Auch das Theater braucht einen Libero – Gespräch mit dem WLT-Intendanten Harald F. Petermichl

Von Bernd Berke

Castrop-Rauxel. Das Westfälische Landestheater (WLT) behält seinen Sitz auf absehbare Zeit in Castrop-Rauxel. Von einem Umzug nach Iserlohn ist derzeit nicht mehr die Rede. Das – und einiges mehr – erfuhr die WR im Gespräch mit dem WLT-lntendanten Harald F. Petermichl (40).

Der gebürtige Bayer und bekennende Fußballfan arbeitet seit 1991 am WLT. Er ist nach dem Weggang seines Ko-Direktors Norbert Kronisch (der Intendant in Osnabrück wurde) alleiniger Leiter der Bühne. Petermichl steckt mitten in den Vorbereitungen zur Saison, die am 6. September mit „Der eingebildete Kranke“ beginnt.

Was ändert sich beim WLT, nachdem Sie Solo-Intendant geworden sind?

Harald F. Petermichl: Ich würde meine ganze bisherige, Arbeit in Frage stellen, wenn ich sagen würde: „Ab jetzt machen wir alles ganz anders.“ Wir haben offenbar eine recht gute Mischung gefunden – zunehmend auch für jüngere Zuschauer. Wir sind beim WLT ein eingespieltes Team – wie eine Fußballmannschaft.

Und Sie sind der Mittelstürmer?

Petermichl: Eigentlich sollte ich Libero sein. Immer da stehen, wo’s brennt.

Apropos brennen. Wie steht s mit den Finanzen?

Petermichl: Die Zuschüsse sind seit 1994 nicht mehr erhöht worden. Vom Land gibt es 4.2 Millionen Maik, vom Landschaftsverband um die 800.000, von der Stadt Castrop-Rauxel 325.000 und von den 16 Mitgliedsstädten unseres Trägervereins insgesamt rund 90.000 Mark. Die bekommen dann auch Rabatt, wenn sie unsere Stücke buchen.

Wie wirkt sich das Einfrieren der Subventionen aus?

Petermichl: Die Preise steigen, und wir müssen rundum sparen. Aber jetzt sind wirklich alle Reserven aufgebraucht. Schon ein Prozent Tariferhöhung bedeutet: Wir haben 50.000 Mark im Jahr weniger. Um so betrüblicher, daß manche Kommunen gleichfalls sparen und ihre Gastspiel-Buchungen reduzieren. Manche buchen nur noch unsere Revue. Da bekommen die Zuschauer ein ganz falsches Bild von unserer Arbeit. Als ob wir ein Revuetheater wären!

Eine Versuchung, nur noch gängige Stücke anzubieten?

Petermichl: Es ist halt eine Mischkalkulation. Zwei bis drei Stucke müssen sich gut verkaufen, dann kann man sich auch ein paar riskantere leisten, zum Beispiel diesmal George Taboris „Weisman und Rotgesicht“. Wenn man nur noch auf die Kasse schielt, geht auch der Spaß flöten.

Sie gastieren häufig in Südwestfalen. Was ist denn eigentlich aus dem Plan worden, daß Ihre Bühne dort einen neuen Standort bekommt und ins Parktheater Iserlohn umzieht?

Petermichl: Im Moment liegt das auf Eis. Es wird seit fast zwei Jahren zwar irrsinnig viel drüber gesprochen, doch es gab immer nur unverbindliche Absichtserklärungen. Es liegt bis heute kein konkretes Angebot aus Iserlohn vor, dem man entnehmen kann: Wenn wir da hingehen würden, dann hätten wir die und die Vorteile. Außerdem herrscht bei uns keine große Begeisterung über einen eventuellen Umzug. Die Schauspieler sind es ja gewohnt, alle zwei bis drei Jahre woanders hinzuziehen. Doch die Leute aus Technik und Verwaltung fühlen sich an Castrop-Rauxel gebunden; Es ist ja auch ein guter Standort für uns, das Verhältnis zur Stadtverwaltung ist bestens. Wir bespielen Orte im ganzen Land, und da liegen wir hier ziemlich zentral.

Was steht auf dem neuen Spielplan?

Petermichl: Zwei markante Beispiele: Als klassisches Stück haben wir Schillers ..Kabale und Liebe“ im Programm, als musikalische Produktion die „Urlaubsrevue“, eine unterhaltsame Geschichte des Reisens von der Kutsche bis zum Flugzeug, garniert mit vielen populären Liedern.

Sie selbst proben zur Zeit Michael Endes „Jim Knopf“. Ist Kindertheater bei Ihnen Chefsache?

Petermichl: Nun, das hat auch mit meiner Biographie zu tun. Ich komme vom Kinder- und Jugendtheater her, und ich halte es einfach für eine wichtige Sparte. Es ist die einzige Theaterform, mit der man noch alle sozialen Schichten erreicht. Wenn der Intendant das Kinderstück macht, ist das auch ein Zeichen.




Zum Schluß bleibt noch die Altersmilde – Robert Gernhardts „Lichte Gedichte“

Von Bernd Berke

„Ist der Mensch nicht mehr im Bilde, / bleibt ihm noch die Altersmilde.“ Klingt fast nach Wilhelm Busch, ist aber von Robert Gernhardt.

Der Dichter (Jahrgang 1937), in den 60er Jahren Mitbegründer der „Neuen Frankfurter Schule“ subtil-parodistischen Humors, gilt längst als einer der wichtigen deutschen Schriftsteller dieser Zeit. In seinem neuen Lyrikband geht es denn auch um die allzeit großen Themen der Literatur – Liebe, Tod und Vergänglichkeit. Gernhardts nach wie vor sprungbereiter Witz hat eine tiefere Grundierung erhalten als ehedem.

Acht Kapitel hat das Buch. Es beginnt mit Lust- und Liebesdingen sowie elegischen Bemerkungen zur (schwindenden) Natur. Kunstsinnige Betrachtungen, Reise-und Alltags-Impressionen schließen sich an. Auch sportliche Momente eines Boris Becker, die erhabene Häßlichkeit eines Recklinghäuser Hotels oder das montägliche Unbehagen im fast menschenleeren Möbelhaus werden besungen.

Die Schlußteile („endlich“, „herzlich“) aber handeln vom nahenden Alter und vom Tode: „Das Leben ist ein Fenster / in dem du kurz erscheinst.“ Unmittelbarer Anlaß war eine Bypass-Operation, der sich Gernhardt unterziehen mußte. Aus dem lyrischen Tagebuch des Krankenhaus-Aufenthaltes: „So nach und nach bleiben / ich und mein Körper / allein.“

Hier bereitet der Reim keine Pein

Robert Gernhardt orientiert sich an alten Traditionen der Gattung. Er zählt zu den ganz wenigen Gegenwartsautoren, deren Gedichte sich reimen und sich dennoch nicht verstaubt anhören. Im virtuosen Spiel mit Sprachebenen läßt Gernhardt etwa den hohen Ton in kalkulierte Kalauer abstürzen und somit anders nachhallen: menschlicher, herzensnäher. So gewinnt er der Überlieferung unverhoffte Töne ab. Und man merkt, daß dieser Autor auch Maler ist, so fein unterscheidet er Farben und Licht in ihren Nuancen.

Das „Klinik-Lied“ geht so: „So lieg ich hier / und denke mir / mein Teil zu manchen Dingen: / Nicht alles muß gelingen / Du mußt’s nicht immer bringen. / Du mußt nicht immer siegen. / Nur laß dir eins beibiegen: / Beim Aufdernaseliegen / gib bitte nicht den Heitern – / versag nicht auch beim Scheitern.“ Ein sprachliches Kleinod, in seiner bewußt hergestellten Holprigkeit auch rhythmisch durchdacht. Es schöpft aus dem Verzagen eine weise Gelassenheit.

Resignation schleicht sich nicht nur in den persönlichen Bereich. Auch der Zustand der Welt ist beklagenswert: „Kaum atmest du wegen der Eichen auf / da gehn schon die ersten Kastanien drauf / Natur.. . / Kaum erholt sich dein Land von der Trockenheit / da macht sich bereits wieder Hochwasser breit / Natur“.

…doch nichts im Portemonnaie

Und der Kulturbetrieb? Hurtig wechselnde Moden, Dichternamen als schnellverderbliche Handels-Ware: „Eine Zeitlang war Peter Handke das Thema / Dann war auf einmal Durs Grünbein das Thema / Im Grunde war keiner der beiden das Thema / Das Thema war immer: Erfolg.“ Selbst der wird oft schäbig vergütet. Gernhardt entwirft den Beschwerdebrief des verschuldeten Picasso an den Kunsthändler Kahnweiler: „Erst hab ich blau in blau gemalt / Sie haben äußerst mau gezahlt. / Dann hab ich s mit Rosé versucht / doch nichts im Portemonnaie verbucht. / Nun wären also Kuben dran – / Sie schaffen nicht mal Tuben ran…“

Zum Menschentrost gibt es gottlob die Dinge, die keinen Überdruß dulden. Beispiels^ weise das – freilich auch schmerzliche – Liebes-Begehren („Freundinnen im Speisewagen“) oder die schöne Dauer des Beisammenseins: „Schneiden und Scheiden“ zeigt das stets bedrohte, aber unbedingt bewahrenswerte Idyll eines Paares beim gemeinsamen Pflaumenschneiden:
„Man kann beim Entkernen Gefühle erleben, / die schlichtweg erheben. / Zum Beispiel das, nicht allein zu sein / Dann das Gefühl, zu zwein zu sein. / Sowie die Gewißheit: Was immer ihr tut – es wird gut…“ Da vernimmt man eine fast volksliedhafte Einfachheit (nicht Naivität!), die schlichtweg berührt.

Robert Gernhardt: „Lichte Gedichte“. Haffmans Verlag. 263 Seiten. 36 DM.




Wer die Träume der Kindheit festhält… – Einzigartiges Museum der Jugendwerke in Halle/Westfalen

Von Bernd Berke

Halle/Westfalen. Als Hannah zarte drei Jahre alt war, kritzelte sie die zerbrechliche Gestalt eines kleinen Mädchens aufs Blatt. Es hat ein gesundes und ein ganz verschattetes, offenbar verletztes Auge. Viele Jahre später kannte man Hannah Höch als dadaistische Künstlerin. Nun zeichnete sie beispielsweise eine „Maschinenfrau“ mit metallischer Brust und – einem genau so verletzten Auge. Träume oder Besessenheiten aus der Kindheit festzuhalten – ein Kennzeichen des Genies?

Sinnliche Studien zu dieser Frage lassen sich im ostwestfälischen Idyll betreiben: Am schmucken Kirchplatz zu Halle (bei Bielefeld) erhebt sich ein 750 Jahre altes Haus mit wunderschön winkligen Räumen und knarrenden Stiegen, das ehedem Kloster und Gefängnis war. Heute beherbergt es das weltweit einzigartige, kürzlich zehn Jahre alt gewordene „Museum für Kindheits- und Jugendwerke bedeutender Künstler“.

Lebenslange Arbeit am selben Motiv

Erste (unglaublich inspirierte) Stricheleien eines Paul Klee sind hier ebenso zu bewundern wie beispielsweise die Kindheits-Einfälle des Ernst Fuchs, jenes Wieners also, der sich immer gern mit markanten Mützen zeigt. Schon als kleiner Junge hat er Figuren am liebsten mit solchen Kopfbedeckungen gezeichnet – sogar dem Elefanten setzte er eine auf. Als er dies Bild in Halle wiedersah, kamen ihm die Tränen. Tiefer Einblick in den kaum veränderlichen Kern des eigenen „Ich“…

Museumsleiterin Ursula Blaschke erforscht solche lebenslangen Motiv-Wiederholungen akribisch, sind sie doch Schlüssel zum späteren Werk – und eine Art Echtheitsbeweis: Motive, die eine(r) schon als Kind ganz innig aufgegriffen hat, können nachher schwerlich marktgängige „Maschen“ sein.

Frau Blaschke glaubt, daß man das wirkliche Genie schon bei Dreijährigen erkennen könne: „Picasso oder Paul Klee haben in diesem Alter völlig anders gezeichnet als andere Kinder.“ Tatsächlich zeigen Klees früheste Tierfiguren schon etwas vom sanften Humor des reifen Werks, und auch die Spiralform – Sinnbild für Unendlichkeit – hat er schon als Knabe mit Vorliebe gepflegt.

Die stolzen Eltern bewahren alles auf

Klees Vater hat die Bilder des Filius beschriftet, datiert und aufgehoben. Überhaupt sind es häufig die stolzen Eltern, die diese Bilder für die Nachwelt erhalten. Museumsleiterin Blaschke hat viele Kontakte zu Nachfahren berühmter Künstler geknüpft, so daß sie etliche Dauerleihgaben bekommt, die andere vergebens erflehen.

„Keimlinge der großen Kunst“ nennt Frau Blaschke solche frühen bildnerischen Äußerungen: Ernst Ludwig Kirchner brachte schon mit vier Jahren einen Mann mit Zigarette und blauem Anzug zu Papier – Vorwegnahme eines expressionistischen Bildes. Otto Dix malte mit zehn Jahren nahezu museumswürdige Stilleben, Konrad Felixmüller wagte sich im selben Alter an große Ölgemälde.

Wenn Ursula Blaschke durch die Sammlung führt, ist das ein Erlebnis, so sehr ist die mit Engelszungen begabte Frau von ihrer Mission überzeugt: „Ich möchte, daß die Menschen durch Kunst beseelt werden“, sagt sie. Ganz gleich, ob sieben Punks aus Berlin erscheinen (die erst mal beruhigt werden müssen), ob sich eine Gruppe von Pfarrern aus dem Sauerland oder der Bundespräsident samt Gefolge ansagen: Zum Abschluß der Rundgänge setzt man sich still im Kreise hin. Und nun soll sich jeder sein inneres „Traum-Bild“ ausmalen, das die Ausstellung in ihm ausgelöst hat. Vielleicht kommt mancher dabei einem Geheimnis seiner Kindheit auf die Fährte. Der lebendige Atem der Kunst ist hier ohnehin ganz nah zu spüren.

Museum für Kindheits- und Jugendwerke bedeutender Künstler. Halle / Westfalen, Kirchplatz 3. Wechselnde Sonderausstellungen. Geöffnet Do bis So 10 bis 17 Uhr, Di/Mi nach Voranmeldung (05201 / 1 03 33). Über die Autobahn A 2, Abfahrt Rheda-Wiedenbrück, dann der Beschilderung nach Halle bzw. zum dortigen Gerry-Weber-Stadion folgen.

 




Ein Mann sucht seine Frauenformel – Matthias Polityckis „Weiberroman“

Von Bernd Berke

«Wie sollte man dermaßen viel Frau aushalten? Wo man doch erst 21 war und sich nach einem Mädchen sehnte“, seufzt Gregor Schattschneider. Jaja, da gibt es Unterschiede. Gerade weil Gregor, Held in Matthias Polityckis „Weiberroman“, ständig im Gefühls-Chaos steckt, hält er formal auf Ordnung im Seelen- und Hormon-Haushalt: Er stellt lauter Frauen-Hitlisten auf, und einmal tastet er sich gar zu einer „Frauenformel“ vor, gegen die Einsteins Relativitätstheorie oder Heisenbergs Weltformel Kinkerlitzchen sind.

Gregor in drei Lebensphasen: Anfang der 70er Jahre erleben wir seine Pubertätsnöte in Lengerich (Münsterland), gegen Ende der Dekade studiert er in Wien – und ausgangs der 80er Jahre begegnen wir dem Taugenichts, der mit 32 Jahren immer noch kein Examen zuwege gebracht hat, in Stuttgart. Wie soll er auch sein Uni-Studium abschließen, wo er doch als Hauptfach das „Studium der Weiber“ gewählt hat?

Jugendliebe im Münsterland

1972 in Lengerich taucht eines Tages „Die Neue“ in der Foto-AG auf: Kristina heiß sie! Bisher haben die Jungs aus dem Gymnasium nur verächtlich von „den Weibern“ geredet, jetzt plötzlich beginnen sie von solchen Mädchen zu schwärmen. Herrlich nun die Detailmalerei, mit der Politycki eine Jugend in der damaligen Provinz schildert.

Es war die Zeit, da man in Parka und Jeans herumschlurfte, in der man samstags den Billigplattenspieler „Hit Master“ anwarf, um (per Mikrofon) die neuesten Rock-Scheiben aufzunehmen. Wehe, wenn plötzlich die Eltern ins Zimmer taperten. Dann war – wie symbolträchtig – die Aufnahme von Led Zeppelins „Stairway to Heaven“ (Treppe zum Himmel) wieder hin.

Der Autor versteht es wunderbar, in diese örtlich und zeitlich präzis verankerte Geschichte den Verlauf einer ersten Liebe einzuflechten – stets ironisch gebrochen und daher höchst glaubhaft.

Um jeden Blick wird gezittert

All die unsichere Zeichen-Deuterei, bei der vor jedem Blick der Angebeteten gezittert wird. Dann aber auch die Jungmänner-Ausflüge nach Osnabrück, wo die Stripperin Larissa auftritt, erstes Exemplar der nächsten erotischen Stufe, Vollweib nämlich.

Richtig auf den Frauen-Trip kommt unser Gregor erst in Wien. „Am Plüschrand der Ereignisse“ (welch‘ schöne Formulierung) spricht ihn im „Popclub“ eine gewisse Tania an – für den Wohngemeinschafts-Freak eigentlich eine unmögliche Ziege im weißen Overall und silbernen Stiefeletten. Die Zahnarzthelferin mit Wiener Dialekt scheint strohdoof zu sein. Wie sich Gregor vor seinen Kumpanen schämt, wenn sie den Mund auftut! Doch Tania hat andere Qualitäten. Bei dieser Gelegenheit müssen wir allerdings verraten, daß der Autor alle „Stellen“ geschwärzt hat. Wie überaus gemein…

„Was will uns dieses Playmate sagen?“

Groteske Quälerei einer ungleichen Beziehung: Gregors Lavieren zwischen fleischlicher Lust und geistiger Abneigung bereitet unbändiges Lesevergnügen. Klar, daß nebenher mancher Seitensprung und Kneipenzüge mit finalem Vollsuff fällig sind. Auch absolviert man im trauten Macho-Kreis „Playboy“ Seminare und analysiert die Aufklappseiten: „Was will uns dieses Playmate sagen?“

Nicht nur wegen solcher Ablenkungen erreicht die Aufregung um den „Deutschen Herbst“ der RAF-Attentate Gregor in Wien nur gedämpft. Politycki (Jahrgang 1955) porträtiert seine und Gregors Generation, die zwischen APO und Punk geistig heimatlos bleibt, als ziemlich unpolitisch. Zieht mal eine Demo vorbei, macht man sich über Rechtschreibfehler auf den Transparenten lustig.

Muskulöses Mädchen aus der Metzgerei

In Stuttgart läßt sich Gregor von der Chefstewardess Katarina aushalten, einer kühlen Schönen im Designer-Schick der neonbeleuchteten 80er Jahre. Nach fünf Jahren geht Gregor dieses Outfit so auf die Nerven, daß er ins andere Extrem fällt und sich der erbarmungswürdig schwäbelnden Metzgerei-Verkäuferin Karla („Mensch, kapiersch des ned, i ben schwanger!“) in die muskulösen Arme wirft. Im komischen Kontrast der beiden Frauen steckt viel vom zwiespältigcn Zeitgeist der 80er.

Pfiff bekommt das Buch auch durch Polityckis Maskierung als Autor. Er läßt „Ecki“, einen Freund Gregors, als Herausgeber einer Ausgabe des „Weiberromans“ auftreten, der eigentlich von Gregor stamme. Immer wieder mäkelt dieser Ecki in Fußnoten am Inhalt hemm. So nimmt man Kritikern den Wind aus den Segeln; Dabei war’s hier doch gar nicht nötig.

Matthias Politycki: „Weiberroman“. Luchterhand. 421 Seiten. 44 DM.




Zutritt in ein Zauberland – Werkschau des 95-jährigen Woldemar Winkler in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Es fällt „Diamantregen über Aschenputtels Goldschuh“, oder man begeht die „Muschelzeremonie unterm Baldachin“. Doch wenn man „Erinnerung in Schweigen vergräbt“, erschrickt man vielleicht vor den „Zerpeitschten Ausgeburten des Fieberreichs“. Die Bilder-Titel des Woldemar Winkler (95) hören sich an wie poetische Parolen für den Einlaß in ein Traum- und Zauberland. Solche Sphären lernt man jetzt im Hammer Gustav-Lübcke-Museum kennen.

Winkler, der aus der Nähe von Dresden stammt und seit 1949 bei Gütersloh lebt, war bereits in den frühen 1920er Jahren künstlerisch tätig – im gedanklichen Sog eines André Breton, der im Surrealistischen Manifest (1924) zum Aufspüren geheimer Entsprechungen zwischen entferntesten Dingen aufrief. Winkler orientierte sich zudem an Paul Klee und Wassilv Kandinsky. Sie forderten, daß die Kunst nicht mehr das Sichtbare zeigen, sondern Verborgenes erst sichtbar machen sollte. So heißt denn auch ein Bild WoldemarWinklers ganz programmatisch: „Halte die Augen geschlossen, wenn Du mehr sehen willst“. Und die ganze Ausstellung bekam folglich den Titel „Begegnung mit dem Unsichtbaren“.

166 Werke aus den Jahren von 1920 bis 1996 sind in Hamm zu sehen. 1924 porträtiert sich der damals 22jährige noch realistisch als proletarischer Typus mit Schiebermütze, der einem Text von Brecht entstiegen zu sein scheint. Collagiert ist dieses Selbstbildnis mit einem eingeklebten Zeitungsausschnitt, der sich mit den Jahrzehnten tief ins Bild eingesogen hat und nun wie gemalt wirkt. Presse-Ausrisse, auch inhaltlich ganz gezielt ausgewählt, hat Winkler oft in seine Werke eingefügt. Ein Mann, der die Zeitläufte beachtet, aber in seiner Kunst weit darüber hinaus gelangt.

Verwandlung der Fundstücke

Woldemar Winkler ist Sammler: Fundstücke aller Art, mal im Rohzustand belassen, mal formbewußt bearbeitet, sind Grundlage seiner Arbeit. Ein Vitrinenschrank in der Ausstellung läßt vage ahnen, wie sehr Winklers Haus damit angefüllt sein muß – mit besonderen Blättern, Wurzeln, Zweigen, Steinen, Muscheln, aber auch Eierkartons, Gliedmaßen von Puppen, Packpapier und tausend anderen Sachen. In Winklers Kunst werden sie zu Zeichen einer ins Übersinnliche driftenden Welt. Da wird der Eierkarton plötzlich zum Tiergesicht und der scheinbar leblose Stein zum mythischen Ur-Zeichen. Figuren, die aus dem Unbewußten aufsteigen. Um solche Wandlungen glaubhaft zu gestalten, muß man wohl auch im Wortsinne „Seher“ sein.

In all den Jahren kein Stilbruch

In der Fläche bändigen lassen sich viele dieser Material-Eruptionen nicht. Also häufen sich Gegenstände und Bemalungen vielfach zu sogenannten Assemblagen (etwa: „An- ‚ Sammlungen“), die in gläsernen Schaukästen dreidimensional dargeboten werden.

Einen heftigen Stilbruch hat es in all den Jahrzehnten eigentlich nie gegeben, nahezu sämtliche Werke atmen gleichen Geist. Doch dieser Zusammenhang wirkt keineswegs eintönig, denn Winkler läßt seine Fundsachen zu immer wieder neuen Formen anwachsen. Ein Grundzug der Winklerschen Phantasien ist übrigens erotischer Natur – nicht von der zotigen Art freilich, sondern im Sinne einer vom heiligen Eros beflügelten Aneignung der vielfältigen Formenwelt. Ein Agavenblatt reckt sich unter dem Titel „Stachelwege der Lust“ in die Höhe.

Lange auf den Erfolg gewartet

Anders als etwa der Hagener Emil Schumacher (84), der im Vergleich zu Winkler eine halbe Generation jünger ist und schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg mit informellen Bildern Erfolg hatte, mußte der Gütersloher lange auf Anerkennung warten. Inzwischen aber gibt es dort eine Winkler-Stiftung, betrieben von der Sparkasse, die auch die Werkschau in Hamm gesponsert hat. Und man muß es als besonderes Ereignis werten, daß der Künstler zur Eröffnung (Sonntag, 11.30 Uhr) erscheinen will.

Woldemar Winkler – „Begegnung mit dem Unsichtbaren“. Gustav Lübcke Museum, Hamm (Neue Bahnhofstraße 9 – Tel. 02381 / 17 57 01). 3. August (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 21. September. Di-So 10-18 Uhr, Mi 10-20 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 3 DM. Katalog 30 DM.