Ein Kraftkerl mit empfindlicher Seele – Überblick zum Werk des Malers Lovis Corinth in Wuppertal

Von Bernd Berke

Wuppertal. Durch eine grüne Tür stürzt „Der geblendete Simson“ auf den Betrachter zu. Seine Hände liegen verkrampft in eisernen Ketten, bis auf einen Schurz ist er elend nackt. Um die Augenpartie klebt ein verschmierter Verband, aus dem Blut rinnt. Eine geschundene Gestalt, die uns die ganze Wucht ihres Schmerzes entgegenschleudert.

Da behaupte noch ein Kunstlexikon, Lovis Corinth (1858-1925) sei Impressionist gewesen; nur deshalb, weil er häufig flirrendes Licht in seinen Bildern flackern ließ oder weil er manchmal unter freiem Himmel gemalt hat. Nein, dieser ausdrucksmächtige Berserker ist, wenn denn schon Stil-Schubladen geöffnet werden müssen, mindestens ebenso sehr Expressionist gewesen. Das belegen die 61 Gemälde und 70 Papier-Arbeiten, die jetzt in Wuppertal zum Werküberblick vereint sind.

Blühende Gärten als Feier des Lebens

Der auch körperlich imposante Kraftkerl war allerdings ein hochsensibler Mensch. Immer wieder hat Corinth seine seelischen Zustände in Selbstporträts fixiert. Anhand dieser gemalten Zwischenbilanzen kann man ihm einige Höhen und Tiefen nachfühlen. Auf dem letzten Selbstbildnis aus dem Todesjahr 1925 ist das Antlitz des Künstlers fast durchsichtig schmal geworden, sein Blick ist gebrochen und nach innen gerichtet. Selbst die Farben (verwaschenes Grau, bleiches Rot) haben alle Kraft eingebüßt.

Völlig anders die Bilder vom Beginn des Jahrhunderts, als der im ostpreußischen Tapiau geborene Corinth nicht nur künstlerisch im Saft stand! 1902 malte er sich selbst mit einer halbnackten, noch etwas scheu dreinschauenden Schönen. Es war Charlotte Berend, erste Elevin in Corinths 1901 gegründeter Berliner Malschule für Damen. Bald darauf wurde sie seine Ehefrau. Als sie, wie man damals wohl sagte, in „gesegnete Umstände“ kam, malte Corinth zur Lebensfeier blühende Gärten und später eine vollkommen zufrieden in sich selbst ruhende „Donna Gravida“, was just „schwangere Frau“ bedeutet.

Vorbilder Frans Hals, Manet und Cezanne

Üppig schwellende „Rubens-Leiber“ hat Corinth mit spürbarer Lust verewigt. Die ungeheure Fleischlichkeit der vierköpfigen „Frauengruppe (Freundinnen)“ von 1904 kündet von Sinnenfreude, die „Salome“ (1900) freilich von gefährlichen Begierden. Höchst delikat in der Farbbehandlung zeigt Corinth die „Dame mit Weinglas“ (1908), eines jener Bilder, die an sein großes Vorbild Frans Hals heranreichen, den er neben Cezanne und Manet am meisten verehrte, während er Monet für „schwächlich“ hielt.

Corinth befand, man dürfe die französischen Impressionisten nicht nachäffen, sondern müsse eine entschieden deutsche Kunst schaffen. Was immer dies sei, hier klingt Corinths Zungenschlag für heutige Ohren ein wenig befremdlich.

Manchmal nah an der Karikatur

Ob nun deutsch oder nicht, seine Bilder überzeugen, ja überwältigen oft – nicht zuletzt durch eine zupackende Charakterisierungs-Kunst, die gelegentlich das Karikierende streift. Angesichts der „Logenbrüder“ (1898/99), dieser trinkfreudigen Versammlung von Freimaurern, wird man schmunzeln – etwa über jenen Versicherungsmakler mit Hang zum Höheren, der verklärt gen Himmel blickt. Auch wirkt auf Corinths Porträt der damals tonangebende Kunstkritiker Julius Meier-Graefe, der dem Künstler anfangs nicht so gewogen war, ziemlich diabolisch. Und das Bildnis der betagten „Mutter Rosenhagen“ zeigt überdeutlich die Spuren des Alters. Nicht sehr galant. Wer’s idyllisch mag, wird gleichfalls fündig: Corinths Walchensee-Landschaften verströmen ein Behagen vor der Natur, das auch den Betrachter mit Ruhe erfüllt.

Lovis Corinth. Von der Heydt-Museum, Wuppertal (Elberfeld, Turmhof 8). 1. August bis 19. September. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Katalog 35 DM.




Das Leben als Mutprobe – zum 100. Geburtstag von Ernest Hemingway

Von Bernd Berke

„Es ist nicht schlimm“, sagte er. „Und Schmerzen machen einem Mann nichts.“ – Ein Zitat aus „Der Alte Mann und das Meer“. Der Tonfall ist unverkennbar. Punkt, fertig, keine Debatten. Keine Weicheier-Fragen wie „Wann ist der Mann ein Mann?“ Der Schriftsteller Ernest Hemingway hätte wohl schlicht geantwortet: „Immer.“ Und er hätte zur Bekräftigung den nächsten Whisky gekippt.

Dieser Kerl von altem Schrot und Korn wurde heute vor 100 Jahren in Oak Park (US-Staat Illinois) geboren. Die tonangebende Literaturkritik urteilt inzwischen sehr nüchtern über ihn. Maureen Dowd, Starkolumnistin der „New York Times“, behauptete gar: „Hemingway war schon eine Parodie seiner selbst, als er starb“. Und: „Zusammen mit anderen Macho-Schriftstellern wie Jack London, Irwin Shaw und Norman Mailer ist sein Werk aus der Mode gekommen.“ 1950 hatte im selben Weltblatt noch gestanden, Hemingway sei der wichtigste anglophone Autor seit Shakespeare.. .

Freizeit-lndustrie in seinem Namen

Über literarische Qualität wird kaum noch geredet, wenn der Name Hemingway fällt. Statt dessen steht er als (bröckelndes) Denkmal für ein kerniges Männerleben zwischen Hochseefischerei, Großwildjagd, Stierkampf, Kriegsreportagen und alkoholischen Exzessen. Die eine oder andere Frau gab’s als Gattin oder Geliebte auch noch –vorzugsweise demütig. Auf diesen etwas ranzigen Geschmack von Freiheit und Abenteuer, auf Hemingways „muskulösen Existentialismus“ (so der Kritiker Paul Ingendaay in der FAZ) gründet sich eine Freizeit-Industrie mit läppischen Ähnlichkeits-Wettbewerben, touristischen Routen entlang seiner Kneipen-Touren (Key West in Florida, Kuba) und Hemingway-Lizenzen für Gewehre, Füllfederhalter, Brillen oder Möbel.

Sein vielfach verfilmtes Werk, 1926 mit „The Sun Also Rises“ (deutsch „Fiesta“) beginnend und 1954 mit dem Nobelpreis für „Der Alte Mann und das Meer“ (1952) gekrönt, wird lukrativ ausgeweidet. Hemingways Söhne schustern posthum greifbare Fragmente zu schnellfertigen Büchern zusammen. Man darf vermuten, daß der alte Ernest dies ebenso gehaßt hätte wie den Umstand, daß ausgerechnet einer seiner Sprößlinge als Transvestit lebt.

Die erste Flinte mit zehn Jahren

Mit zehn Jahren bekam der Arztsohn Ernest Hemingway seine erste Jagdflinte. Das prägt. Mit 18 wurde er Reporter beim „Kansas City Star“. Die schmucklos-präzise Nachrichtensprache hat großen Einfluß auf seine späteren Bücher ausgeübt, die wiederum eine ganze Generation von Literaten geprägt haben. Hemingways knapper Stil, aus deutscher Sicht das pure Gegenteil etwa eines Thomas Mann, wurde als „Depeschen-Prosa“ bezeichnet. Tatsachlich versuchte er, jede überflüssige Emotion oder Reflexion aus seinen Romanen und Erzählungen zu verbannen. Seine besten Texte beginnen gerade deshalb wie von selbst zu funkeln. Solche Wonnen der Wortkargheit haben vielleicht die deutlichste Entsprechung in der Filmweit: Hemingway schrieb ungefähr so, wie Humphrey Bogart spielte.

Im Ersten Weltkrieg als Ambulanzfahrer schwer verletzt, verliebte sich der 19jährige Hemingway in die Krankenschwester Agnes von Kurowsky, der er in dem Roman „In einem anderen Land“ (1929) ein Andenken bewahrte. Vom „Toronto Star“ nach Paris entsandt, lernte er literarische Größen wie Gertrude Stein, Ezra Pound und F. Scott Fitzgerald kennen. Bald hörte er selbst zu den Berühmtheiten.

Stierkampf und Trunksucht

In „Tod am Nachmittag“ stilisierte Hemingway 1932 den spanischen Stierkampf zum Sinnbild menschlicher Existenz: das Dasein als unaufhörliche Mut- und Bewährungsprobe im Angesicht des Todes. „Die grünen Hügel Afrikas“ (1935) entstand nach einer Safari im damaligen Tanganjika, „Haben und Nichthaben“ (1937) war sein einziger Roman, der in Amerika spielte. Mit seiner Geliebten Martha Gellhorn zog er als Berichterstatter auf republikanischer Seite in den Spanischen Bürgerkrieg, die literarische Ausbeute hieß „Wem die Stunde schlägt“ (1940). Ins von den Deutschen befreite Paris zog er als einer der ersten US-Amerikaner ein.

Am 2. Juli 1961 erschoß sich der künstlerisch kraftlos gewordene, deprimierte und trunksüchtige Schriftsteller. War er am eigenen Männlichkeitsanspruch gescheitert? Mitten im „Kalten Krieg“ bemerkenswert: Sowohl US-Präsident John F. Kennedy als auch dessen Widersacher Fidel Castro, dem Hemingway 1959 nach der kubanischen Revolution die Ehre des Besuchs erwiesen hatte, bekundeten Trauer. Sozusagen unter Männçrn. Und noch ein Mann der politischen Tat nennt, wie man hört, „Papa Hem“ seinen Lieblingsautor: Bundeskanzler Gerhard Schröder. Aber daraus ziehen wir nun keine Schlüsse.




Hinter der Abstraktion lauert schon das Nichts – Gefühle direkt aufs Bild bringen: Werke von Jackson Pollock in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Reichlich rabiat muß er gewesen sein, der amerikanische Maler Jackson Pollock (1912-1956). Eine vom Künstler-Kollegen Willem de Kooning verbreitete Anekdote besagt, Pollock habe auf einer Party mit bloßer Faust ein Fenster eingeschlagen, um für Frischluft zu sorgen. So geht’s natürlich auch…

Bei einer schicken Vernissage pinkelte Pollock auch schon mal beherzt in den Kamin der Gastgeber. Rund elf Monate, nachdem der Filmstar James Dean tödlich mit dem Auto verunglückt war, starb auch Pollock – nur 44jährig – 1956 am Lenkrad. Er war sturzbetrunken. Ein Hollywood-Film mit Ed Harris, der im nächsten Jahr herauskommt, wird sein wildes Leben nachzeichnen. Man wundert sich nur, daß dies so spät geschieht.

Hollywood verfilmt sein wildes Leben

Solche voyeuristischen Blicke auf Dinge des Lebens und Sterbens mögen interessant sein. Doch in der Pollock-Schau der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW gilt es, nicht Grob-, sondern Feinheiten zu würdigen.

Für alle Zeiten berühmt wurde Pollock, als er ab 1947 die wohl spontanste Form der Kunst ausübte: Er ließ die Farbe vom Pinsel oder direkt aus der Tube auf die Bilder tropfen (sogenanntes „dripping“, aus dem sich Pollocks späterer Spitzname „Jack the dripper“ ergab). Im engen Atelier lagen die Bilder auf dem Boden, Pollock ging herum und ließ seinen Regungen Lauf. Im gelenkten Zufall konnten Gemütszustände ganz unmittelbar durch Körperbewegungen auf die Leinwand gebannt werden. Von diesem „action painting“ sieht man in Düsseldorf einige prachtvolle Proben.

Weitaus wichtigste Quelle der konzentrierten Auswahl (rund 50 Werke) war das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), wo 1998 mit 150 Bildern eine große Pollock-Retrospektive zu sehen war, die an London weitergereicht wurde.

Im Kreisen der Formen der Schmerz des Kreißens

„Birth“ (Geburt) heißt ein um 1938 entstandenes Bild. Es illustriert den Vorgang des Werdens nicht, sondern drückt ihn schmerzlich aus. Im Kreisen der Formen meint man das Kreißen zu spüren. „The Flame“ (Die Flamme, ca. 1940) flackert nicht als Abbild, sondern scheint den Bildträger direkt zu versengen.

Auch die Kunst eines Pollock kam nicht voraussetzungslos zur Welt. Manche Einflüsse, etwa aus der indianischen Kunst, von Picasso oder den Surrealisten (die eine „automatische“, das Unbewußte freisetzende Bildschöpfung anstrebten), werden von Fall zu Fall deutlich.

Auch kleine Formate (Zeichnungen, Druckgraphik) entfernen sich zunehmend von erkennbarer Gegenständlichkeit. Es ist, als habe Pollock hier die seiner Ausdruckskraft gemäßen Formenvorräte gesichtet und das bildnerische Arsenal angefüllt, um es hernach zur ungeheuren Eruption zu bringen.

Galaxien einer grenzenlosen Freiheit

Bilder wie „Free Form“ (Freie Form, 1946) oder „Shimmering Substance“ (Schimmernde Substanz, 1946) sind Orgien scheinbar regelloser Linienmuster und Farbballungen. Mit grandioser Geste manifestiert sich solch neu gefundene, schier grenzenlose Freiheit in Monumentalbildern wie „Nummer 1 A“ (1948), „Nummer 31″ und „Nummer 32″ (beide 1950). Jede dieser Arbeiten entwirft radikal einen eigenen Bildkosmos. In solchen Galaxien können die Augen des Betrachters halt- und endlos schweifen.

Es war ein Gipfel, auf den Pollock die abstrakte Malerei getrieben hatte. Doch zugleich war es ein Nullpunkt, hinter dem das Nichts lauerte. Von Depressionen geplagt, verfiel er fortan in eine düstere, längst nicht mehr selbstgewisse Schwarz-Malerei. Kunst vor dem gähnenden Abgrund…

Man kann es sich schön zurechtlegen: Pollock war wie ein Komet, der leuchtend aufstieg und rasch niederging. Stoff für Legenden. Die Wahrheit sieht vermutlich anders aus, doch wer will sie kennen?

Jackson Pollock. Bis 3. Oktober in der Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, Grabbeplatz. Eintritt 12 DM. Katalog 24 DM.




„art open“ in Essen: Mumpitz des Jahres oder mutiges Durcheinander?

Von Bernd Berke

Essen. Plakate in der Stadt? Fehlanzeige. Irgendein Hinweis am Messegelände? Nichts. So klammheimlich wollen die Veranstalter der als Weltkunstschau angepriesenen „art open“ bis zum 8. August über eine Million Besucher nach Essen locken?

Plakatflächen seien ausgebucht, hieß es gestern zur Pressekonferenz. Vielleicht hätte man sich ja frühzeitig darum kümmern müssen. Zu sehen gab’s nur wenige der angeblich 900 Kunstwerke von der Steinzeit bis heute, die man in fünf Messehallen zeigen will. Zwei Tage vor Eröffnung herrschte vielfach gähnende Leere, in etliche Bereiche wurden die Journalisten wohlweislich gar nicht geführt. Ein Katalog war auch noch nicht fertig.

Selbst ein Mikrofon, mit dem man die versammelten Berichterstatter akustisch hätte erreichen können, war nicht vorhanden. Derweil übertönte eine Voodoo-Kultgruppe aus Benin jedes unverstärkt gesprochene Wort. Das sei ein Ritus, den man nicht einfach abbrechen könne, hieß es.

Voodoo als Schwerpunkt

Voodoo ist ein, wenn nicht d e r Schwerpunkt dieser obskuren Schau. Voodoo-Figürchen durfte man also bestaunen, es folgten diverse russische Ikonen, sodann vorwiegend zweit- bis drittklassige Bilder zwischen Barock und 19./20. Jahrhundert, offenbar größtenteils aus kleineren osteuropäischen Museen geliehen, die über ein paar Devisen-Scherflein froh sein dürften.

Je ein Bild von Rubens („Gottvater, von den Evangelisten verehrt“) und El Greco („San Juan“) sollten „später“ noch eintreffen. Ist dies nun der Mumpitz des Jahres, oder kann die Regellosigkeit und billige Beliebigkeit gar befreiend wirken? Lassen wir die Antwort gnädig offen.

Von 30 auf unter 10 Mio. DM ist der Etat abgespeckt worden. Auf Veranstaltungen im Freigelände hat man völlig verzichtet, wobei man sich von der Messe Essen eh stiefmütterlich behandelt fühlt.

Verzehr soll das Finanzrisiko mindern

Dieter Walter Liedtke, Mentor des Ganzen, der unser aller Bewußtsein mit der Ausstellung und seiner simplen Kunst-Erklärungsformel erweitern will, tapste etwas ratlos durch das, was er da (nicht) angerichtet hat. Angeblich steht Liedtke für finanzielle Risiken gerade. Mit über 1 Million Besuchern (ob diese Zahl wohl je erreicht wird?) soll sich die Sache selbst tragen; bei freiem Zugang (Konzert-Eintritte kosten aber kräftig) rund um die Uhr. Gewinn bringen soll ein Verzehr von etwa 30 DM pro Kopf. Dann zahlt man für Bier oder Saft also 10 DM? Nein, gerade mal 3 DM. Höchst rätselhaft.

Der weltbekannte Ausstellungsmacher Harald Szeemann (documenta, Biennale in Venedig), nicht mehr mit der „art open“ befaßt, war gestern gleichwohl zugegen. Vieles, so Szeemann, mißfalle ihm an der Schau. Doch Liedtke selbst, der ein mutiges Durcheinander angestiftet habe, sei das eigentliche Kunstwerk; seine „Spinner-Potenz“ gehöre in ein „Museum der Obsessionen“. Da sagt’s mal einer.




Immerzu Krieg mit Pausen – Günter Grass zieht in seinem neuen Buch „Mein Jahrhundert“ Bilanz

Von Bernd Berke

Alle ziehen Bilanz, auch Günter Grass. Im letzten von 100 Texten seines Buchs „Mein Jahrhundert“ läßt er seine verstorbene Mutter auferstehen. Und also redet sie 1999: „Nun aber soll ich erzählen, wie es früher gewesen ist. Sag ich ja, Krieg war, immerzu Krieg mit Pausen dazwischen“.

Jedem Jahr des verfließenden Jahrhunderts ist im „neuen Grass“ ein kurzer Text gewidmet. Nach der Lektüre muß man glauben, dies sei in seinen Untiefen vor allem eine deutsche Epoche gewesen. Nur sporadisch schweift der Blick über die Grenzen.

Die schlimmen Zeiten beginnen gleich anno 1900, als ein bayerisches Regiment auf Kaisers Befehl ausrückt, um den Boxeraufstand in China niederzuschlagen. Als Wegmarken folgen die Weltkriege mitsamt allen Vor- und Nachwehen, mit Massenarbeitslosigkeit, Inflation, militärischer wie mentaler Aufrüstung und späteren Prozessen gegen Kriegsverbrecher, aber auch allfälligen „Kameradschaftstreffen“. Vergangenheit, die nicht vergehen will.. .

Der Erzähler ist allgegenwärtig

Grass schlüpft in allerlei Rollenprosa, mischt Fakten und Fiktion. Als allgegenwärtiger Erzähler versetzter sich in Akteure der jeweiligen Zeit hinein, bringt sich aber auch gelegentlich selbst ins historische Spiel: z. B. 1953 als Zaungast des Ostberliner Arbeiteraufstands, 1959 just als Autor der „Blechtrommel“, 1965 als SPD-Wahltrommler.

Historische Stichproben: Grass leiht seine Stimme einem Mann aus der Menge, der 1908 als Kind die flammenden Reden des Sozialisten Karl Liebknecht gehört hat. 1910 denkt eine Frau aus dem Ruhrgebiet über die Krupp-Kanone „Dicke Berta“ nach, bevor 1911 der Kaiser von einer kampfkräftigen Flotte träumt. 1933 spricht ein liberaler Galerist, der Max Liebermanns Ekel vor dem NS-Staat beschreibt.

Ernst Jünger redet mit Remarque

1937 erscheint Grass selbst als kleiner Junge, der auf dem Schulhof den Sieg des Faschisten Franco im Spanischen Bürgerkrieg nachspielt. 1946 äußert sich eine „Trümmerfrau“, 1955 will ein Häuslebauer ein Atombunker-Loch im Garten graben und stürzt hinein. 1962 hören wir jenen Glaser, der den Angeklagtenstand für den Eichmann-Prozeß gebaut hat. 1989 wirken Szenen der Maueröffnung im TV auf einen Ostberliner wie ein Kalte-Krieger-Film, 1997 bekommt das geklonte Schaf „Dolly“ seinen Auftritt.

Grass hat einige Phasen des Jahrhunderts nicht Jahr für Jahr abgehandelt, sondern als verklammerte Fortsetzungsgeschichten. So läßt er Ernst Jünger und seinen politischen Gegenpart Erich Maria Remarque über den ganzen Ersten Weltkrieg plaudern, das Inferno des Zweiten Weltkriegs wird aus der verzerrten Perspektive eines Treffs früherer Frontberichterstatter ins Auge gefaßt.

Die Konstruktion schimmert durch

Detail-Recherchen ließ Grass von einem jungen Historiker erledigen, und offenbar hatte er die Zeittafel immer bei sich, so umständlich fügt er dies und jenes ein. Das Gerüst der Konstruktionen scheint häufig durch. Über weite Strecken liest sich das alles wie braver Schulfunk, wie ein geschichtliches Ratespiel. Elan ist kaum zu spüren.

Grass fordert den Leser nicht allzu sehr. Nach ein Paar Absätzen ist die Aufgabe jeweils umrissen. Sodann wird die Sache mit Anstand, aber ohne sonderlichen literarischen „Überschuß“ fortgeführt. Etliche erfundene Zeitzeugen scheinen dem Kern der Verhältnisse nicht näher zu kommen als ein distanzierter Beobachter.

Im Steinbruch der Geschichte

Erstaunlich unaufwendig und schmucklos kommt die Sprache daher. Fundstücke, die einen Zeitabschnitt auf den Begriff brächten, sind selten. Auch Grass‘ Aquarelle, einer Sonderausgabe beigegeben, illustrieren die Sachverhalte und Gefühlslagen nur.

Grass entwirft kein großmächtiges Panorama des Jahrhunderts, sondern ein hie und da schimmerndes Kaleidoskop ohne vorschnelle Gewißheiten. Durch Kreuz- und Querbezüge, wie etwa jene mehrfach aufgegriffene Geschichte martialischer Kopfbedeckungen (Pickelhaube, Lederkappe, Stahlhelm) gewinnt die Erzählung zuweilen etwas tieferen Atem. Doch insgesamt erleben wir ein ziemlich mühevolles „Abarbeiten“ im Steinbruch der Geschichte.

Günter Grass: „Mein Jahrhundert“. Steidl Verlag. 384 Seiten, 48 DM / Ausgabe mit Aquarellen des Autors: 416 Seiten Großformat, 98 DM (beide ab 10. Juli im Buchhandel)




Warnung vor dem Ungeist – Gerhard Schneiders Olper Sammlung mit Bildern verfemter Künstler der NS-Zeit

Von Bernd Berke

Olpe. Gerhard Schneider hat eine höchst ehrenwerte Passion: Seit rund 15 Jahren sammelt er Bilder, deren Urheber zur NS-Zeit als „entartet“ verfemt und seither vielfach vergessen wurden.

„Ich will diese Künstler nicht zu großen Heroen stilisieren, aber man muß ihnen ein würdiges Andenken bewahren“, sagt der ehemalige Lehrer, der heute in Olpe-Rhode lebt. Jetzt zeigt er abermals eine Auswahl seiner Kollektion beim Olper Kunstverein Südsauerland. Seit 1992, als man dort den ersten Querschnitt aus Schneiders Depot präsentierte, ist die Sammlung schon wieder um ein Mehrfaches angewachsen.

Leitlinie ist die „expressive Gegenständlichkeit“, doch die rund 80 Werke könnten verschiedener kaum sein. Das weite Themenspektrum reicht von lieblichen Landschaften und arglosen Porträts bis hin zu Mahnungen vor wachsendem Ungeist und zur erschütternden Darstellung von KZ-Greueln.

Gar manches, aber nicht alles lohnt unter rein künstlerischen Gesichtspunkten eine Wiederentdeckung. Wichtiger sind zuweilen die Schicksale der Bilder und der Künstler: Auf der Rückseite einer Arbeit prangt noch ein Erlaß Hitlers, der die Beschlagnahme anordnete…

Die meisten blieben „namenlos“

Die meisten Künstler sind „namenlos“, doch ein paar prominentere sind vertreten: George Grosz schuf 1933 das bittere Bild „Der Held“. Es zeigt einen Kriegsinvaliden mit Krücke. Otto Pankoks Porträt einer Zigeunerin („Hoto II“) wurde 1937 von den Nazis in der Schandausstellung „Entartete Kunst“ dem Hohn .preisgegeben.

Hans Grundig zeichnete 1938 eine Rotte jaulender Hunde, die gleichsam die ganze Weltklage gen Himmel senden. Der Dortmunder Hans Tombrock ließ einen Dämon über einer düsteren Menschenmasse erscheinen.

Gerhard Schneider befaßte sich anfangs mit alten Stichen à la Merian. Eines Tages sah er Valentin Nagels „Frau mit Schleife im Haar“. Sie faszinierte ihn so, daß er seine Sammeltätigkeit völlig anders ausrichtete – auf die Verfemten; ganz gleich, ob sie im Exil oder in der „inneren Emigration“ tätig waren.

Längst gilt Schneider bundesweit als Fachmann. So erscheint in Kürze im Wienand-Verlag ein fast 500 Seiten starker Bildband über seine Sammlung.

Kunstverein Südsauerland. Großer Saal im Kreishaus Olpe, Westfälische Str. / Vom 4. Juli bis 8. August, So bis Fr 15.30 bis 18.30 Uhr.




Wenn Rubens dem Voodoo-Kult begegnet – Wirre Pläne zu einer „Weltkunstschau“ in den Essener Messehallen

Von Bernd Berke

Essen. Vollmundiger kann man eine Schau nicht ankündigen: Die „spektakulärsten Ausstellungsräume der Welt“ würden sich ab 10. Juli in fünf Essener Messehallen für eine „kulturelle Revolution“ auftun, und zwar 24 Stunden am Tag bei freiem Eintritt.

„Erstmals“, so tönen die Veranstalter weiter, werde man bei diesem „Event“ die Entwicklung der Kunst wirklich verstehen können. Das klingt so merkwürdig wie so manches am Projekt „art open“.

Die wahrhaft simple Formel, die uns zum Verständnis aller Künste führen, ja sogar „jede Idee erklären“ soll, lautet so: „Leben (Bekanntes) + Bewußtseinserweiterung (Innovation) = Kunst“.

Aha! So einfach ist das also. Ersonnen wurde die Wunderformel vom gebürtigen Essener Dieter Walter Liedtke (54), der auf Mallorca ein kleines Museum mit Selbstgemaltem betreibt, bisher aber vor allem durch die Erfindung eines „luftgepolsterten Turnschuhs“ auffiel, was nicht unbedingt als Qualifikation für die Weltspitze der Kunst taugt.

Ungenannte „Originalwerke“

Liedtke („Alles ist Kunst“) will sich in Essen bei seiner „Weltkunstausstellung“ nicht lumpen lassen. Hier ist nur Platz für eine kleine Auswahl aus dem bisherigen Wust marktschreierischer Pressemitteilungen: angebliche „Originalkunstwerke“ von Rubens, Picasso, Dalí, Beuys und vielen anderen (wobei bisher kein einziges Werk benannt wird); eine Schau über die Steinzeit; dazu die (natürlich) „europaweit erste“ Ausstellung zum Voodoo-Kult. Rubens und Voodoo – welch eine aparte Kombination!

Doch damit längst nicht genug im Gemischtwarenladen: Talkshows („Werden wir alle zu Genies?“), Filme, Konzerte von Klassik bis Techno, die bisher nicht so arg vermißte „Weltpremiere“ des Ex-Scorpion Hermann Rarebell mit seinem „Monte Carlo Pop Orchester“ und viel anderes Zeug füllen die Programmpläne.

Erleuchtung wie in einer Sekte

Dafür bürgt als Regisseur ein gewisser Vladimir Egorov, „am 25. Juni 1953 im Ural geboren“ und Absolvent der Moskauer Zirkusschule. Der gut Mann wird so zitiert, als habe er bei einer Sekte den Weg der Erleuchtung beschritten: „Als ich von der ,art open‘ hörte, fand ich meinen Lebensinhalt in Liedtkes Kunstformel wieder.“

Wahrhaft erstaunlich: Ruhrgebiets-Kunsttalente sollen ebenso präsentiert werden wie nicht weniger als 2000 (!) internationale Künstler, die vorführen sollen, warum diese Erde liebenswert ist. Namen? Fehlanzeige. Schließlich sollen die Besucher (man rechnet ganz locker mit einer Million bis zum 8. August – aber haben Sie schon mal ein einziges „art open“-Plakat gesehen?) ihren röhrenden Hirsch gegen wahre Kunst tauschen oder im Wettstreit auf allen möglichen Gebieten selbst kreativ werden, z. B. indem sie aus abgeschnittenen Haaren Bilder und Skulpturen zaubern. Gipfel: Eine Massenhochzeit „in vier Religionen“ soll die „spirituelle“ Bedeutung der Heirat beweisen. Ganz klar: Auch die Ehe ist ein Kunstwerk.

24 Stunden am Tag – alles kostenlos?

Überdies gehen die Veranstalter mit hochkarätiger Schirmherrschaft hausieren. Spaniens Königin Sofia soll ebenso eingewilligt haben wie Michail Gorbatschow und Norbert Blüm. Der hat sich darauf eingelassen, weil er sich mit Sofia und „Gorbi“ in bester Gesellschaft wähnte. Auch der Name Harald Szeemanns, des hochrenommierten documenta- und Biennale-Machers, ziert noch die „art open“-Werbung. Doch Szeemann soll seine Zusage als Ausstellungsleiter des Bereichs Bildende Kunst bereits zurückgezogen haben. Falls es so ist, war er wohl gut beraten.

Die Messe Essen, die die Inhalte der Schau lieber nicht kommentieren mag, teilt unterdessen mit, daß laut Ordnungsamt eine 24stündige Öffnungszeit auf keinen Fall in Frage komme. Gleichwohl wird noch damit geworben. Man stelle sich vor: Versicherungssummen, Wachdienst rund um die Uhr, Anmietung der Messehallen samt Freigelände – das kostet enorm. Und dies alles bei freiem Eintritt? Man wird sehen. Und man darf zweifeln.