Kunst soll wirken wie ein Nackenschlag – Werkschau über Bruce Nauman in Wolfsburg

Von Bernd Berke

Wolfsburg. Mal ehrlich: Was hat Wolfsburg schon zu bieten? Das gigantische VW-Werk, gewiß. Aber in dessen Schatten ducken sich ein barackenartiger Bahnhof und eine beklagenswert öde Innenstadt. Ausgerechnet hier soll ein Juwel der deutschen Kulturlandschaft zu finden sein? Aber ja!

Das imposante Kunstmuseum Wolfsburg, im Grundriß etwas größer als ein Fußballfeld, verfügt über finanzielle Mittel, von denen man andernorts höchstens träumt. Jetzt bietet man mit einer Schau über den US-Künstler Bruce Nauman erneut ein Ereignis der Sonderklasse.

Während etliche Häuser in den Metropolen mit jährlichen Ankaufsetats von nicht einmal 100 000 Mark (ein Witz angesichts der Kunstmarkt-Preise) wirtschaften, schöpft man in Wolfsburg aus dem Vollen. Das erst vor drei Jahren eröffnete Museum hat bereits umfangreiche Eigenbestände angehäuft. Ständig kauft man namhafte Werke hinzu: Hier ein Bild von Andy Warhol oder Anselm Kiefer, da einen Kunst-Iglu von Mario Merz oder eine Video-Installation von Nam June Paik.

Mit öffentlichen Mitteln ist das nicht zu schaffen, sondern nur mit einer reich ausgestatteten Privatstiftung, die vor allem aus Vermögensanteilen am Volkswagen-Versicherungsdienst (VVD) gespeist wird. Hier dürfte der alte VW-Werbeslogan zutreffen}: „Da weiß man, was man hat.“

Weiter nach Paris und London

Die Nauman-Schau, die in Wolfsburg Premiere hat, teilt man sich mit ersten Adressen. Sie wandert ins Pariser Centre Pompidou und in die Londoner Hayward Gallery. Kunsthallenchef Gijs van Tuyl und sein Team haben eine Ausstellung von seltener Suggestionskraft inszeniert. Der Rundgang ist schneckenförmig angelegt, auf daß man erst hinausfinde, nachdem man ins Zentrum vorgedrungen ist.

Das ist ganz im Sinne Naumans. Er gibt dem Betrachter gern die Wege vor. So schickt er ihn etwa in einen nur 50 Zentimeter schmalen, viele Meter langen Raumschlauch, an dessen Ende man seinem eigenen elektronischen Abbild begegnet. Ein andermal kann man sich – dank eines ausgeklügelten Kamera-Aufbaus – beim Gang um ein Karree selbst hinter den Ecken verschwinden und gleichzeitig die Leute hinter einem auftauchen sehen. Seltsame Zeit-Verschiebung.

Schon in den 70er Jahren hat Nauman (Jahrgang 1941) mit der damals noch ganz neuen Video-Technik experimentiert, seither hat er alle Feinheiten ausgelotet. Ein Kunstwerk solle sein wie „ein Schlag in den Nacken“, es solle umweglos aufs körperliche Befinden einwirken. So lautet ein immer wieder eingelöstes Bekenntnis Naumans, des Stamm-Teilnehmers der documenta, der sich seit zehn Jahren vom Kunstbetrieb zurückgezogen hat, keine Interviews mehr gibt und lieber in New Mexico Pferde züchtet.

Inspiriert von Cage und Beckett

Drei abgedunkelte Räume mit TV-Bildschirmen, auf denen menschliche Köpfe rotieren. Sie stammeln unaufhörlich Lautfolgen wie „Okay-okay-okay“ oder auch nur „Mh-mh-mh“. Man fühlt sich in dieses kreiselnde Wahn-System eingesperrt und faßt sich unwillkürlich an den Hals: Dreht der sich auch schon? Kurz darauf gerät man vor das Videowerk „A poke in the eye“ (etwa: Ein Stoß ins Auge). Ganz langsam tastet die Kamera ein Gesicht porengenau ab und irrt immer wieder zu den Augen hin. Zumal wenn man den Titel vorher kennt, erfaßt einen ein Gefühl der Bedrohung als Kitzel in der Magengrube. Solche Regungen hat der Künstler wohl nicht nur an sich selbst erprobt, sondern auch kühl vorausberechnet.

Der einstige MathematikStudent ließ sich von Wiederholungs- und Montage-Strukturen etwa in Werken des Komponisten John Cage, des Schriftstellers Samuel Beckett oder des Filmregisseurs Jean-Luc Godard anregen.

Viele Installationen sind höchst komplex, sie beziehen z. B. Neonlicht, Texte oder Klänge ein. Man muß es erleben. Und man wird in eine Art Trance zwischen Irritation und Meditation geraten.

Kunstmuseum Wolfsburg, Porschestraße 53 (Tel: 05361 / 266 966). Ausstellung Bruce Nauman bis 28. September. Di 11-20 Uhr, Mi-So 11-18 Uhr. Eintritt 7 DM. Katalog 45 DM.




Zimmerschlacht nach Lust und Laune – Jürgen Kruse inszeniert Andreas Marbers „Rimbaud in Eisenhüttenstadt“

Von Bernd Berke

Bochum. „Blöööd ist es auf der Welt zu sein / Sagt die Biene zu dem Stachelschwein.“ Welch eine Gaudi, wenn diese Schläger-Verballhornung auf der Bochumer Kammerspiel-Bühne gegrölt wird. Mittendrin ruft Intendant Leander Haußmann, der sich als „Rimbaud in Eisenhüttenstadt“ (Regie: Jürgen Kruse) diesmal auch Titeldarsteller-Ehren gönnt, ins Publikum: „Und nun alle! Auch die Kritiker, die sollen ihre Stifte mal loslassen!“ Von wegen.

Rimbaud also. Dieser „wilde“ französische Dichter (1854-1891), dem schon früh die Lyrik nicht mehr genügte und den es hinaustrieb ins Unbedingte. Sodann ausgerechnet Eisenhüttenstadt, aus dem Boden gestampfte Industrieansiedlung der früheren DDR, Inbegriff genormter Enge zwischen Plattenbauten. Mit solch gegensätzlichen Gewürzen hat Andreas Marber (Jahrgang 61, Hausdramaturg in Bochum) sein Stück abgeschmeckt. Jürgen Kruse setzt den Text mit allen erreichbaren Mitteln und im wegwerfenden Gestus aggressiven Angewidertseins unter Dampf.

Es wird – zumal vor der Pause – im Publikum oft gelacht, freilich vielfach kopfschüttelnd, wenn sich etwa Rimbaud Kokain via Staubsaugerrohr in die Nase zieht oder das Überraschungsei einen Präser enthält. Sachen gibt’s…

Stilsicher versiffte Behausung

Die gut dreistündige Zimmerschlacht (hoher Sudelfaktor mit Bier- und Blutspritzern) spielt sich in der stilsicher versifften Einraum-Behausung Rimbauds ab. Dieser ostdeutsche Anarcho-Rebell der Nach-Wendezeit, der auf die reichen Westler schimpft und „vergossene Worte“ des Ostens bewahren will, lebt an seiner Endstation. Mit allen hat er Streit: Die „Süddeutsche Zeitung“ mochte seine zynische Hymne auf Michael Jacksons Kinderschändungen nicht abdrucken. Und in der Stadtbücherei hat man ihm Hausverbot erteilt, als er dort entnervt das „Kochbuch der Anne Frank“ verlangte…

Nun tänzelt auch noch sein schwuler Gespiele Dr. Martin Wolf (Komödiant von Gnaden: Torsten Ranft) aus dem evangelischen Predigerseminar zu Wittenberg herbei, um sich im lachhaften Jargon der Selbsterfahrung von Rimbaud zu trennen – vage Reminiszenz an die historische Dichter-Liebe zwischen Rimbaud und Paul Verlaine, außerdem Gelegenheit zu derben Antiklerikal-Scherzchen („Sinn-Hode“ statt „Synode“).

Derweil irrt Rimbauds hirnkranke Frau mit Namen Vera Vernunft (Annika Kuhl) umher und produziert kleine Sprechopern der Vergeßlichkeit: „Oh, oh, oh – Weil, weil, weil…“ Ihre weitgehend stumm-verzweifelte Rolle wird in Erinnerung bleiben.

Zwischen Aufwallung und Achselzucken

Später gesellt sich eine Kammerjägerin (Henriette Thimig) hinzu, früher bei der Stasi, die auf anderer Ebene mit der „Schädlingsbekämpfung“ fortfährt. Auch wankt hin und wieder eine Riesen-Ratte über die Bühne. Schließlich erscheint ein Mann im weißen Kittel (Marquard Bohm), den man angesichts all dessen erwarten durfte. Als Vera kurzerhand aus dem Fenster springt, brüllt Rimbaud wie am Spieß, doch plötzlich verstummt er und holt sich ein Pils aus dem Kühlschrank.

Derlei willkürliche Abfolge von Aufwallung und Achselzucken bildet ein Grundmuster. Theater nach dem schieren Lustprinzip: Wo Jürgen Kruse „Bock“ hatte, hat er rotzig etwas hin-inszeniert. Zuweilen hat das gleichsam dreckigen Charme.

Leander Haußmann muß wenig Filigranarbeit leisten, er kann sich just austoben mit gehörigem Talent zur Raserei. Die gesamte Darbietung folgt quasi der Rimbaud’sehen Chaos-Regel. Sie könnte jederzeit enden, aber auch immer so weitergehen.

Natürlich öffnet Jürgen Kruse wieder den Plattenschrank. Er beweist exzellenten Spürsinn für starke Rock-Titel und absolut schräge Schläger. Das ganz andere Musiktheater im Revier.

Im nicht frenetischen Beifall ertönten auch Buhrufe.

Termine: 29. Mai, 18. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Vom Königsthron hinab ins Schulungshotel – Peter Handke und Susanne Schneider bei den Mülheimer Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. „Heute ein König!“ schallt es uns aus einer Pils-Werbung entgegen. „Künftig ein König!“ rufen uns die Dramatiker Botho Strauß und Peter Handke zu. Ihre neuen Stücke sorgten für den wahrhaft majestätischen Auftakt der Theatertage in Mülheim. Dann freilich ging’s steil hinab in die Niederungen des ökonomischen Alltags. Susanne Schneiders „Wir Verkäufer“ war der dritte von acht Beiträgen im Wettbewerb.

Nachdem in Botho Strauß „Ithaka“ der alte Odysseus sein Königtum blutrünstig zurückerobert hatte, bekamen es die Zuschauer mit Handkes monarchischen Phantasien zu tun: Das Frankfurter Schauspiel gastierte mit „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“. Schon der Titel läßt ahnen, daß Handkes Sprache gleichsam wallt wie ein Königsgewand. Wohltönend und vielschichtig ist Handkes Sage aus der abgelegenen Enklave, der ein neuer König ein ewig währendes Gesetz allumfassenden Friedens (darunter tut man’s nicht mehr) geben soll. Claus Peymann hatte seine Darsteller bei der Wiener Uraufführung durch eine Art Feenmärchen tändeln lassen. Die Figuren der Frankfurter Fassung (Regie: Hans Hollmann) staksen indes stocksteif einher.

Den Vorhang zu und alle Fragen offen

Im Mittelgrund der stets düsteren Bühne baumelt geometrisch geordnetes Gestänge. Ästhetische Avantgarde der 50er Jahre. Dies gilt auch für die maßvoll neutönerische Musik, die immer wieder erklingt. In dieser Inszenierung mit ihren stur-schematischen Auf- und Abgängen wenig inspirierter Darsteller hat man nicht einmal den Umgang mit dem Vorhang rationell gelöst: Zuweilen wird für eine Fünfzehn-Sekunden-Szene eigens langwierig zu- und dann wieder aufgezogen. Warten ist das halbe Leben.

„Verstanden?“ fragte Handkes Wander-Erzählerin mehrmals textgemäß in die Publikumsrunde. „No!“ schallte es in Mülheim aus vielen Mündem zurück. Tatsächlich ist es schwer, in diesem Drama den Faden zu finden. Anhand der Frankfurter Darbietung scheint es sogar aussichtlos.

Schneeberg soll soziale Kälte anzeigen

Den roten Faden sah man in „Wir Verkäufer“ um so schneller. Denn die Stuttgarter Autorin Susanne Schneider, die in der Gast-Inszenierung (Badisches Staatstheater Karlsruhe) auch Regie führt, gibt über weite Strecken mit biederem Realismus den Ablauf einer Verkaufsschulung wieder, die eine Westfirma arbeitslos gewordenen Ostdeutschen angedeihen läßt. Schmerzlich beigebracht werden den „Ossis“ in diesem kapitalistischen Fegefeuer die Psychotricks des Verhökerns. In den Schulungspausen gibt’s Kummersuff, Karaoke-Singsang und natürlich Fragmente aus beschädigten Ost-Biographien.

Video-Aufnahmen von echten Schulungen dienten der Autorin als Anregung. Wie Fertigteile baut sie aus der DDR überkommene Redewendungen („Fakt ist.. ..“, „…hat Weltniveau“) ein. Auch sonst kommt einem vieles reichlich bekannt vor. Und es hätte schon um 1990 exakt so geschrieben werden können. Heute wirkt es abgestanden. Daß gar ein immer höher werdender Schneeberg rund ums Schulungshotel als Sinnbild für wachsende soziale Kälte herhalten muß, ist kläglich. Rar sind die Szenen-Momente, in denen das deutsch-deutsche Elend sich wenigstens halbwegs verdichtet.

Dank der großartigen Münchner Inszenierung muß derzeit Botho Strauß „Ithaka“-Text favorisiert werden. Man darf aber wohl die Prognose riskieren: Strauß wird den Preis trotzdem partout nicht bekommen, und zwar wegen politischer Bedenken. Außerdem folgen bis zum 6. Juni ja noch fünf konkurrierende Stück, darunter die von Elfriede Jelinek und Urs Widmer.




Jüdisches Museum Westfalen: Die Würde der Tradition

Von Bernd Berke

Dorsten. Es ist nicht ganz leicht, das „Jüdische Museum Westfalen“ zu finden. Ein Hinweisschild erblickt man in Dorsten erst dann, wenn man die umgebaute alte Villa an der Julius-Ambrunn-Straße auch schon vor sich sieht. Und obwohl die Stadt ja nicht allzu groß ist, scheinen die wenigsten Einwohner den richtigen Weg weisen zu können.

Ein bißchen traurig ist dies lokale Schattendasein schon. Aber das Museum, weit und breit das einzige seiner Art, setzt ohnehin mehr auf Fernwirkung. Zumal aus den Niederlanden kommen häufig Besucher hierher, aber auch aus den USA und Israel.

Vor fast genau fünf Jahren wurde die Stätte der Erinnerung vom örtlichen „Verein für jüdische Geschichte und Religion“ begründet. Stadt und Land bezahlten den Ausbau des Domizils und trugen Betriebskosten. Die Betreuung der wertvollen Exponate muß dennoch weitgehend ehrenamtlich geleistet werden.

Einen Sammelschwerpunkt bilden kostbare jüdische Kultgeräte zu den Feiern im Jahreskreislauf. Größte Aufmerksamkeit gilt der Geschichte jüdischen Lebens in Westfalen. Torarollen, Bücher und Bilder sieht man hier ebenso wie etwa silberne Speisenbehältnisse zu bestimmten Festtagen.

Ein erschütternder Fund füllt einen Weidenkorb im Erdgeschoß: jene Sammlung von Büchern, die vor einigen Jahren auf einem Dachboden in Bottrop gefunden wurden. Diese Bücher haben jüdischen Familien gehört, die in Konzentrationslager deportiert wurden. Ausführlich dokumentiert man die Entwicklung des Antisemitismus, der im Mittelalter bereits Wurzeln geschlagen hatte.

Das Museum befaßt sich vornehmlich mit der Historie des Judentums, weniger mit Israels gegenwärtiger Entwicklung. Es dominiert die Würde des althergebrachten Kultes und damit die orthodoxe Lesart. In dieses Konzept fügt sich nun die bis 15. Juni dauernde Ausstellung des Künstlers Uri Shaked aus Tel Aviv ein. Seine „Bilder zu den jüdischen Festtagen“ erzählen, in scheinbar „naivem“ Duktus und frohen hellen Farben, von Menschen, die aus ihrer Religion heitere Hoffnung schöpfen. Die Gesichter aller Figuren, auch wenn sie in Rückenansicht gezeigt werden, sind stets dem Betrachter zugewandt. Es wirkt wie eine Einladung zur Teilhabe.

Jüdisches Museum Westfalen. Dorsten, Julius-Ambrunn-Straße 1 (in Bahnhofsnähe an der A 223). Tel. 02362/45 279. Di-Fr 10-12 und 15-18 Uhr, So 14-17 Uhr. Eintritt 5 DM. Bestandskatalog 280 Seiten, 38 DM.

 




Mitteilungen aus der Studierstube – Patricia Dunckers hitziger Roman „Die Germanistin“

Von Bernd Berke

Eigentlich fängt dieser Roman vielversprechend an: Angetrieben von einer mysteriösen Germanistin, begibt sich der Ich-Erzähler, ein junger Romanistik-Student aus Cambridge, auf die Suche nach dem Menschen, der hinter seinem Examensthema steckt.

Er schreibt seine Abschlußarbeit über den französischen Autor Paul Michel, von dem er natürlich alles mehrfach gelesen hat. Wie sich erweist, ist Paul Michel nicht nur ein Mann, dem schrankenlose Freiheit über alles geht, er ist zudem offensiv und selbstbewußt schwul – und eines Tages hat man ihn wegen einiger Gewalt-Eskapaden in eine Irrenanstalt eingewiesen. Die Germanistin findet: Man muß den Mann da herausholen, ihn retten. Und sie schickt den Studenten vor.

Der also reist – in Patricia Dunckers Roman „Die Germanistin“ – von England nach Frankreich und dringt bis zu diesem Paul Michel vor, der von 1947 bis 1984 wirklich gelebt hat, zwischenzeitlich als kommende Größe der französischen Literatur galt, dann für verrückt erklärt wurde und an Aids gestorben ist.

Schwülstige Schwärmerei

Michels wirrer Blick und das aggressive Benehmen machen dem Studenten zunächst angst, doch schon bald freunden sich die beiden an. Resultat: Paul Michel wird aus der geschlossenen Anstalt entlassen, bekommt immer öfter Freigang und darf schließlich mit dem Studenten durch Südfrankreich reisen. Natürlich vermittelt all das dem Studenten ein ganz neues Lebensgefühl, so daß die Autorin ausgiebig Gelegenheit bekommt, über die Beziehung zwischen ihren beiden Helden wie eine törichte Jungfer in schwülstige Schwärmerei zu geraten.

Fragt sich nur noch: Welches Interesse hatte die Germanistin an all den Fährnissen? Mit dieser Frage hält die Autorin das Interesse wenigstens auf Sparflamme. Ihre Figuren aber bleiben blutleere Phantome, ihre Szenen wirken meist geschmäcklerisch arrangiert und zurechtgebogen.

Zudem muß man sich durch viel angelesenes Zeug quälen, durch kaum entschlackten Archiv-Stoff und Mitteilungen aus der Studierstube, um zu den wenigen anschaulichenPassagen zu gelangen. Ein Roman-Konstrukt aus dem Elfenbeinturm der literaturwissenschaftlichen Fachwelt, künstlich erhitzt mit einer ständig beschworenen, aber nie beglaubigten Sehnsucht nach dem „wirklichen Leben“.

Die stärksten Stellen stammen von fremder Feder. Es sind Real-Zitate aus dem Briefwechsel zwischen Paul Michel und dem französischen Denker Michel Foucault, der den Jüngeren als seinen einzigen wahrhaftigen Leser schätzte und zugleich fürchtete. Um dieses innige Autor-Leser-Verhältnis kreisen auch Patricia Dunckers heiße Hoffnungen. Ach, wie vergebens!

Patricia Duncker: „Die Germanistin“. Roman. Berlin Verlag. 235 Seiten, 38 DM.

 




Lebensbilanz mit Verlusten – Sibylle Mulots Roman „Das Horoskop“

Von Bernd Berke

Mit seinem Roman „Netzkarte“ ließ uns einst Sten Nadolny teilhaben an einer Fahrt kreuz und quer durchs Netz der deutschen Bahn. Natürlich kam es dabei vor allem auf die menschlichen Begegnungen an. Auch Sibylle Mulot schildert in ihrem Buch „Das Horoskop“ den Verlauf einer langen Bahnfahrt. Wieder geht es um eine Bekanntschaft, die die Ich-Erzählerin schließt.

Der Weg führt von Basel nach Paris. Eine ausgedehnte Strecke, auf der wir nach und nach einiges über jene verhalten elegante Mitreisende Edit erfahren, die ihre Kindheit in Ungarn und Wien verbracht hat, Solotänzerin gewesen ist und einen französischen Fabrikanten geheiratet hat. Zu ihm kehrt sie jetzt zurück, nachdem sie ihre todkranke Mutter besucht hat. Und sie hat eine ganze Tasche voller Marzipan im Gepäck, die sie ängstlich durch den Zoll schmuggelt.

Was diese Frau innerlich beschäftigt: Ihr Sohn, für den sie doch – in offenbar grandios vergeblicher Liebesmüh – all das Schöne Marzipan besorgt hat, hat seit vielen Jahren jeden Kontakt mit ihr abgebrochen, ohne jeden zwingenden äußeren Anlaß, aber gewiß mit inneren Beweggründen. Edit kennt mithin weder ihre Schwiegertochter noch ihre Enkelkinder. Dieser Verlustposten ihrer Lebensbilanz setzt ihr so zu, daß sie schon eine Wahrsagerin aufgesucht und ihr Horoskop nach Wiedersehens-Chancen befragt hat.

Familie als Keim des Übels und der Hoffnung

Kunstvoll verknüpft Sibylle Mulot die Fensterblicke auf die vorbeiziehende Landschaft mit der allmählich sich abzeichnenden, zum Teil verdorrten „Landschaft“ dieses Frauenlebens. Als schließlich Paris in Sichtweite kommt und die Häuser immer dichter beieinander stehen, verdichtet sich auch das imaginierte Netz der familiären Bezüge und Beziehungen.

Und der Blick weitet sich ins Allgemeinere: Am Beispiel der gelinde verzweifelten, aber unverdrossen ihre Glücksansprüche behauptenden Edit lernt man, wie sehr die Menschen seelisch an ihre Familien gekettet sind, auch und gerade wenn Beziehungen – als seien es Bahnstrecken – „stillgelegt“ zu sein scheinen. Familie als Keim des Übels und der Hoffnung.

Die Ich-Erzählerin, leider immer eine Spur überlegter als ihre Mitreisende (was dem Buch gelegentlich eine etwas besserwisserische Note verleiht), wehrt sich innerlich gegen Edits Anspruch auf den Sohn und versucht, sich in die Lage von Kindern zu versetzen, die ihren Eltern ein für allemal Adieu sagen. Einerseits herrscht allseits Wahlfreiheit in den Beziehungen, andererseits strebt jeder Mensch nach Sicherheit und Halt. Gefühle sind Widersprüche, sie folgen keiner Logik und sind oft furchtbar ungerecht.

Ein elegischer Ton zieht sich durch diese Erzählung. Mit der Ankunft des Zuges tritt – nicht so paradox, wie es klingt – jene Überraschung ein, die man als Leser die ganze Zeit über erwartet hat. Doch vielleicht setzt erst mit dieser Ankunft die Wirkung dieses Buches ein.

Sibylle Mulot: „Das Horoskop“. Diogenes-Verlag, 125 Seiten. 29,90 DM.




Die guten Götter werden schon für Frieden sorgen – Botho Strauß‘ „Ithaka“ als Auftakt zu den Stücketagen

Von Bernd Berke

Mülheim. Nein, ein Festival im üblichen Sinne sind die Mülheimer Theatertage diesmal nicht. Der Wettbewerb neuer deutschsprachiger Stücke zieht sich – als eher lose Folge von acht Gastspielen – über fast vier Wochen bis zum 6. Juni hin. Von gewisser Dauer war schon der Auftakt am Sonntag Abend. Die Münchner Kammerspiele gingen mit Botho Strauß‘ Antiken-Anverwandlung „Ithaka“ (Regie: Dieter Dom) an die Startlinie. Und das hieß: viereinhalb Spielstunden mit Odysseus. Doch es war nicht die berühmte Irrfahrt.

Odysseus (Bruno Ganz) ist bei Strauß, der sich in vielen mythologischen Details an die Vorlage von Homer hält, bereits nach Ithaka heimgekehrt. Eine üble Rotte von Freiern belagert Odysseus‘ Gattin Penelope (Gisela Stein), die mächtige Kummerspeck-Schwarten angesetzt hat und sich auch damit die Zudringlichen vom Leibe zu halten sucht.

Genußsucht, Sport und Prahlerei

Unterdessen ist das gesamte Gemeinwesen verkommen. Es fehlt eben der Herrscher, einer, der – salopp gesprochen – in diesem Saustall aufräumt. Statt dessen regieren, wie es einmal bündig heißt, „Genußsucht, Sport, Prahlerei“. Scheinbar gelassen, doch innerlich zornbebend, hört sich der als Bettler verkleidete Odysseus all die Schreckensbotschaften an. Und dann handelt er…

Zu diesem Sachverhalt hat Botho Strauß ein geradezu klassisch-formbewußtes Stück gedrechselt. Es kommt einem so vor. als habe er – wie so viele Autoren vor ihm – just bei den „Alten“, sprich in der Antike anknüpfen wollen, um dort Halt und Heilsamkeit zu finden, die nach seinem Empfinden der heillosen Gegenwart abhanden gekommen sind. Man hat aus dem Text überdies herauslesen wollen, daß sich der Autor nach einer Führer-Figur sehne. Unsinn!

Denn nachdem Odysseus die versammelten Freier im Bogenschießen gedemütigt (Wetten, daß der Held zwölf Äxte auf einen Streich mit dem Pfeile trifft?) und sodann samt lüsternen Mägden niedergemetzelt hat, erhebt sich ja erst die eigentliche Frage: Was kommt nach solch blutigem Sieg? Eine fundamentalistische Diktatur? In diesem Falle müssen es die allerhöchsten Mächte richten: Zeus und Pallas Athene („Girlie“ aus dem Götterhimmel: Sibylle Canonica) sorgen für Frieden im Lande – und dafür, daß das Volk alle vorherigen Untaten vergißt. Wortwörtliches Resultat: „Herrscher und Untertanen lieben einander wie früher. Daraus erwachsen Wohlstand und Fülle des Friedens den Menschen.“ Naiv anmutende und etwas prekäre Gründungslegende, fürwahr.

Die Großtat des Bruno Ganz

In Dieter Dorns Inszenierung wirkt all das jedoch so, wie es ja wohl auch gemeint sein dürfte: human und manchmal gar von heiterer (Selbst)-Ironie beseelt. Zumal der wunderbare Bruno Ganz als Odysseus nimmt Strauß‘ Sprache alles Gravitätische, läßt ihr gleichwohl den edlen Klang – und macht sie zugleich faßbar. Eine Großtat sondergleichen. Im Zentrum der dramatischen Aufmerksamkeit steht außerdem das Paar Odysseus-Penelope, das einander endlos zu verfehlen droht. Ein altes Strauß-Motiv.

Zu sehen war ein Spitzenprodukt deutschen Qualitäts-Theaters, ästhetisch völlig auf der Höhe, S-Klasse sozusagen. Und damit ein verheißungsvoller Auftakt für die Stücketage, die mit ihren Blicken über den regionalen Tellerrand alljährlich das vielleicht sachkundigste Publikum im Revier versammeln.

Der Beitrag des nächsten Edel-Dichters folgt am kommenden Samstag: Dann wird das Frankfurter Schauspiel mit Peter Handkes „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“ auftreten. Die Zuschauer sind gewappnet und gerüstet.




In der Steppe vom Sandkorn erzählen – Peter Handkes Roman vom Abenteuer der Wahrnehmung

Von Bernd Berke

Peter Handke scheint die Ödnis zu lieben. Nachdem er seinen Lesern zuletzt das Langstrecken-Exerzitium „Mein Jahr in der Niemandsbucht“ auferlegte, siedelt er auch seine neue Hauptfigur im Niemandsland an, wo kaum etwas von wahrer Empfindung ablenkt. Jener Apotheker von Taxham (Flecken bei Salzburg) wohnt in einer „Zwickelwelt“ zwischen Bahnlinie, Flughafen und Autobahn-Tangenten. Dort, wo die Ausläufer der Technik in spärlichen Bewuchs übergehen.

Dieser Apotheker wird als unauffälliger, aber „uneingemeindeter“ Mensch beschrieben. Mit seiner Frau lebt er in gütlicher Abgrenzung, die Kinder sind aus dem Haus, vielleicht hat er sie gar vertrieben. Der Mann fühlt sich mal aufgehoben, mal aber auch gefährdet in seinem Alleinsein. Doch der Erzähler will ihm das Geheimnis nicht entreißen: „Keine Erklärungen, keine Begründungen, in der Schwebe lassen „, heißt es einmal. Wie ein Aufbruch ins Ungefähre klingt ja auch der Titel: „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus.“

Handke unterlegt seine Geschichte mit dem Prägemuster mittelalterlicher Abenteuer-Epen. Eine Art Prüfung hat auch der Apotheker zu bestehen. Er wird zum „Gezeichneten“, indem er ein dunkles Wundmal auf der Stirn trägt – vielleicht das Signal todbringender Krankheit, vielleicht aber auch der Verheißung. Jedenfalls verläßt er nun sein Haus und gerät in eine rätselhafte, verwunschen wirkende Welt. Zugleich verstummt er, um desto genauer zu schauen und zu hören. Zum Beispiel auf eine furiose Grundsatz-Rede über die tiefe Feindschaft zwischen Mann und Frau.

Ein fruchtbares Verirren, ein neues Maßnehmen

Zwischendurch wird er von zwei Desperados begleitet, einem ehemaligen Ski-As und einem Dichter. Ein seltsam dahertaumelndes Slapstick-Trio. Die ganze Reise aber erweist sich – wie könnte es bei Handke anders sein – als „fruchtbares Verirren“, als Gelegenheit zum neuen Maßnehmen an der Welt, an der Wunderkammer namens Wirklichkeit.

In der „Nachtwindstadt“ Santa Fe ereignet sich ein prachtvolles Fest mit faszinierenden Ritualen. Rotten eines völlig fühllosen Menschenschlages drohen im Landstrich die Oberhand zu gewinnen. Schließlich treibt es den Apotheker, diesen Abenteurer der Wahrnehmung, als Eremiten in eine Steppe hinaus. Die Schilderung dieser Wüstenei zwischen den Städten, an deren Rändern wahnwitzige Extremsportlcr aufkreuzen, ist vollends grandios. So aufregend kann Ödland sein, wenn jeder Flügelschlag eines Vogels und jedes Sandkorn, jeder Vorgeschmack und Nachklang so innig erzählt werden.

Der Dichter soll reden wie ein Bergsteiger am Seil

Staunenswert, wie Peter Handke unscheinbarste oder fremdartigste Erscheinungen mit größtmöglicher sprachlicher Einfühlung faßt. So gerüstet, kann er sich mit seinen Figuren erneut auf ferne Vorposten hinauswagen und so zusagen dem Niemandsland Neuland abgewinnen. Ob es auch fruchtbar ist?

Wo aber dieser Erzähler nichts weiß, da stellt er keine Behauptungen auf, sondern tastet sich fragend an die Dinge heran. Das eben unterscheidet Handke etwa von Botho Strauß. Er handelt nicht mit Meinungen, sondern mit Wahrnehmungen. Pures Erzählen der Gegenwart, das Schwerste von allem, ist ihm genug.

Bezeichnender Satz: „So dichten, wie Bergsteiger miteinander reden, während sie am Seil hängen“. Kein überflüssiges Wort also. Freudig bestätigende, knappe Feststellungen wie „Ja. So ist es.“ sind Zielpunkte solchen Schreibens, das freilich allzeit bedroht ist, auf schwindelerregender Anhöhe nur noch in sich selbst zu kreisen.

Peter Handke: „In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus“. Roman. Suhrkamp-Verlag. 316 Seiten. 48 DM.




Ausblick ins Wunderbare – Neues Programm im Dortmunder „Luna“-Varieté

Von Bernd Berke

Dortmund. Wohin nimmt man Besuch von außerhalb mit, wenn man zeigen will, daß Dortmund eine „richtige Großstadt“ ist? Vielleicht ins Westfalenstadion. Doch es ist nicht immer Samstag, und Borussia-Karten sind rar. Na, dann eben in die Westfalenhalle. Oder aber: ins Variété „Luna“! So etwas hat beileibe nicht jede Gemeinde. Und dort gibt’s jetzt auch noch ein knackfrisches Programm.

„Live aus dem Luna“ lautet das Motto. Allabendlich kommen sogar die Typen eines (aktiven) Fernsehsenders, der die Show ausstrahlt und aufgekratzte Stimmung verlangt. Zwei schrille Regie-Helferinnen zeigen dem Publikum auf Täfelchen, was zu tun ist: „Applaus total!“ oder „Ausflippen!“ Wie es bei manchen echten Sendern eben so zugeht.

Das Variété hat gut spotten. Denn die Konkurrenz solcher TV-Mätzchen braucht man nicht zu fürchten. Die Zuschauer haben hier alles ganz nah vor Augen. Und nebenbei liegt das Genre auch im Trend des internationalen Theaters, das sich immer mehr circensische Elemente einverleibt.

Was also gibt es live zu sehen? Zum Beispiel das „Duo Nico“ aus Prag. Der junge Mann nimmt einen Dolch in den Mund und balanciert Trinkgläser auf dieses Messers schmaler Schneide. Wenn er den Dolch Spitze auf Spitze mit einem Schwert setzt und mit den wackligen Waffen gefährlich herumturnt, stockt dem Publikum der Atem. Seine Partnerin zeigt später, wie irrwitzig sie Dutzende von fluoreszierenden Hula-Hoop-Reifen kreisen lassen kann. Schön fürs Auge, hart für die Hüfte.

Triumph über die läppische Schwerkraft

Die beiden „Perris“ aus Rom führen Balanceakte an den Grenzen der Physik vor. So überaus schräg „klebt“ die Artistin droben an der Leiter, daß einem ein Sturz viel wahrscheinlicher vorkommt als das Gelingen. Toller Triumph über die scheinbar läppische Schwerkraft.

Für die komische Note sorgen – neben dem Berliner Conférencier Michael Genähr, der mit trockenem Charme durchs Programm führt – diesmal die „Stepinskis“. Die zwei Damen werden als VHS-Kursteilnehmerinnen aus Sprockhövel vorgestellt, kommen aber in Wahrheit auch von der Spree und sind natürlich alles andere als blutige Anfängerinnen. Bei ihren Stepptanz-Nummern gucken sie so begnadet blöd aus der Wäsche, daß man fast vergißt, wieviel Können in ihrer Darbietung steckt.

Fürs Übersinnliche sorgt der Bühnenzauberer Patrick Droude aus Paris. Sein Auftritt mit morbidem Beigeschmack ist ästhetisch so ausgeklügelt, daß er auch einen Weltstar „magischen“ Theaters wie Robert Wilson begeistern müßte. Eine Metallkugel, die wundersames Eigenleben entwickelt, und eine kerzengerade im Raume schwebende Frau – sie erscheinen nicht wie bloße Tricks, sondern wie Ausblicke ins wahrhaft Unerklärliche.

Übrigens: Zu einem Nonsens-Quiz werden jeweils zwei Leute aus dem Publikum auf die Bühne geholt. Bei der Premiere hat’s auch mich erwischt. Doch davon kein Wort mehr.

Luna-Varieté. Dortmund-Hombruch. Harkortstraße 57 a (Tel. 0231 / 77 31 96). Bis 29. Juni, Mi-Fr 20.00 Uhr, Sa 20 und 23 Uhr, So 15 und 19 Uhr.




So wienerisch hat’s hier noch nie geklungen – Großer Andrang zur Lesung von Ernst Jandl in Dortmund

Von Bernd Berke

So wienerisch hat es hier wohl noch nie geklungen. Der österreichische Dichter Ernst Jandl (71) trug bei seinem allerersten Leseauftritt in Dortmund lauter „Stanzen“ vor – Vierzeiler in alpenländischer Kunst-Mundart. Noch einer der verständlichsten Verse: „wissd bled samma r olle / owa so bled samma ned“.

Man hätte es ahnen können: Jandls famose Laut-Dichtungen haben schon andernorts Menschenmengen mobilisiert. So war s denn auch in Dortmund. Die Schlange im Museum für Kunst und Kulturgeschichte wand sich von der Rotunde im ersten Stock bis hinunter zur Hansastraße. Nach einigem Geschiebe kamen schließlich auch die Leute ‚rein, die nicht wohlweislich Karten reserviert hatten.

Jandl tat ihnen allen jedoch nicht den Gefallen, seine bekannten Zugnummern wie „Ottos Mops“ oder den Verwechslungs-Klassiker mit „lechts und rinks“ vorzutragen. Statt dessen also die Stanzen. Nach Art von Schnaderhüpferln, jenen Spottliedern mit abschließendem Jodler, täuschen diese Gedichte einen herzhaft volkstümlichen Tonfall vor. Aber die Inhalte! Alles , andere als gemütlich.

Körperlicher Verfall und Geschlechtsmerkmale

Jandls Alterswerk kreist vornehmlich um den nahenden Tod und körperlichen Verfall. Beispiel verzweifelter Komik und komischer Verzweiflung: „meine fiass schdeng im fuassboad / mei zahnbiaschdl schdeggd ma r im mäu / und dazwischen schauri zua / wia rosch in fafäu.“ Übersetzung wohl überflüssig.

Bei Teilen des Publikums machte sich vor der Pause schon mal ein wenig Unmut breit, weil Jandl viele drastische Zeilen über körperliche Ausscheidungen und – fast schon, besessen – über sekundäre Geschlechtsmerkmale wie „Dutteln“ verfaßt hat. Doch im Dialekt klang’s nahezu nett. Der Unmut gab sich also. Und die eisten lauschten Jandls Versen geradezu ergeben und ergriffen, um nur ja keine Feinheit zu verpassen. Schließlich hatte man ja auch 12 DM Eintritt berappt.

Doch was soll’s. Jandl ist unbezahlbar und unverwechselbar. Nicht zu vergessen: Jandl wurde vom Ziehharmonika-Spieler Erich Meixner begleitet. Der verlieh den Texten noch eine zusätzliche Dimension. Man konnte so recht „nachschmecken“, daß gar manche Strophe von Jandl wohl beim Heurigen entstanden sein muß.

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(wegen eines Druckerstreiks im Dortmunder Lokalteil der Westfälischen Rundschau)

 




Autoren sollen die Schulbänke drücken – NRW-Literaturrat wagt neuen Vorstoß

Von Bernd Berke

Im Westen. Wenn es um Aus- und Weiterbildung von Schriftstellern geht, spielen derzeit zwei südwestfälische Orte in den Überlegungen des NRW-Literaturrates eine besondere Rolle.

Die „April-Akademie“, kürzlich von der Wiener Schule für Dichtung in Lüdenscheid abgeschlossen (die WR berichtete), gilt als ein Modellfall. Und die Fernuni Hagen könnte (mit ihren landesweit 29 Anlaufstellen) eines Tages Zentrale einer allseits gut erreichbaren Autoren-Hochschule werden.

Der Literaturrat ist Sprachrohr für rund 30 Institutionen – vom Schriftstellerverband (VS) bis zu den Verlagen und Buchhandlungen. Der Vorsitzende Dr. Eugen Gerritz hält nicht viel vom literarischen Geniekult. Bildende Künstler, Schauspieler und Musiker würden von Meistern ihres Faches ausgebildet, Schriftsteller aber werkelten allein vor sich hin, oft auch ohne Hilfe von kompetenten Verlagslektoren. Selbst Goethe, so das Paradebeispiel, sei sich nicht zu schade gewesen, in Leipzig eine Art Autorenschule zu besuchen. Ausnahmeschriftsteller wie Nabokov hätten Kurse abgehalten.

Bessere Bestseller angepeilt

Überhaupt sei das Feld anderswo viel besser bestellt: In den USA habe fast jeder Autor handwerklichen Schliff an einer Hochschule bekommen. Bei uns aber stecke die Literatur in „selbstverschuldeter Isolation“. An Schulen und Unis gehe es fast nur um Deutung, nicht ums Verfassen von Texten. Daraus folgt die trübe Aussicht: „Germanisten produzieren immer wieder Germanisten.“

Bei näherer Betrachtung betrifft Gerritz‘ Plädoyer für eine geregelte Autorenausbildung freilich nicht so sehr die Spitzenprodukte der Zunft, sondern eher die Qualität des breiten Text-Ausstoßes. „Ich möchte, daß wir bessere Bestseller bekommen“, präzisiert Gerritz. Ernstzunehmende Autoren im publikumswirksamen Sektor kämen heute fast nur aus den angelsächsischen Ländern. Außerdem erhofft sich der Literaturrat von ausgebildeten Autoren spezielle Fertigkeiten, zum Beispiel mehr professionelle Drehbücher für Film und Fernsehen, gekonntere Opern-Libretti, Schlager- und Musical-Texte. Jeder hört tagtäglich, daß in diesen Bereichen besonders viel im Argen liegt.

Gerritz will jetzt seine „10 Thesen gegen die Isolation der Literatur unter den Künsten“ in Einzelgesprächen und bei Fachtagungen den Kulturpolitikern schmackhaft machen. Auch Einrichtungen wie die Fernuni Hagen, der Dortmunder Studiengang Journalistik oder die von Rundfunkanstalten in Köln betriebene „Schreibschule e. V.“ sollen in die Debatte einbezogen werden. Gerritz zuversichtlich: „Heute geht es nicht mehr darum, ob man Literatur lehren kann, sondern nur noch: wie!“