So wienerisch hat’s hier noch nie geklungen – Großer Andrang zur Lesung von Ernst Jandl in Dortmund

Von Bernd Berke

So wienerisch hat es hier wohl noch nie geklungen. Der österreichische Dichter Ernst Jandl (71) trug bei seinem allerersten Leseauftritt in Dortmund lauter „Stanzen“ vor – Vierzeiler in alpenländischer Kunst-Mundart. Noch einer der verständlichsten Verse: „wissd bled samma r olle / owa so bled samma ned“.

Man hätte es ahnen können: Jandls famose Laut-Dichtungen haben schon andernorts Menschenmengen mobilisiert. So war s denn auch in Dortmund. Die Schlange im Museum für Kunst und Kulturgeschichte wand sich von der Rotunde im ersten Stock bis hinunter zur Hansastraße. Nach einigem Geschiebe kamen schließlich auch die Leute ‚rein, die nicht wohlweislich Karten reserviert hatten.

Jandl tat ihnen allen jedoch nicht den Gefallen, seine bekannten Zugnummern wie „Ottos Mops“ oder den Verwechslungs-Klassiker mit „lechts und rinks“ vorzutragen. Statt dessen also die Stanzen. Nach Art von Schnaderhüpferln, jenen Spottliedern mit abschließendem Jodler, täuschen diese Gedichte einen herzhaft volkstümlichen Tonfall vor. Aber die Inhalte! Alles , andere als gemütlich.

Körperlicher Verfall und Geschlechtsmerkmale

Jandls Alterswerk kreist vornehmlich um den nahenden Tod und körperlichen Verfall. Beispiel verzweifelter Komik und komischer Verzweiflung: „meine fiass schdeng im fuassboad / mei zahnbiaschdl schdeggd ma r im mäu / und dazwischen schauri zua / wia rosch in fafäu.“ Übersetzung wohl überflüssig.

Bei Teilen des Publikums machte sich vor der Pause schon mal ein wenig Unmut breit, weil Jandl viele drastische Zeilen über körperliche Ausscheidungen und – fast schon, besessen – über sekundäre Geschlechtsmerkmale wie „Dutteln“ verfaßt hat. Doch im Dialekt klang’s nahezu nett. Der Unmut gab sich also. Und die eisten lauschten Jandls Versen geradezu ergeben und ergriffen, um nur ja keine Feinheit zu verpassen. Schließlich hatte man ja auch 12 DM Eintritt berappt.

Doch was soll’s. Jandl ist unbezahlbar und unverwechselbar. Nicht zu vergessen: Jandl wurde vom Ziehharmonika-Spieler Erich Meixner begleitet. Der verlieh den Texten noch eine zusätzliche Dimension. Man konnte so recht „nachschmecken“, daß gar manche Strophe von Jandl wohl beim Heurigen entstanden sein muß.

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(wegen eines Druckerstreiks im Dortmunder Lokalteil der Westfälischen Rundschau)

 




Autoren sollen die Schulbänke drücken – NRW-Literaturrat wagt neuen Vorstoß

Von Bernd Berke

Im Westen. Wenn es um Aus- und Weiterbildung von Schriftstellern geht, spielen derzeit zwei südwestfälische Orte in den Überlegungen des NRW-Literaturrates eine besondere Rolle.

Die „April-Akademie“, kürzlich von der Wiener Schule für Dichtung in Lüdenscheid abgeschlossen (die WR berichtete), gilt als ein Modellfall. Und die Fernuni Hagen könnte (mit ihren landesweit 29 Anlaufstellen) eines Tages Zentrale einer allseits gut erreichbaren Autoren-Hochschule werden.

Der Literaturrat ist Sprachrohr für rund 30 Institutionen – vom Schriftstellerverband (VS) bis zu den Verlagen und Buchhandlungen. Der Vorsitzende Dr. Eugen Gerritz hält nicht viel vom literarischen Geniekult. Bildende Künstler, Schauspieler und Musiker würden von Meistern ihres Faches ausgebildet, Schriftsteller aber werkelten allein vor sich hin, oft auch ohne Hilfe von kompetenten Verlagslektoren. Selbst Goethe, so das Paradebeispiel, sei sich nicht zu schade gewesen, in Leipzig eine Art Autorenschule zu besuchen. Ausnahmeschriftsteller wie Nabokov hätten Kurse abgehalten.

Bessere Bestseller angepeilt

Überhaupt sei das Feld anderswo viel besser bestellt: In den USA habe fast jeder Autor handwerklichen Schliff an einer Hochschule bekommen. Bei uns aber stecke die Literatur in „selbstverschuldeter Isolation“. An Schulen und Unis gehe es fast nur um Deutung, nicht ums Verfassen von Texten. Daraus folgt die trübe Aussicht: „Germanisten produzieren immer wieder Germanisten.“

Bei näherer Betrachtung betrifft Gerritz‘ Plädoyer für eine geregelte Autorenausbildung freilich nicht so sehr die Spitzenprodukte der Zunft, sondern eher die Qualität des breiten Text-Ausstoßes. „Ich möchte, daß wir bessere Bestseller bekommen“, präzisiert Gerritz. Ernstzunehmende Autoren im publikumswirksamen Sektor kämen heute fast nur aus den angelsächsischen Ländern. Außerdem erhofft sich der Literaturrat von ausgebildeten Autoren spezielle Fertigkeiten, zum Beispiel mehr professionelle Drehbücher für Film und Fernsehen, gekonntere Opern-Libretti, Schlager- und Musical-Texte. Jeder hört tagtäglich, daß in diesen Bereichen besonders viel im Argen liegt.

Gerritz will jetzt seine „10 Thesen gegen die Isolation der Literatur unter den Künsten“ in Einzelgesprächen und bei Fachtagungen den Kulturpolitikern schmackhaft machen. Auch Einrichtungen wie die Fernuni Hagen, der Dortmunder Studiengang Journalistik oder die von Rundfunkanstalten in Köln betriebene „Schreibschule e. V.“ sollen in die Debatte einbezogen werden. Gerritz zuversichtlich: „Heute geht es nicht mehr darum, ob man Literatur lehren kann, sondern nur noch: wie!“