Dienstlich ins Kino – morgens um zehn / Arbeitsalltag in der WR-Kulturredaktion: Zu Hochzeiten tut Auswahl not

Von Bernd Berke

Liebgewordene Vorstellung aus der Mottenkiste: Kulturredakteure haben’s gut. Den Vormittag verbringen sie als Flaneure oder sinnend im Caféhaus. Nachmittags entlocken sie ihren Federn zuweilen edel klingende, aber weitgehend nutzlose Zeilen. Abends setzen sie sich ins Theater, immerzu kostenlos – und dann verreißen sie die armen Schauspieler samt Inszenierung auch noch genüßlich. Die Wirklichkeit sieht etwas anders aus.

Sicher: Die „harten“ Nachrichten überschlagen sich bei uns nicht so wie oft in anderen Ressorts. Doch besonders in den kulturellen Hoch-Zeiten des Jahres – vor allem Mai/Juni und September/Oktober – ist die WR-Kulturredaktion (Anja Luckas, Arnold Hohmann und der Verfasser dieser Zeilen) an sieben Tagen in der Woche mit derart vielen Terminangeboten gesegnet, daß strenge Auswahl nottut. Wobei reiner Termin-Journalismus ja eh nicht das Gelbe vom Ei ist.

Die Region hat immer Vorrang

Die Region hat Vorrang – so eine der wichtigsten Leitlinien. Alle Ereignisse vor Ort wahrzunehmen, wäre nicht möglich ohne den Einsatz unserer Korrespondenten, der rund 30 WR-Lokalredaktionen, der vielen freien Mitarbeiter und der Kollegen aus dem Ressort WR-Wochenend. Denn ganz gleich, ob sich etwas beispielsweise in Dortmund, Hagen, Schwerte, Lüdenscheid, Arnsberg und Siegen zuträgt – oder in Berlin, Düsseldorf und Rom: Wir verlassen uns am liebsten auf „eigene Leute“, weniger gern auf die (gleichwohl unentbehrlichen) Nachrichtenagenturen. Deren Berichte kann ja jede Zeitung bringen.

Beispiel Kino: Wir sehen die neuen Filme meist ein paar Wochen im voraus und drucken die Kritiken dann zur Startwoche. Und wir sehen die Filme nicht etwa abends, sondern morgens – oft um 10 Uhr in Düsseldorf oder Köln, wo die großen Filmverleihe ihre Presse-Aktivitäten konzentrieren.

Übrigens: Dienstlich ins Kino zu gehen, ist ganz anders, als sich dort privat einen schönen Abend mit anschließendem Klönschnack in der Kneipe zu machen – nicht nur wegen der Morgenstunde. Man schaut völlig anders hin und formuliert im Geiste schon einzelne Sätze für die Rezension.

Vormittags eine Ausstellung, abends Theater oder Lektüre

Nicht zu vergessen: Da meisten Streifen zur Pressevorschau noch gar nicht deutsch synchronisiert sind, wird das Gros der englischen und amerikanischen Filme im Originalton gezeigt. Das hält fit. Bei den französischen Produktionen laufen immerhin Untertitel.

Ein richtig erfüllter Arbeitstag, an dem die Neugier nie erlahmen sollte, kann mitunter beispielsweise so aussehen: Morgens ein Kinofilm oder die Vorbesichtigung einer Kunstausstellung, tagsüber die Seitenproduktion (wobei in der WR-Kulturredaktion auch die Fernsehseiten entstehen), abends vielleicht eine Theaterpremiere, eine TV-Kritik oder die Lektüre eines neuen Buches – für die Kulturseite, eine Buchseite oder zur Auswahl des nächsten WR-Fortsetzungsromans. Wie gut, daß Kulturredakteure ihre Leidenschaft für die Künste mit dem Beruf verknüpfen.

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Der Beitrag stand auf einer Sonderseite zur „Woche der Zeitung“.




Die Vernunft des Herzens – Neu im Kino: „Erklärt Pereira“

Von Bernd Berke

Ja, das waren noch Zeiten, ganz ohne Handy, Fax und Computer: Da saß der Kulturredakteur Pereira – fern von aller Hektik – in seiner gemütlichen Zeitungsstube und hämmerte, wenn die lnspiration ihn überkam, auf einer uralten Schreibmaschine erlesene Feuilletons aufs Papier. Doch ringsherum im Lande herrschten schlimme Zustände.

Die Szene spielt nämlich 1938 in Lissabon. Aus Italien, Spanien und vor allem Deutschland dröhnt faschistisches Getöse herüber. Portugal selbst windet sich im Griff der Salazar-Diktatur. Wenn Pereira (Marcello Mastroiannis vorletzte Rolle) zum Caféhaus flaniert, um literweise süße Limonade zu trinken, flüstert ihm der Kellner neueste Nachrichten aus dem Polizeistaat zu: Hier ist jemand ohne Haftbefehl festgenommen, dort jemand zusammengeschlagen worden.

„Warum steht nichts davon in eurer Zeitung?“ fragt der Ober. Pereira schaut unbehaglich drein, zuckt aber mit den Achseln. Der grundanständige Mann will sich in derlei garstig-politische Fragen nicht einmischen, ihn kümmern nur seine Kulturseite – und der Gedanke an den Tod: Abends bespricht der kranke und einsame Witwer die Dinge seines zur Neige gehenden Lebens mit dem Foto seiner verstorbenen Frau…

Roberto Faenzas Film „Erklärt Pereira“ (nach dem Roman von Antonio Tabucchi) treibt seine friedvolle Titelfigur in Gewissensnöte: Eines Tages tauchen der junge Italiener Rossi und dessen kommunistische Freundin in Pereiras Leben auf. Der Redakteur sucht einen Mitarbeiter für Nachrufe auf Kulturgrößen. Er glaubt, Rosi werde solche Beiträge „auf Vorrat“ schreiben. Doch dieser Rossi hält sich nicht an die Vorgabe, Kultur müsse politisch neutral bleiben, sondern läßt in seinen Nachrufen – wie er es pathetisch nennt – die „Vernunft des Herzens“ sprechen: Dem Kommunisten Wladimir Majakowski flicht er posthume Lorbeerkränze, Gabriele d’Annunzio brandmarkt er als Faschistenknecht.

Bruchlos verläuft der linke Lernprozeß

„Das kann man doch nicht drucken!“ stöhnt Pereira. Trotzdem zahlt er dem jungen Mann laufend Vorschüsse. Bald stellt er fest, daß dieses Geld für den Kampf gegen Francos Truppen im spanischen Bürgerkrieg bestimmt ist. Dann fleht Rossi ihn an, einen verfolgten Genossen zu verstecken. Pereira macht s möglich – und er riskiert später noch mehr.

Der Film, der an diesem Donnerstag in ausgewählten Städten (u.a. Dortmund) startet, könnte gut und gern aus den den 70er Jahren stammen, so folgerichtig und beinahe bruchlos verläuft der linke Lernprozeß. Marcello Mastroianni als Hauptdarsteller überspielt jedoch souverän jeden Anflug naiver sozialistischer Legendenbildung und hält seine Figur in wundervoller Schwebe.

Am Schluß plaziert dieser Pereira durch eine List eine flammende Anklage gegen den Terror des Salazar-Regimes auf Seite eins „seiner“ Zeitung. Bevor das Blatt morgens erscheint, packt der nunmehr couragierte Journalist seine geringe Habe und bricht auf. Irgendwohin. Diesen zukunftsfrohen Blick eines Mannes, der plötzlich gar nicht mehr hinfällig wirkt, den muß man einfach gesehen haben. Es ist ein Blick, in dem die Hoffnung aufbessere Zeiten jeden Todesschrecken überwunden hat.