch gut so, denn nicht alle Schauspieler können singen.

Bis zum Saisonende durchgehend im Schauspielhaus Wuppertal. Karten: 0202/563-4444.

 




Groteske Turnübungen für die Demokratie – Mülheimer Stücktage mit Texten von Buhss, Marthaler, Pohl und Dorst

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. War es die Auslese eines süffigen Dramen-Jahrgangs, die man beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb „stücke 96″ kredenzt hat? Insgesamt mundete es nicht schlechter als sonst. Doch die Entscheidung, den mit 20 000 DM dotierten Stückepreis an Werner Buhss zu vergeben, hat denn doch einen leicht säuerlichen Beigeschmack.

Buhss, 1949 in Magdeburg geboren, läßt in seinem Stück „Bevor wir Greise wurden“ (in Mülheim präsentiert von den Freien Kammerspielen Magdeburg) eine Handvoll ostdeutscher Abiturienten auftreten. Bedeutungsschwere Zeit: zwischen Stalins Tod und dem DDR-Volksaufstand yom 17. Juni 1953.

Es ist Buhss‘ zweiter Versuch, den von Uwe Johnson („Ingrid Babendererde / Reifeprüfung“) entlehnten Stoff zu dramatisieren. Und auch diesmal ist es ein etwas kraftloses Unterfangen. Den schwärmerisch veranlagten Jugendlichen droht im Realsozialismus frühe Vergreisung durch Anpassung ans SED-Maß. Dies wird so unbekümmert vorgeführt, daß es beim Mülheimer Publikum Irritationen auslöste. Man hätte es lieber düsterer gehabt.

Ovationen für die „Stunde Null“

Ovationen der Zuschauer erntete am letzten Abend der Stücketage der Schweizer Christoph Marthaler (44) für sein Werk „Stunde Null oder Die Kunst des Servierens“. Es zeigt die groteske Ertüchtigung von Managern und Politikern der 50er Jahre. Und wozu sollen sie sich stählen? Zur salbungsvollen Verdrängung der NS-Zeit, damit endlich das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ beginnen kann.

Marthaler, der die kultverdächtige Aufführung des Deutschen Schauspielhauses Hamburg selbst inszeniert hat, läßt sieben Männer zu pseudo-demokratischen Turnübungen antreten. Hier lernen sie Bewältigungs-Ansprachen ebenso wie das jovial-ballettöse Schreiten auf roten Empfangsteppichen oder das gekonnte Durchschneiden von Absperrbändern zur Freigabe neuer Autobahnen.

Sieben Herren richten synchrones Chaos an

Wenn e i n e r was Verrücktes treibt, ist’s vielleicht komisch. Wenn sieben Leute, dargestellt von so herrlichen Schauspielern wie hier, ein synchrones Chaos (ja, so etwas gibt’s) anrichten, ist es zum Wiehern. Keinen Gag lassen sie sich entgehen, ja mit Slapstick und Zoten wächst sich das Ganze beinahe zum dröhnend „bunten Abend“ aus. Doch da gibt es immer wieder jenes Innehalten, jene Risse, in die der lautlose Schrecken sickert. Freilich ist’s ein Stück für jene, die immer schon alles besser gewußt haben.

Klaus Pohls „Wartesaal Deutschland – StimmenReich“ hatte zuvor auch ein paar unterhaltsame Momente zu bieten. Doch ein saftiges Theaterstück ist das nicht, sondern die etwas schale Frucht einer Reportagereise durch ostdeutsche Gefilde und angrenzende Westlande, die Pohl im Auftrag des „Spiegel“ unternommen hat. Die markantesten Aussagen hat er bearbeitet, in 24 Häppchen portioniert und aneinander gereiht. In besseren Momenten taugt das Resultat zum Nummern-Kabarett.

Selbstgespräche im Wartesaal

Da erzählen – von der Putzfrau bis zum Professor – vor allem ehemalige DDR-Bürger ihre zumeist gescheiterten Lebensläufe. Ort des Redens ist ein Bahnhofs-Wartesaal. Die große Uhr bleibt auf 14.29 stehen, und so ähnlich – als verginge die Zeit nicht – kommt einem das Ganze mit zunehmender Dauer auch vor. Denn wir hören einen Monolog nach dem anderen. Es gibt keine erkennbaren Bündelungen, keine Kontraste, keinen Zenit, keine rechte Entwicklung, kaum Verdichtung. Fazit: eine notdürftig dem Theater zugeführte Reportage.

Mit Tankred Dorst, einem ständigen Wettbewerbs-Gast in Mülheim, ist man stets auf der sicheren Seite. „Die Geschichte der Pfeile“ ist, wie von diesem Dramatiker nicht anders zu erwarten, durchaus diskussionswürdig. Eine auf rätselhafte Weise anregende, zwischen Schmiere und Tragik angesiedelte Reflexion übers Bühnenwesen an sich, ein subtiles Spiel mit dem Theater und der Theatralik. Damit verdiente sich Dorst die (per Urnenwahl ermittelte) Publikumsstimme, die allerdings nur so viel zählt wie das Urteil eines einzigen Jurymitglieds.




Blues unter grauem Himmel – „Wolken ziehen vorüber“ von Aki Kaurismäki

Von Bernd Berke

Im Restaurant „Dubrovnik“ dreht mal wieder der Koch durch. Erst stürzt er ein paar Schnäpse hinunter, dann fuchtelt er plötzlich gefährlich mit dem Messer herum. Das übrige Personal bringt ihn zur Besinnung. Ganz ruhig und lakonisch, ohne Geschrei. Ein Routinefall.

Tun, was zu tun übrig bleibt – und kaum ein Wort darüber verlieren. Diese stoische Haltung kennzeichnet seit jeher die Figuren des Finnen Aki Kaurismäki. Zwischendurch geraten sie immer wieder in rätselhafte Starre, hinter der sich wiederum eine unbeugsame Kraft des Erduldens verbirgt.

In Kaurismäkis neuem Film „Wolken ziehen vorüber“ geht es um jenes Restaurant, das von gewieften Geschäftsleuten in die Pleite getrieben wird. Folge: Oberkellnerin Ilona (Kati Outinen) wird arbeitslos. Kurz zuvor hat schon ihr Mann Lauri (Kari Väänänen) seine Stelle als Straßenbahnfahrer aufgeben müssen.

Zum Lachen traurige Szene: Vier Leute müssen bei der Tram entlassen werden, und Lauri läßt sich auf ein Kartenspiel unter Kollegen ein. Leider verloren. Und er ist auch noch zu stolz, um Arbeitslosengeld zu beantragen. Schon bald werden Fernsehgerät und Möbel gepfändet, wird das Auto verkauft, und der Hund sieht auch schon ganz mager aus. Ilona muß in einem schäbigen Imbiß schuften, während sich Lauri dem Suff überläßt. Das ist der Blues des kalten Nordens.

Kaurismäki, vormals auf Schwarz-Weiß abonniert, zeigt uns die einfache Geschichte vom tristen Leben der Eheleute, dieses furchtbare und doch in manchen Einzelheiten so verzweifelt komische Elend, in einer ganz eigentümlichen Farbpalette. Knatschbunt, aber nicht grell, sondern wie abgeblättert und ausgebleicht.

Verschlissene Welt mit alten Straßenkreuzern

Eine verschlissene Welt, durch die höchstens mal ausgediente US-Straßenkreuzer kurven, seltsam hinter der Zeit „zurückgeblieben“. Welch wirksame Verfremdung einer Handlung, die zu Herzen geht, aber nie sentimental wird.

Unterm bleiern lastenden Himmel Finnlands floß bei Kaurismäki stets ungeheuer viel Alkohol durch die Kehlen. Auch der ehemalige Koch und der Ex-Portier des „Dubrovnik“ trinken sich durch ihre arbeitslosen Tage. Doch als der Portier durch Zufall Ilona wiedertrifft, schmieden sie einen Plan. Warum zum Teufel kein eigenes Restaurant eröffnen? Also sammeln sie das desolate Trüppchen von ehedem wieder ein und riskieren das Geld ihrer früheren Chefin.

Wenn am Ende Kati Outinen, die so unendlich tranigtraurig und dabei doch so tapfer dreinschauen kann, blinzelnd zum Himmel aufblickt, dann wissen wir, daß die Wolken des Schicksals sich wundersam verziehen. Ein Märchen, gewiß, doch kein verlogenes; sondern eines, das beglücken kann.