Die Zeche als Erlebnispark – „Zollern II/IV“ ist 100 Jahre alt: Zentrale des Westfälischen Industriemuseums wird aufpoliert

Von Bernd Berke

Dortmund. Schwarzkaue, Lohnhalle, Steiger, abteufen. Solche Bergbau-Begriffe werden selbst im Revier allmählich museal. Am 1.August ist es genau 100 Jahre her, daß der erste Spatenstich für die damals hypermoderne Zeche Zollern 11/IV in Dortmund-Bövinghausen gesetzt wurde. 1966 kam, wie man so sagt, „der Deckel auf den Pütt“. Längst ist das Areal Schmuckstück und Zentrale des auf neun Standorte verteilten Westfälischen Industriemuseums. Und hier tut sich derzeit einiges.

1999 will man mit einer Fülle neuer Attraktionen locken. Industrielandschaft als Freizeitpark? Genau. Aber in der Substanz möglichst authentisch. Die beiden Fördertürme etwa, die das Gelände überragen, wurden zwar aus Gelsenkirchen und Herne geholt, gleichen jedoch dem Jahren abgebauten Exemplar. Grundlegender Bewußtseinswandel: In den 60er Jahren ließ man Abriß oder Zweckentfremdung zu, ließ wertvolle Dinge verrotten. Spätem schaffte man alles mühselig wieder heran, Stück für Stück. ..

Jetzt ist man fleißig dabei, die gesamten Tagesanlagen der Zeche auf Vordermann zu bringen, etwa zur Mitte nächsten Jahres will man mit Um- und Ausbauten fertig sein. Ein neuer repräsentativer Eingang, Restaurant, Museumsshop – alles ist im Werden.

Ausbau an allen Ecken und Enden

Dr. Ulrike Gillhaus, Museumsleiterin der Zeche Zollern, legt Wert auf spannende Vermittlung: „Wir wollen eine Erlebnis-Strecke schaffen.“ Vor allem Kindern werde man keinen Langweiler-Lehrstoff zumuten. Die Kleinen dürfen agieren und z. B. einige Gerätschaften selbst ausprobieren. Mit einer großen Wechselausstellung will man in der früheren Schwarzkaue des allseits aufpolierten Museums aufwarten. Die Schau „Arbeit und Kultur im Bergbau“ (etwa ab Juli 1999) soll Hierarchien auf der Zeche nicht verkleistern, sondern betonen.

Der Direktor, der Steiger, der Kumpel – sie verstanden jeweils etwas anderes unter Arbeit und unter Kultur, zu der auch Freizeit und Sport gehören. Die völlig neu gestaltete Dauerschau wird in den „Malocher“-Alltag der Bergleute einführen und Themen wie Entlohnung, Hygiene und Unfallverhütung aufgreifen. Auch zusätzliche Zeitzeugnisse, wie eine Original-Dortmunder Zechenlok von 1913 (derzeit noch Zierde eines Bochumer Spielplatzes), kommen bald hinzu.

Pioniertat des Denkmalschutzes

Wem nützt die schönste historische Stätte, wird sie nicht mit Leben erfüllt? Ulrike Gillhaus sieht die Zukunft von Zollern nicht nur im Ausstellungs-Betrieb: „Wir wollen überhaupt ein Kulturforum sein.“ Und so überläßt man historische Räume den nichtkommerziellen Vereinen und Initiativen sogar kostenlos. Seit kurzem dient das ehemalige Magazin als Bühne für Theater und Stadtteilfeste, als Tagungszentrum und Übungsraum örtlicher Chöre. Regelmäßig gibt es Veranstaltungen der Volkshochschule oder der Musikschule, und demnächst will sich das Kommunale Kino der VHS mit einer Zweigstelle niederlassen.

Sogar heiraten kann man/frau bald in Zechen-Atmosphäre: Am 28. August wird hier das Jawort bei der ersten standesamtlichen „Ambiente-Hochzeit“ gegeben. So soll es sein: ein Museum, rundum im Alltag der Bürger verankert.

Zeche Zollern II/IV steht übrigens für eine Pioniertat. Schon 1969 wurde die Jugendstil-Maschinenhalle unter Denkmalschutz gestellt – als erster Industriebau der Bundesrepublik. Bald freilich wird man die ganze, inzwischen baufällige Halle Stein für Stein abtragen, reparieren und wieder zusammensetzen müssen – eine Arbeit, die sich über Jahre hinziehen wird. So ist das auf Zollern: Kaum hat man das Bauensemble auf der einen Seite herausgeputzt, muß man auf der anderen schon wieder mit der Pflege beginnen.

Zeche Zollern II/IV, Dortmund-Bövinghausen, Grubenweg 5 (Führungen: 0231/69 61-0). Geöffnet täglich 10-18 Uhr.




„Der Druck ist weg, der Ehrgeiz nicht“ – Der Schauspieler Götz George wird 60 Jahre alt

Von Bernd Berke

So viel Aufhebens ist von einem 60. Geburtstag lange nicht mehr gemacht worden: Im Fernsehen gibt es reihenweise Sendungen mit ihm und über ihn, die Deutsche Presseagentur schnürte ein umfangreiches „Themen-Paket“. Er hat’s aber auch wirklich verdient: Götz George, der heute 60 Jahre alt wird.

Die wirklich dauerhaften Stars des deutschen Kinos und Fernsehens kann man an einer Hand abzählen – neben Mario Adorf gehört Götz George unbedingt zum erlesenen Kreis. Der gebürtige Berliner gilt als überzeugter „Preuße“, was Pünktlichkeit und Arbeitseifer angeht. Doch in diesem Rahmen ist er zu jeder Spontaneität fähig, heißt es.

Sein Rollenspektrum umfaßt gleichsam alle Farben des Regenbogens, er hat sich nie auf eine Couleur festlegen lassen: Bereits 1953, mit 15 Jahren, hatte er sein Kinodebüt – neben Romy Schneider in „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“.

Fassbinder drehte ihm den Rücken zu

Ein Sonnyboy also? Von wegen. Wolfgang Staudtes Filme „Kirmes“ (1960) und „Herrenpartie“ (1963), in denen George mitwirkte, setzten sich ernsthaft und kritisch mit der deutschen NS-Vergangenheit auseinander. Dies war ein Thema, das Götz George auch biographisch beschäftigte, hatte sich doch sein Vater, der große Charakterdarsteller Heinrich George, für Nazi-Propaganda einspannen lassen.

Seltsam, daß die deutschen Autorenfilmer Götz George in den späten 60er Jahren völlig aus den Augen verloren haben. Bei Rainer Werner Fassbinder hätte George beinahe eine Rolle bekommen. Doch als er am Treffpunkt erschien, soll Fassbinder ungerührt weiter am Flipper gespielt und dem Schauspieler den Rücken zugedreht haben. Da ging George seiner Wege. Man hat schließlich seine Selbstachtung. Und es gab beispielsweise Karl-May-Filme, die ihn über Wasser hielten.

Doch dann begann seine ganz große Zeit: Am populärsten wurde er hierzulande als „Tatort“-Kommissar Horst Schimanski, den er von 1981 bis 1991 vehement verkörperte. Selbst nicht frei von einer gewissen kriminellen Energie, fluchte sich das „Rauhbein“ des Ruhrgebiets (bei hohem Pommes- und Dosenbier-Verbrauch) meist prügelnd, aber auch mit sentimentalen Anwandlungen, durch 29 Duisburger Fälle.

„Schimi“ als Rebell in der Ära Kohl

Viele kluge Köpfe haben sich schon an Deutungen dieser Figur versucht. Eine These besagt: „Schimi“, das sei einer der letzten Unangepaßten in der Ära Kohl gewesen; einer, der linke Utopien der 60er und 70er Jahre hinter sich gelassen, sich sein soziales Gewissen aber bewahrt habe. Sei s drum. Zahlreiche neuere Erfolge des deutschen Films sind eng mit seinem Namen verknüpft: „Schtonk“ und „Rossini“ beispielsweise.

Seiner schauspielerischen Mittel enorm sicher, wagt sich George auch an heikelste Rollen heran. So spielte er den KZ-Kommandanten Rudolf Höß in „Aus einem deutschen Leben“, den Mörder Haarmann in „Der Totmacher“ – und derzeit steht er als furchtbarer KZ-Arzt Mengele vor der Kamera. „Die Täter sind immer interessanter als die Opfer“, findet George, der sich seine Rollen längst nach Gutdünken aussuchen kann: „Der Druck ist weg, der Ehrgeiz nicht.“

Heute im Fernsehen: „Schimanski – Blutsbrüder“ (Krimi, 1997 – ARD, 20.15 Uhr), »Glückwunsch, Götz George!“ (ARD, 23.00 Uhr), „Blauäugig“ (Politdrama, 1989 – ZDF, 23.45 Uhr).




Iserlohn: Ein Hauch der weiten Welt im Goethe-Institut – abseits der Metropolen

Von Bernd Berke

Iserlohn. 140 Goethe-lnstitute gibt s in aller Welt, wo man die Menschen mit deutscher Sprache und Kultur bekannt machen möchte. Gelegentlich müssen aus Finanznot ein paar Standorte aufgegeben werden, doch in den ganz großen Metropolen bestehen die „kulturellen Botschaften“ weiter. Arbeitet ein solches Institut in New York? Natürlich. Und in Sydney? Selbstverständlich. In Rio de Janeiro? Na, klar. Nun kommt’s aber, was nur wenige wissen: Eine dieser Einrichtungen hat ihren Sitz in Iserlohn.

Munteres Stimmen- und Sprachengewirr an der Stennerstraße, wo das Iserlohner Goethe-Institut über zwei prächtige alte Villen verfügt. Gerade hat die Pause zwischen zwei Deutsch-Stunden begonnen. 130 Sprachschüler aus aller Welt büffeln derzeit hier meist im achtwöchigen Kursus, der 175 Unterrichtsstunden umfaßt. Im Sommer herrscht Hochsaison, denn die meisten Schüler kommen in ihren Ferien. Jene von der Südhalbkugel werden dann in unserem Winter anreisen.

Schon von der ersten Minute an wird ausschließlich Deutsch gesprochen, zuerst mit „Händen und Füßen“, später zunehmend versiert. Und es „hat“ schon etwas, wenn man erlebt, wie sich etwa Japaner und Afrikaner miteinander in unserer Sprache verständigen.

Leute aus allen Ländern der Erdkarte waren hier schon zu Gast, auch – müßige Testfrage – von den Tonga-Inseln. Warum gerade Iserlohn im Jahr 1960 als Standort auserkoren wurde, vermag auch der Leiter des Institutes, Dr. Günther Hasenkamp (41), nicht zu sagen. Nach Goethe-Lehr- und Wanderjahren, die ihn u. a. nach Budapest und Kalkutta führten, verschlug es den Anglisten und Slawisten erst im Vorjahr hierher.

Klassiker in allen Ehren – aber es zählt der Alltag

Die große Zeit des Instituts um 1990, in der bis zu 20 Lehrkräfte auch zahlreiche Aussiedler aus Osteuropa betreuten, hat er nicht mehr erlebt. Heute sind neun Lehrer hier tätig, denn die Förderung der Aussiedler-Kurse ist stark zurückgefahren worden.

Im Foyer steht zwar unübersehbar eine Goethe-Büste, und man hält den Klassiker auch sonst in hohen Ehren – als Schöpfer des Begriffes „Weltliteratur“ etwa, ganz im Sinne eines gleichberechtigten Gebens und Nehmens zwischen den Kulturen. Doch im Sprachunterricht legt man Wert auf die Verständigung in Alltagssituationen. Den „Faust“ kann man ja später immer noch lesen.

Meist sind es Stipendiaten oder Mittelschichtskinder, Studenten oder bereits Berufstätige, die sich in Iserlohn mit der deutschen Sprache befassen. Denn die Kursgebühren (2760 DM fürs achtwöchige Intensiv-Training) kann nicht jeder aufbringen, obwohl sie –umgerechnet auf die Stundenzahl – maßvoll sind.

Erlebnis-Programm in den größeren deutschen Städten

Kein Kurs ohne Begleitprogramm. Hasenkamp: „Die Schüler wollen ein Erlebnis-Deutschland kennenlernen“. Der Abstecher nach Berlin oder Frankfurt gehört deshalb ebenso dazu wie etwa die „Stadtrallye“ durch Iserlohn, der Besuch von Ausstellungen in ganz Westfalen, der Burg Altena oder der Disco in Dortmund. Und kürzlich saßen sie in Iserlohn multikulturell vor dem Kneipen-Fernsehschirm, um die Spiele der Fußball-WM zu sehen. Deutsch lernen von Heribert Faßbender…

Gute Erfahrungen hat man in Iserlohn mit der „Tandem“-Bildung gemacht, will heißen: Es kann sich jeder beim Goethe-Institut melden, der etwa sein Italienisch oder auch Chinesisch aufpolieren möchte. Irgend eine passende Sprach- und Hobby-Partnerschaft findet sich so gut wie immer.

Mit einem Jahresumsatz von rund 2,5 Mio. Mark ist das Iserlohner Goethe-Institut auch ein Wirtschaftsfaktor der Stadt. Vom Auswärtigen Amt gibt es keinen Zuschuß. Alles wird selbst erwirtschaftet.

Goethe-lnstitut Iserlohn, Stennerstraße 4.

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Nachtrag: Die Iserlohner Zweigstelle des Goethe-Instituts wurde zum 31. Dezember 1999 geschlossen – rund eineinhalb Jahre nach Erscheinen des obigen Beitrags.




Piacssos Lust am Wandel – Museum Bochum zeigt 140 Lithographien des Spaniers

Von Bernd Berke

Bochum. Bezwingende Kraft des Genies: Vor Jahr und Tag hat Bochums Museumsdirektor Dr. Hans Günter Golinski an einem Seminar teilgenommen, in dem ein bißchen am Weltruhm des Pablo Picasso gekratzt werden sollte. Mögliches Motto: „Der überschätzte Spanier“. Doch gegen das kaum überschaubare Jahrhundertwerk kam man mit rebellischem Sinn und Krittelei nicht so recht an. Und jetzt ist Golinski heilfroh, daß er eine Picasso-Schau in seinem Hause zeigen kann.

Die Museumsräume mußten eigens auf unter 50 Lux abgedunkelt werden, so empfindlich sind die 140 Blätter aus den Jahren 1925 bis 1960. Beim Aufbau trug Golinski ständig das Lichtmeßgerät bei sich. Die druckgraphischen Schätze gehören schließlich der Westdeutschen Landesbank und den Westfälischen Sparkassen, die die insgesamt 750 Arbeiten umfassende Kollektion des holländischen Druckereibesitzers Huizinga erworben haben und sie ab 2001 dauerhaft in Münster präsentieren wollen.

Ein Hauch vom südfranzösischen Lebensgefühl

Der Bochumer Museumsdirektor gewinnt dem Lichtmangel einen besonderen Reiz ab: Ein wenig „wie hinter halb geschlossenen Fensterläden in Südfrankreich“ könne sich der Besucher hier fühlen. Nun ja. Etwas anders ist’s dort unten freilich schon.

Doch die zumeist dort entstandenen Kunstwerke entschädigen fürs entgangene reale Flair des sonnigen Südens. Picasso erweist sich hier abermals als grandioser Einsammler von Anregungen aller Art, die er seinem schier grenzenlosen Bildkosmos einverleibt. Auf bestimmte Formensprachen wollte er sich nicht festlegen. Gott, so sinnierte er einmal, habe Giraffen und Elefanten geschaffen, ohne auf einen einheitlichen „Stil“ zu achten.

Das Verfahren der Lithographie (Flachdruck vom Stein) kam seinem flackernden Drang zur spontanen Schaffensweise entgegen. Hinzu kam die Zeitstimmung: Nach der Begegnung mit dem Drucker Fernand Mourlot kam sich Picasso ab 1945 immer öfter auf die Lithographie zurück.

Der Krieg war vorbei, man atmete tief durch und wollte nun jede Freiheit genießen. Etliche Arbeiten haben den Charme des skizzenhaften Anbeginns aller künstlerischen Schöpfung, nur wenige sind „klassisch“ streng ausgearbeitet. Und doch darf kein Strich hinzugefügt oder entfernt werden, das vermeintlich „Unfertige“ ist auf seine Weise vollendet. Fortwährend befindet sich das Werk in experimenteller Bewegung: Man sieht in Bochum oft verschiedene Zustände ein- und desselben Motivs, Stimmungen wechseln gelegentlich mit der Tageszeit. Alles fließt, alles ist im Wandel.

Thema und Variationen: Eine ganze Wand ist mit (Friedens)-Tauben gefüllt, ganze Raumfluchten mit Frauengesichtern, oft wie Sonnen oder Blumen wirkend, wie es schönen Frauen zukommt (zumal den Lebensgefährtinnen Jacqueline Roque und Françoise Gilot). Auch findet man subtile Szenen zwischen Maler und Modell – gleichermaßen künstlerische wie erotische Selbstvergewisserungen, meist unterschwellig spannungsgeladen, selten erlöst und erfüllt.

Vielfältige Mischungen aus Angst und Lust treten da zutage. Der Faun (auch so ein Lieblingsmotiv) spielt die Flöte nicht nur lockend, sondern so, als wolle er sich zugleich Mut machen und böse Geister verjagen. Übrigens sind in Bochum keine sonderlich drastischen sexuellen Darstellungen zu sehen, die es von Picasso zuhauf gibt. Selbst Frauenakte wirken in dieser Zusammenstellung eher vergeistigt.

Verblüffende Reduzierungen aufs Wesentliche kann man auch anhand der Stierkampfbilder studieren. Aus wenigen Strichmustern ergeben sich aufregende Vogelperspektiven auf jene Arenen, in denen sich das Drama zwischen Leben und Tod abspielt.

Pablo Picasso, Lithographien. Museum Bochum, Kortumstraße 147 (Tel. 0234 / 910-2237). Bis 30. August. Di/Do/Fr/Sa 11-17, Mi 11-20, So 11-18 Uhr. Begleitbuch 39 DM.




Der Kommissar sehnt sich nach heiler Welt – Donna Leons neuer Krimi führt die Bestsellerliste an

Von Bernd Berke

Eine US-Amerikanern mit ausgesprochenem Faible für Italien steht an der Spitze der deutschen Bestsellerliste: Donna Leon mit „Sanft entschlafen“. Was ist dran an diesem Krimi?

Suor Immacolata ringt mit ihrem Gewissen. Die junge Frau, bis vor kurzem Nonne und immer noch gläubig, will kein falsches Zeugnis ablegen wider ihre Nächsten, aber dann wendet sie sich doch an Kommissar Brunetti: Ausgerechnet in jenem Altenheim des Ordens, in dem auch Brunettis Mutter betreut wird, haben sich rätselhafte Todesfälle gehäuft. Und es sieht so aus, als seien die Verstorbenen zuvor gedrängt worden, ihr Hab und Gut der Kirche zu vermachen. Wer weiß, wer weiß…

Brunetti ist eine eingeführte Figur, Donna Leon hat bereits fünf Romane über die Fälle des beleibten Ermittlers vorgelegt, die allesamt in Venedig spielen. Eigentlich dem Wohlleben zugeneigt, ist Brunetti doch von einem Gerechtigkeitssinn beseelt, der ihn aus müßigen Tagträumen oder kulinarischen Vergnügungen reißt. Vollends zornig wird er, wenn er an Augiasställe wie die korrupte Verwaltung oder das marode Gesundheitswesen Italiens denkt.

Im vorliegenden Falle kann er aber nur äußerst diskret ermitteln. Schon ein falscher Zungenschlag kann alles verderben. Denn zum einen ist alles zunächst nur vager Verdacht, zum anderen muß Brunetti hohe Kleriker und adlige Herrschaften mit Samthandschuhen anfassen. Bei den ersten Befragungen kommt denn auch kaum etwas heraus.

Ein Geheimbund, mit dem man sich nicht anlegen sollte

Der Kommissar ist drauf und dran, die Akten zu schließen. Hirngespinste einer Frau, die im Kloster etwas weltfremd und überängstlich geworden ist? Doch dann wird just diese Suor Immacolata, die jetzt wieder bürgerlich Maria Testa heißt, Opfer eines schweren „Unfalls“, und kurz darauf kommt ein Zeuge in seinem Badezimmer zu Tode. Das kann wohl kein Zufall sein. Tatsächlich führt die Fährte alsbald zu Fällen von Kindesmißbrauch und zu einer erzkonservativen Geheimorganisation katholischer Fundamentalisten, mit der man sich nicht ungestraft anlegt.

Als Leser begleitet man diesen Brunetti bei seinen Nachforschungen gern. Beruflich mit einer verderbten Welt konfrontiert, die ebenso faulig ist wie das Brackwasser in Venedigs Kanälen, hat dieser Kommissar selbst etwas liebenswert Anheimelndes, verkörpert er doch eine Ahnung davon, was heile Welt bedeuten könnte. Denn er ist Fixstern in einem Mikrokosmos gelingender menschlicher Beziehungen – ganz so, als sei die Utopie des richtigen Lebens nur einen Schritt entfernt.

Wenn nur die Spitzen der Gesellschaft nicht wären…

Mit seiner feministisch und sozialistisch angehauchten Frau Paola führt er auch nach vielen Jahren eine gute Ehe nach dem Leitsatz „Was sich liebt, das neckt sich“; seine Kinder Raffi und Chiara sind recht wohlgeraten, seine Sekretärin ist stets charmant und überaus klug, die übrigen Mitarbeiter enorm diensteifrig. Nur: Sobald es höher hinauf geht zu den Gipfeln der venezianischen Gesellschaft, weht ein eisiger Wind.

Ein Krimi in (unaufdringlich) linksliberaler Tradition also, geschrieben auf beachtlichem Niveau und bis in bizarre Nebenrollen hinein auf prägnante Charakterisierungen bedacht. Kleine Besessenheiten der Figuren werden ebenso ironisch abgehandelt wie tiefere Einsichten, etwa über die Habgier und die Vergänglichkeit irdischen Besitzes.

Bemerkenswert, daß ein solch ambitioniertes Buch Platz eins unserer Sellerliste erklimmt. Keine Nahrung für Kulturpessimisten: Wo sich Werke z. B. von Donna Leon, Javier Marias, Peter Hoeg oder Umberto Eco so gut verkaufen, dürfte es um die Lesekultur nicht gar so schlecht bestellt sein, oder?

Donna Leon: „Sanft entschlafen“. Kriminalroman. Diogenes-Verlag. 336 Seiten, 39 DM.