Goethe zum Schmökern und Staunen – eine Bücherschau zum 250. Geburtstag des Dichters

Von Bernd Berke

„Rätin, er lebt!“ soll seine Großmutter erleichtert der Mutter zugerufen haben, als er endlich den ersten Schrei tat. „Mehr Licht!“ hat er angeblich selbst geflüstert, als er 1832 starb. Sozusagen zwischen den beiden Momenten verfasste er seine allzeit, aber immer wieder anders gültigen Klassiker vom „Werther“ bis zum „Faust“. Die WR hat einen stattlichen Stapel neuer Bücher über Goethe gesichtet.

Der muntere Knabe guckt oben aus dem Fenster. Doch was tut er denn da? Lachend wirft er Tassen und Teller aufs Straßenpflaster. Klirr! Drunten stehen Leute und feuern ihn an: «Mehr! Mehr!“ Das schöne Familien-Geschirr…

Die Szene, die Goethe selbst in seinen Lebenserinnerungen „Dichtung und Wahrheit“ beschreibt, trug sich in seiner Vaterstadt Frankfurt am Main zu – und kann jetzt auch im Comic-Strip betrachtet werden. Das Leben des Dichterfürsten in bunten Bildchen mit Sprechblasen? Ja, wenn es der Leseförderung dient. Das Goethe-Institut und die Stiftung Lesen haben sich in die Edition eingeklinkt. Folglich tauchen keine Kürzel wie „Ächz“ oder „Sabber“ auf, sondern vornehmlich edle Originaltexte des Olympiers („Zum Sehen geboren“ / „Zum Schauen bestellt“, Ehapa Verlag, 2 Bände, je 52 Seiten, je 19,80 DM).

Mit „Goethe – Sein Leben in Bildern und Texten“ (Insel Verlag, 414 S. Großformat, 39,80 DM) kann man visuell in die damalige Ära eintauchen: So also hat Goethes Puppentheater ausgesehen, so sein Geburtshaus und so die Stadt Frankfurt zur fraglichen Zeit.

Zwei weitere Bildbände widmen sich dem Zeichner und Kunstkenner. Erstaunlich preiswert: „Goethe und die Kunst“ (Hatje, 644 S., 49,80 DM). Hier werden auch Themen wie „Wolkenstudien der Goethezeit“ aufgegriffen. Und man lernt, dass Goethe wichtige Künstler seiner Zeit wie Turner oder Goya praktisch ignoriert hat. Er war eben auch nur ein Mensch. Freilich einer, der fleißig zeichnete und von dem 2700 Blätter erhalten sind. Etliche stellt das Buch „Goethe. Der Zeichner und Maler“ (Callwey, 208 S., 99,90 DM) vor. Stets spürbar: die Freude am prallen Blühen der Natur.

„Goethes äußere Erscheinung“ (Insel-Taschenbuch. 200 S., 27,80 DM) besteht aus vielen Goethe-Porträts und Eindrücken der Zeitgenossen. So schrieb der Mime Wilhelm Iffland: Goethe hat einen Adlerblick, der nicht zu ertragen ist.“ Und Freund Friedrich Schiller bemerkte: „Er ist von mittlerer Größe, trägt sich steif und geht auch so; sein Gesicht ist verschlossen, aber sein Auge sehr ausdrucksvoll.. .“

Viele wollen Goethe ans Leder. So wurde ausgerechnet der so oft in weibliche Wesen Vernarrte als schwul „geoutet“, als Rabenvater oder politischer Reaktionär gebrandmarkt. Hier setzt auch dieses Buch an: W. Daniel Wilson „Das Goethe-Tabu“ (dtv, 414 S., 24,90 DM),

Wilson möchte partout beweisen, dass Goethe als Geheimrat in Weimar ein perfides Spitzelsystem aufgebaut habe, welches sich nicht nur gegen Studenten, sondern auch gegen Autorenkollegen wie Herder und Fichte gerichtet habe. Zudem habe er gnadenlos junge Burschen als Soldaten außer Landes verkauft. Just das Gegenteil liest Ekkehart Krippendorf aus den Quellen heraus: In „Goethe. Politik gegen den Zeitgeist“ (Insel. 232 S., 44 DM) würdigt er den Dichter als Förderer der Toleranz und der Abrüstungspolitik.

Federn lässt der Mythos des Dichters wiederum im Roman von Hugo Schultz: „Goethes Mord. Der Seelenmord an J. M. R. Lenz“ (Edition Isele, Eggingen. 441 S, 44 DM). Hier wird ein Verhalten beleuchtet, das Goethe nicht gerade sympathisch macht. Kaum einen seiner Zeitgenossen ließ er neben sich gelten. Besagten Dichter Lenz hat er ebenso kühl abblitzen lassen wie Heinrich Heine, Heinrich von Kleist oder Jean Paul – wahrlich keine zweitklassigen Schreiberlinge.

Ein wenig ins andere Extrem verfällt Gertrud Fussenegger in „Goethe – Sein Leben für Kinder erzählt (Lentz-Verlag/Herbig, München. 224 S., 24.90 DM). Hier ist sozusagen jede Zeile von Dankbarkeit erfüllt. Aber der Text klingt durchaus kindgerecht und gaukelt kein Wissen vor, das wir Heutigen nicht haben können. Der historische Abstand wird nicht verkleistert, sondern mit Würde gewahrt.

„Hat er, oder hat er nicht – und wann mit welcher?“

Wer sich ausgiebig mit Dichters Erdenwallen befassen will, greift vielleicht zu den Wälzern von Nicholas Boyle: „Goethe“ (Verlag C. H. Beck. Band 1: 1749-1790. 884 S., 78 DM / Band 2: 1790-1803, 1115 S., 88 DM). Der Brite geht wirklich in die Einzelheiten. Einen dritten Band ähnlichen Kalibers will er noch nachreichen. Bemerkenswert übrigens, dass Sigrid Damm: „Christiane und Goethe“ (Insel, 49,80 DM), eine intensive biographische Erkundung über Goethe und seine Frau Christiane Vulpius, seit Wochen die Sachbuch-Bestsellerliste anführt.

Falls man es lieber knapp und alphabetisch sortiert mag, erwirbt man das „Taschenlexikon Goethe“ (Piper, 316 S., 16,90 DM). Der Text gibt sich flockig. Unter dem Stichwort „Frauen“ erhebt sich die Frage: „Hat er, oder hat er nicht – und wann mit welcher?“ Hehe!

Nähern wir uns den Texten des Meisters selbst: „Verweile doch“ (Insel, 512 S.. 39.80 DM) heißt eine Auswahl von 111 Goethe-Gedichten mit Interpretationen. Ausgerechnet Marcel Reich-Ranicki knöpft sich Goethes berühmte Kritikerschelte vor… „Schlagt ihn tot, den Hund! Es ist ein Rezensent“. Reich-Ranickis bezeichnender Befund: Das sei Volksverhetzung…

Dass auch Genies nicht immer auf einsamer Höhe stehen, lässt die schmale Kollektion „Goethes schlechteste Gedichte“ (Residenz-Verlag, 95 S., 19.80 DM) ahnen. Die Herausgeber haben hier vor allem auf‘ Gelegenheitslyrik (zu Geburtstagen, Jubiläen usw.) zurückgegriffen, die Goethe nebenbei aus dem Handgelenk schüttelte. Kostprobe: „Die Welt ist ein Sardellen-Salat / Er schmeckt uns früh, er schmeckt uns spat“. Nun ja. Gemein ist’s, solche lässlichen Sünden zu sammeln.

Ungleich ernsthafter gehen die Herausgeber der auf 40 Bände angelegten Gesamtausgabe vor. Soeben erschienen: „Goethes ästhetische Schriften 1816-20. Über Kunst und Altertum 1-11″ (Deutscher Klassiker Verlag. 1622 S., 198 DM). Titel und Preis lassen ahnen, dass wir es hier mit einem Monument penibler Germanistik zu tun haben. Die Erläuterungen beginnen bereits auf Seite 617, umfassen also rund 1000 Seiten und erdrücken Goethes Worte nahezu.

Auf Reisen war meistens ein Diener dabei

Eigentlich unglaublich: Für 99,90 DM kann man 22 Bände Goethe („Berliner Ausgabe“) nebst wichtigen Briefen, den Gesprächen mit seinem Vertrauten Eckermann und 120 Artikel aus dem Goethe-Handbuch erwerben. Allerdings nicht zum gemütlichen Schmökern, denn es handelt sich um einen Daten-Silberling für den Computer. Mit Suchfunktionen kann man z. B. herausfinden, an welchen Stellen Goethe etwa Worte wie „Liebe“ oder „Italien“ verwendet hat. Um den elektronischen Kraftakt „Goethe – Zeit, Leben, Werk“ (CD-Rom, 99,90 DM) mit Textmassen, Bildern und Tönen zu bestehen, haben sich die Verlage Metzler, Aufbau und Schroedel mit dem Südwestrundfunk (SWR) und der Stiftung Weimarer Klassik vereint.

Goethe unterwegs, Goethe als Feinschmecker – auf dem Buchmarkt gibt’s alles: „Goethe auf Reisen“ (Weltbild, 144 S., 39,90 DM) verknüpft den historischen Rückblick mit Reisetipps für heute. Goethes Touren waren weit beschwerlicher als unsere, er hatte aber meist einen Diener dabei.

Goethe war also ein Genießer, der sich manche Mühsal abnehmen lassen konnte. „Zu Gast bei Goethe“ (Wilh. Heyne Verlag, 215 S., 68DM) fuhrt uns an den Tisch des Lukullikers, der „Welsches Huhn mit Trüffeln“ oder  „Leipziger Allerlei mit Krebsen“ verzehrte. 40 Rezepte aus der Weimarer Hofküche kann man nachbrutzeln.

Der Dichter hasste Hunde und Raucher

Zum Schluss zwei besonders originelle Bücher. „Goethes merkwürdige Wörter“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 216 S., 58 DM) macht anhand von über 1000 Begriffen bewusst, wie weit wir uns sprachlich von Goethes Epoche entfernt haben. Der Blumenliebhaber hieß bei ihm noch „Blumist“, für Pedanterie schrieb er „Kahlmäuserei“. Sagte er „Geilheit“, meinte er Übermut und „Dreistigkeit“ bedeutete ihm Zuversicht. Ein gar schönes Museum der deutschen Sprache.

Angriffslustig gehen Oliver Maria Schmidt und J. W. Jonas in „Gute Güte, Göthe!“(Haffmans-Verlag, 220 S., 24 DM) zu Werke. Unter der Überschrift „bebende Bärte“ werden Goethe-Deuter der verflossenen Jahrhunderte dem Gelächter preisgegeben: lauter salbungsvolle Rechthaber und Erbsenzähler der komischsten Sorte. Welch eine herrliche Realsatire zur Wirkungsgeschichte Goethes!

Schmunzelnd lernen wir hier auch Goethes Abneigungen kennen: Der leidenschaftliche Weintrinker hasste Hunde, Raucher, Brillen, Lärm, Sauerkraut und das „Zerknaupeln“ (Kneten) von Kerzenwachs. Außerdem gab er geliehene Bücher nie zurück. Dem Haffmans-Band entnehmen wir das passende Schlusswort, ein Zitat von Walter Benjamin aus dem Jahr 1932 (100. Todestag Goethes): „Jedes in diesem Jahr über Goethe eingesparte Wort ist ein Segen“. Schon gut. Wir schweigen.

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Der Text stand am 28. August 1999 in der Wochenendbeilage der Westfälischen Rundschau.




Die neuen Zeichen am Himmel – Überblick zum Spätwerk von Joan Miró in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Sonnenfinsternis hätten wir nun also recht glücklich hinter uns gebracht. Doch halt! Schon gibt es neue Himmelszeichen. Sogar ein völlig verfinstertes Zentralgestirn, aus dem dunkle Tropfen herabfallen, gibt es nun im Museum am Ostwall zu sehen. Es gehört – man glaubt es kaum – zu einer „schwarzen Serie“ von jenem Joan Miró, dessen Werke uns doch stets so froh und bunt erschienen sind. In Dortmund aber will man uns eben den „anderen Miró“ zeigen.

Die rund 60 Gemälde, 23 Skulpturen und 40 Grafiken, die in Dortmund präsentiert werden, stammen aus den Jahren 1966 bis 1981. Es geht also um das Spätwerk des 1893 in Barcelona geborenen und 1983 in Palma de Mallorca gestorbenen Künstlers. In dieser Dichte und Breite war das Altersschaffen in Deutschland bislang nicht zu sehen.

Lust auf „Mord an der Malerei“

Miró vollzog einen teilweise entschiedenen Bruch mit jenen liebenswerten Bildern, die zahllose Kalenderblätter oder auch T-Shirts zieren und die man sich (mal ehrlich!) schon ein wenig leidgesehen hat. Wecken sie auch vielfach freudige Gefühle, so hätte man’s doch gern auch mal etwas heftiger, sperriger. Das kann man haben. Jetzt in Dortmund.

Schon in den 30er Jahren war Miró, der die Ländereien des Kubismus und des Surrealismus durchschritten hatte, die Arbeit an der Staffelei zur Qual geworden. Am liebsten hätte er „die Malerei ermorden“ wollen. Ein Grund für die Wut war wohl auch die ärmliche Enge seiner Wohnung in Paris. Ein großes Atelier mußte her, dann konnte man vielleicht endlich aufatmen und von vorn beginnen…

Miró fand sein ersehntes Refugium 1954 auf Mallorca, damals noch eine ruhige, von Touristenmassen verschonte Insel ohne scheußlichen „Ballermann“. Statt dessen gab’s dort noch 77 Kürbissorten.

Erotik als Quelle des Schöpferischen

1956 ließ sich der Katalane auf Mallorca ein geräumiges Atelier nach seinen Wünschen errichten. So groß war es geraten, daß den Künstler anfangs eine Angst vor gähnender Leere befallen haben muss. Er hortete nun allerlei Fundstücke – rostige Nägel, leere Dosen, interessant geformte Steine. Hinzu kommen einfache Bildträger wie Sackleinen oder billiges Holz. Eine Kunst, die nicht stolz triumphiert, sondern so wirkt, als wolle sie wieder am Nullpunkt anfangen.

Manche der vorgefundenen Objekte wurden hernach Bestandteile von Bronze-Skulpturen. Ein Hammer, an passender Stelle eingefügt in eine Figur („Personnage“, 1971), kann auf diese Art auch schon mal obszön wirken.

Überhaupt finden sich in der Dortmunder Schau etliche Beispiele für die erotische und somit schöpferische Anverwandlung der Welt. Sexualität ist ein reich sprudelnder Quell dieser schwebenden, kreisenden, gärenden, pulsierenden, sich gleichsam unaufhörlich selbst gebärenden Symbolsprache Mirós, die der Musik so eng verwandt ist, wie es Malerei nur sein kann.

Ein zweiter Born sind eben jene kosmisch inspirierten Zeichen, von denen anfangs die Rede war. Diese sozusagen planetarische Traumwelt wird bevölkert und durchhuscht von vielerlei irrlichternden Gestalten. Da die meisten Bilder keinen Titel tragen, sind der Phantasie kaum Grenzen gesetzt. Kichernde Kobolde treiben da ihr Wesen, aber auch bedrohliche Phantome.

Den Moment des Schocks einfrieren

Von „Schocks“, die seine Produktion anregten, hat Joan Miró einmal gesprochen. Solche Anstöße konnten von allem ausgehen; von einem rasenden Auto oder einem Staubkorn. Bisweilen, so zeigt die (von Tayfun Belgin aus den Beständen der Miró-Stiftung auf Mallorca nach Belieben getroffene) Dortmunder Auswahl, bleiben diese Schocks im Spätwerk geradezu brutal präsent. Ganz so, als habe der Künstler den Schreck des allerersten Augenblicks bewahrt und eingefroren.

Selbst in der eher lieblich angelegten Serie „Allegro vivace“ gibt es ein Bild mit dem Titel „Der Raub“. Eine andere Arbeit heißt „Rette sich, wer kann“, und eine bebend „Eifersüchtige“ scheint vor lauter Leid explodieren zu wollen.

Wohlig umsonnte Altersmilde zeigt sich hier kaum, sondern Furcht und Schrecken treten oft fratzenhaft hervor. Oder auch der schiere Zorn, woher auch immer rührend. Wenn es dann einmal heiterer zugeht, kann man sich doppelt darüber freuen. Weil es der Finsternis abgerungen ist.

14. August bis 14. November. Museum am Ostwall, Dortmund. Eintritt 13 DM, Katalog 45 DM.




Die Welt wird zur Falle – Der geniale Filmregisseur Alfred Hitchcock wurde vor 100 Jahren geboren

Von Bernd Berke

Lange Sequenzen, ja ganze Filme von Alfred Hitchcock spielen auf engstem Raum – auf einem kleinen Boot, in einem einzigen Zimmer. Hier kann sich die Angst ganz dicht an die Figuren drängen, sie allseits umfangen. Auch für die Kino-Zuschauer gibt es kein Entrinnen vor der Spannung. Hitchcock, morgen vor hundert Jahren geboren, hat die menschlichen Abgründe zutiefst ausgelotet.

Der räumlichen Reduzierung entspricht in seinen Filmen oft die körperliche Fragmentierung. So sind, besonders im mörderischen Moment, Täter wie Opfer nur in Partikeln zu sehen – zitternde Hand, starrer Hals, geweitetes Auge. Am berühmtesten wurden die atemlos und klingenscharf gegeneinander gesetzten Schnitte in der Duschszene von „Psycho“. Wahrscheinlich hat Hitchcocks Frau, die Cutterin und Drehbuchautorin Alma Reville, hier ihren Einfluss ausgeübt. Die Szene weckt jedenfalls so archaische Ängste wie etwa die ganz allmählich sich zu ungeheurer Dunkelheit ansammelnde Bedrohung durch „Die Vögel“.

Sexuelle Obsessionen

Der streng katholisch erzogene Hitchcbck, der äußerlich so harmlos, so schnubbelig-wabbelig wirkte, dürfte in seinem Werk auch verborgene sexuelle Obsessionen verarbeitet haben. „Das Fenster zum Hof“ handelt natürlich vom Voyeurismus. Der Meister selbst brachte ausdrücklich „Vertigo“ mit Nekrophilie und „Marnie“ mit Fetischismus in Verbindung. Zudem treibt Hitchcock mit Vorliebe Blondinen (Grace Kelly, Ingrid Bergman, Kim Novak, Tippi Hedren, sogar die biedere Doris Day) als Opfer durch alle Schluchten des Schreckens.

Freilich kommen sexuell aufgeladene Themen (auch wegen der damals rigiden Zensur) stets raffiniert verhüllt und unterschwellig zur eminent filmischen Sprache, die meist auch ohne Tonspur aussagekräftig bliebe. Gerade deshalb wirken die Szenen umso wuchtiger nach, zumal Hitchcock keine entlastende „Moral der Geschichte“ liefert.

Erschütterung der Identität

Nachhaltige Erschütterung der Identität ist ein weiteres Gravitationszentrum. Vielfach werden Menschen verwechselt und geraten unversehens in den Teufelskreis von Schuld und Sühne. Niemand ist, was er zu sein vorgibt, die Welt wird zum Hinterhalt, zur Falle. Der eigene Ehemann scheint – wie Cary Grant in „Verdacht“ – mörderische Absichten zu haben, doch auch das ist nicht gewiss. Es bleibt lange in der Schwebe.

Zwei Begriffe gingen dank Hitchcock in die Cineasten-Sprache ein: Suspense und MacGuffin. Beispiel für Suspense: Jemand trägt unwissentlich eine Bombe bei sich. Bei Hitchcock weiß das Publikum immer mehr als der Held, nämlich dass und wann die Ladung explodieren wird. Derweil bewegt sich die Figur völlig ahnungslos und redet belangloses Zeug. Daraus erwächst eine schier unerträgliche Dehnung der Zeit. Bis heute spricht man, wenn etwa ein Fußballspiel auf Messers Schneide steht, vom Krimi à la Hitchcock.

MacGuffins sind jene unscheinbaren, oft mit hinterhältigem Humor eingeschleusten Vorwände, die eine Geschichte anstoßen und später gar keine Rolle mehr spielen. In „Psycho“ stiehlt Janet Leigh anfangs ihrem Chef 40.000 Dollar, die hernach völlig unwichtig und quasi nebenher „entsorgt“ werden.

Die Franzosen huldigten ihm

Bis dahin eher als ordentlicher, kommerziell erfolgreicher Filmhandwerker gewertet, wurde Hitchcock seit Ende der 50er Jahre recht eigentlich erst von den französischen Filmemachem der „Nouvelle vague“ entdeckt. Eric Rohmer, Claude Chabrol, Jacques Rivette und François Truffaut huldigten dem Briten. Truffaut, dessen vielstündige Interviews unter dem Titel „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ zum filmkundlichen Wegweiser wurden, hat gelegentlich Kamerapositionen und Schnittfolgen seines Idols detailliert nachgeahmt.

Truffaut, der oft zur eigenen Inspiration tagelang Hitchcock-Filme angeschaut hat, stellte ihn neben die Allergrößten: Hitchcoçk sei ein genialer „Künstler der Angst“ in der Nachfolge eines Edgar Allan Poe oder Franz Kafka. Und weiter: „Ihre Mission ist es, uns an ihren Ängsten teilhaben zu lassen. Dadurch helfen sie uns, uns besser zu verstehen“.




Der Mensch ist dem Menschen ein Rätsel – Claude Chabrols Film „Die Farbe der Lüge“

Von Bernd Berke

Im Wald liegt die Leiche der zehnjährigen Eloise. Das Mädchen ist erwürgt worden. Kurz vor ihrem Tod hat sie einen Zeichenkursus besucht. Kein Wunder, dass die Kommissarin zuerst den Lehrer verdächtigt.

So geradlinig beginnt Claude Chabrols „Die Farbe der Lüge“, doch dabei bleibt es nicht. Der Altmeister aus Frankreich verstrickt seine Figuren (und die Zuschauer) in ein dichtes, bald kaum noch durchschaubares Gespinst der Verstellungen.

Lügen, so erfahren wir bei dieser faszinierend kühlen filmischen Feldforschung in der bretonischen Provinz, können Menschen auf verschiedenste Art; etwa, indem sie wortreich die Wahrheit umkurven, indem sie das Wesentliche verschweigen – oder durch bewusste Maskierung ihrer wirklichen Absichten. Ja, nicht einmal Offenheit hilft weiter: „Wenn man sagt, was man denkt, ist es auch nicht die Wahrheit. Das wäre zu einfach“, heißt es einmal.

Eine Kommissarin aus dem Nirgendwo

Die Lüge ist hier so allgemein wie ein unentrinnbares Element, das durch alle Beteiligten hindurchflutet. Besagter Zeichenlehrer René (Jacques Gamblin) lebt mit Viviane (unaufdringlich präsent wie stets: Sandrine Bonnaire) zusammen. Spürbar wird die Kraft, die die beiden gegen alle Widrigkeiten verbindet. Doch im Grunde sind sie füreinander ebenso undurchschaubar wie alle anderen Personen: Der Mensch ist dem Menschen ein Rätsel, und das Leben erweist sich als Abfolge bloßer Mutmaßungen – ganz wie die Ermittlungen zum Kriminalfall.

René, ohnehin in einer künstlerischen Schaffenskrise, knickt unter dem ungeheuren Mordverdacht seelisch ein. Die Eltern melden nach und nach ihre Kinder aus seinem Kursus ab. Man weiß ja nie…

Folgenlos rauschende Fernsehbilder, wabernder Nebel

Um sich nicht vollends in Renés Depression hineinziehen zu lassen, lenkt sich Viviane ein wenig, aber nicht sexuell mit Desmot (Antoine de Caunes) ab. Dieser bisweilen lachhaft eingebildete Schriftsteller, charmanter Schwadroneur mit häufigen TV-Auftritten und Frauengeschichten, will sich auch schon mal mit gefälschten Zitaten wichtig machen. Zudem ist er, wie sich später herausstellt, offenbar an einem Handel mit gestohlenen Kunstwerken beteiligt.

Optische Entsprechungen solcher Ungewißheit sind jene folgenlos vorbeirauschenden Fernsehbilder, vor denen die Figuren vielfach mit starrem Blick sitzen; und dieser Nebel, der in schwarzblauer Nacht durch die zerklüftete Küstenlandschaft wabert. Die Kommissarin (Valeria Bruni-Tedeschi) wirkt eigenschaftslos, als sei sie aus dem Nirgendwo hergekommen. Auch sie greift zur Lüge. Die Befragung eines Verdächtigen zeichnet sie mit dem Bandgerät auf, obwohl sie das Gegenteil versprochen hat.

Der Mädchenmord und ein weiterer werden schließlich zwar Tätern zugeordnet, doch nicht wirklich aufgeklärt. Und der Film nimmt mit einem unübersetzbaren Sprach-Anklang am Ende eine Wendung ins nahezu Surreale. René, nunmehr vollends verdüstert, sieht sich selbst schon an der Schwelle zum Totenreich. Viviane, die bis hierher treulich zu ihm hält, ruft mehrfach seinen Namen, und im Französischen hört es sich genau so an wie „renée“ (wiedergeboren). Ist es die Kraft der Liebe, die selbst die Lüge und den Tod überwinden kann?




„Die Ehe – das sind zwei Geschichten“ / Neuer Roman des Büchner-Preisträgers Arnold Stadler

Von Bernd Berke

Figuren in deutschen Romanen haben oft viel Zeit, über sich und ihr Leiden an der Welt nachzudenken. So auch in „Ein hinreissender Schrotthändler“, dem neuen Werk des kürzlich gekürten Büchner-Preisträgers Arnold Stadler. Sein ichschwacher Erzähler, dem kein eigener Name gegeben wird, ist ein mit 45 Jahren früh pensionierter Geschichtslehrer.

Die Ehe dieses Mannes, der mit einer Ärztin liiert ist, tröpfelt sozusagen nur noch dahin. Der Resignierende redet davon, als gehe es um Konjunkturdaten: „… die Ehe war ohnehin eine krisengeschüttelte Branche, die krisengeschüttelte Branche schlechthin…“ Kinder hat man sowieso nicht in die Welt gesetzt. Auch dazu äußert der Enttäuschte seine düstere Meinung: „Für meine Person wollte ich keinen sogenannten Stammhalter. Damit sie nachher auf dem Kindergeburtstag streiten und Krieg spielen und .sich umbringen wollen?“

Fremder Schönling in Trainingshose

Eigentlich kein Wunder, daß Gattin Gabi abtrünnig wird, sobald der Schönling Adrian auftaucht. Wie aus dem Boden gewachsen, steht dieser Asylbewerber eines Tages in seiner Adidas-Hose vor der Tür. Fortan geistert diese Kunstfigur wie ein Phantom durch die Handlung. Gelegentlich würgt er den Hausherrn und verlangt Geld. Trotzdem adoptieren sie ihn. Die einfachste Lösung. So kann er hier bleiben und die Ehefrau beglücken. Man findet sich mit allem ab, denn man ist ja finanziell „saniert“ und fährt seinen Benz. Ein gut wattiertes Unglück also.

Allmählich aber wächst beim Erzähler denn doch ein Gefühl nachhaltiger Entfremdung: „Meine Frau, und ich: das sind zwei Geschichten unter einem Dach, von denen ich nur die eine kenne.“

Anlässlich einer Beerdigung treibt ihn das Weh weg aus dem Wohnort Köln und hin in seine alte, hassgeliebte Hinterwäldler-Heimat, über die er mit seiner Frau (hochnäsige Hamburgerin) nie wirklich hat sprechen können: Kreenheinstetten bei Meßkirch.

Und nun weitet sich der Roman zum eindringlichen, aber gleichwohl köstlich unterhaltsamen Lamento über Kindheits-, Sprach- und Heimatverlust.

„Die Heimat wird immer weniger“ lautet eine Kapitel-Überschrift. In der Tat ist die ehedem hinterletzte, aber anheimelnd gewesene Provinz jetzt durchtränkt mit dem Gift der schnöden Gegenwart. Rosemarie, seine Freundin aus der Zeit kindlicher Doktorspielchen, verdingt sich als Immobilienmaklerin, ihr Mann verhökert japanische Geländewagen. Andauernd zirpen die Handys, und einen Selbsterfahrungs-Workshop für Sexaholics (Sexsüchtige) gibt’s auch schon in Meßkirch, wo einst der Schwergewichtsdenker Martin Heidegger grübelte.

Traurigkeit hinter der Maskerade

Glaubt auch niemand mehr an Gott, so bekommt man hier doch noch eine „Seele“. So heißt die landesübliche Brezel, bei deren Anblick dem Erzähler ganz warm uns Herz wird. Wie sich einst Marcel Proust vom Duft eines Gebäcks zur „Suche nach der verlorenen Zeit“ verleiten ließ, so auch Stadler und sein Antiheld.

Arnold Stadler würzt sein Klagelied mit komischen, schrulligen, abstrusen Details. Stilistisch gibt er sich oft bewusst lässig und streut so manchen Kalauer ein. Für das Lächerliche hochnotpeinlicher Situationen hat er einen besonders wachen Sinn. Kurz und gut: Die Sache liest sich munter ‚runter.

Doch hinter solcher Maskerade springen urplötzlich Traurigkeit, ja Untröstlichkeit hervor, manchmal in unscheinbaren Nebensätzen. Das Leiden am verfehlten Leben wird durch Stadlers Komik um keinen Deut verkleinert, sondern umso greller hervorgetrieben. Und dies ist wirklich eine Kunst.

Arnold Stadler: „Ein hinreissender Schrotthändler“. Roman. DuMont Verlag. 237 Seiten.