Lockungen einer Nymphe – „Lolita“, Adrian Lynes Neuverfilmung von Nabokovs Skandalroman

Von Bernd Berke

Es ist Hochsommer, es ist heiß. Sie liegt bäuchlings und barfüßig im Gras, spielt gedankenverloren mit ihren langen Zöpfen und blättert in einem Buch. Hinter ihr plätschert ein Springbrunnen. Sprühende Wassertröpfchen haben ihr Kleid so durchnäßt, daß sich ihre erblühenden weiblichen Formen abzeichnen. Nur unschuldiger Liebreiz oder auch schon ein Hauch bewußter Verführung?

Vorsicht, vermintes Gelände! Das Mädchen auf der Wiese ist anfangs gerade mal zwölf Jahre alt und heißt Lolita. Die skandalumwitterte Figur aus Vladimir Nakobovs Roman von 1955 hat, rund 40 Jahre nach Stanley Kubricks Kinofassung, abermals einen Filmemacher inspiriert und wohl auch in gewisser Weise erregt. Diesmal ist es Adrian Lyne, der die Geschichte jenes Literaten mit dem Doppelnamen Humbert Humbert (Jeremy Irons mit verliebtem Dauer-Dackelblick) nachzeichnet.

Der Intellektuelle wird unwiderstehlich von der Nymphe Lolita (frisch drauflos: die 15-jährige Schülerin Dominique Swain) angezogen und ins bittersüße Verderben geführt. Doch wer verführt wen? Wo ist die Grenze zwischen zärtlicher Zuwendung und sexuellem Mißbrauch? Ist er berechnend, ist sie durchtrieben? Kann sie überhaupt verantwortlich sein? Jedenfalls: Halb zieht sie ihn, halb sinkt er hin. Um in Lolitas Nähe zu bleiben, heiratet Humbert Humbert gar ihre ungeliebte Mutter Charlotte (Melanie Griffith), deren Unfalltod ihn insgeheim beglückt (seinen vorherigen Mordplan am Badesee läßt der Film ganz aus).

Nun also kann Humbert mit Lolita auf eine Hotelreise quer durch die USA gehen. Ein quälendes Road Movie, ein Trip durch Paradies und Hölle. Mal benehmen sich die beiden wie ein turtelndes Liebespaar, mal gesittet wie Vater und Tochter, mal ist sie ganz unbefangenes Kind mit beträchtlichem Kaugummi- und Comic-Verbrauch, dann wieder heult sie still in ihr Kissen – oder sie spielt trotzig ihre Macht aus: Entweder doppeltes Taschengeld oder keinen Oralsex mehr. Womöglich der erste Schritt in die Prostitution?

Wie beim Wettstreit ums süßeste Girl im nassen T-Shirt

Regisseur Lyne ist vorbelastet. In „Eine verhängnisvolle Affäre“ hat er eine furienhafte Geliebte auf ein braves Ehepaar gehetzt, in „9 1/2 Wochen“ Untiefen sexueller Auslieferung und in „Ein unmoralisches Angebot“ die Mechanismen zwischen Sex und Geld geschmäcklerisch bebildert. Ein Mann mit dieser Filmographie mußte früher oder später auf „Lolita“ stoßen. In den USA hat er sich mit dem Projekt Ärger eingehandelt. Es ist ja auch ein Dilemma: Die Kamera muß, um Humberts Begehren zu beglaubigen, permanent die Reize Lolitas ausstellen und doch halbwegs diskret bleiben. So kommt es, daß vor allem Lolitas entblößte Füße die Erotik verkörpern und daß ihre frühe, von Humbert hervorgelockte Verderbtheit sich in grell geschminkten Lippen äußert. Ein neckisches Spielchen der Andeutungen.

Geistige Dimensionen, mythische Qualitäten gar, erlangt man so nimmer. Der Zuschauer fühlt sich stets ein wenig wie beim Strandwettbewerb ums süßeste Girl im tropfnassen T- Shirt. Und der Showdown mit jenem Kinderporno-Finsterling Clare Quilty (Frank Langella), der dem zuweilen faustischen Humbert und dem Lolita-„Gretchen“ als mephistophelischer Schatten folgt, erschöpft sich letztlich im Action-Gerangel um eine Pistole.

Immerhin wird deutlich, daß es hier nicht nur um pure Lüsternheit, sondern zumindest seinerseits um eine dauerhafte, wenn auch höchst prekäre Liebe geht. Denn Humbert Humbert ist zu tätiger Sühne bereit, indem er später die von einem anderen Mann schwangere, zum unscheinbaren Heimchen gewordene Lolita selbstlos umsorgen will.

Doch im Vergleich zu Nabokovs genialem Roman, dessen ungeheuer vitaler Sprachfluß von der ersten bis zur letzten Seite zu fesseln vermag, bleibt dieser Film Flachware. Ja, man könnte als Leser geradezu zornig werden, daß ein solcher Streifen und seine Gesichter nun den Kopf besetzt halten und sich vor die Erinnerung an das Buch zu schieben drohen.




Im Theater steckt der Teufel – Grabbes „Scherz, Satire, Ironie…“ als Essener Lokalposse

Von Bernd Berke

Essen. Was kann der Christian Dietrich Grabbe denn dafür, daß zum Saisonende das „Junge Theater Casa Nova“ in Essen geschlossen wird? Selbstverständlich nichts, denn der Mann hat von 1801 bis 1836 gelebt. Und jetzt?

Jetzt läßt das „Casa Nova“ (kleinste Spielstätte der Theater & Philharmonie GmbH) den Dichter aus Detmold flugs antreten, um die kulturpolitische Misere der Stadt Essen erbost zu kommentieren. Man spielt Grabbes Stück „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“, und man modelt es – unter Verzicht auf tiefere Bedeutung – streckenweise zur Lokalposse um. Regisseur Peter Siefert hat grobkörnige kommunale Zutaten beigemischt.

Schrubb, schrubb, in der Hölle ist großer Hausputz. Also flüchtet der darob genervte Teufel zur Erde und stiftet hier Verwirrung – nicht nur in Liebesdingen. Die Gesellschaft überhaupt erweist sich unter seiner Fuchtel als Tollhaus der Eitelkeiten, aber auch der zugehörigen Depressionen.

Figuren wie der Dichter „Rattengift“ (Hans-Dieter Heiter), der im komischen Weltschmerz an seiner Feder knabbert, weil ihm partout nichts einfallen will, oder der trunksüchtige Schulmeister (Carlo Lauber) mit seinen ausgeklügelten Sauf-Ritualen (vorher dickes Tuch um die Stirn wickeln, damit der Schädel hernach nicht so hart auf der Tischkante aufschlägt) sind als „Theater-Futter“ derbe Vollwertkost.

Lächerliche Sparkommission

Köstlicher Beginn: Die in grotesken Turbulenzen wie geölt aufeinander reagierenden Ensemble-Mitglieder servieren den ellenlangen Stücktitel als fulminantes Sprechkonzert der zerhackten Worte. Dann dampft es kräftig, und man sieht: Der Teufel ist eine Frau (Christiane Heinicke). Ihm auf dem Pferdefuße folgt eine gravitätisch lächerliche „Struktur-Fusionierungs-Sparkommission“, die just auch dem Theater „Casa Nova“ den Garaus machen will, woraufhin sich ein leider sehr explizites Spott-Gewitter über Stadtspitzen, Kulturdezernent und Kritiker entlädt. Teuflisch, teuflisch? Nein, allzu offenkundig.

Trotzdem wird s noch ein leidlich unterhaltsames Spektakel. Das Stück, ein früher Vorläufer des absurden Theaters, ist eben in seinen Grundzügen unverwüstlich. Der Teufel wird zwischenzeitlich im Käfig eingefangen, als Köder dienen Kondome. Und weil Beelzebub schon einmal im Bühnenreich gewütet hat, wird das diabolischste aller Übel bloßgestellt: das Musical in seiner Essener Spielart. Das Grabbe-Finale besteht in einer bittersüßlichen Joseph“-Parodie. Ein Wink mit dem Zaunpfahl: Seht her, an solch schnöder Unterhaltung geht unser schönes Theater kaputt. Auf den Gedanken wären wir ja nie gekommen!

Termine: 31. Dezember 1997, 7., 9. und 30. Januar 1998. Karten 0201 / 81 22-200.




Ein fast schon harmlos wüster Weltenzirkus – Wolfgang Trautwein inszeniert Georg Büchners „Woyzeck“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Beim Militär wird der mittellose Mann nach Belieben geschurigelt, die Medizin demütigt ihn mit schäbigen Experimenten, und die dralle Marie hintergeht ihn mit einem strammen Tambourmajor. Geld weg, Frau weg, Ehre weg – der traurigste Blues. Schulbuchhaft gesagt: Georg Büchners „Woyzeck“ ist eine der großen Leidensgestalten unserer Dramenliteratur.

Aufwühlender Stoff also, den sich Wolfgang Trautwein am Dortmunder Schauspiel vornimmt. Blatt- und astlose Baumstümpfe hängen hier vom dunklen Himmel herab, im Hintergrund leuchtet grob skizziertes Liniengeflecht nach Art eines ausweglosen Straßen-Labyrinths (Bühnenbild: Thomas Gruber). Eine abgetötete Welt. Stumme Figuren zeigen anfangs ein Transparent mit unverständlichen Wortfetzen. Eine Welt, gegen die man auch nicht protestieren kann, weil die Sprache zerstört ist.

Dann aber betritt jener Woyzeck (Jürgen Uter) die Szenerie, und man ist erst einmal etwas beruhigt. Der Mann ist doch kein Häufchen Elend, kein Idiot. Der müßte sich doch wappnen können: Gegen den lachhaften Hauptmann (Heinz Ostermann), der ihn aufs geistige Glatteis führen will; gegen den Doktor (Andreas Weißert), der von oben an Schnüren einschwebt und seine höllischen Erbsenfreß-Versuche zu „erklären“ sucht, für die er Woyzeck karg bezahlt; gegen jenen Gockel von Tambourmajor (Thomas Gumpert), der Marie (Wiebke Mauss) mit Liegestützen und Macho-Geschwafel ächzend imponiert.

Ja, man fragt sich: Leidet dieser Woyzeck überhaupt so außerordentlich? Oder erlebt er nicht das normale Elend eines Abhängigen, der halt für seine Groschen manches über sich ergehen läßt? Vielleicht vermag er ja alles zu ertragen, nur bitte nicht den Verlust der Liebeshoffnung.

Überliefertes Volksgut zugleich als Keim und als Deckmäntelchen des Fürchterlichen: Ein groteskes Rumpelstilzchen (Günter Hüttmann) tapert umher, „Ein Jäger aus Kurpfalz“ und „Frau Wirtin“ werden im Wirtshaus gegrölt. Und zu Beginn haben wir das Ammenmärchen vom „Sterntaler“ gehört: Wer alles, alles hergibt, wird am Ende desto reicher belohnt. So nett geht’s nicht zu im wüsten Weltenzirkus, der freilich in Dortmund mit allerlei hübscher Akrobatik und dem Geflatter dressierter Tauben einen beinahe harmlosen Anschein bekommt.

Zwangs-Läufigkeit mal ganz wörtlich ausgelegt

Doch seitwärts hockt ein Soldat, dem beide Beine weggeschossen worden sind. Überhaupt zeigt sich der Anflug des Schreckens in dieser Inszenierung oft am Rande. Man kommt auch ohne das übliche Leidensgebrüll aus. Ein paar nachwirkende Szenen: Etwa jene elend sachliche, in der Woyzeck sich eine Mordwaffe kauft und sich nicht die Pistole, sondern nur das Messer leisten kann („Ein ökonomischer Tod“).

Die Personen verrennen sich immer mal wieder auf vorbestimmten Wegen, als sei die Bühne vielfach verstellt – stimmiger Ausdruck für wortwörtliche Zwangs-Läufigkeit. Eine steil ansteigende Fläche, die an eine Half-Pipe für versierte Skateboarder erinnert, dient mal als kaum übersteigbare gesellschaftliche Barriere, mal als Todes-Rutsche für die vom eifersüchtigen Woyzeck erstochene Marie. Originell auch die Idee, die Gasthaus-Gestalten in vereinzelte Bodenöffnungen zu stellen und dort wie Springteufel ihre Plätze wechseln zu lassen.

Diese unfeine Gesellschaft hat schließlich das Wort, wenn Woyzeck ins Wasser gegangen ist. Den Vorgang nehmen sie alle ungerührt zur Kenntnis. Es schrumpft die Tragödie und bleibt nahezu spurlos.

So mag es sein im TV-Zeitalter. Die Aufführung, durchweg solide, aber kaum einmal ergreifend gespielt, hält zwar eine gewisse Spannung wie kurz vorm Sprung in den Abgrund, dringt jedoch nicht wahrhaft in die Untiefen des Stücks vor. Es ist, als wolle man uns das Allerschlimmste ersparen. Wie fürsorglich!

Termine: 17., 19. Dez. 1997, 15., 16. Jan. 1998. Karten: 0231/163041.




Wer den Schattenbereich des Daseins erkundet – Javier Marías nahm in Dortmund den Nelly-Sachs-Preis entgegen

Von Bernd Berke

Dortmund. Bescheidenheit ist eine Zier: Javier Marías (46) gab dafür ein Beispiel, als er gestern den Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund entgegennahm. Ein wenig „peinlich“ sei ihm die hohe Auszeichnung, sagte der spanische Autor der versammelten Presse. Denn vor ihm hätten doch wichtigere Schriftsteller diesen Preis bekommen.

Bereits in seiner Dankesrede hatte der Autor des Bestsellers „Mein Herz so weiß“ einen ähnlich tiefen Ton angestimmt. Angesichts der bisherigen Träger des seit 1961 verliehenen Preises fühle er sich nur „wie eine Fußnote am Seitenende“. Das mochte ihm das Publikum denn doch nicht durchgehen lassen. Ein allgemeines „Ooooh“ schallte durch den Saal. Sollte gewiß heißen: Nun aber halblang…

Desto optimistischer preschte Dortmunds Oberbürgermeister Günter Samtlebe vor. Er schloß seine Ansprache mit der unschwer zu entschlüsselnden Anspielung, man hoffe, auch künftig von Marias zu hören – „etwa aus einem skandinavischen Land“.

Nun, der Lorbeer des Literaturnobelpreises mag für Marías einstweilen noch etwas zu hoch hängen, doch die Lobrednerin Sigrid Löffler („Das literarische Quartett“) sprach wohl allen Anwesenden aus dem Herzen, als sie befand: „Einen unwahrscheinlicheren Bestsellerautor hat es lange nicht gegeben.“ Denn Javier Marías stelle ja keine geringen Ansprüche an die Leser, seine Bücher „können nicht einfach weggelesen werden. Ihre Substanz behauptet sich und widersteht dem Verbrauch.“

Tatsächlich ist es ein bemerkenswertes Zusammentreffen, daß man für die weithin renommierte Dortmunder Auszeichnung einen Mann gefunden hat, der hohe literarische Güte inzwischen mit kommerziellem Erfolg verbindet. Ein Umstand, der sicherlich auch für die Kultur des Lesens hoffen läßt.

Der Preisträger selbst, der zum allgemeinen Erstaunen bekannte, noch niemals einen Computer bedient zu haben, widersprach allen Schwarzsehern, die behaupten, der Roman als Kunstform sei tot. „Ich glaube nicht, daß die Welt darauf verzichten kann… Es gibt viele Dinge, die wir nur wissen, weil die Literatur sie uns gezeigt hat.“ Diese sei lebenswichtig, „wenn wir nicht zu Primitiven werden wollen, vollgestopft mit praktischem Wissen.“ Die Künste allein könnten vordringen in jenen diffusen „Schattenbereich“ des menschlichen Daseins, der dringend erkundet werden müsse.

Die Feierstunde in der vollbesetzten Bürgerhalle des Dortmunder Rathauses besaß – vom Niveau der Reden bis zur dezenten Kammermusik – jene Würde, die man von einer solchen international beachteten Veranstaltung erwartet. Werbung also für eine Stadt, die auf der literarischen Weltkarte sonst keinen zentralen Platz einnimmt.




Blut und Feuer malen – Werkschau in Wuppertal zeigt die Obsessionen des Rudolf Schlichter

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ginge es nur nach dem Themenspektrum, dann hätte der Mann sofort bei einem knallharten Privatsender anfangen können: Allerlei Totschlag und Lustmorde hat er gemalt oder gezeichnet, erhängte Frauen, Transvestiten, Lesben und immer wieder Huren.

Doch die simple Freudenhaus-Szene genügte ihm nicht immer, manchmal mußte es schon ein spektakulärer „Überfall auf ein Bordell“ sein. Auch ein Bildtitel wie „Zusammenkunft von Fetischisten und manischen Flagellanten“ deutet auf grellen Effekt.

Der im württembergischen Calw geborene Maler Rudolf Schlichter (1890-1955), der jetzt mit einer umfassenden Werkschau in Wuppertal präsentiert wird, hat er eine ziemlich rigorose katholische Erziehung „genossen“. Besonderen Ausgleich suchte er schon als Kind in drastisch illustrierten Karl-May-Bänden und – auf Heiligenbildchen.

Begegnung auf dem sexuellen Markt

Indianergemetzel und qualvolles Märtyrertum faszinierten also schon den Knaben. Am liebsten male er „Blut und Feuer“, hat der auch schriftstellerisch höchst produktive Künstler später einmal bekannt. Tatsächlich: Jene Figuren, die die wüsten Geschehnisse auf seinen Bildern überleben, können von Glück reden. Dabei war Schlichter im politischen Sinne Pazifist. Anders als zahllose andere Künstler, hat er sich (durch Hungerstreik) dem Einsatz im Ersten Weltkrieg entzogen.

„Angebot und Nachfrage“ heißt – ganz illusionslos – ein Bild, das einen Freier und eine Dirne auf dem sexuellen Markt der 20er Jahre zeigt. Ein Fall von „Neuer Sachlichkeit“. Dieser Kunstrichtung wurde Schlichter damals zugezählt. In Berlin schloß er Bekanntschaft mit Bert Brecht und anderen linken Intellektuellen. Viele von ihnen hat er porträtiert, meist mit spürbarer Sympathie. Schöner Kontrast; In Wuppertal hängt das Bildnis Brechts (proletarischer Schmalhans mit schwarzer Lederjacke) gleich neben dem des barock-bildfüllenden Schriftstellers Oskar Maria Graf.

In Schlichters Milieu-Studien sind Männer allerdings oft nur nachlässig behandeltes Beiwerk oder klägliche Opfer. Die große Liebe seines Lebens war „Speedy“. Bevor er die erhängten Frauen darstellte, hat er mit seiner Gespielin bizarre, im Katalog fotografisch dokumentierte „Strangulations-Experimente“ veranstaltet. Ein andermal hat er sie als Domina gemalt, die einem lustvoll zitternden Kerlchen den Stiefel ins Genick setzt. Überhaupt hat er Schnürstiefelchen gemocht und sie als erotischen Fetisch immer wieder in seinen Frauenbildern verwendet. Noch so ein armes Mannsbild: Der (gar nicht so) „Schöne Josef“ steht nackt zwischen drei Damen, die feixend Maß zu nehmen scheinen.

Anpassung oder listige Provokation?

Übrigens war es besagte „Speedy“, die Schlichter vom linken Wege abbrachte und zum Katholizismus zurückführte. Um den Lebensunterhalt zu sichern, ging die fromme Frau freilich auch gelegentlich der Prostitution nach – getreu dem Brechtschen Spruch: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“.

In den 30er Jahren, so hat es zumindest den oberflächlichen Anschein, näherte sich auch Schlichter der mal verlogen heroischen, mal gnadenlos kitschigen NS-Ästhetik. Den Schriftsteller Ernst Jünger zeigte er 1937 als ehernen Halbakt in felsig zerklüfteter Landschaft. Und wiederum war es die ausnehmend hübsche „Speedy“, die ihm für das Großbild „An die Schönheit“ (1935) Modell saß, nein lag. Hingegossen auf einen Blütenteppich rekelt sie sich sie da – fast wie von einer Leni Riefenstahl oder einem Arno Breker heraufbeschworen. Doch gerade das hielten die NS-Herrscher, denen Schlichter als „entartet“ galt, für eine besonders hinterhältige Provokation. Vielleicht war’s ja auch eine. Schlichter jedenfalls wurde 1938 gar verhaftet…

Nach dem Krieg fiel er gleichsam aus der Zeit. Er verschrieb sich einer an mittelalterlichen Meistern geschulten Feinmalerei und bekämpfte die damals marktbeherrschende Abstraktion. Ein Lebensabend in Verbitterung.

Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). Bis 1. März 1998. Di-So 10-17, Do 10-21 Uhr. Katalog 49 DM.