Nur ein kleinbürgerliches Ferkel – Uraufführung von Franz Xaver Kroetz‘ „Der Dichter als Schwein“

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Man stelle sich vor, jemand ließe immerzu ein Tonbandgerät etwa in seiner Wohnküche mitlaufen. Alle Worte und auch jeder Mist, den man schwätzt, würden aufgezeichnet und sodann schriftlich für Mit- und Nachwelt festgehalten. Schrecklicher Gedanke. Und schon eine schnurgerade Hinleitung zu Franz Xaver Kroetz‘ Stück „Der Dichter als Schwein“, das jetzt in Düsseldorf zur Uraufführung gelangte.

Bereits zwischen 1986 und 1988 hat Kroetz diesen ungefügen Text aus seiner Feder rinnen lassen. Mit guten Gründen hat sich seither niemand heranwagen wollen an dieses allseits ausufernde, so gut wie unverdichtete Geplapper, das – je nach Durchgangstempo – ungekürzt wohl für vier bis fünf Stunden Spieldauer gut wäre, von der Substanz her aber auf einige gedrechselte Aphorismen zusammenschnurren müßte.

In Düsseldorf, wo derzeit offenbar auch das Telefonbuch eine reelle Bühnenchance hätte, erlebt man nun die vorweihnachtliehe Bescherung, eine seltsame Mixtur aus Kraftmeierei und Weinerlichkeit.

Gipfelsturm zum fäkalischen Frohsinn

Rund um den Dichter Toni Keck (Jörg Pose) hat Kroetz all das aufgehäuft, was für unbürgerlich gilt. Dieser Keck ist ein Säufer, er treibt’s heftig bisexueil mit Inge (Veronika Bayer) und dem Schauspieler Max (Marcus Kiepe), die er ansonsten beide wie Sklaven behandelt, und er hat sich bei den Eskapaden wohl einen Tripper eingefangen.

Trotz all der Bemühungen bringt’s der Mann aber nicht zum wirklichen Schwein, sondern bloß zum kleinbürgerlichen Ferkel. Er wirkt wie ein reichlich unseriöser Verkäufer in eigener Sache.

So beginnt das Stück: Gerade hat Keck wegen eines Vorabendsuffs eine Lesereise nach Kairo platzen lassen (Ach, wäre er doch abgeflogen!), da klingeln auch schon seine drei Telefone: Regiegrößen wie Zadek und Peymann oder das Goethe-Institut wollen ihn unbedingt sprechen. Anhand dieser Telefonate serviert Kroetz klägliche Bruchstücke einer „Dramentheorie“. Wir erfahren beispielsweise, daß Gentechnik schwer fürs Theater umzusetzen sei, da man ja die Gene nicht sehen und zeigen könne. Potzblitz!

Hernach ist manchmal von der Nichtigkeit der Welt und oft von Sperma oder Exkrementen die ungebremste Rede. Als Keck seine bäuerlichen Bekannten in Bayern aufsucht, darf sich jeder mal so richtig vollsudeln, indem er/sie auf dicken Haufen von Hundescheiße ausgleitet und sich die stinkenden Schuhe sogleich am TV-Gerät abstreift. Welch ein Gipfelsturm fäkalischen Frohsinns!

Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen

Genug. Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen, man kann ihm nur ein paar Applikationen aufnähen – oder besser gleich: auf einen Schelmen anderthalbe setzen. Die Dramaturgie und die tapfere Regisseurin Thirza Bruncken haben zu mindest ein Drittel der Textmasse gekürzt. Dafür Dank.

Kroetz‘ Figuren werden wie Genre-Marionetten behandelt, und das läßt sich mit den versierten Darstellern auch passabel an. Mal agieren sie gravitätisch mit gepuderten Perücken, sozusagen in Opernkluft, dann wieder verfallen sie gezielt in dumpfes Bauerntheater oder hampeln in Revue- und Slapstick-Manier herum. Vermutlich sind derlei Wechselspiele ja auch postmodern – oder so ähnlich.

Man verbirgt zudem keineswegs, daß man über eine Drehbühne verfügt. Die saust in einem Akt ohne Unterlaß wie ein Karussell umher. Dabei bekommt man doch schon vom bloßen Text einen Drehwurm.

Das Stück konnte also nicht gerettet werden. Die Schauspieler hatten halt was zu spielen. Der Betrieb geht weiter. Fragt sich nur, wie: Bei dieser Uraufführung klafften enorme Lücken im Parkett, der Beifall war begrenzt. Erosionserscheinungen?

Termine: 27., 30. Dezember 1996 – 3. und 10. Januar 1997.




Damit die Erinnerung nicht erstarrt – Wilhelm Genazinos Prosaband „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“

Von Bernd Berke

Alles, was einem geschehen ist, erstarrt allmählich in der Erinnerung. Ein vages Vorzeichen des Todes. Gibt es ein Entkommen? Wilhelm Genazinos famoser Prosaband „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“ begibt sich auf die Suche nach dem Fluchtweg.

Durchaus rätselhaft erscheint dem literarischen „Ich“ die Welt. Es beklagt seine „Verlegenheit vor dem Leben“. Auch seinen Erinnerungen traut dieser Mann nicht. Also schreibt er Briefe an offenbar ferne Freunde und Freundinnen – stets verbunden mit der Bitte, den Verfasser eines Tages, falls nötig, an frühere Vorlieben, Gewohnheiten und kleine Obsessionen zu erinnern.

Ein solches weitverstreutes „Erinnerungsdepot“ könnte vielleicht Halt bieten. Denn dieser Ängstliche, der seine Briefe nur mit ,„W.“ unterzeichnet, mag sich andererseits nicht abfinden mit dem bloß archivarischen Gedächtnis. Er notiert als Gegenmittel: „Es genügt, das innere Fortsprechen der Ereignisse ernst zu nehmen und ihm zu folgen.“

Und also streunt er, scheinbar ziellos, durch seine Erinnerungen, wo er etwa Kindheits-Lieblingsworte wie „Pauspapier“ vorfindet Und er flaniert als anonymer Beobachter durch die Stadt. Sein schweifender Blick registriert, vornehmlich in Restaurants und auf Bahnfahrten, zumeist unscheinbare, aus seiner Sicht aber befremdliche Szenen aus dem Dasein der anderen: den Angestellten, dessen Attaché-Koffer in der Bahn aufspringt und den peinlichen Blick auf lachhaftes Spielzeug freigibt; die Hure, die mit eiskalter Routine ihre grotesk gestaffelte Preisliste herunterrattert; den Arbeitslosen, der in der City Kindertrompeten feilbietet; das tagsüber verkrustende Butterbrot, das den Geist einer ganzen Ehe versinnbildlicht. Und dies sind nur die faßbarsten Vorfälle.

Eine ganz eigentümliche Chemie der gemischten Empfindungen und Zwischen-Zustände kommt in den 115 Kurzkapiteln zustande, oft melancholisch grundiert und der Verzweiflung zugeneigt, aber kleinste Zeichen der Hoffnung aufsuchend. Und die liegen am Ende wohl gar nicht in der peinvollen Erinnerung, sondern im Trost des Vergessens, im „bildlosen Abschied“, wie es einmal heißt.

Das Außerordentliche an Genazinos Prosa: Sie erfaßt all die flüchtigen Vorgänge amSaum zwischen Wirklichkeit und Wahn, an der Grenze zum Unsagbaren in einer staunenswert unaufwendigen Sprache. So rätselhaft die Inhalte sein mögen, so wundervoll leicht ist dieses Buch doch zu lesen. Und diese lakonische, aber feinstens tarierte Sprache führt keinerlei Thesen, Beweise oder auch nur Meinungen mit sich, sondern nur banges Staunen und Fragen. In dieser unaufdringlichen, aber höchst eindringlichen Art ist das heute von kaum einem anderen Autor zu erwarten.

Wilhelm Genazino: «Das Licht brennt ein Loch in den Tag“. Prosa. Rowohlt-Verlag, 126 Seiten. 32 DM.




Leiden am falschen Leben – Anna Badora inszeniert Tschechows „Iwanow“ in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Kaum ist der Bühnenvorhang beiseite gezogen, da läßt Iwanow einen kleinen weißen Flugdrachen quer über die karge Szenerie segeln. Das gibt schon den ersten Beifall. Nimm’s leicht – nimm Tschechow.

Doch eigentlich ist dieser Iwanow (Artus-Maria Matthiessen), eine frühe Schöpfung des russischen Dichters, von namenloser Melancholie befallen. Erschöpft hat sich Iwanows Liebe zu seiner Frau Anna (Anke Schubert). Überhaupt hat sich seine Lebensenergie verflüchtigt. Alles ist ihm zur Neige gegangen. Um diesen bedauernswerten Menschen kreist und trudelt das Stück wie um eine leere Mitte.

Regisseurin Anna Badora, bislang von der Kritik nicht eben verwöhnte Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, will sich offenbar nicht nachsagen lassen, sie habe das Rätsel von Iwanows „Krankheit zum Tode“ nicht gelöst. Als süßsaure Typenkomödie führt sie das Bestiarium einer versoffenen und geldgierigen, vor allem aber zutiefst gelangweilten Gesellschaft vor, die nur noch in gelegentlichen Zornesausbrüchen Reste von Lebendigkeit verspürt.

Selbstgerechter Tugendbold als Gegenpol

Als moralischer Gegenpol geriert sich Annas Arzt Lwow (Thomas Schendel), der Iwanow als betrügerischen Mitgiftjäger entlarven will. Doch dieser penetrant selbstgerechte Tugendbold ist kaum weniger widerwärtig als die latenten Rassisten, die Intriganten, Zinswucherer und Zyniker, die dieses Drama bevölkern.

Das Leiden an solcher Umgebung läßt Iwanow also verzagen. Zudem krankt er am Utopie-Verlust. Sein Studienfreund Pavel Lebedew (Wolfgang Reinbacher) münzt einen verräterischen Satz auf Iwanows Jugendträume: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Die Sentenz stammt nicht von Tschechow, sondern von Theodor W. Adorno, dem Vordenker der 68er-Studentenrevolte. Iwanow, einst leidenschaftlicher Verfechter der Landreform und des alternativen Wirtschaftens, gleicht einem gescheiterten „68er“. Auch eine Deutung.

Sie hilft freilich nicht weiter, wenn sich die Geschlechterfrage stellt. Iwanow verläßt allabendlich seine unheilbar schwindsüchtige Frau Anna (die einst seinetwegen ihren jüdischen Glauben aufgab und von ihren Eltern verstoßen wurde) und treibt sich im Salon seiner Gläubiger, der Lebedews, herum. Könnte er deren blutjunge Tochter Sascha (Bibiana Beglau) heiraten, wäre er aller Schulden ledig. Ein Schuft, aber mehr noch ein Schmerzensmann: Sein Gefühl allseitiger Sinnlosigkeit vergiftet jegliches Kalkül.

Untiefen des Textes kaum ausgelotet

Für derlei Verwehen und Vergehen, ja für jederlei Hinfälligkeit findet die Inszenierung keinen Ton. Meist steht sie zu fest auf dem Boden des vermeintlich gesunden Menschenverstandes, sie verfehlt den grassierenden Wahn, gerät nicht ins melancholische Schweben.

Stattdessen kommen die Akteure vielfach stampfend, dampfend oder gar schenkelschlagend daher. So können, trotz guter Ansätze in psychologischer Feinzeichnung, die Untiefen des Textes nicht ausgelotet werden. Selbst Iwanow und Anna wirken nicht wirklich versehrt, sondern so, als simulierten sie.

Nicht jene Fassung wird gespielt, in der Iwanow am Ende einfach tot niedersinkt, sonder jene, in der er sich erschießt. Ein Knalleffekt, nach dem die Schlußszene zum Tableau erstarrt.

Das Gefühl, recht ordentlich unterhalten worden zu sein, und ein gewisses Unbehagen halten sich die Waage. Das Premierenpublikum war angetan. Aber vom Geiste Tschechows war dieser Abend nicht.

Termine: 12., 13., 16., 22. und 25. Dez. – Karten: 0211/36 99 11.