Dieses Leben, das die Menschen zermalmt – „Der Pianist“: Drei Erzählungen von Viktorija Tokarjewa

Von Bernd Berke

Will man erfahren, was entschlackter Stil ist, so sollte man die Erzählungen der Russin Viktorija Tokarjewa lesen. Mit ein paar prägnanten Skizzen-Strichen ist die Erzählsituation aufgebaut – und schon befindet man sich mittendrin.

Drei Erzählungen enthält ihr Band „Der Pianist“. In der Titel-Geschichte geht es um jenen Klaviervirtuosen Mesjazew, dessen Familienleben desolat verläuft. Nach einer Deutschlandtournee gerät er vollends in die Sinnkrise und kommt in ein Sanatorium. Dort lernt er die Vamp-Frau Ljulja kennen und (mitten im Schnee) körperlich lieben, wobei Eierlikör über ihren Pelzmantel rinnt – Bild einer Sinnlichkeit, die haltlos alles besudelt.

Eine verzehrende Sucht nach dem ganz anderen Leben bricht sich düster Bahn. Drang nach Freiheit und zugleich die Angst vor davor vereinen sich zu einem fatalen Gemisch. Die Episode führt nach und nach zur völligen Zerstörung des familiären Restzusammenhalts. Was bleibt, ist Melancholie. Dieser Zerfall spiegelt die mehr als mißliche gesellschaftliche Lage in Rußland, wobei die wenigen Polit-Einsprengsel zuweilen fatal klingen, so als seien Dissidenten in erster Linie Defätisten und als bedeute Demokratie vor allem Schrankenlosigkeit.

, Kosmische Liebe“ zeigt wiederum zwei tief vereinzelte Menschen, die sich für kurze Zeit ineinander festkrallen: Jelissejew, Fotograf einer Filmcrew, und seine Kollegin Lena, deren Mann gerade gestorben ist. Beide Lebensläufe werden im Fortgang ihrer kurzen und heftigen Beziehung wie im Brennspiegel eingefangen. Wir hören von allseits nutzlos verkümmernden Talenten, von Alkoholismus, Bindungsunfähigkeit und einem Selbstmordversuch. Alle leiden unter einem Leben, das die Menschen nach und nach zermalmt. Erneut stehen Einzelschicksale fürs große Ganze. Schale Lockungen des Westens werden in Kontrast gesetzt zur althergebrachten russischen Seelentiefe.

„Löffelweise Kaviar“ gibt es in der gleichnamigen Abschluß-Erzählung. Nick, nicht mehr ganz junges Schauspieltalent aus England, ist soeben von seiner Frau verlassen worden. Ein 83jähriger Milliardär bietet ihm nun die vermeintliche Chance seines Lebens: Nick soll mit ihm in dessen russische Heimat reisen und sich dort – gegen Bezahlung – stellvertretend für den siechen Greis kulinarisch und erotisch amüsieren.

Geldsegen und noch dazu Genuß sofort? Nein, es ist ein perfider Teufelspakt. Denn Nick muß wirklich alle Wünsche des Alten erfüllen, beispielsweise Kaviar buchstäblich fressen bis zum Erbrechen. Auch seine neue Liebe wird zerstört, als die Frau von der beschämenden Vereinbarung erfährt. Da fühlt sie sich als sexuelles Versuchsobjekt. Ein literarisch überzeugender, manchmal gar überwältigender Band. Wenn nur diese ideologischen Spurenelemente nicht wären…

Viktorija Tokarjewa: „Der Pianist“. Erzählungen. Diogenes. 167 Seiten. 34 DM.

 




Den Fallensteller kann man niemals fangen – Das irrlichternde Werk von Sigmar Polke in der Bonner Bundeskunsthalle

Von Bernd Berke

Bonn. Der Mann ist verknallt in Bilder mit Raster-Pünktchen: „Ich liebe alle Punkte, mit vielen Punkten bin ich verheiratet. Ich möchte, daß alle Punkte glücklich sind. Ich bin auch ein Punkt.“ Hier setzen wir wirklich mal einen Punkt und fragen: Redet da einer, der nicht ganz bei Verstand ist? Oh, nein. Da spricht ein irrlichternder Ironiker. Und einer der wichtigsten deutschen Gegenwartskünstler. Name: Sigmar Polke. Geboren 1941.

Bonns Bundeskunsthalle richtet ihm die bisher größte Retrospektive aus – mit rund 220 Arbeiten aus allen Schaffensphasen seit 1962, noch dazu fast lauter Großformate. Da darf man seine Augen schätzungsweise über etliche tausend Quadratmeter Kunst schweifen lassen.

Auf Polke, der sein Faible für flimmernde Raster listig mit Kurzsichtigkeit „erklärt“, könnte Bert Brechts berühmter Satz zutreffen: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“ Polke selbst hat der Schau den Titel gegeben: „Die drei Lügen der Malerei“. Bereits das dürfte eine Falle sein. Es gibt ja viel mehr Lügen – und Wahrheiten.

Schon als Gerhard Richters Mitstreiter in der losen Gruppierung „Kapitalistischer Realismus“ machte sich Polke in den 60er Jahren sowohl über die Pop-Art als auch über den Sozialistischen Realismus lustig. So ist es bis heute: Geistig rastlos, schlägt er ständig neue Haken, entwischt stets, ist schon wieder ganz woanders.

Wenn nicht einmal die Farben Bestand haben

Manchmal freut sich Polke, wenn seine Bilder allmählich schwinden. Er benutzt Materialien wie Silberjodid oder Ruß auf Glas, deren Spuren sich verwischen. Er verwendet Pigmente, die sich bei wechselnder Temperatur wie das sprichwörtliche Chamäleon verhalten. Nicht einmal der Farbwert hat also Bestand.

Festlegung auf einen Stil ist Polke sowieso ein Greuel. Und er macht keinen Unterschied zwischen erhaben und trivial. Daher kann auch alles der Inspiration dienen. Polke verbindet in ein und demselben Bild naturgetreuen Realismus und Karikatur. Er verknüpft afrikanische Plastik mit niedlichen Bambi-Figuren, er umgibt den Umriß des berühmten Dürer’schen Hasen – als sei s ein einziger Abwasch – mit den Karo-Mustern von Trockentüchern. Wie er denn überhaupt seine Bilder oft mit endlos reproduzierbaren Mustern unterlegt oder überblendet: Tapeten, Kacheln, Stoffbahnen. Und seltsam: Was auch immer er sich anverwandelt, es gerät unter seinen Händen wahrhaftig zur Kunst. Wie bei jenem Midas, dem alles zu Gold wurde, was er berührte.

Der Schamane hat s auch mit der Politik

Zuweilen gebärdet sich Polke, der in den 1970ern gelegentlich rauschhafte Farbschlieren-Bilder unter Drogeneinfluß erzeugt hat, auch schon mal als Schamane. Höhere Wesen hätten ihm befohlen, keine Blumen, sondern Flamingos zu malen, heißt es neben einem Bild, das – Flamingos zeigt. Auf Schautafeln dokumentiert Polke die Resultate „telepathischer Sitzungen“ mit Künstlern früherer Zeiten: „Absender Max Klinger – Empfänger Sigmar Polke“.

Freilich: Auch über solche Anwandlungen mokiert er sich wieder – und malt auf einmal „politische“ Bilder über Flüchtlingslager und Tropenwälder. Doch der hintersinnige Fallensteller ist erneut zugange: Während die Mysterien unterschwellige Ironie enthalten, ist in den Polit-Schinken unversehens Magie am Werk, so etwa, wenn das Raster-Bildnis des früheren US-Präsidenten Reagan dank mehrerer Kopien langsam vergeht, als sei der Mann ein Opfer des nuklearen Schreckens geworden.

Sigmar Polke. Die drei Lügen der Malerei. Bundeskunsthalle Bonn (Museumsmeile). 7. Juni bis 12. Oktober. Di und Mi 10 bis 21 Uhr, Do bis So 10-19 Uhr. Eintritt 8 DM. Katalog 78 DM.

 




Theater kann ein schönes Abenteuer sein – Zum 60. von Claus Peymann

Von Bernd Berke

Es war die „Publikumsbeschimpfung“, mit der Claus Peymann erstmals weithin Aufsehen erregte. Doch der Regisseur, der 1966 Peter Handkes Stück im Frankfurter Theater am Turm uraufführte, hat sich eigentlich nie mit den Zuschauern, sondern viel lieber mit Politikern angelegt. Morgen wird Peymann, noch Intendant der Wiener „Burg“, ab 1999 dann Chef des Berliner Ensembles, 60 Jahre alt.

Theaterkundige Revierbewohner trauern natürlich besonders Peymanns Bochumer Ära (1979 bis 1986) nach. Als er nach Wien wechselte, gab es sogar Leute, die für seine Premieren bis an die Donau pilgerten – ganz ähnlich, wie ihm Anhänger aus Stuttgart (wo er von 1974 bis 1979 als Schauspieldirektor arbeitete) nach Bochum nachgereist waren.

Peymann hat vermeintlich staubtrockenen Klassikern wie Goethes „Iphigenie“ frisches Leben eingehaucht. Stücke, die man für gar nicht mehr spielbar hielt, etwa Kleists „Hermannsschlacht“, gerieten unter seiner Ägide zu aufregenden Abenteuern. Doch das Theater verdankt Peymann auch wegweisende Uraufführungen, zumal der Stücke von Thomas Bernhard („Vor dem Ruhestand“, „Minetti“ , „Ritter, Dene, Voss“) und Peter Handke („Der Ritt über den Bodensee“, „Zurüstungen für die Unsterblichkeit“).

Trunken vor lauter Spielfreude

Ohne grandiose Schauspieler wie Gert Voss, Kirsten Dene, Traugott Buhre oder Martin Schwab, wäre Peymann wohl nicht erklärter Favorit der Feuilletons geworden. Doch eine seiner größten Leistungen besteht ja just darin, hochkarätige Ensembles zusammengeführt, inspiriert und lange beieinander gehalten zu haben. Peymanns oft herrlich spieltrunkener Inszenierungsstil war nie „Regietheater“ in dem Sinne, daß die Darstellet durch starre Konzepte an den Rand gedrängt worden wären.

Feinde hat er sich auch gemacht. Als er in Stuttgart Spenden für die zahnärztliche Behandlung der inhaftierten RAF-Terroristin Gudrun Ensslin sammelte, kam es zum politischen Eklat. Mißtrauisch empfing man ihn später auch in Wien. Österreichs Kulturkonservative fürchteten, der „Piefke“ Peymann (Sohn eines Bremer Studienrats) werde die Traditionen am Burgtheater gefährden.

Immerhin: Er hob die Preise für bessere Plätze drastisch an und verbilligte die anderen. Das galt besonders der giftigen Wiener Presse schon als sozialistische Untat. Doch als Peymann das Publikum mit grandiosen Inszenierungen wie „Richard III.“ von Shakespeare auf seine Seite zog, konnte man ihm nicht mehr so viel anhaben. Nun wagte er es auch, im November 1988 (zum 100jährigen Bestehen des Burgtheaters) Thomas Bernhards „Heldenplatz“ auf die Bühne zu bringen, jenes Stück, in dem die NS-lastige Historie des Hauses bohrend zur Sprache kam.

Im „Heldenplatz“-Umfeld kam es gar zu einer Art Regierungskrise in Wien. So etwas gibt es eben nur in Österreich, wo Theater und Oper eine geradezu staatsbildende Rolle spielen wie sonst wohl nirgendwo auf der Welt. Vielleicht wird Peymann einen Hauch dieser Atmosphäre im nüchternen Berlin vermissen.




Hossa und der tiefere Sinn – Das Buch „Schlager, die wir nie vergessen“ deutet populäres Sangesgut

Von Bernd Berke

Peter Kraus zählte zu den zaghaften Vorboten sexueller Freizügigkeit. Freddy Quinn („Junge, komm bald wieder“) formulierte, wie später nur noch Heintje („Mama“), in wenigen Zeilen die geballten Müttersorgen der Nation. Drafi Deutscher („Marmor, Stein und Eisen bricht“) stand – im Vorfeld des rebellischen Jahres 1968 – für wachsende Aufruhrstimmung. Daß sich aus prägnanten Liedern Zeitgeist pur destillieren läßt, erfährt man in dem neuen Buch „Schlager, die wir nie vergessen“. Keine Schande, wenn man beim Lesen mitsummt.

Nicht weniger als 34 Autoren, darunter Koryphäen wie Eckhard Henscheid, Robert Gernhardt und Brigitte Kronauer, machen sich – in zumeist erhellenden Kurzbeiträgen – über 57 Interpreten und deren markanteste Titel her. Die tönende Chronik der Republik beginnt mit Rudi Schurickes Schmachtfetzen „Capri-Fischer“ (Version von 1946) und reicht bis zu den Gruppen „Ideal“ und „Trio“ (ihr Singsang „Da da da“ wird als Ausdruck unbekümmerter Postmoderne gedeutet) sowie Herbert Grönemeyers „Männer“-Song von 1984.

Wer sich nur lustig machen will…

Es zeigt sich, daß ironischer Umgang mit dem Thema zwar ratsam ist, daß aber jene Autoren die ergiebigsten Beiträge liefern, die den Schlager bis zu einem gewissen Punkt halbwegs ernst nehmen. Wer sich von vornherein nur lustig machen oder kulturkritisch dozieren will, kann diesen Massenprodukten auch nicht ablauschen, was in ihnen steckt. Selbst hinter einem unscheinbaren Ausruf wie „Hossa“ (Rex Gildo in „Fiesta Mexicana“) verbirgt sich ja zuweilen tragisches Geschick.

Gelegentlich wird allzu weit ausgeholt: Johannes John nennt „Ein Bett im Kornfeld“ von Jürgen Drews (1976) einen Nachläufer der Anakreontik (idyllisch-erotische „Schäferlyrik“) des Rokoko, ja, er schlägt noch einen Haken zum mittelalterlichen Dichter Hartmann von Aue und dessen Wortschöpfung vom „Verligen“, das die Hauptbeschäftigung amourös reger Faulpelze präzis bezeichnete. In der waghalsig erreichten Zielkurve heißt es schließlich, Drews habe mit seinem Lied die alte Burschenherrlichkeit bedient und neckisches „Verbal-Petting“ betrieben. Nun ja.

Sozialpädagogisches Anliegen

Da leuchtet es schon eher ein, wenn Gus Backus („Da sprach der alte Häuptling der Indianer“, 1961) als typische Figur der Amerikanisierung und zugleich als deren bubenhafter Parodist herauspräpariert wird. Nachvollziehbar auch, daß Juliane Werding („Am Tag, als Conny Gramer starb“, 1972) dem Schlager mit „sozialpädagogischem Anliegen“ jene Bresche schlug, in die dann auch Gitte oder Udo Jürgens springen konnten. Ganz naheliegend ist es gar, das Schaffen von Nicole („Ein bißchen Frieden“, 1982) im Zusammenhang der damals erstarkten Friedensbewegung gegen die NATO-Nachrüstung zu betrachten.

Wenn der Erfolg einer Daliah Lavi („Willst du mit mir gehn?“) auch mit dem Willen zur Wiedergutmachung an den Juden erklärt wird, spürt man ein gewisses Unbehagen – vielleicht deshalb, weil etwas „dran“ ist? Freilich: Wencke Myhres „Beiß nicht gleich in jeden Apfel“, das just 1966 zu Beginn der Großen Koalition zwischen CDU und SPD herauskam, als heimliche Warnung vor dem „Sozialismus“ zu interpretieren, erfordert Phantasie. Und wer hätte gedacht, daß Peter Alexander mit „Hier ist ein Mensch“ (1970) die Fackel der ursprünglich linken Utopie vom aufrechten Gang der Gattung weiter getragen hat?

Vico Torrianis kleine Ferkelei

Eine Hoch-Zeit des deutschsprachigen Schlägers waren natürlich die 50er Jahre. Damals wurde den Wirtschaftswunder-Deutschen jede Spielart von Fernweh und Exotik angedient. Caterina Valente sang beispielsweise 1957 „Wo meine Sonne scheint“, und wenn man dem Autor Dieter Bartetzko glaubt, so lenkte der Text – die historische Stunde erkennend – ungute deutsche Eroberungs-Gelüste ganz geschickt in sozialverträgliche Reiselust um.

Wie auch in der Reklame, so traten sexuelle Rollenklischees im Schlager der 50er klar zutage. Zudem war auch das populäre Sangesgut ausgesprochen prüde und verdruckst. Desto größer die Freude nachfraglichen Enthüllens: Peter von Matt stellt klar, daß es in Vico Torrianis so harmlos klingendem „Kalkutta liegt am Ganges“ letztlich nur „um das Eine“ gegangen sei, gleichsam hinter vorgehaltener Hand sei gar von einer Erektion die verschämte Rede gewesen. Doch die kleine Ferkelei verbarg sich hinter Jux-Wortspielen. Auf ähnliche Weise entsteht übrigens auch große Dichtung.

„Schlager, die wir nie vergessen“. Verlag Reclam Leipzig. 292 Seiten. 19 DM.