Bochumer Frage: War Shakespeare ein Antisemit?

Von Bernd Berke

Bochum. „Regt uns Shakespeare noch auf?“ So heißt heute ein Vertrag in Bochum. Um diese Frage rasch zu beantworten: Gewiss tut er das!

Denn die Festrede der Bochumer Shakespeare-Tage hält diesmal die prominente Autorin Mirjam Pressier („Bitterschokolade“). Sie behauptet in ihrem Buch „Shylocks Töchter“ unumwunden, der weltweit verehrte Dramatiker William Shakespeare sei Antisemit gewesen. Sie will dies anhand seiner Figur Shylock, des jüdischen „Kaufmanns von Venedig“, darlegen; wobei sie zugesteht, dass „Antisemitismus“ hier nicht im Sinne des 20. Jahrhunderts zu verstehen sei, allerdings als höchst problematische Vorform der später manifesten Judenfeindschaft.

Da wird es am morgigen Sonntag (ab 11 Uhr im Schauspielhaus Bochum, 800 Plätze) wohl manchen Unmut geben. Denn in der für alle Interessierten offenen Festversammlung werden viele der rund 300 Tagungsteilnehmer sitzen – und die sind nun einmal mehrheitlich Mitglieder der Deutschen Shakespeare Gesellschaft e. V., welche dem Meister aus Stratford-upon-Avon forschend, aber doch in erster Linie bewundernd nachspürt.

Prof. Dieter Mehl, Präsident der in Weimar ansässigen Shakespeare Gesellschaft, erläutert das Thema der Fachtagung, die sich bis Sonntag hauptsächlich im Museum Bochum abspielt: Es gehe ums „Weiterspinnen shakespeare’scher Ideen und Figuren auf literarischem Felde. Beispiele: Jane Smileys Roman „ 1000 Acres“, der die „König Lear“-Legende aufgreift, und Gertrud Fusseneggers neue Novellen „Shakespeares Töchter“, in denen eine Schwester der berühmten Liebenden Julia zu Wort kommt.

Die Shakespeare Gesellschaft will in Kürze eine Stiftung gründen, um reibungslos Spendengeld einsammeln zu können. Die Vereinigung, der naturgemäß zahlreiche Professoren und Englischlehrer angehören, hat 2260 Mitglieder aus vielen Ländern.

Sogar Engländer blicken mitunter neidvoll aufs Treiben der deutschen Shakespeare-Freunde. Die haben ein Problem weniger als die Briten: Dort ist Shakespeare vielen . Menschen durch übermäßige Schullektüre verleidet worden.

Infos: Tagungsbüro 0234/51 600-30 (Heute 8.30-18 Uhr).




Die Besinnung nach den wilden Zeiten – Ernst Ludwig Kirchners erstaunliches Spätwerk in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Als der Künstler Ernst Ludwig Kirchner 1923 nach Davos kam, war er völlig entkräftet, teilweise gelähmt und drogensüchtig. Die vitalen und manchmal wilden Jahre des Expressionismus in Dresden und Berlin lagen hinter ihm. Nun begab er sich in dauerhafte ärztliche Obhut, suchte in der stilleren Schweiz Ruhe und Besinnung, übte als einzigen Sport das eher meditative Bogenschießen aus.

Derlei Lebens-Wandel musste sich auch aufs bildnerische Schaffen auswirken. Wenn jetzt das Essener Folkwang-Museum Kirchners Schweizer Spätwerk (bis zum Freitod des von den Nazis als „entartet“ Verfemten im Juni 1938) ins Zentrum rückt, so können wir einen anderen Kirchner entdecken, als er uns aus Zeiten der Künstlergruppe „Die Brücke“ vertraut ist.

Der Abgesang auf den Expressionismus hatte sich verbal um 1919 angekündigt. Der endgültige Abschied hatte dann zunächst praktische Gründe: Kirchner ließ sich aus Berlin etliche Bilder nach Davos schicken. Die Leinwände wurden für den Versand gerollt und datbei vielfach beschädigt. Also galt es, sie eigenhändig zu restaurieren. Der selbstkritische Kirchner nahm gleich eine Revision vor.

Beispiel: Das 1910 angefertigte Bild „Eisenbahnüberführung in Dresden-Löbtau“ übermalte Kirchner 1926 derart gründlich, dass es seinen Charakter änderte. Er tilgte den nervös-expressionistischen Gestus und setzte ruhige Flächen, wo vorher fahrige Striche gewesen waren. Das ganze Bild wirkte nun weit weniger spontan, dafür umso klarer und monumentaler. In ähnlicher Weise, glättend und besänftigend, verfuhr er mit weiteren Werken.

Unterwegs zur symbolischen Darstellung

Daraus entwickelte sich auch bei Neuschöpfungen jener Stil, welcher (nach einem prägnanten Wort Kirchners) nicht mehr schauend sondern bauend vorging, sprich: Das unmittelbar Gesehene trat zurück hinter sorgsam arrangierte Form-Additionen, die sich zusehends symbolisch verdichteten.

Tänzerinnen (ein Hauptmotiv in dieser Phase) sind nun nicht mehr so sehr lebendige Wesen, sic verkörpern stattdessen ein allgemeineres Prinzip bunt umrankter Freude. Schweizer Bergbauern stehen fürs entbehrungsreiche, in Traditionen verwurzelte Leben schlechthin.

Häufig breitet sich nun rund um die Figuren eine Aura von Farbfeldern aus. Dies hat nicht nur esoterischen Beigeschmack, sondern erweist sich auch als Mittel zur psychologischen Durchdringung.

Auf solch abstrahierende, aber doch „lesbare“ Art vermag Kirchner zwei Seiten einerPersönlichkeit zugleich darzustellen. Einen Mäzen zeigt er halb im Schatten – die helle Seite bezeichnet das öffentliche Wirken, die dunkle die Homosexualität, die der Mann verbarg. Fast eine triviale Fügung. Ähnlicher Fall: Mutter und Sohn, einander fast feindlich gegenüber gestellt, sind in doppeltem Umriss sichtbar. Bittere Realität und Wunsch nach besserem Einvernehmen sind als simultane Überblendung gegenwärtig.

Die Schau lässt durch punktuelle Vergleiche mit anderen Künstlern (Picasso, Max Ernst, Le Corbusier) Verwandtschaften erkennen. Zuweilen befindet sich Kirchner ihn ihrem Kielwasser, dann wieder schreitet er voran. Manchmal herrscht in ein und demselben Bild derart unbekümmerter Stil-Pluralismus, als habe Kirchner bereits die Heraufkunft yon Pop-Art und Postmoderne beschleunigen.

Ernst Ludwig Kirchner: „Farben sind die Freude des Lebens. Essen, Folkwang-Museum (Goethestraße). 9. April bis 18. Juni. Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 8 DM, Katalog 42 DM.




Im deutschen Nirgendwo – Frank Castorf besorgt in Hamburg die Uraufführung von „Vaterland“ / Was wäre, wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten?

Von Bernd Berke

Hamburg. Das ist ja ein tolles Theater im Hamburger Schauspielhaus: Mitten im Stück springt ein Zuschauer in den vorderen Reihen vom Platz auf und lässt eine Papierschwalbe durch den Raum segeln. Manche spenden dafür Beifall auf offener Szene.

Andere rufen „Aufhören!“ Oder auch, ganz flehentlich: „Gnade!“ Zwischendurch immer wieder demonstrativ lautes Trappeln und Türenschlagen derer, die vorzeitig gehen.

Die teilweise infantilen Regungen im Parkett entsprechen nicht dem Anlass. Auf dem Spielplan steht die Uraufführung des Stückes „Vaterland“ nach dem 1992 erschienenen Roman des britischen Journalisten Robert Harris. Regie bei der hanseatisch-preußischen Koproduktion führt Berlins Volksbühnen-Chef Frank Castorf, berüchtigt als Stücke-Zertrümmerer. Diesmal hatte er – mangels gefestigter Substanz – nichts zu zertrümmern, sondern nur zu collagieren. Dabei scheint er mittendrin aufgehört zu haben, so unfertig wirkt das Resultat dieser fast vierstündigen Zumutung.

Kennedy will Hitler besuchen

Robert Harris hat sich vorgestellt, wie es wäre, wenn der NS-Staat den Krieg gewonnen hätte und sich von Flandern bis zum Ural erstreckte. Schaurige Vision fürs Jahr 1964: Alle monströsen Architekturprojekte des Albert Speer sind verwirklicht, Adolf Hitler herrscht über ganz Europa. Sein 75. Geburtstag steht ebenso bevor wie ein Staatsbesuch des US-Präsidenten John F. Kennedy, der – wie feinfühlig – „die Frage der Menschenrechte anschneiden“ will…

Zudem richtet Harris eine Kriminalgeschichte an: Xaver März (Stephan Bissmeier), Kripofahnder in SS-Diensten, der aber mehr und mehr zum Dissidenten wird, will eine mysteriöse Mordserie aufklären. Wie sich herausstellt, fallen ihr all jene zum Opfer, die zu viel von der (längst verdrängten) „Endlösung der Judenfrage“ wussten, also vom Holocaust. Roman und Stück jonglieren mit dem Schwindel erregenden Gedanken, dass die realen 50er und 60er Jahre nicht weit von solchen Phantasien entfernt waren. Ex-Nazis saßen wieder auf wichtigen Posten, Deutschland errang erneut wirtschaftliche Macht.

Die Szenerie (Bühnenbild: Peter Schubert) bleibt granitstarr, setzt sich aber aus disparaten Elementen zusammen. Links ein schemenhaft sichtbarer Raum, wohl eine Flammenhölle. Dorthin führen Rampen. Zentral flimmern drei Lichtreihen wie auf einer Flug-Landebahn. Ein niedriger Torbogen öffnet sich zur Hinterbühne, rechts befinden sich lauter Türen, als erstrecke sich dort eine kafkaeske Behörde. Der Boden ist mit braunem Granulat bedeckt. All das wirkt wie zufällig addiert und mutwillig verstreut. Kein Ort, nirgends. Wie denn auch – in einer Welt, in der Hitler und die Beatles koexistieren?

Mit Regie-Einfällen und Spielweisen verhält es sich ähnlich. Unentwegt wechseln Tonlagen und Stile ohne ersichtlichen Grund. Zuweilen sehen wir kindische Sandkastenspiele: Figuren hopsen in Fässern oder Kartons über die Bühne. Ri-Ra-Rappelkiste!

Mal schnoddrig, mal hysterisch

Derart beflissen klingt oft der Tonfall des Kommissars März, der naiv und nervös durchs Drama taumelt, dass man sich in einen biederen Wallace-Krimi der 60er versetzt fühlt. Andererseits hält Castorf die Darsteller auch zum schnoddrigen Gestus, zu hysterischen Anfällen oder aggressiven Aufwallungen an – nach Lust und Laune. Vieles gilt als lachtauglich in diesen Comedy-süchtigen Zeiten: Ein Wort wie „Vermissten-Liste“ wird anfangs ausgiebig zerlegt unermüdlich wiederholt. Gewisse Moden werden also, wenn auch lustlos, bedient.

Hin und wieder gelingen allerdings wahrhaft verstörende Sequenzen. Vor allem eine halbstündige Passage fräst sich ins Hirn: Plötzlich geht im Zuschauerraum das Licht an, und es werden originale Beratungs-Protokolle zur Drangsalierung und späteren Vernichtung der Juden mit verteilten Rollen verlesen. Unerträglich schon das Beamtendeutsch, mit dem die materiellen Folgen der Pogrome versicherungstechnisch „geregelt“ wurden Hier konfrontiert uns Castorf mit einer Absurdität, die man schlichtweg nicht aushält.

Buhruf-Orkane für die Regie, unwesentlich gemildert durch lauen Beifall für die Dar- steller. Die Zuschauer, die durchgehalten haben, sind zugleich erschöpft und aufgebracht. Kein gutes Klima zum Nachdenken.

Termine: Hamburg (Schauspielhaus): 2., 4. Mai (Karten: 040/24 87 13) / Berlin (Volksbühne): 27. April.




Opas Kino – fett und krass: Michael „Bully“ Herbigs Film „Erkan & Stefan“

Von Bernd Berke

Dass manche Leute jeden, aber auch jeden Vorgang mit dem Beiwort „cool“ markieren, daran haben wir uns längst gewöhnt. Mit dem Comedy-Duo „Erkan & Stefan“ hält vergleichsweise sprachliche Vielfalt Einzug.

Die beiden teilen die Dinge des Lebens in fünf Kategorien ein: alles ist entweder krass, extrem, konkret, fett oder schwul. Nach diesem Schema entstehen so hinreißend ausgefeilte Formulierungen wie „Ich langweile mich fett“, „Gib mir dein schwules Handy“ oder auch „Hey, die Braut is‘ ja krass“. Oder auch „endskrass“, was eine Steigerung bedeutet. Man lernt nie aus.

Leibwächter durch einen blöden Zufall

Auf diese Idee muss man erst einmal kommen: die beiden zappeligen Typen mit ihrem seltsamen Kauderwelsch in eine Thriller-Handlung zu verpflanzen. Als denkbar ungeeignete Leibwächter sollen „Erkan & Stefan“ (alias Erkan Maria Moosleitner und Stefan Lust) in Michael „Bully“ Herbigs Film die niedliche Chefredakteurs-Tochter Nina vor knallharten CIA- und BND-Agenten schützen.

Dumme Verwechslung: Die Blondine hat zum Flug von Hamburg nach München nicht ihre Sprachkurs-Kassette mitgenommen, sondern ein Band, das ihrem Vater zugespielt wurde. Es dokumentiert angeblich die wahre Todesursache des CDU-Politikers Uwe Barschel (Stichworte: Schleswig-Holstein, Ehrenwort, Genfer Hotel, Badewanne). Ein journalistischer „Knaller“, vermutlich welterschütternd.

Niemals in sie reinverlieben!

Nina ist also in tödlicher Gefahr. Da zufällig alle Münchner Bodyguards ausgebucht sind, trifft es halt irgendwie Erkan:und Stefan. Die freuen sich fett und und extrem, als sie ihre süße Schutzbefohlene Nina sehen, obwohl sie die Grundregeln für Leibwächter kennen: „Niemals darfst du sie aus den Augen rauslassen! Niemals darfst du dich in sie reinverlieben!“

Ganz schön krass, in der Tat. Vor allem, weil Stefan und Erkan ihre hyper-nervösen Slapstick-Nummern durchziehen – völlig unbeeindruckt von sämtlichen Geheimdiensten. Selbstverständlich liegt über den beiden Blödianen stets eine unsichtbar schützende Hand. „Mit die Doofen is‘ Gott“, hätte man früher in solchen Fällen gescherzt.

Doch all das ist weder spannend noch sonderlich lustig. Der hanebüchenen Story zum Trotz, gerät nichts an diesem Film originell, sondern alles elend selbstverständlich und selbstbezüglich. Beispiel: Natürlich düsen Erkan und Stefan mit einem zerbeulten Transporter herum, und natürlich wackelt selbiger mordsmäßig, wenn auf den Rücksitzen Liebe gemacht wird. Und wenn sie noch so krasse Sprüche klopfen: Das ist Opas Kino.




Wie das Theater das Leben abgrast – Pirandellos „Sechs Personen suchen einen Autor“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Wundersamer Raum: Eine Treppe führt bis in die tiefste Bühnentiefe. Und nicht nur der eine übliche rote Vorhang öffnet sich zum Zuschauerraum hin, sondern es wallen drei weitere: vorn, in der Mitte und ganz hinten. In Dimiter Gotscheffs Bochumer Inszenierung ist dies der sinnfällige Illusions-Ort für Luigi Pirandellos Stück „Sechs Personen suchen einen Autor“; ein Ort, der den irritierend vielen Ebenen des Textes ideal entspricht.

Das 1921 entstandene Stück, von heute aus betrachtet gleichsam ein Leitfossil avantgardistischer Dramatik, stellt die Mittel des Theaters infrage, allerdings nicht trocken theoretisch, sondern eben durchaus „theatralisch“ und handlungssatt.

Besagte sechs Personen (Vater. Mutter, Stieftochter und drei weitere Kinder) platzen aus dem vermeintlich „realen“ Leben, das ja vom schmerzlich vermissten Autor erfunden wurde, mitten in eine Theaterprobe hinein. Der Vater (Heiner Stadelmann) verlangt, dass sich ihrer aller Schicksal (der böse Bann eines inzestuösen Familien-Skandals) auf der Bühne verwirklichen und klärend vollziehen soll.

Der Regisseur und die Schauspieler schwanken zwischen Hohn und Verwirrung. Dann aber versuchen sie, das Leben nachzuahmen – ein unmögliches Unterfangen, wie sich zeigt. Am Ende weiß man, wie zeichen- und skizzenhaft Theater die Realität notgedrungen abbildet. Doch auch dem sogenannten wirklichen Leben und seinen Maskierungen traut man nicht mehr so recht. Ist denn alles nur Trug?

Bemerkenswertes Gefühl für den Raum

Diese Schauspieler-Schar ist aber auch gar verkünstelt, verzärtelt, überaus geziert und lebensfern ins eigene Metier eingesponnen. Wie wollen sie das Leben begreifen? Lächerlich eifrig sind sie ihrem Regisseur (vom „Betrieb“ genervt: Matthias Leja) allzeit zu Diensten. Wie groteske Figurinen stolzieren und staksen sie einher. Obgleich grundsätzlich von Ernst getragen, hat die Aufführung nicht nur hier ihre komischen Momente.

Im eingangs erwähnten Bühnenbild von Achim Römer entwickelt die Inszenierung zudem ein bemerkenswert differenziertes Raum-Gefühl. Bestimmt kann Dimiter Gotscheff für jede Sequenz, ja für jede jede Sekunde schlüssig begründen, warum die Figuren-Gruppen so und nicht anders stehen, warum sie sich hier miteinander mischen, dort aber auf Distanz zueinander gehen. Schon dies, für sich genommen, ist ein ästhetischer Genuss. Und man erlebt eine durchweg lobenswerte Ensemble-Leistung, aus der – mit ihrer unerhörten Präsenz – allenfalls Henriette Thieme als Mutter noch ein Stückchen heraus ragt.

Ein Kitzel in der Magengrube

Ein Abend, der zum Nachdenken übers Theater zwingt: Er handelt davon, wie die Bühne das Leben aussaugt oder sozusagen restlos abgrast; wie sie das Chaos der oft schmutzigen Realität in ach so reine Kunstanstrengung überführt, ja, wie sie sich am Leiden weidet. „Großartig“, ruft der sonst so übersättigte Regisseur immer dann ganz verzückt, wenn besonders bühnenträchtig gelitten wird. Was zählt da noch die Wahrheit, wenn man den grellen Effekt haben kann?

In einer grandiosen Szene holt Gotscheff das Chaos des ungestalteten Lebens auf die Bühne. Tatsächlich: Plötzlich gerät die ganze Szenerie gleichsam ins Rutschen und stürzt in eine kakophon untermalte, allgemeine Verwirrung hinein. Der Zusammenprall von Kunst und Leben erzeugt einen irren, ratlosen Taumel. Diese Idee überzeugt ebenso wie die fragilen, geradezu gläsernen Momente der Inszenierung, in denen man all die Untiefen zwischen Sein und Schein als Kitzel in der Magengrube zu spüren meint.

Termine: 15. April, 8., 9., 17. bis 21. Mai tägl. Karten: 0234/ 3333-111.




Das träufelnde Gift der Bitterkeit – Der Singer-Songwriter Vic Chesnutt im Bochumer „Bahnhof Langendreer“

Von Bernd Berke

Bochum. Im Live-Konzert finden viele Rockfans eine technische Perfektion wie aus dem Plattenstudio selbstverständlich. Lebendig soll’s aber trotzdem wirken. Der Singer-Songwriter Vic Chesnutt (35) aus Athens/Georgia (USA) durchbricht derlei Erwartungen wie kein Anderer.

Beim Start seiner Deutschland-Tournee im Bochumer „Bahnhof Langendreer“ spürt man vor allem anfangs, welch eine fragile Angelegenheit ein solcher Auftritt sein kann. Chesnutt stimmt einen fast tonlosen Singsang an und „schrammelt“, als spiele er nur so für sich; vielleicht auf einer Veranda unterm Sternenhimmel, irgendwo weit draußen.

Man fürchtet, dieser überaus Empfindliche könne sich im nächsten Moment einer namenlosen Einsamkeit überlassen und unvermittelt abbrechen. Kommt es zum Fiasko? Nein. Allmählich, vielfach stockend, findet er ins Jetzt und zum Publikum.

Seine Frau Tina, für ihre ungeheure Langsamkeit berüchtigte Bassistin, ist erkrankt. Also bleibt der Mann im Rollstuhl (schwerer Verkehrsunfall im Suff mit 18 Jahren) heute auf sich gestellt.

Seine Konzerte sind nicht etwa „Reha-Maßnahmen“, die man mitleidig und schonend besprechen müsste, sondern intensive Ereignisse von ganz eigener Art. Überregionale Feuilletons sind jüngst hellhörig geworden. Desgleichen Stars wie Madonna oder die Smashing Pumpkins, die Kompositionen von ihm spielten. Als Songschreiber ist Chesnutt eine Größe und kann längst aus breitem Repertoire schöpfen. In Bochum stimmt er zerbrechliche Kostbarkeiten wie „Betty Lonely“, „Westport Ferry“ und „I Ain’t Crazy Enough“ an.

Allein rollt er also auf die Bühne, zwei Gitarren (eine elektrische, eine verstärkte akustische) und eine Mundharmonika warten in Reichweite. Chesnutt, der zuweilen (zwischen verlegenem Charme und zynisch-obszönen Anwandlungen) mit seinem Handicap kokettiert, schlägt die Saiten mit einem Plektrum an, das auf eine Art Handschuh geklebt ist.

Daraus ergibt sich ein Stil, der etwa Bob Dylan manchen Impuls verdanken mag, sich aber unverkennbar abhebt. Scheppernd und schleppend kommen die Akkorde. Musik der tastenden Ungewissheit und des Zögerns, mit sprachlich ausgefeilten, zuweilen „rabenschwarzen“ Texten, vorgetragen mit gepresster, brüchiger Stimme, die sich kaum einmal Luft verschafft. Träufelndes Gift der Verbitterung.

Und manchmal gibt’s Saiten-Hiebe wie wütende Attacken, als bräche ein Hass auf alle Welt sich Bahn, der dann doch – von sich selbst erschrocken – wieder innehält. Auf den CDs verhüllen Nachbearbeitung und Begleitbands den Rohzustand dieser Musik, die sich jedoch in ungeahnt zartsinnige Sphären untröstlicher Melancholie und unstillbarer Sehnsucht zu erheben vermag.




Die hohe Kunst des flüchtigen Augenblicks – Aquarelle und Zeichnungen von Gerhard Richter in Krefeld

Von Bernd Berke

Krefeld. „In Köln hätte ich diese Bilder nicht zeigen wollen. Dort werden doch nur große Kunst-Spektakel geboten.“ Das sagt ausgerechnet der weltweit am höchsten gehandelte lebende Künstler, Gerhard Richter. Ganz so, als sei er nicht jederzeit für Aufsehen gut.

Trotzdem hat er Recht. Als seinen Hauptberuf hat Richter (68) stets die Herstellung von Ölbildern bezeichnet. Jetzt zeigt das Krefelder Kaiser-Wilhelm-Museum die Resultate zweier „Nebenbeschäftigungen“: Aquarelle und Zeichnungen. Also kleinere, „leisere“, intimere Stücke, mithin nicht so geeignet für die landläufige „Event“-Kultur. Aber ein Ereignis im Sinne einer stillen Sensation ist diese Schau allemal.

Wie eine Befreiung von Düsternis

Malerisches und zeichnerisches Werk laufen bei Richter nahezu unverbunden nebeneinander her, ohne nennenswerten gegenseitigen Einfluss. Die Zeichnungen sind keine Vorstudien, die Gemälde also nicht deren reife Früchte. Ein jedes hat seine Zeit. Richter ist ein Künstler, der immerzu etwas erzeugen muss, sein Werk ist wie ein langer Strom, der immer wieder neu fließt.

Rund 200 Zeichnungen und 85 Aquarelle sind in der Retrospektive zu sehen, die frühesten stammen von 1964, etliche Bilder sind zyklisch geordnet. Krefelder Beigabe zur aus Winterthur kommenden Auswahl: 30 neueste Bilder, die – nach einjähriger Schaffenskrise – erst jüngst entstanden sind. Sie wirken wie eine Befreiung von Düsternis. Wie Goethe schon sagte: Mehr Licht!

Die ersten Arbeiten sind noch gegenständlich, teils gar fotorealistisch genau gefasst. Auch später kehrt Richter immer wieder zur Figuration zurück, was er nicht etwa als Rückschritt, sondern nur als anderen Ansatz begreift. Welche Vorlagen als Anregung dienten, erkennt man zuweilen daran, dass auch schon mal die Schrifttypen aus den Zeitungen mit abgezeichnet wurden.

Ein unerforschtes Gelände

Freilich entfernt sich schon das Frühwerk ganz entschieden von direkter Wiedergabe der Realität. Eingefangen werden vielmehr die flüchtigen Momente, die der bewussten Wahrnehmung vorangehen. Es ist eine Kunst gegen alle festen Setzungen, eine Kunst des errungenen Augenblicks. Ein gegenständliches Bild zeigt einen schrecklichen Bunker, in dem die Kunst ein für allemal kaserniert ist. Es ist sozusagen das absolute Gegen-Bild für Richter, der Alptraum, der ihn ins Freie treibt.

Bewundernswert, wie Richter in diesem völlig freien, unerforschten Gelände, in dem es ja keine festen Anhaltspunkte gibt, immer wieder zur gültigen, durchaus auch schönen und poetischen Form findet.

Häufig irren Linien über die Blätter und drohen sich im Nichts oder im Irgendwo zu verlieren. Doch auf höherer, mit Worten kaum greifbarer Ebene vereinen sich all die nervösen, unsicher tastenden Striche zu frappierenden, jederzeit überzeugenden Gesamtwirkungen. Die Bilder vibrieren oder oszillieren, ganz vollgesogen mit unmittelbarer Gegenwart. Daraus ergibt sich eine Art bildnerisches Tagebuch, das mitunter haarfeine Regungen oder Atmosphären festhält und die vagen Stimmungen der Stunde bannt.

Das freie Spiel der Farben

In Richters Aquarellen lösen sich die festen Umrisse erst recht auf, sie verschwinden hinter Verwischungen, Schlieren oder Nebeln, tauchen ein ins vollends freie Spiel der Farben, ins Aufglühen des Lichts.

Das Neue muss man eben zunächst im Ungefähren aufsuchen, nicht im Abgezirkelten. Konstruktive Positionen der Moderne greift Richter denn auch eher parodistisch auf, wie um sie zu entschärfen. Gerüste oder Zurüstungen im Bilde sind seine Sache nicht.

Wie ein Schock wirkt ein mitten zwischen die fragilen Experimente platziertes Kinderbild. Dieses Baby namens Moritz schaut ganz verwundert in die Welt. Es ist genau diese Faszination des „ersten“, noch unschuldsvoll staunenden Blicks, die Richters meisterliche Bilder auszeichnet.

Gerhard Richter. Zeichnungen, Aquarelle. Krefeld, Kaiser-Wilhelm-Museum, Karlsplatz 35. Bis 18. Juni. Di-So 11-17 Uhr. Katalog Aquarelle 45 DM, neue Bilder 28 DM, Werkverzeichnis 95 DM.




Hannover putzt sich zur „Expo“ mit viel Kultur heraus – Viel mehr Sponsorengeld als sonst

Von Bernd Berke

Hannover. Was eine Weltausstellung ist, das hat in den 1920er Jahren Kurt Schwitters, berühmter Dadaist und allzeit guter Geist der Avantgarde in der jetzigen Expo-Stadt Hannover, genau gewusst.

Schwitters schrieb in einem erst jüngst wiederentdeckten Text: „Man schafft einfach aus aller Welt die Ausstellungsgegenstände dorthin, wo eine Weltausstellung geplant ist, die Presse (…) macht aufmerksam (…), dann wird der übliche Baldaver serviert und jeder, der auf sich hält, verlebt Ferien auf der Weltausstellung. Vormittags werden die Geschäfte erledigt, der Handel blüht, und abends wird getanzt.“

So einfach ist das also. Doch es kommt noch besser: Denn von derExpo, die eh schon ein riesiges Kulturangebot (Spannweite von Peter Maffay bis Peter Stein mit seinem kompletten „Faust“) unterbreitet, profitiert auch das sonstige Kulturangebot in Hannover ganz heftig.

Theater, Museen, bestehende Festivals, kurz alle nennenswerten Institute der Stadt, verfügen durch die Weltausstellung über mehr Sponsorengeld denn je, teils über das Drei- bis Vierfache. Das vor Jahresfrist totgesagte Festival „Theaterformen“ verdankt der Expo gar sein Überleben. Ach, wie gut könnten vergleichbar große Städte im Revier einen solchen Impuls gebrauchen!

Hannovers Kulturdezernent Harald Böhlmann verkündete gestern stolz, dass die Stadt während der Expo (1. Juni bis 31. Oktober) zusätzlich ein rund 25 Millionen DM schweres Kulturprogramm „auflegen“ könne. Im Jahr 2001 soll keineswegs der große „Absacker“ kommen, sondern man werde manches in die Zeit nach der Expo hinüber retten. Mit dem Expo-Kulturkraftakt wolle und könne man zwar nicht konkurrieren, doch man werde den bis zu 40 Millionen Besuchern, die zur Weltausstellung in die Stadt kommen, hochkarätige Ergänzungen bieten.

In der Tat, die rund anderthalb Stunden Bahnfahrt etwa ab Dortmund lohnen sich fast schon ohne „Expo“-Besuch; Die Kestner-Gesellschaft lockt mit der österreichischen „Sammlung Leopold“, die etliche Spitzenwerke von Schiele, Klimt, Kokoschka und Kubin enthält (ab 27. Mai), sowie mit einer großen Picasso-Schau zum Thema „Die Umarmung'“ (ab 29. August).

Natürlich darf der eingangs erwähnte Kurt Schwitters als „Säulenheiliger“ der Stadt nicht fehlen. Seinem Werk ist eine umfangreiche Ausstellung des Sprengel-Museums gewidmet (ab 20. August). Gerhard Merz kann nicht nur den örtlichen Kunstverein, sondern auch noch einen ehemaligen Güterbahnhof „bespielen“ – mit einer gigantischen Licht-Installation, die als flüchtiges Monument der Moderne gedacht ist.

Nur nicht kleckern: Auch Jahrhundert-Überblicke zum Design (Kestner-Museum, ab 22. Juli) und zur Fotografie (Sprengel-Museum, ab 14. Mai) befinden sich im kulturellen Füllhorn, desgleichen eine völkerkundliche Schau von Gewicht: „Jaguar und Schlange – Der Kosmos der Indianer in Mittel- und Südamerika“  (Landesmuseum, ab 23. Mai).

Das Festival „Theaterformen“ bringt u. a. Gastspiel-Produktionen der Bühnen-Heroen Peter Brook, Peter Zadek und Jan Fabre. NRW ist gleichfalls prominent vertreten: Bochums Noch-Intendant Leander Haußmann zeigt seine „Peter Pan“-Inszenierung, Pina Bausch gastiert beim Tanzfestival mit „Palermo, Palermo“ und „Kontakthof“.

Hannover gilt mitunter als größtes Provinznest der Republik. Wahrscheinlich müssen wir Von diesem Vorurteil erst einmal Abschied nehmen.

Nähere Infos: 0511/30 14 22.